KAPITEL 3
Die ganze Zeit kauerte Mike wie versteinert hinter dem Geländer der Treppe, die zum ersten Stock führte. Von hier aus konnte er alles beobachten.
Nacktes Entsetzen lähmte ihn, als der Mann mit dem Namen Hal sein Gewehr auf Jess anlegte. Immerzu mußte er den reglosen Körper des großen Freundes anstarren, registrierte gar nicht, was sonst noch um ihn herum vorging. Erst als er Slim so aufgeregt aus dem Haus und zum Stall rennen sah, kam der Junge augenblicklich zu sich.
Der durch das schreckliche Geschehen erlittene Schock war so groß, daß Mike noch nicht einmal fähig war zu weinen. Seine Augen brannten, seine Kehle war wie zugeschnürt, aber keine Tränen wollten fließen.
Die unvermittelt eingetretene, im Haus herrschende Stille schreckte ihn auf einmal, riß ihn wie aus tiefem Schlaf. Verwirrt blickte er um sich, richtete sich langsam auf und schlich die Treppe hinunter wie ein Einbrecher, der nicht gehört werden wollte.
Unversehens stand er vor der Blutlache auf dem Dielenboden. Mike erschrak und preßte die Hand auf den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken.
Er folgte der Blutspur nach draußen, verharrte dann reglos genau an der Stelle, wo Jess zusammengebrochen war. Das trocknende Blut färbte den sandigen Boden dunkel. Ein paar Fliegen hatten sich zu einer ausgiebigen Mahlzeit niedergelassen. Am Vordachpfosten entdeckte Mike ebenfalls einige dunkle Flecken, die eindeutig noch nicht lange dort klebten. Wie unter Zwang fuhr der Junge mit zitternder Hand darüber, berührte die Stelle mit den Fingerspitzen.
Ein nicht zu bändigendes Gefühl der Übelkeit überkam ihn. Mike drückte die Hand gegen den Mund und rannte zur nächsten Hausecke, wo er sich übergeben mußte wie noch nie in seinem Leben. Jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, daß ihm schon jemals so schlecht war.
Erst nach einer Weile fühlte er sich endlich wieder etwas besser. Erschöpft lehnte er an der Hauswand, starrte auf seine Finger, mit denen er über die Blutspritzer gefahren war. Plötzlich bildete er sich ein, daß seine Fingerspitzen brannten. Mike rieb sie an seiner Brust, aber das merkwürdige Kribbeln blieb.
Schließlich wandte er sich mit einem Ruck um. Entschlossen und doch voller Furcht ging er ins Haus zurück, stahl sich durchs Wohnzimmer an Daisy Cooper vorbei, die in der Küche frisches Wasser holte für die kalten Umschläge, mit denen sie Jess Linderung verschaffen wollte, weil er zu fiebern begann.
Eine magische Kraft zog Mike unaufhaltsam in das kleine Krankenzimmer. Zögernd trat er ans Lager des Freundes. Jetzt, da er ihn aus der Nähe sah, erschrak der Junge zusehends. Weniger die blutigen Laken und Kissen waren schuld, sondern vielmehr Jess selbst, sein lebloser Körper, der provisorische Verband, der die Wunde notdürftig bedeckte, sein vom Tod gezeichnetes Gesicht, in dem auf der blassen Haut der Schweiß glänzte, die eingefallenen Wangen, der leicht geöffnete Mund mit den trockenen Lippen, auf denen wie auch auf den geschlossenen Lidern ein bläulichvioletter Schatten lag: der Schatten des Todes.
Nachdem der verhängnisvolle Schuß Jess zu Fall gebracht hatte, war noch nicht einmal eine Stunde vergangen. Trotzdem kam es Mike vor, der Mann wäre in der kurzen Zeit, seit er ihn unmittelbar vor dem Unglück gesehen hatte, um Jahre gealtert.
"Jess!" stammelte er, fiel neben dem Bett auf die Knie und berührte ihn zaghaft an der Schulter. "Bitte, wach doch auf und sag was! Du bist nicht tot, nicht wahr? Warum sagst du denn nichts? Du darfst nicht sterben, hörst du?" flüsterte er ihm ins Ohr; aber Jess, der in tiefer Bewußtlosigkeit lag, konnte ihn nicht hören.
Mike griff nach seiner schlaffen Hand und umschloß sie fest. In seiner Verzweiflung fing er mit flehender Stimme an, leise zu beten.
"Bitte, lieber Gott, laß ihn nicht sterben! Ich will nicht, daß er stirbt. Er soll doch leben, bitte! Ich will auch immer artig sein und gehorchen, wenn du ihn nur wieder ganz gesund machst. Bitte, bitte!" wimmerte er, aber selbst jetzt konnte er nicht weinen.
In Gedanken so in sein Gebet vertieft, hörte der Junge Daisy Cooper nicht hereinkommen.
"Mike!" rief die Frau entsetzt und stellte die Wasserschüssel auf den Nachttisch. "Um Gottes willen! Was suchst du denn hier? Warum bist du nicht in deinem Zimmer geblieben? Was meinst du, wenn Jess erfährt … Du weißt ganz genau, daß er …" Sie konnte nicht weitersprechen, weil sie ihre Stimme nicht mehr in der Gewalt hatte.
Mike blickte langsam zu ihr auf, bemerkte, daß sie mit den Tränen kämpfte.
"Ich …" Er schluckte. "Ich … ich hab' alles gesehen."
"Oh, mein Gott!" entfuhr es Daisy. Für einen Augenblick vergaß sie sogar den Schwerverwundeten auf dem Bett. "Warst du denn nicht in deinem Zimmer?"
Schuldbewußt nahm Mike seine Unterlippe zwischen die Zähne und schüttelte den Kopf.
"Ich … ich hab' sie kommen sehen … vom Fenster aus. Zuerst hab' ich mich versteckt … unterm Bett … vor dem Mann. Ich hatte solche Angst, daß er mich findet. Als er wieder unten war, da … da bin ich zum Treppengeländer geschlichen. Dann … dann … ich … ich konnte alles sehen und hören … den Mann … er … er hat einfach … geschossen … Jess … es war … es war so schrecklich, als er schrie! Und überall das viele Blut!" Der Junge würgte, starrte die stille Gestalt auf dem Bett wie geistesabwesend an. Mit beiden Händen rieb er sich die Brust herunter, als krabbelte dort etwas Ekelerregendes. "Tante Daisy, Jess … ist er … ist er jetzt … tot?"
"Nein, mein Junge, keine Angst, er lebt."
Die Frau strich ihm liebevoll übers Haar, versuchte, ihn zu trösten, weil sie befürchtete, daß er eine Art Schock erlitten hatte.
"Aber er wird sterben, nicht wahr?"
"Das wollen wir doch nicht hoffen."
"Warum sagt Jess denn nichts?" fragte Mike auf einmal, dem die unnatürliche Reglosigkeit des Mannes, seine stumm bleibenden Lippen allmählich unheimlich wurden.
"Jess kann jetzt nicht sprechen."
"Aber warum denn nicht?"
"Weil er …" Daisy wußte nicht, was sie sagen sollte. "Bitte, geh jetzt auf dein Zimmer!" drängte sie deshalb, während sie einen Lappen in das Wasser tauchte, das sie gebracht hatte, um damit Jess' Gesicht und Hals zu waschen.
Mike überhörte diese Aufforderung absichtlich. Statt dessen beobachtete er sie, wie sie Jess die Haare aus der Stirn strich und ihn sorgsam mit dem kühlen, feuchten Lappen abrieb.
"Hat er schlimme Schmerzen?"
Notgedrungen mußte Daisy erkennen, daß ihre Versuche, ihn zu bewegen, sein Zimmer aufzusuchen, zwecklos waren. Sie hätte ihn schon selbst hochbringen und einsperren müssen.
"Ich glaube nicht", antwortete sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
"Aber warum hat er denn so geschrien?"
Wie sollte sie ihm das nur erklären?
"Als es passierte, hat es sicherlich wehgetan."
"Das muß dann aber ganz fürchterlich wehgetan haben, sonst hätte er doch nicht … Ich meine, ich … ich habe Jess nämlich noch nie zuvor so … so schreien hören."
"Ich nehme an, Mike, daß das nicht allein die Schmerzen waren, sondern vielmehr auch der Schreck."
"Meinst du wirklich?"
"Bestimmt."
So ganz konnte Mike das nicht glauben, obwohl seine Einbildungskraft bei weitem nicht ausreichte, die Heftigkeit solcher Schmerzen überhaupt nur zu ahnen. Seiner Meinung nach mußte es höllisch wehtun, wenn so etwas wie eine Gewehrkugel in den Körper eindrang.
"Es tut bestimmt sehr weh!" sagte er dann in einem Ton, der eindeutig erkennen ließ, daß er von nichts anderem zu überzeugen war. "Hat Jess jetzt auch Schmerzen?"
Daisy antwortete nicht gleich. Sie wrang den Lappen aus und begann wieder, Jess' Gesicht zu waschen.
"Solange er bewußtlos ist, spürt er nichts."
"Wie ist das, wenn man bewußtlos ist?" wollte Mike es ganz genau wissen; dabei starrte er unentwegt in das aschfahle Gesicht seines Pflegevaters.
"Du stellst vielleicht Fragen!"
"Sag doch!"
"Das ist so etwas Ähnliches wie sehr tiefer Schlaf."
"Ist er darum so still?"
"Ja."
"Warum ist Jess denn bewußtlos?" konnte es Mike einfach nicht dabei bewenden lassen.
"Mike, bitte!"
"Sag doch, warum, Tante Daisy?"
"Weil …" Wieder zögerte sie, weil ihr auf Anhieb keine für ihn taugliche Antwort einfiel. "Weil er sehr, sehr krank ist."
"Aber wieso ist er deshalb bewußtlos?"
"Mike, bitte!" wiederholte sie eindringlich. "Ich weiß, daß du das alles nicht verstehen kannst, aber ich habe keine Zeit und keine Geduld, es dir zu erklären. Ich muß mich um Jess kümmern, verstehst du? Er braucht mich jetzt mehr, als du dir vorstellen kannst."
"Jess wird doch wieder aufwachen, oder?" blieb Mike hartnäckig bei seiner Fragerei.
"Später."
"Wann ist das?"
"Wenn er genug geschlafen hat."
"Aber …"
"Mike!" wies Daisy ihn energisch zurecht.
Diesmal verfehlte der sehr schroffe Ton ihrer Stimme nicht seine Wirkung. Mike verstummte augenblicklich und schwieg daraufhin eine ganze Weile, in der er gedankenversunken Daisy bei der Arbeit zusah. Dann hing sein Blick wieder an Jess, der ihm so verändert vorkam. Für ihn war er stets der Inbegriff für Stärke und Unerschütterlichkeit gewesen, in dessen Nähe er sich wohlbehütet und sicher vor jeder Gefahr fühlte. Nie hätte er gedacht, daß auch dieser Mann einmal dem Tod näher als dem Leben stehen könnte.
Jess war zwar schon öfter mit größeren oder kleineren Blessuren nach Hause gekommen, manchmal von der Arbeit auf den Weiden, manchmal, wenn er mit einem Suchtrupp des Sheriffs aus freundschaftlicher Gefälligkeit ritt oder für die Postgesellschaft als Begleitfahrer ihrer Kutschen einsprang und Wegelagerer es auf Geld oder Fracht abgesehen hatten. Es war jedoch noch nie so schlimm gewesen, kam Mike sogar harmlos vor im Vergleich zu dem, was heute geschehen war.
Daisy hatte Jess einen feuchten Lappen auf die glühende Stirn gelegt. Sein Kopf war etwas zur Seite geneigt. In seinen Mundwinkeln sammelte sich immer wieder Blut, begann als dunkle Kruste auf seinen Lippen und seinem Kinn zu kleben, obgleich Daisy ihn ständig wusch. Als auch noch auf dem weißen, mehrmals sorgfältig gefalteten Stück Laken, das die Wunde bedeckte, allmählich ein roter, naß glänzender Fleck sichtbar wurde, der bald die Größe einer Handfläche erreichte, griff Mike entsetzt nach Daisys Arm.
"Tante Daisy, das … das blutet ja immer noch! Ich habe solche Angst!"
"Mike, bitte!" drängte sie sehr ernst. "Bitte, geh jetzt, mein Junge! Ich bitte dich, geh auf dein Zimmer!"
"Aber ich möchte doch so gern helfen", beharrte Mike, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie er das bewerkstelligen sollte.
"Hier kannst du nicht helfen. Du störst jetzt nur. Bitte geh!" wiederholte sie mit zitternder Stimme.
"Aber, Tante Daisy, ich möchte doch …", bettelte er und rührte sich nicht von der Stelle. "Kann ich denn gar nichts tun?"
"Na schön", willigte sie ein, nachdem sie erkennen mußte, daß sie ihn anders nicht los wurde. "Geh in die Küche und sieh nach, ob genug heißes Wasser da ist. Leg auch noch ein paar Scheite Holz in den Herd. Aber gib acht! Verbrenn dich nicht! Dann wartest du draußen und sagst mir sofort Bescheid, wenn Slim mit dem Arzt kommt", trug sie ihm auf, um ihn für einige Zeit zu beschäftigen und vor allem vom Krankenzimmer fernzuhalten.
"Ja, sofort!" war Mike fürs erste zufrieden.
Trotzdem fiel es ihm schwer, das Zimmer zu verlassen und zu tun, was ihm aufgetragen worden war.
"Mein Gott!" stieß Daisy hervor, als sie mit Jess endlich allein war. "Ist denn dieses Unglück nicht schon genug? Mußte das auch noch passieren, daß der Junge alles mit angesehen hat!"
Als Jess plötzlich zu stöhnen und zu keuchen anfing, hatte sie Mike schnell vergessen, setzte sich auf die Bettkante und versuchte, den Mann zu beruhigen.
Verzweifelt rang er nach Luft. Ein schleimiger Blutstrom quoll aus seinem Mund, rann über sein Kinn, brachte ihn zum Husten. Vor Schmerzen wollte er schreien, aber er konnte nicht. Dann verlor er wieder das Bewußtsein, ehe er völlig zur Besinnung gekommen war.
"Oh, mein Gott! Laß ihn durchhalten! Bitte, hilf ihm, daß er das durchsteht! Bitte!" flehte Daisy, als sie sah, wie sein Kopf zur Seite fiel. "Bitte, laß den Arzt noch rechtzeitig kommen! Er darf nicht sterben! Er darf nicht! Er darf nicht!" stammelte sie weinerlich.
Dann sah sie, daß sich der klebrige Fleck auf dem Stück Laken, das seine Wunde bedeckte, vergrößert hatte. Daisy preßte die Lippen aufeinander, damit sie nicht vollends die Fassung verlor. Sie betete stumm vor sich hin, wusch das Blut, das jetzt wie ein roter Faden auch aus seinem Nasenloch sickerte, von seinem Gesicht und hoffte, daß der Arzt nicht mehr so lange auf sich warten ließ.
Wenig später kam Mike aufgeregt ins Zimmer gerannt. Daisy blickte erschrocken auf, da sie die letzten paar Minuten die Welt um sich total vergessen hatte und auch nicht mehr an den Jungen dachte, der, wie geheißen, zuerst in der Küche wirtschaftete, um anschließend nach Slim Sherman und dem Arzt Ausschau zu halten.
"Tante Daisy! Tante Daisy!" rief er, außer Atem zur Tür hereinstolpernd. "Slim kommt zurück und hat den Doktor mitgebracht."
"Gott sei Dank!" atmete sie erleichtert auf.
Sie erhob sich, als auch sie den Hufschlag durch die offene Tür vernahm. Gleich darauf waren polternde Schritte im Wohnzimmer zu hören. Einen Augenblick später trat der Arzt in das kleine Krankenzimmer.
"'n Tag, Mrs. Cooper", grüßte er kurz angebunden, stellte seine Tasche auf einen Stuhl neben dem Bett, zog seinen Rock aus und krempelte seine Hemdsärmel hoch, während er einen flüchtigen Blick auf Jess warf.
"Guten Tag, Doktor." Daisy trat zur Seite, damit er sich über den Verletzten beugen konnte. "Ich hatte schon Angst, Sie kommen zu spät."
"Noch weiß ich nicht, ob es früh genug ist." Routinemäßig prüfte er die Pupillenreaktion seines Patienten. "War er inzwischen noch einmal bei Bewußtsein?"
"Vielleicht vor zwanzig Minuten, aber nur ganz kurz. Er war sehr unruhig und muß sehr starke Schmerzen gehabt haben. Bei … bei einem Hustenanfall wäre er beinahe … Er wäre beinahe dabei erstickt." Daisys Kehle wurde zunehmend trocken. Ihre Stimme begann zu zittern. Schließlich wurde sie so rauh, daß sie kaum noch zu verstehen war, als sie leise hinzufügte: "Er hat … Blut gehustet."
"Viel?"
Sie nickte stumm, daß Dan ihr einen hastigen fragenden Blick zuwarf, weil er mit Jess beschäftigt gewesen war und nicht auf ihre Reaktion geachtet hatte. Sie wiederholte ihre schwache Bewegung, riß jedoch mit einem Ruck entschlossen den Kopf hoch. Offensichtlich hatte sie sich wieder gefaßt.
"Ziemlich. Es war ganz frisch."
Der Arzt brummte irgend etwas vor sich hin, mahlte mit dem Unterkiefer und machte dabei ganz den Eindruck, als wäre es ihm angenehmer gewesen, seine ärztliche Arbeit nicht ausgerechnet hier verrichten zu müssen.
"Das habe ich befürchtet", war alles, was zu verstehen war, während er seine Hemdsärmel bis über die Ellbogen schob. "Ist genug kochendes Wasser da?"
"In der Küche."
"Gut. Wo kann ich mir die Hände waschen?"
"Auch in der Küche. Da sind auch Seife und Handtuch."
Jetzt hörte sie sich wieder ganz wie die tüchtige Krankenschwester an, die sie einmal war, mit ihren Gedanken voll bei der Arbeit, sich kurz fassend, bestimmt und präzise handelnd. Für emotionale Schwächen hatte sie in diesem Moment keine Zeit. Ein Menschenleben stand auf dem Spiel, das es unter allen Umständen zu retten galt.
Sie folgte dem Arzt in die Küche, um den Spirituskocher und heißes Wasser zu holen. An der Tür hielt Slim sie zurück, nachdem er am Fußende des Bettes Mike entdeckt hatte, worüber er recht ungehalten zu sein schien.
"Daisy, was sucht Mike hier? Mußte das sein? Konnten Sie ihm das nicht ersparen?"
"Es ist nicht meine Schuld, Slim. Er hat alles beobachtet."
"Auch das noch!"
"Kümmern Sie sich um ihn! Ich werde dem Doktor assistieren."
Daisy schlängelte sich an ihm vorbei und eilte in die Küche, wo Doc Higgins sich Hände und Unterarme gründlich wusch.
Slim kam nun vollends ins Zimmer, stellte sich neben Mike und schlang den Arm um seine Schultern. Ängstlich sah der Junge zu ihm auf.
"Slim, nicht wahr, Jess wird nicht sterben? Er wird doch wieder gesund, nicht wahr? – Nicht wahr, Slim?" drängte er, als der Mann nicht gleich reagierte.
"Natürlich!" erwiderte er mechanisch wie ein Automat, der durch einen bestimmten Knopfdruck in Gang gesetzt wurde. Dabei glaubte er selbst nicht an das, was er sagte. "Aber jetzt mußt du gehen, damit Doc Higgins Jess helfen kann."
Das sah Mike schweren Herzens ein. Mit hängendem Kopf verließ er das Zimmer. Gleich darauf kam der Arzt mit Daisy zurück.
"Kann ich noch irgend etwas tun?" fragte Slim, unverwandt die stille Gestalt auf dem Bett anstarrend.
"Im Augenblick nicht", erwiderte der Arzt und öffnete seine Tasche. "Hoffen und beten – das ist das einzige. Kümmre dich lieber um den Jungen. Jess kannst du im Moment jedenfalls nicht helfen."
Weder der Arzt noch Daisy nahmen weitere Notiz von ihm, daß Slim nun wirklich nicht mehr stören wollte. Aber nur ungern verließ er den Raum. Nachdenklich schloß er hinter sich die Tür, kam schweren Schrittes zum Wohnzimmertisch, wo er sich tief aufatmend niederließ.
Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch die Haare, stützte den brummenden Schädel in seine Hände. Als er die Augen niederschlug, erlebte er in Gedanken noch einmal die Geschehnisse der letzten beiden Stunden. Zum erstenmal hatte er Zeit, darüber nachzudenken. Das Ganze erschien ihm wie ein furchtbarer Alptraum, aus dem es jedoch kein erlösendes Erwachen gab; denn alles war Wirklichkeit.
Eine Hand legte sich zaghaft auf seinen Arm, riß ihn aus seinen düsteren Gedanken. Er blickte auf und sah Mike neben sich stehen.
"Mein Junge", Slim verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln, "hast du wirklich alles gesehen?"
Mike nickte, geräuschvoll schluckend.
"Wo warst du denn, als es passierte?"
"Da … da oben!" Er deutete die Treppe hinauf. "Ich … ich hatte mich hinterm Geländer versteckt."
"Dann weißt du sicher auch, was geschehen ist, nachdem mich der Kerl niedergeschlagen hat. Trafen sich die beiden tatsächlich mit jemandem? Wenn ja, konntest du den Mann sehen?"
Mike berichtete mit stockender Stimme, was sich ereignet hatte. Den Mann mit dem Namen Alex hatte er jedoch nicht sehen können.
"Slim, warum hat der Mann auf Jess geschossen?" wollte er schließlich wissen, weil das kindliche Verständnis eines Jungen in seinem Alter bei weitem nicht ausreichte, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden.
"Wenn ich das wüßte!" Slim sah ihn ratlos an und zuckte mit den Schultern. "Der Kerl wollte wahrscheinlich einfach nur Blut sehen, jemandem wehtun, sonst nichts."
"Einfach so?"
"Ja, Mike, einfach so." Der Rancher überlegte eine Weile. Auf einmal besann er sich, daß er einen zehnjährigen Jungen vor sich hatte und keinen Erwachsenen. Noch ehe Mike ihn weiter löchern konnte mit Fragen, auf die er selbst keine Antwort wußte, ordnete er in ruhigem, jedoch sehr bestimmendem Ton an: "Jetzt gehst du schleunigst auf dein Zimmer! Dort bleibst du, bis du gerufen wirst!"
"Aber, ich möchte doch …"
"Keine Widerrede!"
"Ja, Slim", schmollte Mike und schlurfte davon.
Zweifellos gab er sich die größte Mühe zu gehorchen. Mit den besten Vorsätzen und der festen Absicht, dort auch zu bleiben, suchte er sein Zimmer auf. Doch als er da oben in dem Raum allein war, fühlte er sich plötzlich so verlassen, daß er es nicht aushalten konnte.
Mike schlich über den Flur zurück zur Treppe, wo er sich wieder hinter das Geländer duckte. Ganz gewiß wollte er nicht lauschen, war sogar nach allem durchaus in der Lage, zu verstehen und niemandem übelzunehmen, daß im Augenblick keiner Zeit für ihn hatte; nur brachte er es jetzt einfach nicht fertig, die Einsamkeit seines Zimmers zu ertragen.
Er beobachtete Slim, der aufstand und wie ein Uhrpendel im Wohnzimmer auf und ab zu wandern begann. Mike hatte ihn noch nie so ernst gesehen.
Lärm drang durch die offene Haustür herein und kündigte die Mittagskutsche an, die ein paar Minuten Verspätung hatte. Slim unterhielt sich kurz mit dem Kutscher und bat ihn, den Gespannwechsel heute ausnahmsweise selbst vorzunehmen.
"Natürlich, Slim", nickte Abe Miller. "Da die Kutsche sowieso leer ist, werde ich mich gar nicht länger aufhalten. Dann kann ich wenigstens noch ein wenig von der Verspätung aufholen. Grüß Mrs. Cooper und Jess von mir!"
"Mach' ich", versprach der Rancher, kaum noch imstande, das Zittern seiner Stimme unter Kontrolle zu halten. Jedesmal, wenn jemand den Namen seines Freundes erwähnte, hatte er das Gefühl, eine unsichtbare Hand zerdrückte ihm den Kehlkopf.
Daraufhin verabschiedete sich Abe Miller, um sich an die Arbeit zu machen. Slim kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern bezog wieder Posten vor der Tür des kleinen Krankenzimmers. Dabei fragte er sich, was der Arzt so lange darin tat, obwohl kaum zwanzig Minuten vergangen waren, seit Slim den Raum verlassen hatte. Aber bereits diese kurze Zeit erschien ihm wie eine Ewigkeit.
Bald darauf hörte er, wie die Kutsche vom Hof rollte. Wenig später hielt eine Gruppe von Reitern vor dem Haus. Unmittelbar danach trat Mort Cory ein, während die Männer, die ihn begleiteten, draußen auf ihren Pferden warteten.
"Hallo, Mort, du warst schnell hier", begrüßte Slim den Sheriff, ziemlich tonlos dahergeredet.
"Wir haben uns beeilt. Wie geht es Jess?" Die Frage nach dem Befinden seines langjährigen Freundes war Mort offensichtlich wichtiger als die nach dem eigentlichen Tathergang.
"Ich fürchte, nicht sehr gut."
"Aber er wird es doch schaffen?"
"Ich hoffe es." Slim senkte den ernsten Blick. "Es sieht schlecht aus. Der Arzt ist gerade bei ihm. Wenigstens scheint er noch zu leben, sonst müßte Dan nicht mehr …" Plötzlich drohte seine Stimme ihren Dienst zu versagen.
"Vielleicht sieht es im ersten Moment auch nur gefährlicher aus, als es in Wirklichkeit ist", versuchte der Sheriff diese Hiobsbotschaft etwas abzuschwächen, weil er einfach nicht glauben konnte, daß Jess Harper direkt vor dem Tor zur Hölle stand und die Schwelle zumindest mit einem Bein schon so gut wie überschritten hatte.
"Ich wollte, es wäre so. Mort, du hast Jess nicht gesehen! Er ist in meinen Armen beinahe verblutet, hat bald mehr Blut gehustet, als er durch die Wunde verlor. Die Kugel muß ihn innerlich verdammt schwer zugerichtet haben, so schwer jedenfalls, daß er um ein Haar an seinem eigenen Blut erstickte."
"Meine Güte! Es will mir einfach nicht in den Kopf, daß Jess einmal so etwas zustoßen könnte. Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen! Wie ist das nur geschehen?" wollte Mort dann in dienstlichem Ton wissen.
Slim berichtete alles, was er wußte, auch das, was er von Mike erfahren hatte, gab dem Sheriff eine genaue Beschreibung der Männer, versuchte, sich an jede Einzelheit zu erinnern, auch wenn es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen.
"Mike sagte, sie sind nach Norden davongeritten", schloß er seinen Bericht.
"Glaubst du, die haben auf Jess gewartet? Vielleicht wollten sie eine Rechnung mit ihm begleichen", vermutete der Sheriff, aber Slim schüttelte sofort den Kopf.
"Nein, Mort, das glaube ich nicht! Zuerst hatte ich zwar auch den Verdacht, aber sie kannten ihn offensichtlich überhaupt nicht. Jedenfalls behaupteten sie das sogar selbst. Dieser Hal hat einfach nur geschossen, weil es ihm Spaß machte. Es schien ihm egal zu sein, ob das nun Jess war oder irgendein anderer. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er abdrückte! Ich hatte das Gefühl, es machte ihm Freude, den Finger zu krümmen und jemandem wehzutun. Daß ausgerechnet Jess daran glauben mußte, war garantiert reiner Zufall. Wenn er nur eine oder vielleicht auch nur eine halbe Stunde später von der Weide zurückkehrte, wäre ihm gar nichts passiert. Eine halbe Stunde, Mort! Dreißig verdammte Minuten!"
"Dann hätte der Kerl vielleicht auf dich oder sogar Mrs. Daisy geschossen."
"Du willst doch hoffentlich nicht damit sagen, daß es so besser war und Jess die Kugel erwischte!" brauste Slim auf. "Glaub mir, Mort, ich würde mich auf der Stelle in Stücke schießen lassen, wenn ich Jess damit das alles ersparen könnte."
"Beruhige dich doch!" versuchte der Sheriff, den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen. "Ich wünschte, hier wäre überhaupt nicht geschossen worden. Vergiß nicht, Jess ist auch mein Freund!"
"Natürlich", lenkte Slim schnell ein. "Wirst du die drei gleich verfolgen?"
"Ja, solange die Spuren noch nicht verwischt sind, haben wir vielleicht eine Chance. Kommst du mit?"
"Nichts täte ich lieber als das. Aber ich kann hier nicht weg. Ich darf Jess jetzt nicht allein lassen. Nicht jetzt, Mort! Ich muß dasein, wenn er mich braucht."
"Das versteh' ich." Mort erhob sich tief aufatmend. "Ich an deiner Stelle wollte auch in seiner Nähe bleiben." Wie um ihn aufzumuntern, schlug er ihm kräftig auf die Schulter. "Kopf hoch, Slim! Wir werden die Kerle schon finden."
"Paßt gut auf! Nicht daß noch mehr Blut fließt."
"Keine Sorge. Und gute Besserung für Jess. Ich drück' ihm beide Daumen. Meine Leute draußen auch."
"Danke."
Slim begleitete ihn zur Tür und blickte den Männern nach, als sie vom Hof ritten, um an den nördlichen Koppeln nach brauchbaren Spuren zu suchen. Dann schloß er langsam mit nachdenklicher Miene die Haustür.
Anschließend nahm er seine ruhelose Wanderung durchs Wohnzimmer wieder auf, wurde von Minute zu Minute nervöser. Er konnte sich einfach nicht erklären, was der Arzt so lange zu tun hatte.
Irgendwann blieb er vor dem zerschossenen Fenster stehen, um hinaus auf den sonnenüberfluteten Hof zu starren. Vor seinen Augen zogen noch einmal wie in Zeitraffer all die schönen, manchmal auch weniger angenehmen Stunden und Ereignisse vorüber, die er an der Seite des Freundes verbracht hatte. Zusammen hatten sie so manche wilde Abenteuer erlebt, mit gemeinsamer Kraft die heruntergewirtschaftete Ranch wieder in Schwung bekommen, waren schon ungezählte Meilen Seite an Seite geritten und standen sich näher als die meisten Brüder. Einer konnte sich auf den anderen absolut verlassen. Sie vertrauten einander blindlings, wären füreinander durch den schlimmsten Teil der Hölle gegangen, ohne viel zu fragen oder gar Bedingungen zu stellen. Eine tiefe, ehrliche Freundschaft verband diese zwei Männer, eine Freundschaft, die jeder Belastung gewachsen war und erst recht standhielt, wenn sie auf besonders harte Proben gestellt wurde.
Slim war nicht in der Lage, sich vorzustellen, wie es ohne Jess weitergehen sollte, falls dieser so sinnlos sterben mußte. Nicht die verlorene Arbeitskraft würde ihm fehlen – die war zu ersetzen –, sondern vielmehr der Mensch, der Freund, für den es keinen Ersatz gab, über dessen Verlust er nicht hinwegkommen könnte, obwohl er vernünftig genug war einzusehen, daß das Leben trotzdem weiterging.
Und dann! Was würde aus Mike werden? Vor vier Jahren tauchte der Junge eines Tages völlig verwahrlost und verstört auf der Ranch auf, nachdem er aus einem Waisenhaus, in dem entsetzliche Zustände herrschten, weggelaufen war. Von Anfang an fühlte sich Jess zu dem damals wirklich nur Dreikäsehoch hingezogen, kümmerte sich liebevoll um ihn, vielleicht weil er aus eigener Kindheitserfahrung wußte, wie schwer es war, gerade in diesem Alter ohne einen Menschen auszukommen, der einem Zuneigung und Verständnis entgegenbrachte. Slim erinnerte sich, wie Jess für den Jungen kämpfen mußte, ehe er endlich das Sorgerecht für ihn erhielt, um ihn vor weiteren schlimmen Erfahrungen zu schützen.
Seit der Zeit war auch Daisy Cooper auf der Ranch, die den nun auf drei Mann angewachsenen Junggesellenhaushalt mit weiblichem Einfühlungsvermögen fest im Griff hatte. Ihre mütterliche Fürsorge galt neben dem Jungen ebenso Jess Harper, der ihre erzieherische Unterstützung zu schätzen wußte; denn für einen alleinstehenden Mann war es nicht immer leicht, mit einem Kind in Mikes Alter zurechtzukommen, zumal er eher dazu bereit war, ein Auge zuzudrücken, während eine Frau doch mehr auf eine gewisse Ordnung achtete und auch energischer dafür sorgte, daß sie eingehalten wurde.
Heute lebten die vier von der Sherman-Ranch wie eine richtige Familie zusammen, obgleich sie nicht im entferntesten miteinander verwandt waren. Slim konnte einfach nicht fassen, daß dies nun vielleicht vorbei war, nur weil es einem blutdürstigen Sadisten Spaß gemacht hatte, einen Menschen zu quälen.
Bei diesem Gedanken erschrak er, ging er dabei doch unbewußt von Jess' Tod aus. Immerhin lebte der Freund noch. Selbst wenn es unwahrscheinlich war, daß er aufgrund der schweren Verwundung den Tag überstand, durfte Slim dies nicht mehr ein einziges Mal anzweifeln.
Die sich hinter ihm öffnende Zimmertür riß ihn jäh aus seinen Gedanken. Mit einem Ruck wandte er sich um, sah Daisy Cooper aus dem Zimmer wanken. Neben der Tür mußte sie sich auf die Kommode stützen, weil ihr schwindelte. Die andere Hand hielt sie gegen die Stirn gepreßt. Die Frau war kreideweiß im Gesicht und offensichtlich einer Ohnmacht nahe.
"Daisy, was haben Sie?" Slim, nach ein paar großen Schritten bei ihr, legte besorgt seinen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen. "Ist Ihnen nicht gut?"
"Mir fehlt nichts." Ihr Widerspruch stand im krassen Gegensatz zu ihrem glasigen Blick. Zitternd fuhr sie sich übers Gesicht. "Das kommt sicher von dem vielen Chloroform."
"Was ist mit Jess?" wollte der Rancher wissen, da er eher dazu neigte, ihren Zustand nicht nur dem strengen Chloroformgeruch zuzuschreiben, sondern vielmehr dem gerade Erlebten.
"Ach, Slim!" seufzte sie, sich an seinem Arm festklammernd, weil ihr die Knie weich zu werden drohten, wenn sie an den übelzugerichteten Mann dachte. "Es ist alles so furchtbar! Warum mußte das nur geschehen?"
"Was ist mit ihm?" wiederholte Slim mit drängender Stimme, nichts Gutes ahnend. "Ist er …" Was er befürchtete, wagte er nicht auszusprechen. "Daisy, was ist mit ihm?" wiederholte er abermals und begann, sie sanft zu schütteln.
"Er … er lebt noch", stammelte sie in weinerlichem Ton, aber ihre Augen blieben trocken. Anscheinend war die seelische Belastung im Moment so groß, daß sie einfach nicht weinen konnte.
"Gott sei Dank!" Aufatmend drückte er die Frau an sich, als wollte er sich so für seine heftige Reaktion bei ihr entschuldigen. "Konnte Dan die Kugel entfernen?"
Sie nickte stumm mit niedergeschlagenen Lidern. Die Erinnerung an das Geschehen der letzten Stunde schien nicht weniger schlimm zu sein als an die Augenblicke, in denen der verhängnisvolle Schuß fiel. Sie wünschte sich, sie könnte hinter allem genauso einfach die Tür schließen wie eben die des Krankenzimmers.
In ihrem beinahe sechzigjährigen Leben hatte sie schon viel Leid erleben müssen, vor allem in der Praxis ihres vor nunmehr seit fünf Jahren verstorbenen Mannes, eines Arztes und Chirurgen. Beide arbeiteten während des Sezessionskrieges in einem Lazarett, wo sie rund um die Uhr das Stöhnen und die Schreie der Verwundeten hörte, die zerschundenen und verstümmelten Körper sah, den Geruch von Blut und Tod atmete. Es machte ihr nichts aus, an der Seite ihres Mannes am Operationstisch zu stehen, ihm zu assistieren und zu helfen, wo sie nur konnte.
Aber diesmal war alles anders! Der Mann, dessen Blut sie heute gesehen, dessen Schrei sie gehört hatte, war nicht irgendein Soldat oder Fremder, den sie nicht oder kaum kannte. Ihr war, als läge nebenan ihr eigener Sohn im Sterben, dem sie nicht zu helfen vermochte.
"Was macht er denn noch so lange bei ihm?" fragte Slim plötzlich voll innerer Unruhe über diese quälende Ungewißheit.
"Er versucht, die inneren Blutungen zu stillen. Ich glaube, er will die Wunde ausbrennen."
Slim verzog den Mund. Wenn ihn jemand zwingen wollte, dem Arzt bei der Arbeit zuzusehen, hätte es ihm nicht übler sein können. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich übers Gesicht, starrte dann zur geschlossenen Tür des Krankenzimmers.
"Egal wie!" murmelte er. "Hauptsache, es gelingt ihm."
"Hoffentlich!" Daisy ließ sich von dem Mann zu einem Stuhl am Tisch führen. "Ich muß unbedingt etwas trinken, sonst wird mir übel. In der Küche muß noch Kaffee auf dem Herd stehen."
Sie wollte schon aufstehen, aber er drückte sie behutsam auf den Stuhl zurück, eilte in die Küche und kam gleich darauf mit einem vollen Tablett herein. Slim schenkte ihr ein und beobachtete sie, wie sie die Tasse mit beiden Händen halten mußte, weil sie zu sehr zitterte.
"Wo ist Mike?" wollte sie schließlich wissen und blickte sich suchend um.
"Oben in seinem Zimmer."
"Der arme Junge! Ich wollte, er hätte das nicht miterleben müssen. Es war für uns schon schlimm genug." Sie schwieg eine Weile, in der sie daran dachte, was am späten Vormittag hier vorgefallen war. "Ich möchte nur wissen, was in einem Menschen vorgehen muß, der ohne Grund auf einen anderen aus dem Hinterhalt schießt."
"Ich weiß es nicht, Daisy." Slim begann wieder, vor der Zimmertür auf und ab zu wandern. "Ich kann Ihnen nicht einmal meine Gefühle schildern, die ich hatte, als ich dabei zusehen mußte. Mir ist, wie wenn ich selbst geschossen hätte."
"Machen Sie sich keine Vorwürfe, Slim! Sie konnten Jess nicht helfen."
"Vielleicht doch!" Finster starrte er zu Boden, ohne auch nur einmal während seiner Wanderung innezuhalten. "Ich hätte das Risiko eingehen, ihn früher warnen müssen und nicht erst, als es schon zu spät war."
"Wahrscheinlich hätte das auch niemandem geholfen. Möglicherweise wären wir dann sogar alle drei tot. – O Slim!" stieß sie hervor, nachdem ihr bewußt wurde, daß sie von Jess Harper sprach, als wäre er bereits tot. "Das wollte ich nicht sagen. Mein Gott, das wollte ich wirklich nicht sagen!"
"Beruhigen Sie sich, Daisy!" bat er, trat zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern. "Sie können bestimmt nichts dafür. Sie nicht!"
Die Art, wie er seine Worte betonte, ließ erkennen, daß er sich selbst die schlimmsten Vorwürfe machte, den Freund nicht eher gewarnt zu haben; obgleich er ahnte, daß Jess das auch nicht viel geholfen hätte, da er in so unmittelbarer Nähe seines Zuhauses nicht mit einem Hinterhalt rechnete. Dieser Umstand wäre ihm auf jeden Fall zum Verhängnis geworden. Mit ziemlicher Sicherheit wäre er dem schießwütigen Hal so oder so vor die Flinte, direkt in seine Kugel gelaufen. Aber das wollte Slim nicht einsehen.
"Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Mir war von Anfang an klar, daß diese Kerle es ernst meinten. Männer wie die bluffen nicht. Obwohl ich es besser wußte, habe ich bis zuletzt gehofft, dieser Verrückte würde nicht wirklich schießen. Und dann tut er es doch! Daisy, wenn … wenn Jess jetzt stirbt, bin ganz allein ich schuld an seinem Tod! Ich und sonst niemand!"
"Bitte hören Sie auf, so zu reden!" beherrschte Daisy, die sich einigermaßen gefaßt hatte. "Wenn Jess das wüßte! Er ließe das nicht zu."
"Er verstünde das schon, weil er nämlich an meiner Stelle genau das gleiche sagen würde. Versuchen Sie ja nicht, mir etwas anderes einzureden! Ich kenne Jess, und Sie kennen ihn auch. Deshalb wissen Sie, daß ich recht habe." Sie antwortete nicht, und Slim stampfte zum zerschossenen Fenster, um hinauszustarren. "Ich kann nur hoffen, daß Mort die Bande findet!" sagte er plötzlich ohne direkten Bezug zu dem zuletzt Gesagten.
"Weiß er denn Bescheid?"
"Ja, ich habe ihn in der Stadt getroffen. Er war vorhin mit ein paar Männern hier, um die Kerle zu verfolgen, solange die Spuren noch frisch sind. Ich wollte, ich könnte dabeisein, wenn er diese Hunde erwischt."
"Ich glaube, Sie werden hier mehr gebraucht", murmelte Daisy.
"Was meinen Sie, weshalb ich sonst hier bin?" fuhr der Rancher etwas ungehalten zu ihr herum. "Ich könnte es mir nie verzeihen, ausgerechnet in dem Augenblick nicht dazusein, wenn Jess …" Er verstummte, würgte den Rest des Satzes hinunter. "Mort wird die Bande auch ohne meine Hilfe finden."
"Natürlich", nickte Daisy, redlich darum bemüht, zuversichtlich zu klingen. "Ich darf gar nicht daran denken, was die Kerle noch alles anstellen, ehe sie endlich hinter Schloß und Riegel sind."
"Ob Sie's gern hören oder nicht – aber das interessiert mich im Augenblick nicht im geringsten. Ich habe genug mit dem zu schaffen, was sie hier angestellt haben."
Nach unerträglichen Minuten des Wartens wollte Daisy gerade aufstehen, um nach Mike zu sehen, als endlich die Tür hinter ihrem Rücken aufging. Der Arzt trat aus dem Zimmer. Er hatte noch die Hemdsärmel hochgekrempelt und das Stethoskop um den Hals hängen. Irgendwie wirkte er abgespannt, fast ein wenig mitgenommen.
"Dan, was ist? Wie geht es ihm?" bestürmte Slim ihn und packte ihn etwas derb am Arm. "Nun red doch schon!"
Doc Higgins war anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen, denn er ließ sich mit der Antwort auffallend viel Zeit. Während er offensichtlich nach den richtigen Worten suchte, griff er bedächtig nach dem Türknopf hinter sich und lehnte die Tür an den Rahmen.
"Es geht ihm nicht besonders", sagte er endlich.
"Kann ich zu ihm?"
"Das wird im Moment nicht viel Sinn haben. Er ist noch betäubt vom Chloroform."
Etwas steifbeinig stakste der Arzt zum Wohnzimmertisch und setzte sich ans Kopfende zu Daisy Cooper. Die Frau starrte ihn nur an, brachte keinen Ton heraus. Higgins fingerte nach einer leeren Tasse und schenkte sich Kaffee ein. Mit einem kräftigen Schluck spülte er den ekelhaften Geschmack auf der Zunge hinunter.
Slim stand vor der angelehnten Zimmertür, wußte nicht, was er tun sollte, hatte anscheinend Angst vor dem, was ihn hinter der Tür erwartete. Schon wollte er sie aufdrücken, als er sich dazu entschloß, zuerst den Arzt um Rat zu fragen. Er kam zurück zum Tisch und ließ sich gegenüber von Daisy nieder. Dabei setzte er sich nur auf die Kante des Stuhls, wie auf dem Sprung vor einer Gefahr oder Unannehmlichkeiten.
"Wie sieht's aus, Dan? Wird er durchkommen?" bedrängte der Rancher Higgins mit Fragen, die ihm allerdings auch der Arzt nicht zu seiner Zufriedenheit beantworten konnte.
"Du fragst mich, ob er durchkommt, dabei weiß ich noch nicht einmal, ob er die nächste Stunde überlebt, geschweige denn den Tag." Doc Higgins hob die Schultern. Der niedergeschlagene Ausdruck seines ernsten Blickes war erschreckend. "Ich weiß nicht, ob er's schafft. Er hat eine Menge Blut verloren und ist sehr schwach. Eine solche Operation unter diesen Bedingungen … Mein Gott, ich kann selbst nicht begreifen, wieso er das überlebt hat!"
"Du hast also nicht viel Hoffnung?"
"So darfst du das nicht sehen!" widersprach Dan sofort. Mit der Hand fuhr er sich übers Gesicht. "Nur, verstehst du? Ich kann ihm jetzt nicht mehr helfen. Ich habe getan, was ich tun konnte. Der Rest liegt in Gottes Hand. Wie der Allmächtige sich entscheidet, kann ich nicht voraussehen." Er warf das Geschoß auf den Tisch, das ein paarmal hin und her rollte, ehe es direkt vor Slims Hand liegenblieb. "Das verdammte Ding war nicht einfach zu entfernen. Es steckte direkt neben dem Herzen. Um ein Haar hätte es die Schlagader erwischt und ihn umgebracht."
Zuerst wagte Slim nicht, die Kugel anzufassen. Als er sie endlich berührte und zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er das Gefühl, eine glühende Kohle gepackt zu haben. Ihm wurde fast übel, wenn er daran dachte, daß sich das Stück Blei zwischen seinen Fingern vor noch gar nicht allzu langer Zeit in Jess' Brust bohrte.
"Wieso ist die Kugel eigentlich steckengeblieben?"
"Das ist eine gute Frage. Vermutlich hat sie seinen Körper nicht mit voller Wucht getroffen." – Slim streifte die nicht einwandfrei funktionierende Winchester des Todesschützen mit einem flüchtigen Gedanken. – "Außerdem ist sie im leichten schrägen Winkel eingedrungen, wurde dadurch von einer Rippe abgelenkt. Beim Eindringen hat sie jedoch den Knochen ziemlich bös erwischt. Dadurch wurden Splitter mitgerissen. Einer hätte beinahe das Herz … Um ein Haar … Verdammt noch mal! Ich hoffe, ich konnte sie alle entfernen." Tief aufatmend, machte Dan ein ziemlich betretenes Gesicht, ehe er fortfuhr, wobei es sich so anhörte, als redete er mit sich selbst. "Zwei oder vielleicht auch nur einen Fingerbreit höher, und es wäre nicht so schlimm. Sie wäre glatt durch seinen Brustkorb gedrungen und hätte bei ihrem Austritt sein Schulterblatt durchschlagen oder wäre allenfalls darin steckengeblieben. Einen Bruchteil tiefer hingegen – sie hätte unweigerlich sein Herz durchbohrt."
"Dann muß Jess innerlich schwer verletzt sein."
"Ja", nickte Dan mit kaum vernehmbarer Stimme.
"Wie schwer?" wollte Slim es genau wissen; aber Doc Higgins ließ sich mit der Antwort Zeit. "Wie schwer, Dan?"
"Ich fürchte, zu schwer", brachte der Arzt endlich mit hilfloser Geste hervor. "Ich mußte die Wunde ausbrennen, obwohl ich kein Freund von diesen altertümlichen Methoden bin. Ich habe alles Mögliche versucht, aber es blieb mir nichts anderes übrig. Er wäre mir sonst unter den Händen verblutet. Wenn Jess die nächsten zwei, drei Stunden überlebt, hat die Roßkur wohl etwas genützt, obwohl das keine Garantie ist, daß die Blutung nicht wieder einsetzen kann. Eine falsche Bewegung … ein Husten kann unter Umständen schon genügen. Ein zweites Mal könnte ich der Blutung jedenfalls nicht mehr schnell genug Herr werden. Was das bedeutet, brauche ich dir nicht zu erklären."
"Nein, dann weiß ich Bescheid", murmelte Slim mit mühsam unter Kontrolle gehaltener Stimme.
"Kopf hoch, Slim!" Mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter versuchte Dan auf einmal, ihn aufzumuntern, aber der Rancher reagierte nicht darauf. "Du kennst doch Jess und weißt, daß er 'ne zähe Natur ist. Er wird dem Teufel schon ein Schnippchen schlagen."
"Versuch mir bloß nichts einzureden!" protestierte Slim und sah den Arzt mürrisch an. "Ich weiß Bescheid. Ich habe die Wunde gesehen, das Blut, das er gehustet hat, an dem er fast erstickte. Erzähl mir also keine Ammenmärchen von Schnippchen schlagen und so!"
"Wenn du Bescheid weißt, was soll ich dir dann noch sagen?"
"Die Wahrheit, Dan, nur die Wahrheit!"
"Die kennst du doch. Du wirst mit dem Schlimmsten rechnen müssen."
Der Arzt bestätigte hiermit nichts anderes, als Slim bereits wußte. Trotzdem trafen ihn seine Worte hart.
"Ich wünschte, jemand sagte mir, das alles ist nicht wahr", redete er abwesend vor sich hin, seine Hand mit der Kugel zur Faust geballt.
Entschlossen stand er auf. Eine unwiderstehliche Kraft schien ihn zu treiben. Mit schweren Schritten stampfte er zur Tür des Krankenzimmers, drückte sie mit einer Bewegung auf, die seine ganze Entschlossenheit, aber auch Furcht zeigte. Obwohl er wußte, was ihn hinter der Tür erwartete, hatte er Angst, die Wirklichkeit könnte noch schlimmer sein als die Vorstellung davon.
Das Geschoß in seiner Faust brannte ihm fast ein Loch in die Hand, so heiß und schwer fühlte es sich an beim Anblick von Jess' leblosem Körper. Slim zögerte ein paar Sekunden, ehe er langsam näherkam. Neben dem Bett blieb er stehen, fuhr sich übers Gesicht, konnte das Geschehene immer noch nicht fassen. Dann setzte er sich vorsichtig, damit die Matratze nicht federte, auf die Bettkante und starrte den Freund gedankenverloren an.
"Jess!" sprach er mit ihm, als wollte er mit seiner Stimme in sein Unterbewußtsein dringen. "Bitte verzeih mir!" stammelte er, gequält schluckend, weil er das Gefühl hatte, etwas oder jemand schnürte ihm die Kehle zu.
Er wußte, daß Jess ihn wegen seiner tiefen Bewußtlosigkeit nicht hören konnte; aber das war ihm egal. Während Slim noch mit sich kämpfte, um die Fassung nicht zu verlieren, hing sein Blick unentwegt an dem vom Tod gezeichneten Gesicht des Freundes.
Slim ergriff seine rechte Hand, die auf der Bettdecke lag, und drückte sie fest. Es war keine Kraft in ihr; sie war kalt und gab dem Druck seiner Finger nach.
Der Rancher schien die Welt um sich total vergessen zu haben. Es gab nur noch diese tödliche Kugel, die er in der geschlossenen Linken hielt, und das, was sie angerichtet hatte; den todwunden Freund, dem er nicht helfen konnte, der aller Wahrscheinlichkeit nach sterben mußte, wenn nicht bald irgendein Wunder geschah.
Fortsetzung folgt
