Disclaimer: das übliche

Author's Note: Los geht's – im September 1970 und zwar an einem ganz besonderen Tag. Ein paar Einblicke in Moodys häusliches Leben unterwegs zum Gleis 9 ¾, ein paar Flashbacks und... naja, wie er sich so macht als Vormund eines 10jährigen Wunderkindes der Dunklen Künste... ___________________________________________________________________________

1. Kapitel: Ein Auror in der Nockturngasse

Nach einer Woche bestehend aus drückender Hitze und Schwüle, ging in der Nacht zum Montag der reinste Sturzregen über den magischen Bezirken Londons nieder. Die Wassermassen prasselten für Stunden auf die Dächer und Gehsteige der Nockturngasse, und da ich schon von jeher einen leichten Schlaf hatte, war es mir in dieser Nacht nicht möglich, Ruhe zu finden, und dementsprechend garstig war ich, als ich mich bei Dämmerung aus dem Bett hievte.

Zwar hatte ich mir den Tag frei genommen (was bei der Kollegin, die für den Dienstplan zuständig war, ein verständnisvolles Lächeln hervorgerufen hatte), doch was mir statt der Arbeit bevorstand, so dachte ich, als ich durch das Küchenfenster zusah, wie im Osten das kühle Licht des Sonnenaufgangs die Wolken durchbrach, würde höchstwahrscheinlich mehr an meinen Nerven zerren als ein Sack voll cornischer Wichtel.

Ich lehnte an der Spüle, während ich mit einem meiner äußerst nützlichen Arbeitsutensilien, das ich gern als mein magisches Auge bezeichnete, das Gepäck filzte – einen überdimensionalen Seesack, natürlich aus meinem eigenen Fundus, der allerdings nur dem äußeren Anschein nach einem Schrank gleichkam. In Wirklichkeit war er mit Magie noch weit geräumiger gemacht worden. Wer konnte also schließlich wissen, was das Kind alles darin verschwinden hatte lassen? Es war nicht so, dass ich einem Zehnjährigen nicht zutraute, seinen Krempel zu packen. Ich wollte einfach nur sicher gehen. Ich wollte vermeiden, dass er sich in der Schule irgendwelchen Ärger einhandelte, so verhalten sich verantwortungsbewusste Erziehungsberechtigte. Aber war Sev vielleicht dankbar dafür?

Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er in den Türrrahmen gelehnt, und würdigte mich keines Blickes, während ich seine Besitztümer inspizierte. Die strähnigen schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten die gleichfalls schwarzen Augen, aber ich war auch so sicher, dass ihm nichts von meinem Treiben entging. Als ich das magische Auge verstaute, nach meinem Zauberstab fingerte und ihn mit den Worten „Accio Bücher!" auf das Gepäck richtete, hob er den Kopf und sandte einen ungehaltenen Blick zu mir herüber.

Die Bücher (es waren nicht weniger als 28 neben denen, die er tatsächlich für den Unterricht brauchen würde) waren rasch durchgesehen, und wäre Sev in einem anderen Haushalt als meinem großgeworden, hätte ich noch um einiges strenger zensiert. So legte ich die „Grundlagen der alchimistischen Synthese"kommentarlos beiseite, hielt „Höchst potente Zaubertränke" sowie „Worte der Verwandlung bis 1500"in die Höhe mit den Worten: „Nicht bis zu den ZAGs."

„Und das", begann ich in unheilschwangerem Tonfall, wobei ich einen Band aus dunkelrotem Leder hochhielt, in das in der Ecke rechts unten ein kleines Pentagramm eingeprägt war, und Sev zum ersten Mal eine Regung zeigte und die Arme fallenließ, „steht auf dem Ministeriumsindex."

Mein strenger Blick wurde ebenso finster erwidert. „Dann solltest du es für Kinderhände unzugänglich aufbewahren."

„Du weißt, was du in diesem Haus anfassen darfst und was nicht." erwiderte ich knurrig und fuhr mir mit der flachen Hand übers Kinn. Er wusste es und hielt sich, wie wir beide sehr genau wussten, nicht daran. Und ganz abgesehen davon: was war mit draußen? Draußen war die Nockturngasse. Eine Hochburg gesetzeswidrigen Treibens und ein Schmelztiegel der Dunklen Künste.

Ich wusste, ich war nicht nur in geografischer Hinischt völlig daneben, wenn es darum ging, ein Kind großzuziehen. In meinem Beruf gab es jedoch Gründe, sich hier einzuquartieren und auch hier wohnen zu bleiben. Wer wie ich immer und überall auf dem Quivive war, der hatte in der Nockturngasse auch nicht mehr zu befürchten, als jeder x-beliebige Muggel beim Überqueren der Straße. Immer wachsam waren die Zauberworte – ich vermutete, es war meine Gryffindornatur, die durchschlug, und ich konnte nur hoffen, dass etwas von unserem geradlinigen Geist auch auf den Jungen abfärben würde.

Nicht dass ich mich irgendwelchen wahnwitzigen Hoffnungen hingegeben hätte, Sev könnte in Gryffindor landen. Sein Vater und seine Mutter waren beide in Slytherin gewesen, und Sev war die Verkörperung all dessen, was im Haus der Schlange geschätzt wurde: ein durchtriebenes, eigensinniges Reinblut, nur glücklich, wenn er seinen eigenen Kopf durchsetzen konnte. Nachgeben war ein Fremdwort, Widerstand egal von welcher Seite eine Herausforderung, eine Gelegenheit, die eigene Schlauheit an der des anderen zu messen. Sogar in seinem zarten Alter atmete er Ehrgeiz und eine kaum zu bändigende Willenskraft aus jeder Pore. Aber ich dachte an den Wissensdurst des Kindes, seine Frühreife und seine Belesenheit, und spekulierte in irgendeinem verborgenen Winkel meines Hirns allen Anzeichen zum Trotz auf Ravenclaw.

Er wäre dort gut aufgehoben, versicherte ich mir wiederholt. Das Wissen, wie man es in Büchern findet, war seine Leidenschaft. Nicht die einzige, wie ich nur zu gut wusste, doch vielleicht die größte, redete ich mir ein. Schon jetzt war er beschlagener in Geschichte und Arithmantik als viele Erwachsene. Er experimentierte mit Vergnügen mit Zaubersprüchen aller Art herum, für die er ein unglaubliches Gedächtnis entwickelt hatte, und fragte mir Löcher in den Bauch, wenn es um Verwandlung ging – das eine Fach, für das sogar er eine Anleitung brauchte, weil man es mit Bücherwissen allein nicht meistern kann. Irgendwo hatte er ein altes Teleskop aufgegabelt, das jetzt seine Dachkammer zierte und von dessen Gebrauch die Schatten unter seinen Augen herrührten. Aus gleichermaßen obskuren Quellen stammte seine vielgenutzte Laborausrüstung, und ich spähte manchmal durch die Tür der Dachkammer, um zu beobachten, wie er mit unglaublich ruhigen Händen die Zutaten dosierte. Nichts entzog sich seinem Verständnis. Es war jedoch gerade dieses Universalgenie, das mir die größten Sorgen bereitete.

Ich dachte an unseren Ausflug in die Winkelgasse anlässlich der Einkäufe für das erste Schuljahr, der zwei Wochen zurücklag, und machte im Geiste die Notiz, Frederick Ollivander zu meucheln, wenn ich ihm demnächst in einer dunklen Gasse begegnen sollte.

Im Nachhinein kam es mir vor, als hätten wir den ganzen Morgen damit zugebracht, nach einem Zauberstab für Sev zu fahnden. Ein mieses Gefühl hatte ich ja schon gehabt, als Ollivander, kaum dass wir in seinem Laden standen, Sev, dessen Geschichte er wie so viele besser kannte als dieser selbst, unterm Kinn fasste, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, und doch tatsächlich meinte: „Ein Kind der Sümpfe. Wie weiland Slytherin."

Es war mir zutiefst unangenehm. Ich wusste nicht, ob Sev sich überhaupt noch an die Fens erinnerte, wir sprachen nie darüber. Was dazu geführt hatte, dass ich mir auch darüber im Unklaren war, was er über *alles andere* noch wusste. Zu sagen, dass wir kein offenherziges Verhältnis hatten, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.

Sev testete also Zauberstäbe, und ich räumte gewissenhaft hinter ihm auf, während Ollivander weiter nach dem geeigneten Modell suchte und so nach und nach seinen ganzen Laden umkrempelte. Weder er noch ich dachten uns etwas dabei (ich erinnerte mich nur zu gut, wie lange die Prozedur bei Minnie und mir gedauert hatte, als wir gemeinsam unsere ersten Zauberstäbe gekauft hatten), aber Sev war die Sache ziemlich peinlich, das konnte ich sehen.

Dabei hatte Ollivander die ganze Zeit ein gewisses Modell im Hinterkopf gehabt und es nur deshalb nicht hervorgeholt, weil er im Jahr zuvor gerade das Äquivalent verkauft hatte, und er es für absolut unwahrscheinlich hielt, dass es zwei Träger innerhalb derselben Generation geben sollte. Doch in dem Moment, als Sevs Finger sich um den Zauberstab schlossen, waren nicht nur für ihn alle Zweifel dahin. Auch ich konnte beobachten, wie zum ersten Mal die Brücke zwischen dem Stab und dem Träger geschlagen wurde, wie die Magie des Kindes aufglühte als ein Vorgeschmack auf den Zauberer, der Severus Snape eines Tages sein würde, und das magische Instrument in seiner Hand darauf antwortete. Sevs schwarze Augen funkelten und ein erwartungsvolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ja, dachte ich halb amüsiert, halb beunruhigt, das ist was anderes als mit meinem alten ausrangierten Schulmodell herumzupfuschen, nicht wahr? Dabei war er schon jetzt berüchtigt auf der Gasse für die vielen Flüche, die er beherrschte, und die einzusetzen er nicht zögerte, wenn die Situation es seiner Meinung nach erforderte. Natürlich kann man nicht alt werden in der Nockturngasse, ohne sich des einen oder anderen Angreifers zu erwehren. Die Kinder duellierten sich untereinander mit Begeisterung, und ich, der ich die Eltern von gut der Hälfte von ihnen irgendwann schon mal festgenommen hatte, konnte nur denken: „Früh übt sich."Und wie Ada sich zu ihrer Zeit vom gewöhnlichen dunklen Gelichter abgehoben hatte, so stach mir Sevs eigentümliche Brillianz im Umgang mit Flüchen ins Auge.

„Eberesche und Drachenherzfaser." drang Ollivanders Stimme in meine Gedanken. „In diesen Materialien sind alle 4 Elemente vereint. Der Drache ist ein Wesen von Feuer und Luft, während die Eberesche für Wasser und Erde steht." Ich stöhnte gequält auf. Ich wusste genau, was jetzt kommen würde. Für einen Moment spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, mir einfach Sev zu schnappen und grußlos aus dem Laden zu stürmen. Weg, nur weg von dem, was drohte, wenn wir hier verweilten und zuhörten. Aber ich stand da, wie festgewachsen und konnte nur bezeugen, wie das Unheil über uns hereinbrach, als Ollivander Sev mit seinen hellen Augen durchdringend ansah. „Der richtige Zauberstab für einen Alchemisten, Mr. Snape."

Jepp. So einer hatte es natürlich sein müssen für Sev. Darunter tat er's nicht. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl dieser Zauberstäbe, in denen sich alle Elemente begegnen, und sie suchen sich (so will es der Volksmund) ausschließlich die Nachfahren von Nicholas Flamel – das Hohe Haus der Alchemie, wie sie halb spöttisch, halb ehrfürchtig genannt werden. Für Außenstehende ist es natürlich eine Gaudi, dass Albus Dumbledore, Heinrich Grindelwald, Oonagh McGonagall, Jesta Marvolo und Phineas Nigellus praktisch alle von ihrem 600 Jahre alten Urahn ausgebildet wurden. Um nur mal ein paar der Großen des 19. und 20. Jahrhunderts zu nennen. Wollte man alle aufzählen, käme man um Sevs Vater selbstredend nicht herum.

„Liegt gut in der Hand."meinte Sev.

„12 Inche, sehr geschmeidiges Material. Wie gemacht für Aurorenzauberstäbe. Schnell zu ziehen, verstehen Sie?"

„Und ob."Sevs Augen leuchteten, ich verdrehte meine.

„Ein guter Stab für Zauberkunst also."

Sev grinste. „Es würde ja auch niemand sagen: gut für Flüche. Oder: gut zum Duellieren."

„Severus!"

„Alastor?" fragte das Kind zurück. Beiläufig zertrümmerte es eine Blumenvase auf Ollivanders Kassentisch und schickte ein einfaches „Reparo!" hinterher. Der Besitzer lächelte anerkennend, aber mich wurmte es. Warum hatte er das Ding kaputtmachen müssen? Jedes Anzeichen von zerstörerischen Tendenzen in Sevs Betragen bedeutete mehr Farbe für mich, mit der ich im Geiste den Teufel an die Wand malen konnte. Ich erzählte niemandem davon, man hätte mich für paranoid erklärt, aber wenn ich eine Prognose fürs Sevs Zukunft hätte treffen sollen, dann wäre sie rabenschwarz ausgefallen. Slytherin war da noch die geringste meiner Befürchtungen. Ich wusste, Sev hatte ein angeborenes Verlangen, Dinge zu zerstören, ihr Innerstes nach Außen zu kehren, und sei es nur um herauszufinden, wie sie funktionierten. Ich fragte mich mit einem Frösteln, ob diese Eigenschaft vererbbar war. Irgendeinen Grund musste es haben, dass Sev von den falschen Dingen angezogen wurde wie eine Motte vom Licht, und ich neigte dazu, seinem Erbe die Schuld zu geben. Seine Faszination (und Begabung) für die Dunklen Künste konnte schließlich nicht von ungefähr kommen. Ich hätte ihm viel öfter auf die Finger hauen müssen, wenn er sich Zugang zu meiner Bibliothek verschafft hatte, dachte ich, aber auf keinen Fall würde ich es zulassen, dass er sie auch noch zur Hälfte mit nach Hogwarts schleppte.

Vor allem nicht die „Entwicklung der Unverzeihlichen Flüche" von Elladora Seeley, die ganze Konzeption dieses Buches war vom Ministerium als philosophisch inadäquat eingestuft worden. Ich hatte eine Sondergenehmigung für seinen Besitz einholen müssen, die mir nur wegen meiner beruflichen Verdienste gewährt worden war – und das war lange vor Sevs Attacken auf meine Bibliothek gewesen.

„Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn dein Hauslehrer dich mit so was erwischt?"versuchte ich nun an seinen gesunden Menschenverstand zu appellieren und trat mich innerlich selbst. Er sollte die Finger von dem Zeug lassen, weil es schlecht für alle Beteiligten war und weil er es selbst einsah. Nicht wegen der Konsequenzen, die es nach sich ziehen könnte, wenn er damit erwischt wurde.

„Wie ist das jetzt eigentlich mit dem Feindglas?" fragte Sev undiplomatisch.

Ich atmete mit einem leisen, erbosten Zischen aus. Die Gedankengänge meines – des Kindes, unterbrach ich mich – waren manchmal unerfreulich leicht nachzuvollziehen. Mit einem solchen Gerät wäre er immer rechtzeitig gewarnt gewesen, wenn eine Autoritätsperson sich ihm und seinen... Studienmaterialien genähert hätte. „Denk nicht mal dran. Das Feindglas bleibt hier. Ich habe es so abgesichert, dass niemand außer mir dran kann."

Ein süffisantes Lächeln zeigte sich auf Sevs Gesicht. „Ich weiß. Deswegen frag ich ja."

Ich hätte es mir denken können. Verwünschtes Balg. Statt zuerst zu fragen, hatte er natürlich versucht, es sich einfach zu nehmen. Ich spürte erneut überdeutlich, wie sehr ich die Slytherinmentalität ablehnte, die einfach alles erlaubte, solange das anvisierte Ziel erreicht wurde, und in einigen besonders unverschämten Fällen sich nicht einmal scheute, das begangene Unrecht freimütig und ohne das geringste Schuldbewusstsein zuzugeben.

„Severus Snape", prophezeihte ich in meinem düstersten Tonfall. „eines schönen Tages wirst du widerrechtlich eins meiner Besitztümer anrühren und die unerfreuliche Bekanntschaft mit einem Crucio-Schnapper machen."

„Warum solltest du jetzt damit anfangen, deinen Kram damit zu belegen", zeigte Sev ganz richtig auf. „wenn du's nicht mal getan hast, als es noch legal war?"

„Pass bloß auf."sagte ich unwirsch und packte die verbleibenden Bücher wieder in den Seesack. Natürlich war der Ausdruck Crucio-Schnapper ein hartes Wort für die Vorrichtung. Es tat scheußlich weh, wenn man davon getroffen wurde, aber vom Cruciatus-Fluch leitete sie sich nicht her. Der Schmerz war von ganz anderer Art, wie ich, der seine Erfahrungen mit beiden gemacht hatte, höchstpersönlich bestätigen konnte. Und ich war bis heute nie ernsthaft in Versuchung gewesen, das eine oder das andere auf meine Mitmenschen loszulassen.

Ich schulterte den Seesack, sah auf den Jungen herunter, der so erwartungsvoll zurückstarrte, als dächte er enrsthaft, ich würde ihm ein vom Ministerium registriertes Gerät anvertrauen, damit er in Hogwarts seine Lehrer austricksen und verbotenes Wissen anhäufen konnte, und überlegte, ob es von Verantwortungsgefühl meinerseits zeugte, *ihn* auf meine Mitmenschen loszulassen.

„Jetzt komm in die Gänge, du willst doch den Zug nicht verpassen."

Sev warf sich kommentarlos seinen Umhang über und folgte mir nach draußen durch die diversen Sicherheitsvorkehrungen, die unser Haus umgaben, und ohne die ein Auror in der Nockturngasse nicht alt geworden wäre. Die meisten meiner Kollegen hielten mich für leicht übergeschnappt, dass ich mir von allen denkbaren Orten gerade diesen ausgesucht hatte, um sesshaft zu werden. Die meisten von ihnen wohnten auf dem Land und pendelten über das Flohnetzwerk zur Arbeit. Nur wenige lebten in London und niemand außer mir in der Nockturngasse. Zu behaupten, dass ich nicht lieber ein Cottage in Shropshire gehabt hätte wie Algie Longbottom oder eine Wohnung in der Winkelgasse gleich über Flourish & Blotts wie unser Neuzugang Kingsley Shacklebolt, wäre auch lachhaft gewesen. Wie aber sollte das Ministerium Territorien wie diesem hier jemals Herr werden, wenn alle anständigen Bürger und die Gesetzeshüter einen großen Bogen darum schlugen? Ich hatte mich in vollem Bewusstsein hier einquartiert: An den großen Illegalitäten und dem allgemeinen Dreck würde meine Anwesenheit nichts ändern, aber für den einen oder andern Bewohner der Nockturngasse war es vielleicht doch gut, dass es mich gab. Ich war keiner von denen, die es schafften, ihre Arbeit auf dem Schreibtisch liegen zu lassen, um nach Hause zu gehen und ein anderer Mensch zu sein.

Daran hinderte mich in gewisser Weise schon das Kind, das mich mit seiner bloßen Anwesenheit sowieso ständig an berufsbezogene Dinge erinnerte. Insbesondere Dinge, die ich lieber vergessen hätte. Bei seiner Vorgeschichte war es eigentlich unverantwortlich, ihn gerade hier aufwachsen zu lassen, aber es war ja auch nicht meine Idee gewesen, die Vormundschaft für ihn zu übernehmen.

Ich warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu, aber Sev schlenderte in seine eigenen Gedanken versunken neben mir her und bemerkte es gar nicht. Durmstrang war immer die erste Wahl für die Kinder der Nockturngasse und Sevs sämtliche Freunde gingen dorthin, doch er hatte sich nicht über Hogwarts beklagt – nicht nachdem ich ihm erzählt hatte, dass seine Eltern auch dort gewesen waren. In welchem Haus hatte ich wohlweislich nicht erwähnt, es hätte seine Gedanken in die falsche Richtung beeinflusst, wenn er später unter dem Sprechenden Hut saß.

Wir schlugen den Weg zur Winkelgasse ein, wo die Portschlüssel zum Gleis 9 ¾ für die magischen Einwohner Londons bereitlagen, so wie ich es von meiner eigenen Schulzeit her in Erinnerung hatte. An jedem ersten Montag im September die gleiche Prozedur, der gleiche Weg die Winkelgasse hinunter, von dem Mehrfamilienhaus, in dem wir uns eingemietet hatten, als wir angekommen waren, zu Flourish & Blotts, um uns zum Gleis transportieren zu lassen. In meinem letzten Schuljahr begleitete mich dann schließlich meine kleine Schwester. Die Eltern allerdings nicht mehr.

Sev und ich schafften es tatsächlich bis zu Borgin & Burkes am oberen Ende der Gasse, ohne dass wir mehr Aufmerksamkeit auf uns zogen als ein paar neugierige, verstohlene Blicke. So früh am Morgen hatte unsere „Geschäftszeile"wie ich den Abschnitt, der an die Winkelgasse stieß, getauft hatte, noch geschlossen. Überhaupt erwachte dieser Teil der Nockturngasse nur nachts richtig zum Leben.

„Ich würde ja sagen: sieh dich nochmal gut um, du kommst für ein ganzes Jahr nicht mehr hierher – wenn es hier irgendwas gäbe, das erinnerungswürdig wäre."

„Nicht ganz ein Jahr."wandte Sev ein. „Das Schuljahr endet am 30. Juni."

„Erspar mir deine Haarspaltereien. Du weißt genau, was ich meine." Ich rückte den Seesack bequemer zurecht, während wir das letzte Stück hinter uns brachten, das uns noch von der hellen, zurechnungsfähigen Welt trennte und in den Torbogen eintraten, hinter dem bereits die Winkelgasse begann. Angesichts dieser Symbolik hielt ich es für klug, dem Kind ein paar Worte über den Schritt, der vor ihm lag, mit auf den Weg zu geben.

„Du wirst merken, dass in der Schule einiges anders ist als hier – das gilt vor allem für die Leute, mit denen du zusammentreffen wirst. Sie haben wahrscheinlich Vorurteile."

„Ich lass mir schon nichts gefallen, bloß weil ich von hier bin."

„Hör zu", sagte ich ungeduldig. „Die durchschnittliche Hogwartsklientel ist etwas anders als die Leute, mit denen du bisher zu tun hattest. Das sind alles brave Kinder, die meisten würden bei uns keinen Tag überstehen, also wenn dir irgendwas komisch vorkommt oder dich jemand dumm anmacht, versuch dich zu beherrschen und fluch sie nicht in Grund und Boden."

Er schien darüber nachzudenken, während wir an Gringotts und Madam Malkin's vorbeischlenderten und schließlich vor dem Buchladen ankamen. Wie üblich an solchen Tagen herrschte reger Betrieb, aus beiden Richtungen strömten Eltern und Kinder auf Flourish & Blotts zu, wo wie jedes Jahr die Schlüssel ausgehändigt wurden. Sev beobachtete das Treiben und ich beobachtete Sev, während wir auf den Eingang zusteuerten. Seine schwarzen Augen, von denen man so schwer ablesen konnte, was in ihm vorgehen mochte, schwenkten aufmerksam zwischen den vielen unbekannten Gestalten hin und her. Er wirkte nicht im geringsten nervös oder aufgeregt. Ich war an meinem ersten Schultag beides gewesen. Ja, dachte ich, er konnte sich gut auf veränderte Situationen einstellen. Aus heiterem Himmel sah ich Sev wieder als Sechsjährigen an meinem Küchentisch sitzen, an seinem ersten Abend bei mir, und im Reis herumpicken. „Reis kann ich nicht ausstehen, aber das kannst du ja nicht wissen."hatte er sehr sachlich festgestellt. „Was isst du denn gerne?"hatte ich mich um ihn bemüht. „Spinat." war die überraschende Antwort gewesen. Ich grinste bei der Erinnerung daran.

Wir waren einigermaßen zeitig aufgebrochen, aber ich hatte den üblichen großen Andrang miteinkalkuliert. Es war dann auch fast halb 11 als wir uns bis zu einem Portschlüssel durchgekämpft hatten. „Hufflepuff?" fragte Sev den Sohn der Diggorys, die sich mit uns zusammen transportieren ließen, einen braunhaarigen Jungen mit roten Backen, der ein Jahr älter war als er. „Ja, richtig."lautete die eingermaßen erstaunte Antwort. Sev schaute mich lächelnd an, als er antwortete: „Ich werde in Slytherin sein."

Das hatte ich nötig gehabt. Hätte ich ihn bloß nicht so viel in „Eine Geschichte von Hogwarts" lesen lassen. Leute, die lieber alles hinschmeißen, anstatt sich anzupassen, wie der gute alte Salazar, hatten ja einen nachhaltigen Eindruck bei dem eigensinnigen Balg hinterlassen müssen. Oh ja, das musste nach Sevs Geschmack sein – die Eintracht zerstört, die Legende geboren. Tatsächlich ranken sich bis heute um keinen der Gründer mehr Geschichten als um Salazar, obwohl oder vielleicht sogar gerade weil über ihn so viel weniger bekannt ist als über die anderen Drei. Das letzte Hochkochen des unterschwellig immer vorhandenen Interesses an dieser zwielichtigen Gestalt hatte es in meiner eigenen Schulzeit gegeben. Aber ich wollte verdammt sein, ehe ich Sev von der Kammer erzählte und von den Ängsten, die wir in meinem 5. Jahr ausgestanden hatten – wie spannend er das auch gefunden hätte.

Diggory zählte herunter und ich versuchte, die düsteren Gedanken und die befremdeten Blicke, die ich von unseren Mitreisenden erhalten hatte, abzuschütteln. Ich konnte sie verstehen: man erlebte es nicht alle Tage, dass das Mündel eines Aurors sich in Slytherin sah.

Sekunden später fanden wir uns auf etwas wackligen Beinen auf dem Gleis 9 ¾ wieder. Die Diggorys grüßten freundlich und gingen mit Amos voraus. Ich grüßte zurück, Sev war zu beschäftigt damit, die große rote Lokomotive des Hogwartsexpress anzustarren. Es berührte mich eigenartig, dass ihn mal etwas beeindruckte. „Wollen wir?"fragte ich munter. Er nickte bloß und wir schlenderten am Zug entlang auf der Suche nach einem freien Abteil.

Wie immer war einiges los auf dem Gleis. Die Erstklässler hielten sich hauptsächlich bei ihren Familien, während die Älteren herumstromerten und sich zu Grüppchen zusammenschlossen. Direkt vor uns begrüßten sich einige Jungen und Mädchen so lautstark, als hätten sie sich ein halbes Menschenalter nicht mehr gesehen. Ein Junge mit tiefliegenden Augen, der mir vage bekannt vorkam, und ein Mädchen mit dichtem, glänzendem Haar, das ihr Gesicht umgab wie eine schwarze Wolke, hatten der Familienähnlichkeit zufolge ihre jüngeren Brüder mitgebracht, von denen sie nicht mehr als ein Jahr trennen konnte, und stellten sie ihren Freunden vor.

Ein Junge mit Brille und zerzausten rabenschwarzen Haaren von vielleicht 12 Jahren steckte den Kopf aus einem der Fenster, um einem anderen Mitschüler etwas zuzurufen, einem kleinen, mausgrauen Gesellen, der sich sichtlich beeilte, dem Ruf zu folgen. Der Junge sah kurz ins Innere des Abteils und richtete ein paar Worte an den- oder diejenigen, die es mit ihm teilten. Lachend sah er wieder hinaus, wo der andere gerade die Zugtür erreicht hatte und einstieg. Ein auffalllend hübsches Mädchen mit fein ziselierten Gesichtszügen, hüftlangen, silberblonden Haaren und einem Vertrauensschülerabzeichen auf seinem Umhang folgte ihm. Sie schien an dem namentlichen Abteil Halt zu machen, drinnen erhob sich ein weiterer Schwarzkopf, als sie die Tür öffnete.

„Ich denke, ich komme zurecht."unterbrach Sev meine Beobachtungen.

Ich reichte den Seesack zu ihm hinunter. „Meinst du?"

„Na, logisch."

Ich beugte mich ein wenig zu ihm herunter und versuchte halbherzig, ihm eine Abschiedsumarmung anzubieten. Ich machte meine Sache wohl sehr ungeschickt, denn Sev meinte unverblümt: „Lass das, Alastor. Wir wirken wie eine schlechte Kopie der glücklichen Familien hier." Er schulterte den Seesack bequemer, mit einer Leichtigkeit, die das schwere Aussehen des Dings Lügen strafte, lachte mich im Weggehen noch einmal an und sagte: „Ich schreibe, wenn ich da bin."

Ich sah ihm grimmig nach, wie er über den Bahnsteig ging, ohne noch einmal zurückzublicken. Er hatte keine gute Haltung, es war die von Leuten, die viele Stunden am Tag über schwere Bücher gebeugt sitzen und das Haus nur verlassen, um sich auf der Nockturngasse herumzutreiben. Zum andern war er größer als die meisten seiner hier versammelten Gleichaltrigen, das machte ihn möglicherweise befangen. Bei all seiner Schläue und Arroganz war er doch immer noch ein Heranwachsender unter Heranwachsenden, denen er in biologischer Hinsicht nichts voraus hatte.

Ich sah ihn hinter der lärmenden Bande von vorhin in den Zug einsteigen. Einer von denen, ein schlanker, blonder Junge, drehte sich grinsend zu ihm um und sagte etwas. Die Tatsache, dass ich Sev auf diese Entfernung antworten hören konnte, überzeugte mich davon, dass er bei weitem nicht so gelassen war, wie er schien. Er hatte die Angewohnheit, stets sehr leise zu sprechen, wenn er es jetzt nicht tat, musste es an der Aufregung liegen. Was immer er sagte, das Lächeln des Blonden vertiefte sich und sie schienen das Gespräch fortzuführen, während sie in dem Waggon verschwanden. Mein Severus und soziale Kompetenz?

Schon gut, dachte ich. Jetzt gab es nichts mehr für mich zu tun. Ich konnte mich ebensogut entspannen, alles ging seinen Gang. Die Diggorys, die sich von ihrem Jungen schon verabschiedet hatten, winkten mich zu sich herüber und ich postierte mich zwischen ihnen und den Lupins, um mit allen anderen Eltern auf die Abfahrt des Hogwartsexpress zu warten. Dabei betete ich unablässig, dass die fröhliche Bande in Gryffindor sein mochte.

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So, der Grundstein ist gelegt. Sev umgibt ein Geheimnis, an das er selbst sich nicht erinnern kann und das Alastor am liebsten verdrängen möchte – nicht gerade ideale Voraussetzungen für Familienzusammenhalt, oder? Im 2. Kapitel werden wir Alastor zur Arbeit begleiten (d. h. es geht etwas actionreicher zu), Post von Sev aus Hogwarts bekommen, etwas mehr darüber erfahren, unter welchen Umständen Alastor sein Vormund wurde und eine Entdeckung machen, die noch eine große Rolle spielen wird.

BITTE schreibt mir, was Ihr bis jetzt denkt oder einfach nur, dass Ihr's gelesen habt – das macht mich auch schon glücklich. -:)