6 Professor Snape als Mentor?
Harry grübelte nun schon den
ganzen Tag über dieses seltsame Gefühl der Verbundenheit mit Draco nach, und er
kam einfach zu keinem Schluss. Es war irgendwie so wie der Slytherin vermutet
hatte. Es schien eine Art Verbindung zwischen ihnen zu bestehen, die es
ermöglichte, die Gefühle des anderen zu spüren. Es war schon ziemlich
merkwürdig, dass ausgerechnet Draco Malfoy, der ihn jahrelang beleidigt und
sehr überzeugend die Rolle seines Erzfeindes gespielt hatte, nun solche Gefühle
in ihm hervorrief und eine Art geistiges Band zwischen ihnen bestand. Aber so
war es nun mal. Es war nicht mehr zu ändern, selbst, wenn er es gewollt hätte.
Mal ganz davon abgesehen, dass es gar nicht seine Absicht war, daran etwas zu
ändern. Weil eben jener Slytherin ihn wieder zum Leben erweckt hatte und er
sich in seiner Nähe geliebt und geborgen fühlte. Das waren Gefühle, die er so
vorher noch nie erlebt hatte.
Wenn man als einziger Retter der Zaubererwelt angesehen wurde, dann war es
irgendwie selbstverständlich, dass man selber anderen Geborgenheit geben
sollte. Niemand war auch nur auf die Idee gekommen, dass er verängstigt,
depressiv und voller Schuldgefühle war. Er hatte sich in seinen vielen
zurückgezogenen Stunden auf dem Dach des Westturmes so sehr jemanden gewünscht,
der bei ihm sein, ihn verstehen und in den Armen halten würde.
Es war ihm im Laufe der Jahre so
sehr zur Gewohnheit geworden, tagsüber seine Trauer, die Einsamkeit, trotz der
vielen Leute um ihn herum und den immer stärker werdenden Wunsch, einfach
seinem ganzen aufgestauten Frust nachzugeben und sich fallen zu lassen, immer
tiefer und tiefer in die Dunkelheit, aus der es kein Entrinnen zu geben schien,
hinter einer Maske von aufgesetzter Fröhlichkeit zu verstecken.
Sicherlich hatte Hermine versucht, mit ihm zu reden. Er hatte aber immer das
Gefühl gehabt, sie beschützen zu müssen und ihr ihre kleine, heile Welt nicht
kaputt zu machen. Sie reagierte immer so wissenschaftlich und analytisch. Er
kam sich vor wie auf dem Seziertisch, was ihn stets davon abgehalten hatte, ihr
von seinen Gefühlen zu erzählen. Harry hasste nichts mehr, als seine Gefühle
immer und immer wieder erklären zu müssen und ihnen einen Sinn rein zu
interpretieren.
Warum zum Teufel braucht man noch
eine weitere Erklärung, wenn man gerade jemandem erzählt hat, dass man schlecht
gelaunt ist? Muss denn immer alles einen Grund haben, den man fassen, erklären
und bis aufs kleinste Detail zerlegen kann?
Ja und Ron: Ron war eine ganz andere
Geschichte. Er war sein bester Freund, aber Harry fühlte sich in seiner
Gegenwart stets dazu gezwungen, den starken Mann zu markieren. Ron konnte es
nicht ertragen, einen Jungen weinen zu sehen, geschweige denn, einen anderen
Jungen zu trösten. Er war auch nicht unbedingt mit sonderlich viel Taktgefühl
ausgestattet, um es mal vorsichtig auszudrücken.
Schon als kleiner Junge bei den Dursleys war nie jemand für ihn da gewesen, dem er hätte vertrauen können, an dem er überhaupt erst mal so etwas wie Vertrauen hätte erproben oder aufbauen können. Draco war so anders als alle anderen. Er schien, ihn zu verstehen, ohne großartige Erklärungen zu verlangen. In seinen Armen fühlte er sich so sicher und geborgen. Fast, als wäre er erst dann so richtig komplett, als wenn zwei zerbrochene Hälften wieder zusammengefügt würden.
Moment mal, hatte er so etwas
nicht schon mal gehört? Und zwar während einer seiner Übungsstunden mit Snape,
um zu lernen, Voldemorts Versuche in seinen Geist einzudringen abzuwehren.
In diesem Moment wurde Harry jäh aus seinen Gedanken gerissen, denn Hermine
zupfte ungeduldig an seinem Ärmel und warf ihm einen ihrer strengen Blicke zu:
"Genug geschlafen, Harry. Der Geschichtsunterricht ist jetzt vorbei. Du
solltest zur Abwechslung vielleicht mal ne Nacht im Bett verbringen und
schlafen. Komm jetzt, oder wir kommen noch zu spät zu Zaubertränke."
Harry verzog sein Gesicht und unterdrückte ein Gähnen, als er aufstand um ihr
zu folgen, ohne ein Wort zu sagen und schon wieder in Gedanken versunken. Die
Schulsprecherin schüttelte entnervt den Kopf und sagte in leicht verärgerten
Tonfall: "Du bist heute nicht sehr gesprächig, oder? Typisch."
Harry blickte sie so unschuldig wie möglich an und erwiderte entschuldigend:
"Hab´ schlecht geschlafen."
Das Mädchen sah ihn mit gespieltem Erstaunen an und entgegnete sarkastisch:
"Wie jetzt? Ich war der Meinung du hast gar nicht geschlafen und bist erst
heute Morgen nach Sonnenaufgang zurückgekommen."
Der schwarzhaarige Gryffindor blickte betreten zu Boden und vermied jeglichen
Augenkontakt als er antwortete: "Du weißt aber auch alles. Wer hat dir
denn das erzählt?"
Mit einem äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck gab sie zu: "Dean hat dich
wiederkommen sehen."
Die beiden Gryffindors beeilten sich, noch rechtzeitig zum
Zaubertrankunterricht in den Kerkern zu gelangen. Sie schafften es gerade eben.
Draco hatte offensichtlich einen Platz für Harry freigehalten und dieser ließ
sich elegant auf den Stuhl neben seinen Freund gleiten, als Professor Snape den
Raum betrat und wie üblich mit säuerlicher Miene umherblickte. Sein Blick blieb
dann kurz an Harry haften. Er hob anzüglich eine Augenbraue, als er bemerkte,
dass die beiden Jungen, die die Gerüchteküche von Hogwarts gerade zum
Überkochen brachten, sich nebeneinander gesetzt hatten. Beide sahen ihn mit
unschuldigem Gesichtsausdruck an und er schnaubte: "Eins muss ich
vorwegschicken: Ich dulde in meinem Unterricht keine Fummeleien. Habe ich mich
verständlich gemacht?"
Die beiden Jungen nickten vollkommen synchron, immer noch einen fast schon
engelsgleichen, unschuldigen Ausdruck auf dem Gesicht. Für alle unsichtbar,
legte Draco unter dem massiven Holztisch zärtlich seine Hand auf Harrys Knie
und dieser legte seine Hand auf die des Slytherin.
Auf diese Art begann der Zaubertrankunterricht dem Gryffindor zu gefallen.
Während die zwei Jungen zusammen an ihrem Heiltrank arbeiteten, ergriffen beide
immer wieder die Gelegenheit, sich wie zufällig zu berühren. Hier ein kurzes
Streicheln über die Hand beim Hinzufügen einer Zutat. Dort ein kurzes
Zusammentreffen ihrer Gesichter, Wange an Wange, beim Umrühren und Beobachten
des vor sich hin köchelnden Trankes.
Diese gegenseitige Vertrautheit
konnte fast den Eindruck erwecken, dass die beiden schon eine Ewigkeit zusammen
waren. Blaise, der zusammen mit Millicent hinter den beiden saß, grinste
belustigt und flüsterte ihnen in einem unbeobachteten Moment zu: "Hey, da
könnte man ja fast neidisch werden, wenn man euch so zusammen sieht. Ihr zwei
gehört einfach zusammen. Das sieht selbst ein Blinder."
Draco grinste selbstzufrieden über das ganze Gesicht und zischte zurück:
"Danke für die Blumen. Da sag mir noch mal jemand, dass es wahre Liebe
nicht gibt."
Harry wurde ungefähr so rot wie der Zaubertrank in ihrem Kessel und beugte sich
verlegen noch tiefer über den Trank. Dabei lehnte er sich etwas zu weit vor und
musste sich am Tisch abstützen. Unglücklicherweise griff er dabei genau auf das
Messer, dass sie vorher zum Schälen der Schrumpfwurzeln gebraucht hatten und
verletzte sich dabei.
Harry fluchte leise vor sich hin:
"Mist, verdammter! Jetzt hab ich in dieses dämliche Messer
gegriffen."
Seine Hand blutete heftig und Draco war sofort zur Stelle, um mit seinem
Taschentuch den Blutfluss zu stoppen. In diesem Moment ertönte von hinten
Professor Snapes wütende Stimme: "Purpur Longbottom. Dieser Trank ist
purpurfarben und nicht rot, wie er sein sollte."
Dann hörte man Nevilles schüchternes Quieken: "Aber ich habe alle
Anweisungen befolgt."
Der Lehrer funkelte ihn mit seinen nun fast schwarz erscheinenden Augen wütend
an und knurrte: "Vielleicht sollten Sie dann das nächste Mal auch genauer
auf die Anweisungen hören, die ihnen Ms Granger wie immer zuflüstert. Oder Sie
lernen, meine Anweisungen weniger schlampig zu befolgen."
Neville vermied verlegen jeglichen Augenkontakt. Seine Gesichtsfarbe sah jetzt
der Flüssigkeit in seinem Kessel ziemlich ähnlich. Snape blickte grollend
umher. Als er bemerkte, wie Draco ein Taschentuch auf Harrys verletzte Hand
drückte, blitzte es in seinen Augen fast unmerklich auf und er bewegte sich mit
wehender schwarzer Robe auf die beiden zu: "Was gibt das denn, wenn es
fertig wird? Ich hatte ihnen doch gesagt, ich dulde keine Fummeleien."
Draco rollte seine Augen und erwiderte in leicht genervtem Tonfall, den nur er
sich bei Professor Snape erlauben durfte: "Wir fummeln nicht. Ich stille
die Blutung an seiner verletzten Hand."
"Wie überaus fürsorglich von Ihnen, Mr Malfoy. Aber wie wäre es, wenn wir
Mr Potter als Versuchskaninchen für Mr Longbottoms Zaubertrank nehmen? Wenn
Longbottom wirklich alles richtig gemacht hat, dann ist die verletzte Hand im
Nu geheilt. Falls nicht, können Sie ihn ja zur Krankenstation bringen und
sowohl die Hand, als auch die Folgen von Longbottoms Zaubertrank kurieren
lassen."
Harry seufzte mit einer leichten Vorahnung, welche der beiden Möglichkeiten
wahrscheinlicher sein würde. Der Gryffindor begegnete mit seinem Blick Snapes
unergründlichem Ausdruck in seinen Augen, nur um zu sehen, wie ein spöttisches
Lächeln seine Lippen umspielte. Draco runzelte mit einem Anflug von Wut seine
Brauen und streichelte unter dem Schulumhang versteckt Harrys Rücken, um ihn zu
beruhigen. Harry dachte nur noch: Jetzt kann Snape zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen: Mir die Streiche, die mein Vater ihm gespielt hat heimzahlen
und Neville bloßstellen.
Er richtete seinen Pferdeschwanz und begab sich leise murrend zu Neville, um
dort seinen Löffel in den Topf zu tunken und einen Schluck von dem nun
verdächtig rosa aussehenden Gebräu zu testen. Das Zeug schmeckte ekelhaft süß,
so dass man das Gefühl hatte, der ganze Gaumen würde kitzeln und sich
zusammenziehen. Es passierte jedoch rein gar nichts, außer, dass seine Hand
wieder zu bluten begann. Snape grinste nun noch spöttischer und machte sich
über Neville her, während er Draco gestikulierte, dass er Harry zur
Krankenstation bringen sollte.
Harry fühlte sich plötzlich merkwürdig und sah alles etwas verschwommen, als
hätte er seine Kontaktlinsen plötzlich verloren. Er stolperte aus dem
Klassenraum, dicht gefolgt von Draco, der ihn gerade noch auffing, bevor er
hinfallen konnte. Die beiden blieben einen Moment in dem verlassenen, stickigen
Kellergang stehen, damit Harry sich erholen konnte. Der Slytherin sah ihn mit
besorgtem Gesichtsausdruck an und fragte: "Was zum Teufel hat Neville da zusammengebraut?"
Harry begann sich langsam wieder besser zu fühlen. Als er Draco ansah, überkam
es ihn plötzlich. Er schmiegte sich noch enger in die Umarmung und gestand mit
rauer Stimme: "Draco ich liebe dich, wie ich noch nie jemanden geliebt
habe! Du bist mein Gegenstück, das mir gefehlt hat. Unsere Seelen sind
verwandt."
Der blonde Slytherin spürte wieder diese Ahnung, als würde er Harrys Gefühle
empfangen und umgekehrt. Nur war es dieses Mal noch viel stärker. Er hörte
tatsächlich Harrys Gedanken in seinem Kopf. Sah Bilder von seinen Gedanken vor
seinem inneren Auge vorbeiziehen. Alte Erinnerungen und eine Gewissheit drang
in sein Bewusstsein: So musste es sein, einen Seelenpartner gefunden zu haben.
Auch Harry erlebte in diesem Augenblick exakt das Gleiche. Die beiden küssten
sich leidenschaftlich, um das wunderschöne Gefühl noch zu intensivieren.
Plötzlich wurden sie unterbrochen von einem Räuspern. Der düster dreinblickende
Zaubertranklehrer tippte Draco auf die Schulter. Die beiden Jungen fuhren
erschreckt auf und blickten den Professor erstaunt an, der nur schnappte:
"Mitkommen, wir gehen jetzt in mein Büro."
Hand in Hand folgten sie ihm. Harry ahnte bereits, was nun folgen würde. Er
sollte tatsächlich Recht behalten, denn als sie Snapes Büro betraten, saß
Professor Dumbledore schon gemütlich in einem Stuhl und zwinkerte sie an. Jetzt
war wohl die Zeit für ein paar winzige Erklärungen gekommen, damit sie sich den
Rest dann selber zusammenreimen konnten. Da war er wieder, ein leichter Anflug
von Sarkasmus.
Professor Dumbledore sah die beiden Jungen mit wissendem Ausdruck an und
fragte: "Gibt es irgendetwas Ungewöhnliches, über das Sie beide gerne
berichten würden?"
"Nein, Professor Dumbledore.", logen beide wie aus einem Mund.
Der immer noch düster dreinblickende
Zaubertranklehrer hob überrascht eine Augenbraue und sah den Schulleiter
wartend an. Dieser räusperte sich und beeilte sich zu erklären: "Nun es
wäre vielleicht möglich, dass es hier in letzter Zeit einen Fall von
Seelenverbundenheit gegeben hat und dadurch gewisse Vorsichtsmassnahmen
notwendig wären, um beide Seelenpartner vor ihren neuen Fähigkeiten zu schützen
und sie zu trainieren, bevor sie aus dem Ruder laufen."
Harry seufzte innerlich. Warum wusste dieser Mann immerzu was vorging? Und doch
hatte er ihn letztes Jahr mit seinen Depressionen allein gelassen. Mit einer
gehörigen Portion von Bitterkeit dachte Harry daran, dass Depressionen
wahrscheinlich nicht magisch genug waren, um ihn auf den Plan zu rufen.
Draco war erstaunt über die Bitterkeit, die sein Freund plötzlich ausströmte
und übernahm die Gesprächsführung: "Wenn Sie es doch sowieso schon wissen,
warum fragen sie dann noch?"
Nun schaltete sich Snape ein und versuchte das Gespräch zu retten: "Mr
Potter, der Trank den sie eben getestet haben, war, wie sich herausstellte, ein
Veritasamor-Trank, den Longbottom durch seine Dummheit unwissentlich gebraut
hat."
Harry rollte mit den Augen und fragte lustlos: "Und was hat das zu
bedeuten?"
Albus Dumbledore räusperte sich: "Nun ich nehme an, Sie haben soeben Mr
Malfoy Ihre wahre Liebe gestanden. Dieser Trank bringt denjenigen, der ihn
kostet, dazu, seine wahre Liebe zu erkennen und sie offen zu gestehen, falls
das bisher noch nicht der Fall war."
Draco schnaubte ungeduldig und mit den Füßen scharrend: "Ja und was ist
daran jetzt so besonderes? Wir waren doch vorher schon zusammen und sind nicht
erst durch einen Trank verzaubert worden."
Jetzt übernahm Snape wieder das Wort: "Nicht so hastig, Mr Malfoy. Etwas
mehr Geduld wäre jetzt doch angebracht. Dieser Trank wie auch immer bewirkt,
dass eine bestehende Seelenverwandtschaft um ein Vielfaches verstärkt wird.
Seelenverwandtschaft bedeutet, eine emotionale Verbindung, die irreversibel
ist, und durch diesen Trank wird eine Art empathische bis hin zu Telepathie
reichende Verbindung geschaffen, die wie bereits erwähnt, noch viel stärker
ist. Was für Sie bedeutet, dass Sie lernen müssen, mit diesen telepathischen
Fähigkeiten umzugehen."
Nach dieser Erklärung herrschte erst mal eine lange Pause. Niemand sagte etwas
und jeder hing seinen Gedanken nach. Genau gesagt, Draco und Harry hörten
jeweils Fragmente der Gedanken des anderen und das war auf die Dauer ziemlich
irritierend.
Letztendlich war Draco derjenige,
der das Schweigen beendete: "Also gut, was können wir jetzt tun?"
Severus Snape lächelte säuerlich und bot an, "Du nimmst ab jetzt an Harrys
Okkulmentik-Übungen teil. Wir verändern das Ganze jetzt so, dass es auf euch
passt. Heute Abend fangen wir an. Nach dem Abendessen in meinen
Privatgemächern."
Die beiden Jungen nickten stumm und der Professor entließ sie mit einem Wink
seiner rechten Hand. Beide fragten sich, wo das jetzt enden würde. Draco
brachte Harry erst mal zur Krankenstation, damit seine Hand versorgt werden
konnte. Keiner der beiden konnte sich für den Rest des Tages auf den Unterricht
konzentrieren, aber das war ja schon nichts neues mehr.
