Teil I
EINE KUGEL FÜR JESS HARPER
KAPITEL 1
Mike kehrte selten so fröhlich von der Schule heim wie an diesem Montagmittag. Auf seinem Pony fegte er in den Hof der Sherman-Ranch, daß die Hühner empört gackernd auseinanderstoben. Vor dem Ranchhaus sprang er aus dem Sattel, stürmte auf die Veranda und riß die Haustür auf.
"Jippy!" jauchzte er, sein Bündel Schulbücher durch die Luft wirbelnd. "Jippy! Morgen fällt die Schule aus!"
"Deshalb brauchst du doch nicht so zu schreien", versuchte Daisy Cooper, die den Mittagstisch deckte, sein Temperament etwas zu bremsen.
"Entschuldige, Tante Daisy, aber ich freue mich so, daß ich einfach schreien mußte. Morgen kommt nämlich ein Zirkus nach Laramie. Da hat Miss Finch uns freigegeben. Hausaufgaben müssen wir heute auch nicht machen!"
"Na, da war Miss Finch aber großzügig." Daisy lächelte ihn liebevoll an. "Jetzt geh und kümmre dich um deinen Browny. Das Essen ist bald fertig. Danach kannst du uns ja alles genau erzählen."
Das ließ sich Mike natürlich kein zweites Mal sagen. So flink wie heute hatte er sein Pony schon lange nicht mehr versorgt. Als er erneut das Haus betrat, saß Slim Sherman, der Rancher, schon am Tisch, während Daisy Cooper gerade die Suppe hereinbrachte.
"Hallo, Slim!" begrüßte der Junge den Hausherrn und setzte sich auf seinen Platz. "Weißt du schon das Neueste?"
"Nein", grinste der junge Mann. Sein verschmitzter Blick wanderte zu Daisy, die ihn wegen des Jahrmarkts bereits vorgewarnt hatte und jetzt Mikes Teller füllte. "Aber du wirst es mir sicherlich gleich erzählen."
"Zuerst wird der Teller leer gegessen", mahnte die Frau. "Die Suppe schmeckt nicht besonders gut, wenn sie kalt ist."
"Ja, Tante Daisy."
Hastig leerte der Junge seinen Teller. Der letzte Löffel war kaum in seinem Mund verschwunden, da begannen auch schon die Worte aus ihm wie Wasser aus einer Quelle zu sprudeln.
"Stellt euch vor, da ist sogar einer dabei, der kann Feuer schlucken! Einen tanzenden Bären gibt es auch!" berichtete er begeistert. "Ob Jess mit mir hingeht? Wo ist er überhaupt? Ich hab' ihn ja noch gar nicht gesehen!" Vor lauter Aufregung fiel Mike erst jetzt auf, daß sein großer Freund und Pflegevater nicht hier war.
"Jess ist heute morgen nach dem Frühstück zur Nordweide geritten, um die Zäune zu kontrollieren. Da brechen immer wieder Pferde aus. Ich glaube nicht, daß er vor morgen mittag zurück ist."
"Och, das ist aber schade!" Mikes Gesicht wurde lang. "Kommst du dann mit, Slim?"
"Das wird nicht gehen. Du weißt, daß wir zur Zeit bis zum Hals in der Arbeit stecken."
Dies entsprach zwar der Wahrheit, aber Slim benutzte die Ausrede in erster Linie als Vorwand, um sich vor dem Schaustellergeprotze zu drücken.
"Slim hat recht", pflichtete Mrs. Cooper bei, obwohl sie genau wußte, daß es gewiß nicht den wirtschaftlichen Ruin der Ranch bedeutete, wenn einer der zwei Männer sich für ein paar Stunden freigenommen hätte, um mit dem Jungen zum Jahrmarkt zu gehen. Aber in der Beziehung kannte sie sowohl Slim Sherman als auch Jess Harper viel zu gut. Weder dieser Kuriositätenzauber noch der damit verbundene Menschenauflauf konnte die beiden zu überschwenglicher Begeisterung hinreißen. "Wenn du willst, kann ich dich ja begleiten, vorausgesetzt, du hilfst mir heute etwas im Haus und in der Küche. Dein Zimmer könntest du getrost auch einmal ordentlich aufräumen. Wie findest du das?"
"Ich tu' alles, was du willst, wenn du nur mit mir zum Zirkus gehst. Morgen mittag um zwei Uhr fängt er an", rief Mike mit wieder aufgehellter Miene.
Am nächsten Morgen brachte er tatsächlich sein Zimmer in Ordnung. Gerade räumte er den letzten Krimskrams in den Schrank, da vernahm er Hufschlag vom offenen Fenster her. Mike hoffte, daß dies bereits Jess wäre, der von der Nordweide zurückkehrte. Nun könnte sein Pflegevater doch noch mit ihm zum Zirkus gehen und ihm auf dem Rummelplatz einige gute Preise an den Buden schießen; deshalb rannte er voller Freude ans Fenster.
Seine Enttäuschung war um so größer, als er statt Jess Harper zwei Fremde auf das Ranchhaus zureiten sah. Mike wollte schon hinunterstürmen, denn gewöhnlich bedeutete Besuch immer Abwechslung für ihn. Irgend etwas zwang ihn jedoch zur Vorsicht, hielt ihn an dem offenen Fenster. Ein wenig trat er zur Seite und versteckte sich hinter der Gardine. Von hier aus konnte er beobachten, wie sich die zwei Reiter langsam dem Haus näherten. Während sie über den Hof zum Ranchhaus ritten, blickten sie sich mehrmals nach allen Seiten um, als fürchteten sie einen Verfolger. Ihre Pferde lenkten sie seitlich am Haus vorbei. Dort banden sie die Tiere außer Sichtweite vom Hof aus an. Zu Fuß kamen sie um die Hausecke zurück. Jeder der beiden trug einen tiefgeschnallten Revolvergurt, was auf ihr Gewerbe schließen ließ. In der Rechten hielten sie eine Winchester.
Mike fragte sich, was die beiden mit dem Gewehr im Haus vorhatten. Er konnte nicht ahnen, daß der Zirkus heute für ihn nicht in Laramie stattfand, sondern hier auf der Sherman-Ranch.
Der Junge wartete, bis die zwei Männer aus seinem Blickfeld verschwanden, weil sie nun die Veranda vor dem Haus betraten, wo sie das Vordach verdeckte. Dann huschte er zur Zimmertür, vergewisserte sich noch einmal, daß alles aufgeräumt war, nichts seine Anwesenheit verriet, und schlich zum oberen Geländer der Treppe, die hinunter direkt in den Wohnraum führte. Sein Instinkt warnte ihn immer deutlicher, vorsichtig zu sein, da mit den Männern offensichtlich etwas nicht stimmte.
Von seinem Logenplatz hinter dem Geländer überblickte Mike das ganze Wohnzimmer, einschließlich der vorderen Eingangstür sowie der Fenster, durch die er einen Teil der Veranda und ein kleines Stück vom Hof einsehen konnte.
In dem großen Raum im Erdgeschoß war zu diesem Zeitpunkt niemand. Slim hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um die Ranchbücher in Ordnung zu bringen. Daisy Cooper wirtschaftete in der Küche.
Mike duckte sich gerade hinter das Geländer, als die zwei Männer hereinstampften und in der Mitte des Wohnraumes erst einmal stehenblieben.
Die Tür zu Slims Arbeitszimmer öffnete sich. Der Rancher hatte Schritte gehört und wollte nachsehen, wer gekommen war.
"Wer …" Noch ehe er seine Frage richtig formulieren konnte, verstummte er. Blitzschnell richtete einer der beiden Männer den Lauf seiner Winchester auf ihn. "Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?" brachte Slim endlich hervor.
Verärgert, weil er von den Eindringlingen so leicht überrumpelt worden war, zog er die Brauen zusammen. Diese Art von Besuch liebte er überhaupt nicht.
"Die Fragen stelle ich!" erwiderte der Mann mit dem Gewehr. "Hal, sieh mal nach, wer sonst noch im Haus ist!" trug er – ohne Slim aus den Augen zu lassen – seinem Kumpan auf, der sich am Fenster zu schaffen machte. "Sind Sie der Rancher?" wollte er dann von dem Hausherrn wissen und bedeutete ihm mit dem Gewehrlauf, die Hände hochzunehmen.
"Ja."
Widerwillig mußte Slim sich gefallen lassen, daß er nach Waffen durchsucht wurde. Der Mann fand allerdings nichts, was ihm gefährlich werden könnte.
In diesem Augenblick ging die Küchentür auf. Daisy Cooper stand im Rahmen.
"Slim, was …" Auch sie brach mitten im Satz ab, als der Mann mit dem Namen Hal seine Winchester auf sie richtete. Daisy starrte ihn an, schien jedoch keine Angst vor ihm zu haben; jedenfalls gab sie sich die größte Mühe, keine zu zeigen. "Was soll denn das?"
"Maul halten!" herrschte Hal die Frau an und dirigierte sie mit dem Gewehrlauf ins Wohnzimmer.
"Ist sonst noch jemand im Haus?" fragte der andere, der Slim in Schach hielt.
"Nein", sagte der Rancher kurz angebunden.
Die Lüge war ihm Gott sei Dank nicht anzumerken, sonst hätten die Kerle Mike auf jeden Fall gefunden. So bestand für den Jungen immerhin die Möglichkeit, unentdeckt zu bleiben, egal, wo er sich versteckte; denn daß er dies gründlich tat, konnte Slim nur hoffen.
"Hal!"
Sofort wußte dieser Bescheid. Zuerst inspizierte er alle Räume des Erdgeschosses. Schließlich stieg er auch die Treppe hinauf in den ersten Stock, während der andere Slim und Daisy streng bewachte.
Schon als Hal anfing, jeden Raum in der unteren Etage genauestens in Augenschein zu nehmen, huschte Mike zurück in sein Zimmer und versteckte sich unter dem Bett. Hier kroch er in den hintersten Winkel, getraute sich kaum noch zu atmen.
Die Treppe ächzte unter polternden Schritten. Gleich darauf knarrten einige Dielen auf dem Flur. Jemand betrat das Zimmer.
Dem Jungen stockte der Atem. Vor Angst biß er sich auf die Lippe. Sein Herz klopfte so heftig, daß er fürchtete, das laute Pochen könnte ihn verraten. Nur eine Armeslänge vor seinen Augen scharrte ein Paar staubige Stiefel über den Boden, trat ganz dicht ans Bett und entfernte sich dann wieder.
Erst nachdem der Mann das Zimmer verlassen hatte, wagte Mike, Luft zu holen. Wie gebannt lauschte er. Nacheinander wurden sämtliche Türen im oberen Stockwerk geöffnet. Dann näherten sich die Schritte erneut und stampften die Treppe hinunter.
Mike wartete noch einen Augenblick, ehe er unter dem Bett hervorrutschte, um sich wieder auf seinen Beobachtungsposten zurückzuziehen. Daß es gefährlich werden konnte, wenn ihn die Männer dort entdeckten, wußte er. Trotz seiner gehörigen Angst trieb ihn jedoch die Neugierde aus seinem Versteck.
"Oben ist niemand", hörte er gerade Hal berichten.
"Gut, dann warten wir hier", sagte der andere.
"Wenn Sie auf die Kutsche warten wollen, müssen Sie sich noch drei Stunden gedulden. Die wird nicht vor eins kommen", erklärte Slim, nichts Gutes ahnend, wenn er sich die zwei Halunken so betrachtete.
"Wer sagt denn, daß wir auf die Kutsche warten?" fauchte der Mann vor Slim mit einem drohenden Unterton in der Stimme.
"Auf wen denn sonst? Geld gibt es hier nicht zu holen. Ich habe keins im Haus, noch nicht mal zehn Dollar. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich deshalb der ganze Aufwand lohnt. Sie können also getrost wieder verschwinden!"
"Wer wird denn gleich so unfreundlich sein? Wir sind doch gerade erst gekommen", blödelte Hal, der am Fenster Posten bezog. "Ron, soll ich ihm nicht endlich sein Maul stopfen?"
"Überlaß ihn mir! Kümmre du dich ums Fenster!" Zu Slim gewandt, brummte Ron: "Wir warten nur auf einen Freund. Wir haben uns hier mit ihm bis zwölf verabredet. Sobald er da ist, verschwinden wir."
"Und warum muß das ausgerechnet in diesem Haus sein?"
"Weil es uns da draußen zu langweilig ist. Deshalb!" grinste Ron und bleckte dabei die Zähne wie ein bissiger Hund.
Das folgende Schweigen war fast unheimlich. Slim wechselte mit Daisy ein paar vielsagende Blicke, worauf beide beschlossen, sich vorerst ohne weitere Gegenwehr in ihr Schicksal zu ergeben.
Slim Sherman war zwar nicht unbedingt ein Mensch, der schnell aufgab; aber hier mußte er notgedrungen feststellen, daß Widerstand zwecklos, mit Sicherheit sogar riskant war. Bis jetzt wußte er immer noch nicht, was die zwei Männer auf seiner Ranch wollten. Er wußte nur, daß sie gefährlich waren.
Vor allem der mit dem Namen Hal schien ein regelrechter Mordbube zu sein. Gespannt lauerte er am Fenster, spielte nervös mit seiner Winchester. Vermutlich suchte er nur einen harmlosen Anlaß, der es ihm endlich erlaubte zu beweisen, wie hervorragend er mit seinem Gewehr umzugehen verstand.
Slims einzige Hoffnung war, daß sie tatsächlich nur auf einen Kumpan warteten, um anschließend wieder zu verschwinden. Offensichtlich diente ihr Eindringen dazu, die Bewohner der Ranch ein wenig zu erschrecken und zu demonstrieren, daß sie die Stärkeren waren. Allerdings traute er ihnen auch ohne weiteres zu, daß sie hier auf jemanden warteten, um ihn zu töten.
Vielleicht warteten sie doch auf die Kutsche.
Slim konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, auf wen sie es abgesehen hatten. Er erwartete niemanden.
Plötzlich lief es ihm siedendheiß über den Rücken. Er erwartete doch jemanden! Jess Harper, seinen Freund und Partner, der seit dem Vortag auf den Weiden unterwegs war und heute zurückkehren wollte. Was geschah, wenn die zwei Kerle auf ihn warteten?
Jess gehörte keinesfalls zu denen, die blindlings in eine Gefahr rannten, zumal er sehr gut gelernt hatte, sich seiner Haut zu wehren; aber hier, wo er zu Hause war, rechnete er mit keiner Gefahr. Der Rancher wagte nicht, daran zu denken, was unter Umständen passierte, wenn Jess den zwei Halunken nichtsahnend vor die Flinte lief.
So verstrich eine ganze Weile, ohne daß sich die Situation wesentlich änderte. Im Haus war kein Laut zu hören. Sogar oder gerade in dieser bleischweren Stille lag etwas Bedrohliches.
Auf einmal straffte sich Hals Gestalt am Fenster, daß Slim, der ihn genau beobachtete, es sofort merkte. Sein Blick folgte dem seinen, erfaßte jetzt auch den Reiter, der direkt auf die Toreinfahrt zu galoppierte.
Obwohl der Mann noch zu weit entfernt war, um sein Gesicht einer bestimmten Person zuordnen zu können, wußte der Rancher, daß es sich um Jess Harper handelte. Er erkannte den Freund an der Art, wie er ritt. Wenn man mit jemandem seit acht Jahren so eng wie er mit Jess Harper befreundet und schon so viele Meilen zusammen geritten war, kannte man jede seiner Bewegungen.
"Ron, da kommt ein Reiter", meldete Hal vom Fenster und spannte seinen Körper wie einen Bogen.
Ron wandte halb den Kopf, beobachtete Slim jedoch ununterbrochen aus den Augenwinkeln.
"Kennen Sie den Kerl da draußen?"
"Ja, das ist Jess Harper. Er wohnt hier."
Slim nannte absichtlich den vollen Namen des Freundes, um festzustellen, wie die zwei Männer darauf reagierten. Sie erweckten bei ihm nicht den Eindruck, in Jess Harper einem Bekannten zu begegnen oder gar auf ihn zu warten. Anscheinend wußten sie überhaupt nicht, wer das war. Slim hätte also beruhigt sein können. Trotzdem begann sein Puls zu rasen.
"Hal, kennen wir den?"
"Nicht daß ich wüßte." Ungeduldig richtete Hal seine Winchester aus dem Fenster. "Soll ich ihn kaltmachen?"
"Warte noch! Laß ihn erst näher kommen."
"Sie wollen doch nicht etwa auf ihn schießen?" fragte Slim außer sich; in seiner momentanen Hilflosigkeit packte ihn eine ohnmächtige Wut.
"Ich nicht unbedingt." Der Mann vor ihm grinste schon wieder in seiner selbstgefälligen Art. "Aber Hal kann es kaum noch erwarten. Ich glaube nicht, daß Sie ihn daran hindern werden, wenn Sie nicht lebensmüde sind."
"Aber Jess hat Ihnen doch gar nichts getan! Sie kennen ihn ja noch nicht einmal!"
"Sein Pech! Ich fürchte fast, er wird auch keine Gelegenheit mehr haben, unsere Bekanntschaft zu machen."
"Verflucht noch mal! Sie können doch nicht einfach so einen Menschen abknallen!"
"Warum nicht? Noch heute morgen hat Hal gesagt, daß er es leid ist, auf leere Konserven und Flaschen zu schießen. Er braucht endlich wieder ein lebendiges Ziel, sonst kommt er ganz aus der Übung." Die Gleichgültigkeit, mit der Ron das sagte, war erschreckend, ja, tödlich.
"Sie reden geradeso, als ob es sich um ein Stück Vieh oder einen Gegenstand handelt. Aber das ist doch ein Mensch! Verstehen Sie? Ein Mensch!"
"Um so besser!"
"Um so was?"
"Ganz recht, Sie haben sich nicht verhört." Rons bösartiges Grinsen gefror zu einer Grimasse aus Niedertracht und Schadenfreude. Es amüsierte ihn maßlos, seinen Gegner jeglicher Handlungsfreiheit beraubt zu wissen, ihn wie einen Fisch im Netz zappeln zu sehen. "Für Hal gibt es da keinerlei Unterschiede. Ehrlich gesagt, für mich auch nicht. Ganz im Gegenteil! Je menschlicher oder menschenähnlicher das Ziel, desto größer der Reiz."
"Sind Sie denn verrückt geworden?" entfuhr es Slim in jähem Grauen über das, was sich wahrscheinlich gleich vor seinen Augen abspielte. "Sie können doch nicht … Mein Gott, der Mann da draußen ist mein Freund! Ich werde nicht zulassen …"
"Sie werden!" schnitt Ron ihm mit unheilverkündender Gelassenheit das Wort ab, drückte ihm den Winchesterlauf in die Magengrube, um ihn daran zu hindern, etwas zu unternehmen und Jess Harper zu warnen. "Sie dürfen sogar dabei zusehen."
"Das können Sie nicht von mir verlangen!"
"Ich kann!" In Rons Augen blitzte es gefährlich auf. "Rühren Sie sich nicht von der Stelle und halten Sie ja Ihren Mund! Wenn Sie versuchen sollten, ihn zu warnen, ist die Frau dran."
Im nächsten Augenblick hielt der Mann in der freien Linken seinen Sechsschüsser und richtete ihn auf Daisy Cooper. Diese biß sich in die geballte Faust, damit sie nicht vor Entsetzen aufschrie; aber wahrscheinlich hätte sie vor Schreck gar keinen Ton herausgebracht.
"Feiglinge Ihres Schlages, die auf Ahnungslose aus dem Hinterhalt schießen wollen, verstecken sich bei ihrer schmutzigen Arbeit mit Vorliebe hinter dem Rockzipfel einer Frau. Ein Gewissen scheinen Sie jedenfalls nicht zu haben!"
"Gewissen? Das ist doch Luxus, alles nur Ballast!" feixte Ron achselzuckend. "Wenn man keins hat, kann es einen auch nicht plagen. Sie glauben gar nicht, wie gut man ohne diese Belastung schläft."
Slim schielte zum Fenster. Bald war das Gesicht des näherkommenden Reiters zu erkennen. Jetzt bestand kein Zweifel mehr. Es handelte sich tatsächlich um Jess Harper.
"Bitte lassen Sie ihn!" versuchte Slim es nun mit einem Mal auf die sanftere Tour, jedoch ohne viel Erfolg. "Tun Sie's nicht!"
"Dieser Kuhtreiber muß Ihnen ja sehr viel bedeuten. Ist er Ihr Bruder?"
"Nein. Warum fragen Sie? Würde es denn etwas ändern, wenn er es wäre?"
"Bestimmt nicht! Jedenfalls nicht für Hal und mich."
"Für mich auch nicht", murmelte Slim scheinbar resigniert.
Es bedurfte wirklich nicht viel, Slims Gedanken zu lesen. Sogar Ron schaffte das, obwohl er gewiß kein feinfühliger Mensch war. Seinem widerwärtigen Grinsen nach zu urteilen, ließ die nächste Hinterhältigkeit nicht lange auf sich warten.
"Wissen Sie was? Sie haben es zwar nicht verdient, aber ich bin ja kein Unmensch." Seine Scheinheiligkeit schlug dem Hausherrn entgegen wie ein eisiger Wind. "Vielleicht kann ich Hal dazu überreden, daß Sie wählen dürfen."
"Wählen?" fuhr Slim verwirrt herum.
"Ja!" Ron machte eine ausholende Geste, um seine geheuchelte Großzügigkeit zu unterstreichen. "Entscheiden Sie sich! Entweder dieser Kuhtreiber oder die Lady hier."
"Ich soll was? Sie … Sie sind wohl total übergeschnappt!"
Daß Slim ausgerechnet zwischen den zwei Menschen wählen sollte, die ihm gleichermaßen viel bedeuteten, raubte ihm nahezu den Verstand. Derweil bestätigte sich immer mehr sein Verdacht, daß er es hier mit zwei Wahnsinnigen zu tun hatte.
"Schluß mit dem Palaver!" Rons gehässiges Grinsen nahm einen heimtückischen Ausdruck an. "Jetzt will ich, daß Sie genau hinsehen, alle beide! So eine Gelegenheit kriegt man schließlich nicht alle Tage geboten – ich meine zu erleben, wie ein Freund stirbt. Genießen Sie es! Hal wird Ihnen gleich ein unvergeßliches Vergnügen bereiten. Passen Sie nur gut auf!"
"Sie müssen wahnsinnig sein!" schrie Slim in der Hoffnung, Jess würde es hören.
Aber dieser war noch viel zu weit weg. Er ritt gerade durch das Tor bis zum Stall, wo er vom Pferd stieg und das Tier hineinführte. Nach kurzer Zeit verließ er wieder das Gebäude, um den Hof zu überqueren.
Nach eineinhalb Tagen harter Arbeit in der Wildnis und einer unbequemen kurzen Nacht unter freiem Himmel freute er sich jetzt auf zu Hause. Ohne zu ahnen, daß er auf dem besten Weg war, in sein Verderben zu rennen, näherte er sich der Veranda vor dem Haupthaus der Ranch.
Im Haus hielt Daisy die Luft an. Vor Aufregung war sie einer Ohnmacht nahe. Slim, immer noch mit dem Gewehrlauf in der Magengrube, konnte fast nicht mehr klar denken. Er starrte nur auf die Winchester in Hals Händen. Die Mündung zielte genau auf Jess, folgte jeder seiner Bewegungen.
Slim war anzusehen, daß er heftig mit sich rang. Sollte er Daisy Coopers Leben riskieren und seines mit, oder sollte er tatenlos geschehen lassen, wie dieser Verrückte seinen Freund aus dem Hinterhalt erschoß?
Irgendwie mußte Slim versuchen, Jess Harper zu warnen, um ihn vor dem tödlichen Schuß zu bewahren. Wenn er nur wüßte, wie er dies bewerkstelligen sollte, ohne dabei Daisy zu gefährden. Viel Zeit zum Überlegen blieb ihm jedenfalls nicht mehr.
Soeben war Jess dabei, die Veranda zu betreten. Wie immer, wenn er alle drei Stufen auf einmal nehmen und mit Schwung heraufspringen wollte, streckte er die Rechte nach dem Vordachpfosten aus. In seinem Gesicht stand deutlich die Ahnungslosigkeit, die ihm zum Verhängnis geraten mußte und ihn dem Teufel geradewegs in die Arme trieb.
Da entschloß sich Slim zu einer Verzweiflungstat.
"Jess!" schrie er aus Leibeskräften.
Aber seine Warnung kam zu spät. Das Unglück war nicht mehr aufzuhalten.
Zur gleichen Zeit krümmte der Mann am Fenster den Finger. Die Winchester krachte. Das Donnern des explodierenden Pulvers übertönte Slims Stimme. Mündungsfeuer versengte die Gardine vor dem Fenster, brannte ein Loch mit schwarzem Rand in das filigranartige Gewebe. Eine Scheibe barst in tausend Scherben.
Jess erstarrte mitten in der Bewegung. Sein unterdrückter Aufschrei, erstickt von einem kehlig-gurgelnden Würgen – ein entsetzlicher Laut –, der durch die leere Fensteröffnung ins Haus drang und zusammen mit dem Echo des Schusses über den Hof hallte, sein schmerzverzerrtes Gesicht, der blutige Fleck auf dem hellen Stoff seines Hemdes verrieten, daß die Kugel ihr Ziel erreicht hatte.
Von der Wucht des Geschosses nach hinten gerissen, wirbelte Jess halb um die eigene Achse. Der heftige Aufprall warf ihn aus dem Gleichgewicht und schleuderte ihn rücklings gegen das Geländer. Jess klammerte sich an den Vordachpfosten, rutschte auf die Knie, versuchte mühsam, wieder auf die Beine zu kommen; aber ihm fehlte bereits die nötige Kraft. Schon nicht mehr bei Besinnung, sank er schwergetroffen zu Boden.
"Jess!" brüllte Slim jetzt, sekundenlang starr vor Schreck.
Neben ihm fiel Daisy Cooper in Ohnmacht. Er merkte es nicht. In diesem Augenblick war ihm völlig egal, was aus ihm oder den anderen im Haus wurde. Für ihn gab es nur noch den Freund, der reglos draußen im Staub des Hofes lag.
"Nicht so eilig, Freundchen!" Ron schlug den Rancher mit dem Gewehrkolben nieder, noch bevor er hinausstürmen konnte. "Hal, sieh mal nach, ob da draußen alles in Ordnung ist. Aber paß auf, vielleicht verstellt er sich nur!"
"Der verstellt sich nicht. Hast du nicht das Blut gesehen? Die Ladung hat gesessen!" triumphierte der Mann am Fenster wie jemand, der auf dem Jahrmarkt als bester Schütze einen Volltreffer gelandet und dafür einen Preis gewonnen hatte. "Wetten, daß der ein für allemal genug hat? Allerdings glaube ich, daß der Lauf etwas nach rechts oben zieht."
Hal grinste bis über beide Ohren. Unter dem Fenster lehnte er die Winchester an die Wand. Mit gezogenem Revolver verließ er das Haus, um seine Arbeit zu begutachten. Beim Hinausgehen spannte er vorsorglich den Hahn seines Schießeisens, damit er sofort noch einen Schuß hinterherjagen konnte, falls der erste nicht bereits den gewünschten Erfolg gebracht hatte.
Mißtrauisch näherte sich Hal der zusammengekrümmten Gestalt draußen vorm Verandaaufgang. Während er sich zu Jess hinabbeugte, richtete er argwöhnisch den Sechsschüsser auf seinen Kopf. Unsanft stieß er ihm die Stiefelspitze in die Seite. Aber Jess bewegte sich nicht.
Dennoch war Hal vorsichtig, hegte gewisse Zweifel, ob von dem Schwerverwundeten nicht doch irgendeine Gefahr ausging. Mit dem Fuß hob er den leblosen Körper etwas an und ließ ihn auf den Rücken rollen. Aus nächster Nähe konnte Hal sich nun davon überzeugen, wo genau seine Kugel getroffen hatte. Da war er endlich zufrieden. Mit einem Ausdruck grenzenloser Schadenfreude schob er seinen wieder gesicherten Colt ins Holster.
Jess lag jetzt mit zur Seite geschlagenen Armen vor ihm. Sein Hemd war auf der Brust mit Blut verschmiert. Aus seinem Mundwinkel rann ein dünner Blutfaden.
Hal öffnete die Schnalle von Jess' Patronengurt, zerrte ihn unter seinem Körper hervor und warf ihn über die Schulter. Im Holster steckte unangetastet die Waffe. Noch nicht einmal die lederne Sicherungsschlaufe über dem Hahn war entfernt.
"Ron, der Kerl lebt noch!" rief Hal, fast ein wenig enttäuscht, ins Haus. "Soll ich ihm den Rest geben?"
"Das überlass' ich dir. Ist es denn notwendig?"
"Gewiß nicht! Dem hab' ich's ganz schön gegeben! Der blutet aus wie ein abgestochenes Schwein. Wäre wirklich jammerschade, das zu verhindern."
"Dann schaff ihn ins Haus! Muß ja nicht gleich jeder sehen, was hier los ist", meinte Ron, der die zwei reglosen Gestalten von Daisy und Slim im Auge behielt.
Hal packte Jess an beiden Armen, zog ihn mit einiger Anstrengung die drei Stufen zur Veranda hoch und schleifte ihn ins Wohnzimmer.
"Ist der Kerl vielleicht schwer!" schimpfte er und ließ seine Arme los, die kraftlos mit dumpfem Laut auf den Boden schlugen. "Ich sagte ja, der Lauf zieht nach rechts oben. Ich könnte schwören, daß ich auf den einen Hemdsknopf gezielt habe. Auf die Entfernung schieß' ich sonst nie daneben. Sieh dir diese Sauerei nur mal an! Das ist ja fast 'ne ganze Handbreit nebendran! Wenn wir in 'ne Stadt kommen, muß der Büchsenmacher das unbedingt in Ordnung bringen."
Vielleicht hatte Hal, durch Slims gellenden Alarmschrei in seinem Rücken leicht irritiert, auch unbewußt den Lauf des Gewehres nach oben verrissen. Oder das eine kam zum andern, so daß die abgefeuerte Kugel Jess Harper nicht – wie beabsichtigt – auf der Stelle tötete, sondern nur lebensgefährlich verwundete, was mit ziemlicher Sicherheit zum selben Ergebnis führte.
"Reg dich nicht so auf! Jetzt weißt du's ja. Geh lieber wieder ans Fenster! Nicht daß wir Alex noch verpassen. Du weißt ja, wie er ist. Außerdem hast du schließlich deinen Spaß gehabt." Ron schien etwas nervös zu werden, als er mit den Augen der Blutspur von der Veranda quer durchs Wohnzimmer folgte. "Mach mal die Tür zu! Die Spur draußen ist auffällig genug."
Hal gehorchte und postierte sich wieder am Fenster. Nur ein paar Minuten später meldete er, daß sich ein weiterer Reiter näherte, jedoch nicht genau auf das Ranchhaus zuhielt.
"Ron, da kommt noch einer! Ob das schon Alex ist?"
Ron vergewisserte sich, daß sowohl Slim als auch Daisy sich beide nicht regten und so schnell auch nicht zu sich kamen. Dann trat er zu seinem Kumpan an das Fenster, dessen Scheibe draußen auf der Veranda als lauter kleine Splitter verstreut lag.
"Sieht so aus, als ob er's ist. Beeilen wir uns, daß wir von hier verschwinden, ehe noch mehr von seiner Sorte", – mit dem Daumen deutete er unbestimmt hinter sich auf Jess –, "auf der Bildfläche erscheinen. Vergiß nicht, sein Schießeisen zu entladen!"
"Ja, ich mach' ja schon", brummte Hal, griff nach Jess' Patronengürtel und leerte die Kammern seines Colts. "'ne prima Waffe! Tadellos gepflegt!" Abschätzend wog er den Revolver in der Hand. "Die könnte mir fast gefallen."
"Wenn sie dir so gut gefällt, nimm sie doch mit. So wie der aussieht, wird er sie kaum noch gebrauchen können."
"Ach was! Ich bleib' lieber bei meiner eigenen Knarre. Nachher hat das Ding auch irgend so eine Macke wie diese Winchester. Dann steh' ich ganz schön dämlich da, wenn's drauf ankommt."
Hal steckte die Patronen ein und stieß den leeren Revolver mitsamt dem Gurt unter die Couch neben ihm an der Wand, damit beides nicht sogleich gefunden wurde.
"Von mir aus mach, was du willst! Aber beeil dich endlich!" drängte Ron, der schon an der Tür war.
"Ja doch! Daß du immer nur meckern mußt!" beschwerte sich Hal und folgte ihm nach draußen, um die Pferde zu holen.
Vor der Einfahrt trafen sie sich mit dem Reiter, der wirklich derjenige war, auf den sie warteten.
Das Wohnhaus der Sherman-Ranch hatten sie tatsächlich nur aufgesucht, um die Bewohner ein wenig zu tyrannisieren. Es war Hals Idee gewesen. Nach einem mehrtägigen langweiligen Ritt brauchte er unbedingt Abwechslung. Auf der Sherman-Ranch wurde sein Verlangen nach makabrer Unterhaltung zunächst einmal befriedigt. Einen Menschen sinnlos zu quälen, bereitete ihm einfach diebisches Vergnügen. Nur deshalb hatte er auf Jess Harper geschossen. Hal kannte ihn nicht, noch bestand sonst eine Veranlassung für ihn, den Mann derart zuzurichten.
Fortsetzung folgt
