KAPITEL 2
Der Luftzug, der durch das zerschossene Fenster und die offenstehende Haustür hereinwehte, brachte Daisy Cooper in die Wirklichkeit zurück. Mit einer Mischung aus Angst und Vorsicht öffnete sie zuerst nur das eine Auge einen Spalt weit, um unauffällig unter dem niedergeschlagenen Lid hervorzulugen. Dann blickte sie sich suchend um. Die zwei Männer waren verschwunden.
Daisy richtete sich hastig auf. Erst jetzt bemerkte sie unweit neben sich Slim Sherman, der auch gerade zu sich kam. Der Mann hatte erhebliche Mühe, sich von dem harten Schlag zu erholen. Leise stöhnend, richtete er sich auf den Ellenbogen auf, befühlte vorsichtig, auf den einen Arm gestützt, die Beule an seinem Hinterkopf. An seiner Seite gewahrte er Daisy, dann die offene Haustür. Aber er war noch nicht in der Lage, alles in einen geordneten Zusammenhang zu bringen.
"Ist Ihnen was passiert, Daisy?" fragte er unsicher und kämpfte gegen die Benommenheit.
"Nein, mir nicht", sagte sie erschöpft, "aber Jess …"
"Wo ist er?"
Schlagartig kehrte bei ihm die Erinnerung zurück. Mit einem Ruck wandte er sich um, stellte fest, daß der Platz vor der Veranda, wo er den Freund zuletzt gesehen hatte, leer war. Eine deutliche Blutspur führte von draußen über die Veranda ins Wohnzimmer.
"Jess!" schrie er, nachdem er den leblosen Körper in der anderen Zimmerhälfte entdeckt hatte. Im Nu vergaß der Rancher seinen brummenden Schädel. Nach ein paar großen Schritten war er bei dem Bewußtlosen. "Mein Gott, Jess!" Fassungslos warf sich Slim neben ihm auf die Knie, bettete den Kopf des Verletzten auf seine Oberschenkel und mühte sich ohne Erfolg, ihn zur Besinnung zu bringen. "Jess!"
Fieberhaft suchte er einen Puls an Jess' Handgelenk, konnte allerdings kein eindeutiges Lebenszeichen wahrnehmen. Das Schlimmste befürchtend, legte er zwei Finger an seinen Hals, genau an die Stelle, wo die Schlagader im Rhythmus des Herzens pochte – wenn Jess' Herz überhaupt noch schlug. Erst nach einigem Suchen fühlte Slim das schwache Klopfen. Seine Erleichterung hierüber hielt nicht lange vor; denn als er vorsichtig das blutige Hemd des wie tot daliegenden Mannes öffnete, stellte er fest, wie schwer Jess getroffen war.
Slim schob ihm die Hand unter den Rücken, weil er so die Austrittsstelle des Geschosses zu finden hoffte. Bei einem glatten Durchschuß wäre Jess' Überlebenschance zwar nur unwesentlich höher, aber keineswegs so gering, als wenn die Kugel in seinem Körper steckengeblieben war. Der Rancher konnte jedoch keine Ausschußwunde entdecken.
"Slim, ist er tot?" fragte Daisy bestürzt, die neben ihn trat und mit Mühe die aufkommende Übelkeit bezwang.
Was sich hier ereignet hatte, ging über ihre Kräfte, obwohl sie einiges gewöhnt und nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war. Aber den Anblick des übel zugerichteten Mannes, der ihr in all den Jahren, die sie ihn kannte, wie ein Sohn ans Herz gewachsen war, konnte sie fast nicht ertragen.
"Nein, aber viel fehlt nicht mehr."
Jess streckte sich stöhnend mit einem röchelnden Atemzug, öffnete halb die Augen. Dennoch dauerte es eine Weile, bis er Slim schemenhaft erkennen konnte, der hinter einer dichten Nebelwand den Oberkörper über ihn beugte. Er wußte nicht, was geschehen war, spürte nur dieses höllische Feuer, das in seinem Körper brannte.
"Slim!" keuchte er, wollte noch mehr sagen, aber das Blut in seinem Mund hinderte ihn daran, so daß nur ein paar unartikulierte Wortfetzen über seine Lippen kamen.
Schließlich verschluckte er sich an dem Blut, das immer mehr seine Mundhöhle füllte. Jess hustete und würgte, erstickte beinahe. Gewiß hätte er vor Schmerzen geschrien, wenn er auch nur einen Laut hervorgebracht hätte. Statt dessen hustete er sich fast die Lunge aus dem Leib und erbrach einen blutigen Auswurf. Slim riß seinen Oberkörper hoch und lehnte ihn an sich.
Nach einem letzten vergeblichen Versuch, sich irgendwie verständlich zu machen, sank Jess erschöpft an Slims Brust zusammen. Die Anstrengung, der große Blutverlust, nicht zuletzt auch die in seiner Brust wütenden Schmerzen raubten ihm die Besinnung.
Der Rancher, bereits auf das Ärgste gefaßt, suchte wiederholt einen Puls an Jess' Halsschlagader. Diesmal konnte er ein Klopfen nur noch erahnen.
"Slim …?" Daisys belegte Stimme versagte ihren Dienst.
"Er lebt noch. Wir müssen ihn hier wegbringen. Er kann so nicht liegenbleiben."
Dem Freund konnte er zwar nicht viel helfen, aber das wenige, was er tun konnte, wollte er tun. Deshalb packte er ihn fester, schob die andere Hand weit unter seine Beine und drückte den reglosen Körper mit dem Knie höher hinauf.
Wie ein Toter lag Jess auf Slims Armen. Sein Kopf fiel hintenüber. Sein warmes Blut rann über den nackten Unterarm des Ranchers und tropfte auf den Dielenboden.
Slim brauchte seine ganze Kraft, den durch die Bewußtlosigkeit noch schwerer wirkenden Mann die paar Schritte bis in das kleine Zimmer neben der Treppe zu tragen. Das ungewohnte enorme Gewicht zerrte an seinen Muskeln, spannte sie zum Zerreißen bis weit über die Schmerzgrenze. Aber Situationen wie diese ließen einen über die eigenen Fähigkeiten hinauswachsen, die eigene körperliche und seelische Belastbarkeit das normal Mögliche weit überschreiten.
Flink wie ein Wiesel huschte Daisy an ihm vorbei, öffnete weit die Tür zu dem Zimmer, riß die Decke auf dem Bett zurück.
"Ich hol' Wasser und Tücher!" rief sie und war schon unterwegs.
Slim kam mit seiner traurigen Last herein. Der Schweiß glänzte ihm vor Anstrengung auf der Stirn, raubte ihm die klare Sicht. Vorsichtig ließ er den Schwerverletzten auf das Bett gleiten, dessen weißes Laken sich sofort rot vom Blut färbte. Behutsam schob er Jess das Kissen unter den Kopf, legte ihm den Arm aufs Bett, der kraftlos von der Kante gerutscht war und über die Lade hing. Dann zog er ihm die Stiefel aus, warf die Decke über seine Beine und setzte sich zu ihm auf die Bettkante.
Obwohl Slim die Einschußstelle bereits gesehen hatte, also wußte, was ihn erwartete, kostete es ihn eine Überwindung, Jess das Hemd auszuziehen. Damit er es mühelos entfernen konnte, ohne ihn viel bewegen zu müssen, riß er es an den Nähten auf.
Einen Atemzug lang mußte er die Luft anhalten, als Jess mit bloßem Oberkörper vor ihm lag. Weniger die häßliche Wunde selbst ließ den Rancher so erschaudern, sondern vielmehr die Vorstellung von dem, was diese Verletzung unter Umständen bedeutete.
Die Kugel war auf der linken Seite direkt oberhalb des Herzens eingedrungen. Normalerweise hätte das Geschoß auf die kurze Entfernung den Körper durchschlagen müssen, war offenbar jedoch an einer Rippe abgeprallt und steckengeblieben.
Von außen wirkte die kaum noch blutende Wunde beinahe harmlos. Gerade deshalb wagte Slim nicht, sich vorzustellen, wie schwer die Kugel seinen Freund innerlich verletzt hatte.
Daisy kam mit einem Arm voll frischer Tücher und einer Schüssel heißem Wasser herein. Der Rancher griff nach einem der Laken, riß es entzwei und begann, Jess das Blut abzuwaschen.
"Daisy, die Kugel steckt noch", erklärte er tonlos. "Trauen Sie sich da ran?"
"Nein, Slim, das ist zu dicht am Herzen. Die Kugel kann nur ein Arzt entfernen – wenn überhaupt …" Während sie sprach, riß sie noch mehr der Laken in kleinere Stücke, wobei ihr Blick an Jess' aschfahlem Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den dunklen Schatten des Todes auf seinen geschlossenen Lidern hing. "Reiten Sie nach Laramie und holen Sie Doc Higgins! Ich mache hier weiter. Beeilen Sie sich! Jess hat nicht mehr viel Zeit."
"Nein, die hat er weiß Gott nicht mehr! Vielleicht ist es sogar schon zu Ende mit ihm, noch ehe ich die Stadt erreiche."
"Denken Sie nicht an so etwas! Bitte, Sie müssen jetzt gehen, ehe es zu spät ist!"
Slim hatte das unbestimmte Gefühl, daß dies bereits der Fall war. Mit Gewalt mußte er sich losreißen, wollte seinen Freund jetzt nicht verlassen, weil er fürchtete, Jess könnte vielleicht sterben und er wäre in seinen letzten Minuten nicht bei ihm. Aber er mußte in der Stadt den Arzt für ihn holen. Das war die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen.
Eilig verließ er das Haus, rannte hinüber zum Stall. Gleich darauf jagte er aus dem Gebäude und vom Hof.
Unterwegs überfiel ihn plötzlich eine ungeheure Angst, der Arzt könnte nicht in seiner Praxis, sondern ebensogut auch bei Hausbesuchen über Land sein. Er wußte nicht, was er dann täte. An diese Möglichkeit getraute er sich jedenfalls nicht zu denken.
Für die zehn Meilen bis zur Stadt benötigte Slim eine gute halbe Stunde. In so kurzer Zeit hatte er diese Strecke noch nie zurückgelegt. In voller Karriere galoppierte er die Hauptstraße entlang und bog in die Seitenstraße, in der sich Doc Higgins' Praxis befand.
Der Sheriff, Mort Cory, bemerkte den wilden Reiter und erkannte in ihm seinen Freund von der Sherman-Ranch. Der Gesetzeshüter wunderte sich, daß er so blind vorbeigaloppierte, ohne ihn zu beachten. Um der Sache auf den Grund zu gehen, folgte er ihm in die Seitenstraße, wo Slims Pferd, am ganzen Leib zitternd, mit hängendem Kopf, bebenden Nüstern und schleifenden Zügeln mitten auf der Straße stand. Von seinem Besitzer war weit und breit nichts mehr zu sehen.
Im selben Augenblick sah er den Arzt aus seinem Haus rennen, gefolgt von Slim Sherman. Während Doc Higgins in hektischer Eile seinen tagsüber immer bereitstehenden Buggy bestieg und das Gespannpferd mit energischem Peitschenknall in Bewegung setzte, daß der Wagen nur so die Straße entlangfegte, rannte Slim zu seinem Pferd, als Morts Stimme ihn den Kopf drehen ließ.
"Slim, was ist bloß in dich gefahren?"
"Mort, ich erklär' dir alles später. Ich habe jetzt keine Zeit."
"Das seh' ich. Aber das kann doch kein Grund sein, daß du hier die Leute beinahe über den Haufen reitest. Das mußt du mir schon erklären. Jetzt gleich!"
"Mort, bitte!" herrschte Slim ihn ungewollt hart an. "Auf der Ranch geht es um Leben und Tod! Es tut mir leid, wenn ich ein paar Leute hier erschreckt habe. Darauf kann ich im Augenblick keine Rücksicht nehmen."
Er wollte den Sheriff schon stehenlassen und saß auf, um zum Mietstall zu reiten und sich ein anderes Pferd zu holen.
"Moment mal, Slim!" hielt Mort ihn zurück, faßte ihm zum Nachdruck sogar in die Zügel. "Das mußt du mir nun aber doch genauer erklären, das mit Leben und Tod!"
"Bitte, Mort! Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Zu Hause liegt Jess im Sterben. Da kann ich mich hier nicht um ein paar erschreckte Leute kümmern."
Entschlossen gab er seinem Pferd die Sporen, daß es sich wild bäumte. Der Sheriff sprang einen Schritt zurück, um nicht von den über seinem Kopf wirbelnden Hufen getroffen zu werden. Gleich darauf stob das Tier samt Reiter in vollem Galopp davon.
"Slim!" schrie Mort Cory ihm nach und rannte hinterher.
An der Einmündung zur Hauptstraße sah er, daß der Rancher zum Mietstall geritten war. Im Stallgebäude nahm Slim bereits seinem Wallach Sattel und Zaumzeug ab und wollte für den Rückweg ein anderes Pferd fertigmachen, als der Gesetzeshüter ihn endlich einholte.
"Slim, was ist bei euch da draußen passiert? Was ist mit Jess?" fragte Mort in etwas versöhnlicher gestimmtem Ton.
Die zwei Freunde von der Sherman-Ranch kannte er lange genug, um zu wissen, daß keiner der beiden Spaß verstand, wenn der andere Hilfe brauchte. Seit vielen Jahren lebten sie wie Brüder, dachten, fühlten und handelten auch wie solche. Sollte Jess tatsächlich etwas zugestoßen sein, konnte Mort Cory verstehen, wieso sein Freund dermaßen aus dem Häuschen war, daß er die Leute hier fast über den Haufen ritt.
"Jess ist schwer verletzt." Für einen Augenblick unterbrach Slim seine Arbeit. "Vielleicht ist er sogar schon tot, bis ich wieder nach Hause komme."
"Ein Unfall?" vermutete der Sheriff, obwohl er sich das kaum vorstellen konnte.
"Nein."
"Gab's etwa 'ne Schießerei?"
"Nicht direkt." Slim warf mit einem Ruck den schweren Sattel auf den Rücken des Pferdes und zog den Bauchgurt fest. "Irgend so ein schießwütiger Herumtreiber hat ihn aus dem Hinterhalt … Jess wußte überhaupt nicht … Er hatte nicht die geringste Chance. Nicht weniger schlimm ist, daß mich der Kumpan dieses Heckenschützen gezwungen hat, es tatenlos mit anzusehen."
"Du lieber Himmel!"
"Verstehst du jetzt, daß ich keine Zeit für Erklärungen habe?" Slim schwang sich in den Sattel. "Wenn ich Jess schon nicht helfen konnte, will ich wenigstens bei ihm sein, wenn er …" Gequält schluckend, brach er ab. Den Satz konnte er beim besten Willen nicht beenden.
"Natürlich", nickte der Sheriff verständnisvoll. "Ich werde dir mit ein paar Männern folgen. Vielleicht können wir die Kerle schnappen."
"Tu das!" war Slims ganzer Kommentar.
In halsbrecherischem Galopp sprengte er aus dem Stall, durch die Stadt, zurück auf seine Ranch, wo er zusammen mit dem Arzt eintraf.
Fortsetzung folgt
