10 Lucius Malfoys Rückkehr aus dem Nirgendwo

Gerade stiegen die zwei Hogwartsstudenten die Treppe zum Eingangsportal hoch, da kam ihnen Professor Snape entgegen, als wüsste er bereits, dass sie ihn aufsuchen wollten. Erstaunt sahen sie ihn an, doch bevor einer der beiden etwas sagen konnten, begann er schon zu sprechen: „Draco, gut dass du kommst. Komm mit in mein Büro. Es ist dringend."

Draco wurde ganz mulmig, da sein Patenonkel ihn noch nie außerhalb seines eigenen Quartiers mit seinem Vornamen angesprochen hatte. Das musste bedeuten, dass er ziemlich aufgeregt war.

Die beiden jungen Männer folgten dem Zaubertrankmeister zu seinem Büro. Aber auf dem Weg dorthin, blieb Professor Snape wie angewurzelt stehen und blickte sich misstrauisch um. Dann sagte er durch zusammengebissene Zähne: „Wir gehen besser in meine privaten Wohnräume. Dort ist es geschützter."

Draco blickte zu Harry und dieser spürte, wie nervös der Slytherin plötzlich wurde. Der junge Malfoy hätte nicht sagen können wieso, aber irgendwie beschlich ihn eine düstere Vorahnung kommenden Unheils.

Als sie endlich an ihrem Ziel angelangt waren, hatte Draco ganz eiskalte, zittrige Hände und war ungewöhnlich blass. Auch Harry spürte diese dumpfe Vorahnung, weil Draco seine Gedanken nicht abschirmte und froh über die tröstenden Gefühlsimpulse war, die sein Freund ausströmte, um ihn zu beruhigen. Sie betraten die Gemächer des Zaubertrankmeisters und nahmen nach einem Wink des Professors wieder auf dem Sofa Platz.

Draco blickte Snape mit nach außen vollkommen unbeteiligtem Gesicht an und fragte: „Was ist denn los, Severus?" Und einer plötzlichen Eingebung folgend: „Es hat etwas mit Lucius zu tun, oder?"

Der Lehrer wurde umgehend einen Hauch blasser als normalerweise. Doch nur ein geschultes und wachsames Auge würde diesen Unterschied wahrnehmen. Die beiden Slytherins beäugten sich gegenseitig und beide schienen kaum merklich, ungewohnt nervös, unter der Oberfläche ihrer unantastbaren Fassade zu sein. Schließlich räusperte sich Severus Snape und begann zu erklären: „Ich erhielt heute eine Nachricht deiner Mutter. Dein Vater ist letzte Nacht nach Malfoy Manor zurückgekehrt."

Draco war sofort klar, dass dies allein nicht der Grund für Severus´ Besorgnis sein konnte und er bohrte unnachgiebig: „Er ist also zurückgekehrt und was gibt es sonst noch, dazu zu berichten?"

Harry spürte ziemlich deutlich den Aufruhr der widersprüchlichen Gefühle, die diese Nachricht in Draco auslöste. Plötzlich wurde ihm klar, dass er eigentlich gar nichts über Dracos Verhältnis zu seinen Eltern wusste, geschweige denn, über seine Kindheit bevor er nach Hogwarts kam. Alles was er an Erinnerungen gespürt hatte, wenn sie es zuließen, dass sie sich gegenseitig spüren konnten, waren Erinnerungen gewesen, die mit der Schule zusammenhingen. Er war so in seinen eigenen Problemen gefangen gewesen, dass er gar nicht wahrgenommen hatte, dass da etwas fehlte. Harry beobachtete seinen Freund besorgt, denn er hatte keine Ahnung, was diese Nachricht für Draco nun eigentlich bedeutete und wie er sie aufnehmen würde.

Der Zaubertranklehrer rückte nun endlich mit der Sprache heraus. Dabei war sein Tonfall ernst und besorgt: „Draco, deine Mutter hat sich an mich gewandt, da dein Vater offensichtlich sein Gedächtnis verloren hat. Er erinnert sich nicht an das was geschah, als er aus Askaban geflohen war und er scheint teilweise sogenannte Zeitsprünge zu durchleben. Das ist eine der Folgen von Dementoren auf Personen, in deren Erinnerungen herumgepfuscht wurde oder wenn ein schweres Trauma vorliegt. Fakt ist, dass er gestern, als er nach Hause kam, teilweise wieder in seinen Erinnerungen an seine frühe Kindheit gelebt hat. Dank der geistesgegenwärtigen Reaktion deiner Mutter, konnten diese Zeitsprünge eingedämmt werden. Zurück bleibt aber immer noch eine Amnesie, die letzten drei Jahre betreffend und es bleibt ungeklärt, wo sich Lucius aufgehalten hat und was er tat, seit er damals aus Askaban floh."

Für einen Moment war es vollkommen still in den Gemächern des Zaubertrankmeisters. Nur das Feuer im Kamin prasselte vor sich hin und der Schein der Flammen warf ein seltsam unwirkliches Licht auf die Szenerie. Dann räusperte sich Draco und fragte mit für ihn ungewohnt unsicher klingender Stimme: „Was genau bedeutet diese ganze Geschichte jetzt? Was für Traumata sind das und was hat meine Mutter getan, um die Zeitsprünge unter Kontrolle zu bringen?"

Professor Snape warf seinem Schüler einen prüfenden Blick zu, als wolle er sich vergewissern, dass dieser den folgenden Informationen auch standhalten würde. Harry spürte, dass Draco sich große Sorgen um seine Mutter zu machen schien. Fast kam es ihm vor, als hätten die beiden in den letzten Jahren die Rollen getauscht. Der Sohn hatte für seine Mutter gesorgt, wie diese früher für ihn. Das war jetzt das erste Mal, dass er überhaupt etwas, das Dracos Familie anging, in seinen Gedanken spürte.

Severus Snape holte scharf Luft, bevor er diese Fragen beantwortete: „Es bedeutet, dass dein Vater zur Zeit denkt, er sei gerade erst aus Askaban geflohen und du bist für ihn 15 und verbringst gerade deine Sommerferien zu Hause. Keine Sorge, deine Mutter hat ihn bereits informiert, dass ihm drei Jahre fehlen und du bereits 18 Jahre alt und im siebten Jahr kurz vor dem Abschluss stehst. Nun, dieses Trauma angehend... Moment, wieso weißt du dass es sich um ein Trauma handelt und nicht um die Herumpfuscherei von Voldemort in dem Gedächtnis deines Vaters?"

Snape sah seinen Schüler durchdringend an und dieser antwortete ausweichend: „Severus, es geht schließlich um meinen Vater und ich habe ein gutes Gespür für Sachen, die vor mir geheimgehalten werden sollen. Nenne es einfach den Malfoy-Sinn."

Der Lehrer hob eine Augenbraue und gab zurück: „Der Malfoy-Sinn also. Sag mal Draco, heißt das, dass auch du diese Gabe hast, die in deiner Familie schon seit Generationen weitervererbt wird, hm?"

Draco zog die Brauen zusammen und erwiderte schnell: „Das ist doch kein großes Ding. Trifft schließlich fast alle männlichen Malfoys seit Melian, unserem geschätzten Urahn."

Der Lehrer nickte und fuhr fort: „Nun ich habe es mir gedacht und das erklärt einiges an deiner speziellen Verbindung zu einem gewissen Gryffindor hier..."

An dieser Stelle nickte Snape in Harrys Richtung und das erste Mal seit Beginn dieses Gespräches zog sich alle Aufmerksamkeit auf ihn. Er nahm beruhigend Dracos Hand, da er dessen durcheinander tobende Gefühle spürte.

Mit erstaunlicher Klarheit nahm der Gryffindor in seinem Geist Dracos telepathische Botschaft wahr: „Harry, der Malfoy-Sinn ist die Gabe der Empathie, gepaart mit etwas mehr oder weniger ausgebildeter seherischer Fähigkeit. Oder sollte ich es lieber Malfoy-Fluch nennen?"

Harry antwortete in Gedanken: „Das erklärt wirklich einiges, denn unsere Verbindung bestand schon vor Nevilles Tränkeunfall. Ich hatte mich, ehrlich gesagt, schon mal gefragt, ob wir eventuell deshalb so eine Verbundenheit spürten von Anfang an, weil wir uns auch auf diesem Gebiet sehr ähnlich sind, mein Seelenpartner."

Beide schickten sich gegenseitig eine gedankliche Umarmung und spürten diese viel intensiver, als es eine körperliche jemals würde sein können. Draco wurde sofort wieder ruhiger und sah seinen Hauslehrer abwartend an.

Der hatte, dank seiner Fähigkeiten auf den Gebieten der Okkulmentik und Legilmentik, ebenfalls diese kurze Interaktion gespürt und nickte den beiden Schülern wissend zu, was diese Vermutung noch zusätzlich bestätigte. Dann begann er, Dracos restliche Fragen zu beantworten: „Dieses Trauma deines Vaters hat mit seiner Kindheit zu tun. Ich gehe jetzt nicht näher darauf ein, da dies Sache deiner Eltern sein wird und die umsichtige Reaktion deiner Mutter war schlicht und ergreifend, dieses Trauma aufzudecken und schon konnte dein Vater wieder diese Gedankenzeitsprünge überwinden. Zurück blieb die Amnesie, welche wir aber mit einigen speziellen, von mir zubereiteten, Tränken wieder in den Griff bekommen werden."

Severus Snape sah seine beiden Schüler durchdringend an und wollte mit hochgezogener Augenbraue wissen: „Und weshalb seid ihr eben auf dem Weg zu mir gewesen?"

Nun übernahm Harry das Gespräch, da Draco noch mit seinen Gedanken an seinen Vater beschäftigt war. Der Gryffindor beschrieb dem Lehrer genauestens, was zuvor im „Drei Besen" geschehen war. Bemüht, das Ereignis auf der Toilette möglichst unverworren zu schildern. Als er geendet hatte, sah er den Professor ruhig an und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen.

Der Hauslehrer Slytherins schien überhaupt nicht, überrascht zu sein: „Nun in eurem Fall wird die Sache wahrscheinlich erheblich mehr Nebeneffekte auf den Plan rufen, als es geschehen würde, wenn keiner von euch nicht schon vorher empathisch begabt gewesen wäre. Die empathischen Fähigkeiten werden sich höchstwahrscheinlich verbinden und es wäre durchaus möglich, dass Dracos sogenannter Malfoy-Sinn nicht bloß Empathie, sondern auch telekinetische Anlagen bis hin zu seherischen Befähigungen beinhaltet.

Das volle Ausmaß zeigt sich immer erst im erwachsenen Alter nach der Pubertät. Diese Fähigkeiten werden mit der Zeit jeweils auf euch beide übergehen. Es wird durch eure Verbindung auch möglich sein, nicht nur, wie ihr es jetzt tut, Kräfte auszutauschen, sondern gegenseitig eure Kraftreserven anzuzapfen. Dadurch dass auch Mr Potter großes Potential zu diesen sogenannten Geist-Kräften besitzt und auch bei ihm noch nicht alles fertig ausgebildet war, wird uns erst die Zukunft zeigen, was da noch im Verborgenen liegt und zutage tritt. Ihr solltet beide immer im Auge behalten, dass ihr euch nicht von euren Kräften beherrschen lasst, sondern umgekehrt ihr diese Kräfte beherrscht. Das ist einfacher gesagt als getan, ich weiß es ja, aber die Trainingsstunden bei mir sind nun wichtiger für euch als alles andere. Ihr müsst lernen, diese Kräfte bewusst zu steuern ohne, davon überrascht zu werden wie es heute der Fall war."

Harry war aufgefallen, wie der Lehrer zwischen „du" und „Sie" wechselte, wenn er ihn allein oder sie beide zusammen ansprach und er musste innerlich schadenfroh grinsen. Das Verhältnis zwischen Draco und Severus Snape war also so vertraut, dass er es nicht fertig brachte, beide zu siezen und so duzte er dann versehentlich auch Harry. Oder siegte da einfach der überaus stark ausgeprägte Gemeinschaftssinn der Slytherins, der wohl auch dafür verantwortlich schien, dass die Slytherins mit Dracos Coming Out und seiner Wahl, zwar mit leichtem Schreck, jedoch recht tolerant umgegangen waren?

Dracos Gedanken kreisten nun schon die ganze Zeit um seine Eltern. Er grübelte darüber nach, wie es seiner Mutter jetzt nach der plötzlichen Heimkehr seines Vaters wohl ging. Auch schien er, ein wenig Angst vor seinem Vater zu haben. Diese ganze Situation machte ihm offensichtlich mehr zu schaffen, als er es nach außen hin zeigte. Es waren ziemlich widersprüchliche Gefühle, die da in dem sonst so kühl wirkenden Malfoyerben aufflackerten und sich ständig im Kreis zu drehen schienen. Fast war es, als würde durch diese Nachricht eine alte, längst in Vergessenheit geratene, seelische Narbe wieder aufbrechen. Doch Draco schien selbst nicht so recht fassen zu können, was da mit ihm geschah.

Draco fragte entschlossen aber leicht heiser: „Wann kann ich mit meinen Eltern sprechen?"

Der Lehrer sah ihn ruhig an: „Deine Mutter hat mir für dich ausgerichtet, dass sie morgen mit dir über das Flohnetzwerk Kontakt aufnehmen wird. Du kannst sie besuchen, sobald es deinem Vater etwas besser geht. Noch ist er durch die Amnesie zu durcheinander und es würde ihm nicht gut tun, dich so verändert und viel älter, als er sich erinnern kann, zu treffen. Erst, wenn er das für sich akzeptiert hat und durch die Tränke stabiler ist, kannst du ihn besuchen. Es wird ihm helfen."

Draco nickte leicht. Harry beschlich das Gefühl, dass es seinem Freund ganz recht war, nicht sofort seinen Vater besuchen zu können, da auch er sich erst mental auf dieses Zusammentreffen vorbereiten musste. Der Gryffindor erinnerte sich zurück an das zweite Jahr, als er Lucius Malfoy mit seinem Sohn in diesem Laden in der Nockturngasse beobachtet hatte. Draco hatte damals ganz schön eingeschüchtert gewirkt und Lucius hatte ihn mit seinem Stab traktiert. Die Atmosphäre zwischen den beiden war ziemlich gespannt gewesen. Harry hatte damals nicht nur Schadenfreude, sondern auch ein bisschen Mitleid empfunden, da er ja wusste, wie es war, wenn man ständig behandelt wurde, als sei man wertlos.

Plötzlich spürte er bewusst, dass er genau diese Gedankenkette gerade an Draco weitergeleitet hatte und dieser sah ihn peinlich berührt an. Da es Zeit zum Abendessen wurde, brachen die drei zusammen auf und gingen gemeinsam in Richtung Große Halle. Während sie in Schweigen gehüllt nebeneinander her gingen, nahm Harry einmal aus den Augenwinkeln wahr, wie sich sein Freund hastig und mit einer ärgerlichen Bewegung, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen wollen, mit seinem Ärmel über die Augen fuhr. In seinen Gedanken fragte er besorgt: „Draco, was ist los?"

Harry griff nach der Hand des Slytherins, die immer noch eiskalt war und drückte diese leicht. Draco antwortete mental: „Es geht schon wieder. Ich muss das nur erst mal alles auf die Reihe kriegen."

Sie gingen Hand in Hand neben dem Zaubertrankmeister und immer noch schimmerten Dracos Augen verdächtig, als würde er nur mühsam versuchen, die Tränen zurückzuhalten. In dieser Beziehung waren sich die beiden also erschreckend ähnlich: Sie würden ihre Gefühle niemals offen zur Schau stellen oder zugeben.

Harry seufzte kaum hörbar, weil ihm hier gerade einer seiner eigenen Fehler vorgeführt wurde. Er konnte jetzt so manche Reaktion von Hermine besser verstehen, die er so oft mit Verharmlosungen abgespeist hatte, auch wenn es ihm augenscheinlich schlecht ging. Sie musste es genauso gespürt haben, wie er jetzt Dracos Gefühlszustand spürte.

An der Großen Halle angekommen, liefen sie natürlich, den Gesetzen einer unausweichlich scheinenden Pechsträhne folgend, ausgerechnet Ron Weasley und Seamus Finnegan in die Arme. Ron blickte das berühmte Pärchen nur stumm und abwartend an, während sich Seamus Finnegan seiner Lieblingsbeschäftigung sofort mit wachsender Begeisterung hingab: Provozieren und Sticheln. Der irische Student erblickte die beiden und tönte sofort los, als Professor Snape außer Hörweite war: „Malfoy, pass bloß auf, dass du dich beim Spiel mit dem Feuer nicht verbrennst. So offen den gesellschaftlichen Regeln zu trotzen, könnte ein bisschen zu heiß werden. Auch für dich oder gerade für dich, verwöhntes Muttersöhnchen."

Bevor irgendjemand reagieren konnte, hatte Draco schon seinen Zauberstab in der Hand und sah den spöttelnden Gryffindor mit eiskalter Wut an, während er ihn auf Seamus gerichtet zischte: „Desperatiovisio!"

Der irische Student aus Gryffindor wurde plötzlich schreckensbleich. Er sah ins Leere, als würde dort etwas Entsetzliches geschehen. Harry sah misstrauisch zu Ron, doch zu seinem Erstaunen hielt dieser den Mund und zerrte den vollkommen weggetretenen Seamus Finnegan zum Gryffindortisch und platzierte ihn dort auf einem Stuhl. Harry sah seinen Freund an und spürte dessen eiskalte Wut, gepaart mit einem verzweifelten Gefühl, dass er nicht wirklich einordnen konnte, da es nur Fragmente irgendeiner Erinnerung zu sein schienen. Nichts Greifbares und doch sehr intensiv schien dieses Gefühlsbruchstück sich nun langsam in Dracos Bewusstsein regelrecht einzubrennen.

Harry umarmte seinen Freund in Gedanken und auch real, was für beide das Gefühl sehr intensiv gestaltete. Der Gryffindor sandte tröstende Impulse durch ihre mentale Verbindung und sein Freund wurde schon zusehends ruhiger. Langsam ebbte die Wutwelle ab und Dracos alte beherrschte Fassade begann, sich wieder herzustellen.

Die beiden Jungen küssten sich kurz zärtlich auf die Lippen und trennten sich voneinander, um an ihren Haustischen Platz zu nehmen. Draco war sich nicht sicher, ob er jetzt überhaupt etwas herunter bekommen würde, da in ihm eine leichte Übelkeit aufzusteigen begann. Doch Blaise überredete ihn, wenigstens eine Scheibe Brot zu versuchen und Draco zauberte sich einen Pfefferminztee, den er erst einmal in kleinen Schlucken zu sich nahm, um seinen Magen zu beruhigen. Das half ein wenig. Als er dann das Brot gegessen hatte, fühlte er sich schon viel besser.

Gedankenverloren brütete er vor sich hin, während die anderen Schüler lachend und schwatzend das Abendessen verbrachten. Was genau hatte ihn eben eigentlich so wütend werden lassen, dass er am liebsten einen „Crucio" auf diesen nervtötenden Finnegan gehext hätte? Diese Provokation hatte es ihm eiskalt den Rücken herunterlaufen lassen und eine immense Aggression heraufbeschworen. So wütend war er bisher selten in seinem Leben gewesen und er war bekannt für seine unkontrollierbaren Wutausbrüche, die allerdings meist genauso schnell verpufften wie sie hoch kochten.

Er hatte sicher vorher schon schlechte Laune gehabt, aber die war eher melancholisch und bedrückt gewesen. Draco hatte sich gefühlt, als würde ihn eine tonnenschwere Last erdrücken. Wäre Harry nicht gewesen, dann hätte er sich mit ziemlicher Sicherheit in sein Zimmer zurückgezogen, um allein zu sein. Doch so war es wahrscheinlich besser, denn auf diese Art wurde er etwas von seinen immer finsterer werdenden Gedanken abgelenkt.

Draco hatte das unheilverkündende Gefühl, dass irgendetwas sich zusammenbraute und dunkel auf ihn lauerte. Etwas, das in den tiefsten Winkeln seines Unterbewusstseins bereits darauf lauerte, freigelassen zu werden. Woher kamen plötzlich diese seltsamen Gedanken und Gefühle drohenden Unheils? Was passierte da nur mit ihm? Blaise musterte ihn durchdringend und fragte: „Sag, mal bist du so angespannt wegen dem, was im „Drei Besen" eben war?"

Draco brauchte ein paar Sekunden, um zu schalten: „Drei Besen? Ach, das. Nein, mein Vater ist zurück und es geht ihm nicht so gut."

Blaise sog scharf die Luft ein und nickte kurz, bevor er zwischen zwei Bissen Brot nuschelte: „Verstehe. Das ist jetzt sicher erst mal komisch, da er so lang weg war."

Draco nickte und ließ sich nicht weiter über dieses Thema aus. Sein Hausgenosse hatte genügend Feingefühl, ihn damit jetzt in Ruhe zu lassen, denn jeder in Slytherin wusste, dass zwischen Draco und seinem Vater stets ein sehr gespanntes Verhältnis geherrscht hatte und er nicht gern darüber redete.

Nach dem Abendessen wartete Harry vor der Großen Halle auf seinen Freund und war froh, dass er nicht mehr ganz so bleich aussah. Draco lächelte ihn an und fragte: „Kommst du noch mit auf mein Zimmer?"

Harry nickte und schloss sich ihm an, der seinen Arm unter Harrys Umhang um seine Hüften legte. Die beiden hatten zum Glück keinen Rückstand bei ihren Hausaufgaben und konnten so in aller Ruhe den ganzen Samstag ohne Lernen verbringen. Sie würden morgen noch mal zusammen über den Zaubertrankaufsatz sehen und die letzten Schönheitskorrekturen ausfeilen.

Beide gingen still nebeneinander her und schließlich war es Harry, der das Schweigen brach: „Was war das eigentlich für ein Fluch mit dem du Seamus getroffen hast?"

Draco verzog seine Lippen zu einem spöttischen Grinsen: „Der Fluch bringt eine Vision von einer Sache, die ihm insgeheim Angst macht und lässt ihn Verzweiflung pur spüren. Keine angenehme Kombination, aber er hat's nicht anders verdient. Er hat mich halt einmal zu oft provoziert."

„Da hast du wohl recht. Noch nicht mal Ron hat irgendwas dazu gesagt. Er hat ihn einfach auf dem Stuhl sitzen lassen, bis er wieder zu sich kam. Der Appetit ist dem Lästermaul wohl gründlich vergangen durch deinen Zauber. Jedenfalls hat er mucksmäuschenstill dort gesessen und weder gegessen noch getrunken. Dann ist er, ohne einen weiteren Ton zu sagen, gegangen, als die Mahlzeit zu Ende war."

Draco nickte und die beiden kamen gemächlichen Schrittes vor dem Portraitloch Slytherins an. Draco wisperte das Passwort und die beiden traten hintereinander ein. Der Gemeinschaftsraum der Slytherin war noch leer und sie gingen sofort weiter in Dracos Zimmer.

Dort angekommen,legte Draco einen Silencio auf das Zimmer und Harry verschloss magisch die Tür. Die beiden machten es sich zusammen auf dem Sofa bequem und entzündeten den Kamin, der gemütlich vor sich hin prasselte. Draco schien sich wieder beruhigt zu haben und seine Gedanken waren nicht mehr ganz so düster.

Er war jedoch immer noch besorgt um seine Mutter. Er wurde auch dieses leise Gefühl schleichenden Unheils nicht mehr los, ohne es richtig einordnen zu können. Auch Harry spürte das: „Wie funktioniert das eigentlich mit diesen seherischen Begabungen? Hast du konkrete Vorahnungen oder kann es auch eher unspezifisch sein?"

Draco dachte einen Moment nach, dann antwortete er wahrheitsgemäß: „Eigentlich ist es selten wirklich greifbar. Ist meist nur so ein Gefühl, wobei das auch mal mehr und mal weniger stark oder deutlich ist."

„Hmmm, verstehe...", murmelte Harry und streichelte Draco sanft den Nacken.

Die beiden kuschelten sich engumschlungen aneinander und beide ließen noch einmal die Geschehnisse des Tages Revue passieren. Gerne hätte Harry seinen Freund etwas mehr ausgefragt über diesen sogenannten Malfoy-Sinn und seine Eltern. Er spürte aber genau, dass Draco noch nicht bereit war, darüber zu reden und noch mit sich selbst haderte. Der Slytherin musste erst mit sich ins Reine kommen, bevor er viel darüber reden konnte und deshalb beschloss Harry, ihm Zeit zu geben. So,  wie Draco ihn auch nie bedrängt hatte.

Das Gespräch mit seiner Mutter am nächsten Tag, wühlte Draco noch mehr auf. Sie war, wie befürchtet, ziemlich betroffen und überlastet mit der Situation. Lucius war immer der stärkere Part in dieser Ehe gewesen, doch nun musste sie für ihn sorgen. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst: Völlig ausgemergelt, sein Körper übersäht von kleineren und größeren Verletzungen und nicht zu vergessen, verwirrt durch die Amnesie. Narcissa würde über sich selbst hinauswachsen müssen, um diese Aufgabe, die sich ihr stellte, zu meistern. Die Jahre über, als er einfach verschwunden war, verschollen im Nirgendwo, hatte sich in ihr ein ziemlicher Hass aufgebaut, darüber, dass ihr Mann sie im Stich gelassen hatte. Sie sah, wie Draco unter seinem Vater gelitten hatte und wie er mit dem plötzlichen Verschwinden, zurecht zu kommen versuchte.

Mutter und Sohn waren sich näher gekommen und hatten sich gegenseitig in diesen schweren Zeiten gestützt. Wobei es letztlich Draco gewesen war, der seine Mutter vor einer herannahenden Depression bewahrte und ihr den Halt gab, den sie brauchte. Jetzt, da Lucius zurückgekehrt war, hätte Narcissa ihren Mann am liebsten gepackt und geschüttelt, bis er seine Fehler eingestand. Doch er war nicht mehr er selbst und so siegte das Mitleid und auch wohl ein Funken der alten Liebe, der nun rettete was zu retten war. Das alles spürte Draco, während des Gespräches sehr deutlich und war selbst erstaunt darüber, wie diese neuen Fähigkeiten immer mehr wuchsen und er sie auch immer besser unter Kontrolle hatte.

Was den jungen Slytherin aber am meisten aufwühlte, war eine Bemerkung seiner Mutter, die sie ganz am Schluss der Unterhaltung machte und die fast in einem Nebensatz unterging. Als Narcissa Malfoy ihrem Sohn vom Kindheitstrauma seines Vaters erzählte, da drückte sie sich sehr zaghaft und vorsichtig aus. Draco erspürte mehr ihre Gefühle, als dass sie es aussprach. Sie erzählte von Lucius schwieriger Kindheit und dass er sehr unter seinem Vater gelitten hatte, was ein wenig erklärte, wieso er so hart mit seinem eigenen Sohn umgegangen war. Dann erwähnte sie nebenher ein, wie sie es wohl interpretierte Kinderspiel, Feuerspiel.

Draco war wie besessen von diesem Gedanken seit dem Gespräch. Es ging ihm nicht aus dem Kopf und ständig spukte dieser Name in seinem Kopf herum: Das Feuerspiel. Nachts im Traum hörte er eine tiefe heisere Stimme raunen: „Junge, komm. Spiel mit mir das Feuerspiel!"

Doch bevor er weiter träumen konnte wachte er schweißgebadet auf, unfähig, wieder einzuschlafen. Harry merkte montags morgens sofort, dass Draco blass und unausgeschlafen wirkte und er musste nur eins und eins zusammen zählen, um den Schlafmangel richtig zu interpretieren. Irgendetwas Düsteres schwebte wie ein Damoklesschwert über dem Slytherin und er würde sich dem stellen müssen.

Harry spürte dieses Gefühl mit gleicher Intensität und war nun vollkommen sicher, dass sich hinter Dracos Fassade ebenso viele Geheimnisse verbargen wie hinter seiner. Nur schien Draco, sich nie in der für Harry gewohnten Ganzheit seiner Vergangenheit oder der lauernden Probleme bewusst zu sein. Immer waren es nur kleine Fragmente, Gedankenblitze. Selten waren die dazugehörenden Gefühle fassbar.

So etwas war gänzlich neu für Harry und doch schien es für Draco, vollkommen normal zu sein. Der Slytherin redete ausschließlich mit Harry darüber und erwähnte nicht einmal bei seinem Patenonkel ein Wort davon.

Harry hätte sich selbst ohrfeigen können dafür, dass er nicht früher bemerkt hatte, dass bei Draco die gesamte Kindheit vor Hogwarts ausgelöscht schien, bis auf ein paar wenige, nicht sonderlich aussagekräftiger Erinnerungsbruchstücke. Es war schon merkwürdig, wie unterschiedlich ihre Art, sich zu erinnern, war. Und doch hatte sich Draco anscheinend nie gewundert, sondern es für ganz alltäglich gehalten.

Für ihn war es ja auch Alltag gewesen. Woher hätte er auch wissen sollen, dass es bei anderen anders war? So eng war er auch noch nie mit jemandem befreundet gewesen, dass er über so etwas geredet hätte. Nicht einmal Blaise hatte er so nah an sich heran gelassen. Jetzt mit Harry war es anders. Die beiden hatten ihre Verbundenheit gespürt, sobald sie die Nähe zugelassen hatten.

Die nächsten Tage vergingen rasch und die Stunden bei Professor Snape waren zwar anstrengend, aber die beiden lernten schnell und mühelos. Sie konnten jetzt auch in Zuständen von nervlicher Belastung recht gut ihre Gedanken abschirmen und auch gegenseitig steuern, wann und wie weit sie sich Zugang gewährten. Was beide ziemlich entlastete, da es schon schwierig ist, ständig den eigenen Gefühlen plus denen des Partners mehr oder weniger gefiltert ausgesetzt zu sein. Bald würden sie damit beginnen, schwierigere Übungen zu probieren und zu testen, wie weit die Fähigkeiten reichen.