5 Versteckte Tränen in der Nacht
Harry hatte seit seinem letzten Alptraum kaum eine
Nacht richtig einschlafen und durchschlafen können. Er hatte immer noch das
Bild von dem schreienden Mädchen vor sich und sah wie ihr das Blut an den
nackten Beinen herunterlief. Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, dass
dieses junge Mädchen durch den Cruciatus-Fluch wahrscheinlich ihr ungeborenes
Kind verloren hatte. Er hatte durch seine Verbindung zu Voldemort genau
gespürt, was dieses Mädchen in diesem Augenblick gefühlt hatte.
Die ganze Verzweiflung und der
Schock des Verlustes waren in sein Bewusstsein eingedrungen und hatten die so
mühevoll unterdrückten Gefühle der Trauer über Sirius Blacks Tod wieder
aufgewühlt. Wie eine Flutwelle schwappten die so verzweifelt verdrängten
Gefühle aus den Tiefen des Unterbewusstseins zurück in seinen mühsam um
Beherrschung kämpfenden Verstand. Die Schuldgefühle nagten jetzt noch heftiger
als zuvor an dem Gryffindor. Er fühlte, wie jegliche Energie aus seinem Geist
entwich.
Harry fühlte sich müde wie nie zuvor, unfähig, irgendwas zu unternehmen,
kraftlos. Hinzu kam, dass er sich vollkommen wertlos fühlte, weil er nicht dazu
in der Lage gewesen war, Sirius oder den vielen anderen Opfern Voldemorts zu
helfen. Die ganze Welt der Zauberer erwartete von ihm, dass er sie irgendwann
von Lord Voldemort erlösen würde. Dieser Druck schien ihn jetzt fast zu
ersticken. Wie konnten denn alle von ihm erwarten, dass er Voldemort besiegte,
wenn er so ein verdammter Schwächling und nun schon wieder im Begriff war, in
Tränen auszubrechen?
Wütend versuchte er, seine aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Er wischte sich
mit dem Ärmel seines Schlafanzuges über die Augen und blinzelte ungehalten.
Harry unterdrückte im letzten Moment das tief in ihm aufsteigende Schluchzen
und beschloss, sich seinen Unsichtbarkeitsumhang zu schnappen, um sich wie
schon so oft auf das Dach des verlassenen Westturmes zu schleichen. Ohne einen
einzigen Mucks von sich zu geben, bewegte sich der Gryffindor katzengleich
durch die Dunkelheit und erreichte sein Ziel, ohne irgendjemandem zu begegnen.
Als er sich durch das kleine, lukenartige Fenster aufs Dach schwang, entdeckte
er einen ihm vertrauten Umriss. Draco saß bereits auf dem Dach und beobachtete
mit einem abwesenden, ganz verträumten Gesichtsausdruck die Sterne. Der
Slytherin erschreckte sich heftig, als Harry seinen Tarnumhang heruntergleiten
ließ und sich leise räusperte, aber sein Gesicht hellte sich sofort auf, als er
seinen Freund erkannte. Harry setzte sich neben ihn und fragte mit kratziger
Stimme: "Konntest du auch nicht schlafen?"
Draco nickte zustimmend: "Mir ging so viel durch den Kopf, also bin ich
hergekommen, um die Sterne zu beobachten. Das beruhigt mich immer und ich kann
meine Gedanken ordnen."
Es war einen Moment lang vollkommen still. Beide Jungen sahen zu den Sternen
auf. Harry musste den Impuls unterdrücken, sich einfach in Dracos Arme zu
schmiegen und alles herauszulassen. Er schloss seine brennenden Augen und
atmete tief durch, um den immer größer werdenden Kloß in seinem Hals
loszuwerden. Der Slytherin spürte sofort, dass etwas mit seinem Freund nicht
stimmte und er betrachtete ihn eingehend, während er sanft fragte: "Was
bedrückt dich, Harry?"
Harry zuckte leicht mit den Schultern und antwortete mit leicht gepresster
Stimme: "Ist nicht so schlimm. Eigentlich ist es gar nichts..."
Seine Stimme brach plötzlich und
er musste sich räuspern.
Draco legte seinen Arm um den Gryffindor. Er merkte, wie dieser leicht
zitterte, als er ihn an sich zog und auch seinen zweiten Arm um ihn legte. Der
Slytherin seufzte mit einem Anflug von Frustration in seinem nachdenklichen
Gesichtsausdruck und sprach schließlich aus was er dachte: "Harry, du
darfst dich nicht so verschließen. Du machst alles nur noch schlimmer, wenn du
nicht über deine Gefühle sprichst. Ich weiß genau wovon ich spreche. Ich bin
genauso wie du. Bitte, sag mir was los ist."
Harry kämpfte erneut gegen seine Tränen an und erwiderte mit kaum erkennbarem
Zittern in der Stimme: "Draco, ich bin einfach nicht gewohnt, so mit
jemandem zu reden. Es fällt schwer, alte Gewohnheiten abzulegen."
Draco strich seinem Freund die widerborstigen, schwarzen Haare aus dem Gesicht
und legte zärtlich seinen Zeigefinger unter Harrys Kinn, um ihn sanft dazu zu
bringen, ihn anzusehen. Harry spürte die mühsam zurückgehaltenen Tränen in
seinen Augen brennen. Seine Lippen begannen zu zittern, ohne dass er es hätte
verhindern können. Draco sah die stumme Trauer in seinen Augen und nahm ihn
erneut in den Arm, während er ihm ins Ohr flüsterte: "Hör endlich auf, den
Helden zu spielen und lass es raus, bevor du platzt."
Das wirkte. Harry wurde von seinen aufgestauten Gefühlen überwältigt. Lautlos
weinte er in den Armen seines Freundes. Seine Tränen durchnässten Dracos
schwarzes, seidig glänzendes T-Shirt und dieser schloss seine Arme noch enger
um den nun am ganzen Körper zitternden Jungen, der einfach nicht aufhören
konnte zu weinen. Er vermisste Sirius so sehr. Niemals hatte er sich gestattet
zu trauern, geschweige denn, mit jemandem darüber zu sprechen. Auch Cedrics Tod
nagte immer noch an ihm und die Schuldgefühle drohten, ihn langsam aber sicher
zu zerfressen. Harry hatte das Gefühl zu zerbersten unter der ganzen
angestauten Trauer, seinen Selbstzweifeln, dem aufgebauten Frust und dem Gefühl,
vollkommen schuldig und wertlos zu sein.
Draco streichelte beruhigend über seine langen, zerzausten Haare und versuchte,
seinen Freund zu trösten: "Sch... ist ja gut. Ich bin bei dir."
Harry hatte jetzt auch beide Arme um den Slytherin gelegt und seine Tränen
begannen allmählich zu versiegen. Während sich der Gryffindor so langsam wieder
beruhigte und er sich wieder in den Griff bekam, stieg langsam aber stetig ein
heftiges Schamgefühl in ihm auf. Schon wieder hatte er sich in Dracos Armen
total gehen lassen und sich die Augen ausgeheult. Der Slytherin musste ja
langsam denken, dass er ständig so nah am Wasser gebaut hatte und ein
kompletter Weichling war.
Wütend auf sich selbst löste der Gryffindor die tröstende Umarmung und wischte
sich mit einer ungeduldigen Handbewegung die halb getrockneten Tränenspuren aus
dem Gesicht. Er konnte Draco nicht in die Augen sehen, weil ihm die ganze
Situation ziemlich peinlich war. Er befürchtete, ihn mit seinem wiederholten
plötzlichen Gefühlsausbruch vollends abzuschrecken. Er hatte immer noch das
geistige Bild vor Augen wie peinlich berührt Ron gewesen war, als er ihn eines
Nachts nach einem seiner quälenden Alpträume weinend in seinem Bett vorgefunden
hatte. Ron hatte nur unbeholfen etwas vor sich hingestammelt und konnte ihn
tagelang nicht ohne diesen mitleidigen Blick ansehen. Jeder erwartete von ihm,
stark zu sein und Tränen passten wohl kaum zu diesen Erwartungshaltungen.
Draco wusste, was in seinem Freund vorging ohne eine Erklärung zu benötigen.
Auch er war sich dieser sinnlosen Klischees vom starken Jungen, der nicht
weinen darf, weil er sonst Schwäche zeigt, bewusst. Er hatte während seiner
gesamten Kindheit auch eine gehörige Portion dieser sogenannten Erziehung zum
Mann von seinem Vater mitbekommen. Er konnte gut nachempfinden, wie sich der
andere Junge gerade fühlte. Vor allem, weil ihm ständig alle dieses populäre
Bild vom Retter der Zaubererwelt vor Augen hielten und von ihm erwarteten, dass
er Dinge ertrug, die jeden erwachsenen Zauberer zerbrochen hätten.
Draco griff nach Harrys Hand und nahm sie sachte in seine: "Harry, das war
vollkommen in Ordnung. Das muss einfach manchmal sein, weißt du."
Harry sah ihn jetzt endlich hinter dem Vorhang aus schwarzen Haaren heraus an:
"Ich... Draco... es tut mir leid. Ich fühle mich so schwach..."
Draco streichelte mit seinem Daumen über Harrys Handrücken: "Dir muss
nichts leid tun. Möchtest du vielleicht jetzt darüber sprechen was dich
bedrückt?"
Harry zögerte einen Augenblick und seufzte niedergeschlagen, bevor er versuchte
dem Slytherin eine Erklärung abzugeben: "Dieser Traum, den ich in der
Nacht nach dem Schulball hatte, hat mich an Sirius erinnert und an
Cedric."
Draco nickte und sah ihn verständnisvoll an, während Harry heiser hinzufügte:
"Ich konnte Sirius nicht helfen, obwohl ich Schuld war, dass er in diesen
Angriff verwickelt wurde. Cedric würde auch heute immer noch glücklich leben,
wenn ich nicht so bescheuert gewesen wäre. All die ganzen Opfer von Voldemort.
Und ich heule hier rum wie ein hilfloses kleines Kind, anstatt zu
kämpfen."
Draco biss sich auf die Lippen: "Aber du hattest gar keine Chance etwas zu
verhindern oder zu helfen."
Harry schüttelte den Kopf und flüsterte: "Ich hätte wenigstens versuchen
sollen zu helfen, aber ich war wie gelähmt."
Draco wurde langsam immer klarer wie tief diese Selbstvorwürfe bereits
verwurzelt waren und er merkte, wie er sich selbst zusehends hilflos fühlte.
Das Gefühl überschattete sein sonst so selbstsicheres Auftreten und er begann
sich, für einen Malfoy vollkommen ungewohnt, merklich unsicher zu fühlen und
seine Fassade bröckelte. Harry erspürte die wachsende Unsicherheit seines
Freundes und sagte sanft: "Siehst du, jetzt beunruhige ich dich auch
noch."
Der Slytherin schüttelte den Kopf heftig und beeilte sich zu versichern:
"Gib dir nicht ständig die Schuld für Probleme von anderen. Es ist nicht
deine Schuld, dass ich unsicher werde. Ich bin nur so verdammt hilflos. Ich
möchte dir irgendwie helfen, aber ich weiß nicht wie."
Draco war so wütend auf sich selbst, dass er sich am liebsten geohrfeigt hätte
und er verfluchte sich innerlich, wie er nur so etwas dämliches hatte sagen
können. Er war ein Malfoy. Äußerlich immer aalglatt und selbstbewusst und ihm
fiel jetzt nichts Intelligenteres ein, als zu sagen ´Ich möchte dir gerne
helfen, aber ich weiß nicht wie´?
Na, was besseres hätte nicht
passieren können. Endlich hatte er den Gryffindor so weit, über seine Probleme
zu reden und er verlor seine Fähigkeit, auf alles eine richtige Antwort zu
haben. ´Schöne Scheiße´, dachte er mit einem heftigen Anflug von bitterem
Sarkasmus.
Er war rein äußerlich ruhig geblieben, aber Harry schien zu spüren, was
innerlich in ihm vorging. Harry drückte seine Hand, bevor er ihn in seiner ihm
eigenen offenen Art ansprach: "Draco, du brauchst dir keine Vorwürfe zu
machen. Ehrlichkeit ist nie verkehrt und mir reicht es schon, dass du mir
zuhörst, ohne mich so mitleidig anzusehen. Du hast mir geholfen, obwohl du
nicht viel getan hast."
Harry blickte Draco in seine eisblauen Augen und wieder schienen beide zu
wissen, was in dem anderen vorging. Worte waren in diesem Augenblick nicht
nötig. Sie umarmten sich mit überraschender Zärtlichkeit und ihre Lippen trafen
sich in einem leidenschaftlichen Kuss. Der Tanz der Zungen begann zögerlich und
sanft, bevor sie immer hungriger den Mund des anderen erforschten, während ihre
Zungen sich gegenseitig liebkosten. Die beiden Jungen beendeten diesen innigen
Kuss, weil sie beide schwer nach Luft ringen mussten und sie sahen sich
verlegen grinsend an.
Harry blickte den Slytherin gedankenverloren an. Schließlich mutmaßte er
zaghaft: "Ich habe das komische Gefühl, als ob manchmal eine Verbindung
zwischen uns besteht. Ganz ähnlich wie meine Verbindung zu Voldemort, nur aus
der entgegengesetzten Richtung."
Draco zog eine Augenbraue nach oben und entgegnete nachdenklich: "Du
meinst, dass du in meinen Geist eindringen kannst und mich dich spüren lassen
kannst?"
Harry seufzte tief und gab zu: "Ja, so ähnlich. Es ist nur irgendwie nicht
steuerbar und ich kann es nicht abblocken."
Draco grinste und scherzte: "Ich bin halt unwiderstehlich, sowohl mein
Körper als auch mein Geist."
Harry zog belustigt eine Grimasse und ging auf das kleine Spielchen ein:
"Du bist ja ziemlich überzeugt von dir mein Liebling. Was, wenn ich jetzt
feststelle, dein Körper ist unwiderstehlich und dein Geist unausstehlich?"
Beide Jungen mussten über diesen Ausbruch schwarzen Humors lachen und ein
weiteres Mal feststellen, dass sie erstaunlicherweise mehr als eine Ähnlichkeit
hatten, in ihrer Art mit allem umzugehen. Harry stellte ziemlich trocken fest:
"Dein Humor beginnt mir zu gefallen, Draco. Ich bin angenehm überrascht,
wie sarkastisch du sein kannst."
Draco strich mit seiner Hand durch Harrys schwarzes, wirres Haar und sagte
sanft: "Und ich liebe es, dich lächeln zu sehen. Das solltest du wirklich
öfter tun."
Harry konnte nicht anders, als diesem Wunsch sofort nachzukommen. Er lächelte
eines seiner in letzter Zeit wirklich äußerst seltenen echten Lächeln, das auch
seine Augen erreichte. Eisblaue, silbern glitzernde Augen trafen auf funkelnde,
smaragdgrüne und die beiden sahen sich tief in die Augen, während sie beide
grinsen mussten. Froh, so eng nebeneinander sitzen zu können und einfach die
Gegenwart des anderen zu genießen.
Als die Sonne aufging, beobachteten die beiden eng aneinandergekuschelt das
faszinierende Farbenspiel in den Wolken und beschlossen, dass es jetzt wohl
Zeit war, sich zu trennen und für den Tag vorzubereiten. Zum Abschied küssten
die beiden sich ein letztes Mal verlangend bis das Bedürfnis zu Atmen ihren
Kuss beendete. Draco legte seine Wange gegen Harrys Wange und flüsterte in sein
Ohr: "Ich werde deine Berührungen vermissen, Wunderknabe."
Harry hauchte traurig klingend zurück: "Das geht mir genauso, mein
Drache."
Sie umarmten sich noch ein letztes Mal, bevor sich ihre Wege trennten und sie
einem weiteren Schultag entgegeneilten.
