KAPITEL 4

Mike stand oben an der Treppe, hielt mit beiden Händen das Geländer fest umklammert, als könnte er ohne diese Stütze nicht aufrecht stehen. Von hier oben hörte er alles mit. Jetzt wünschte er sich, in seinem Zimmer geblieben zu sein, wo er von alledem nichts mitbekommen hätte. Er konnte nicht alles verstehen, nicht alles begreifen, was Doc Higgins versuchte zu erklären; aber was der Arzt damit meinte, daß Slim mit dem Schlimmsten rechnen mußte, wußte er.

Langsam wandte sich Mike um, griff haltsuchend nach der Wand, an der er bis zu seiner offenstehenden Zimmertür entlangwankte. Er merkte, wie ihm die Knie weich zu werden drohten, der Boden unter seinen Füßen nachzugeben schien.

An der Tür blieb er stehen und hielt sich am Türknopf fest. Sein Zimmer kam ihm auf einmal so fremd vor, als erkannte er es erst nach und nach an gewissen Dingen, die ihm im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen waren. Alle diese Dinge erinnerten ihn an Jess, weil er sie ihm geschenkt hatte oder sie ein gemeinsames Abenteuer verbanden, das sie beide zusammen erlebt hatten.

Sein Blick streifte das Holzgewehr an der Wand. Er erinnerte sich, wie er Jess einmal damit im Stall überfiel, ihm hinter ein paar Heuballen auflauerte und ohne Warnung auf ihn "schoß". Jess hielt ihm eine fürchterliche Standpauke und drohte, das Ding auf der Stelle zu verbrennen, falls er so etwas noch ein einziges Mal täte.

"Man zielt mit einer Waffe nicht auf einen Menschen und schießt nicht einfach so!" hatte er ihn in strengem Ton zurechtgewiesen.

"Aber das Gewehr ist doch nur aus Holz."

"Das spielt keine Rolle!"

Jess versuchte daraufhin lange, ihm zu erklären, warum er nicht wollte, daß er selbst mit einer Attrappe während eines harmlosen Spiels auf Menschen "schoß", ohne Warnung und ohne Grund. Damals hatte Mike den Sinn seiner Worte nicht ganz verstanden. Dafür begriff er ihn heute um so besser. Der Mann heute morgen hatte auch ohne Warnung und ohne Grund geschossen.

"Jess!" stieß der Junge atemlos hervor, taumelte zu seinem Bett, auf das er sich der Länge nach warf. "Warum? Warum? Warum?" Mit beiden Fäusten trommelte er aufs Bett, vergrub das Gesicht im Kissen und konnte endlich weinen. "Du darfst nicht sterben! Bitte, lieber Gott, laß ihn leben! Bitte, bitte!" flehte er wimmernd.

Mike vergaß die Welt um sich, fühlte nur den nahezu unerträglichen Schmerz, der in seinem Herzen bohrte und nagte.

So war er völlig mit sich selbst und seinem Kummer beschäftigt, daß er gar nicht merkte, wie Daisy Cooper das Zimmer betrat, wo sie ihn weinend auf dem Bett fand, den Kopf in das zerwühlte Kissen gedrückt. Sie setzte sich neben ihn, fuhr ihm liebevoll übers Haar und legte behutsam die Hand auf seinen Rücken.

"Mein Junge", sprach sie ihn mit zärtlicher Stimme an, "ich wünschte, das alles wäre dir erspart geblieben. Ich wünschte es uns allen."

Sie dachte daran, wie sehr er sich am Morgen auf den Zirkus freute, zu dem sie ihn mittags begleiten wollte. Jetzt hatte die Vorstellung hier auf der Ranch stattgefunden, aber keiner, der sie miterleben mußte, empfand einen Grund zur Freude. Zwei Männer verbreiteten Angst und Schrecken durch ihren Auftritt, hinterließen tödliche Spuren. Wenn Daisy es schon nicht ungeschehen machen konnte, so wünschte sie sich wenigstens, Mike wäre in der Schule und zumindest dann weit genug weg gewesen, als es passierte.

Mike, der zuerst nicht reagierte, als sie ihn ansprach, drehte sich plötzlich um und warf sich ihr schluchzend um den Hals.

"Jess wird sterben, nicht wahr, Tante Daisy?"

"Aber, Mike! Wie kommst du nur darauf?"

"Ich hab' doch selbst gehört, wie es der Arzt sagte."

"Hast du etwa gelauscht?"

"Das wollte ich ganz bestimmt nicht!" beteuerte Mike und fuhr mit dem Arm über sein verheultes Gesicht. "Aber ich hab's in meinem Zimmer nicht ausgehalten. Da hörte ich, wie der Doktor zu Slim sagte, daß er mit dem Schlimmsten rechnen muß. Das sollte doch bestimmt heißen, daß Jess … daß er … daß er sterben muß, nicht wahr?"

Daisy antwortete darauf nicht gleich, weil ihr so schnell nicht die richtigen Worte einfielen, wich seinem tränenverhangenen Blick aus und mußte aufpassen, nicht selbst die Fassung zu verlieren.

"Sieh mal, Mike, Jess wurde durch diesen Schuß sehr schwer verwundet. Du hast selbst gesehen, was der Mann am Fenster mit seinem Gewehr angerichtet hat. Jess wird seine ganze Kraft brauchen, um wieder gesund zu werden. Aber du solltest niemals daran zweifeln, daß ihm das gelingt."

"Das ist doch gar nicht wahr! Du willst mich anschwindeln!"

"Es ist die Wahrheit", beteuerte sie, zweifelte jedoch selbst an ihren eigenen Worten.

"Das glaub' ich dir nicht!"

"Das solltest du aber."

Er antwortete nicht darauf, sondern weinte still vor sich hin. Nach allem, was er gehört und gesehen hatte, meinte er, es besser zu wissen. Immer wieder zogen die Bilder des Grauens an ihm vorbei, daß er sich noch fester an Daisy Cooper drückte.

"Wein dich nur aus, mein Junge", sagte sie nach einer Weile. "Vielleicht hilft es dir."

"Tante Daisy, wenn Jess stirbt, muß ich dann wieder ins Waisenhaus?" platzte er mit einem Mal heraus, wobei er sie kaum mit seinen verquollenen Augen erkennen konnte.

"Mike!" Mit einem Ruck hielt sie ihn von sich, um ihn entgeistert anzustarren. "Wie kommst du nur auf so etwas?"

"Ich … ich weiß nicht."

"So etwas will ich von dir nicht mehr hören! Hast du verstanden? Erstens wird Jess nicht sterben. Zweitens sind Slim und ich auch noch hier. So etwas darfst du nie wieder sagen! Noch nicht einmal denken darfst du so etwas! Wenn Jess das wüßte! Er würde dir den Hintern versohlen, auch wenn er das bisher noch nicht getan hat."

"Ich wollte, er könnte es auf der Stelle tun. Dann brauchte ich wenigstens keine Angst mehr zu haben, daß er …"

Die quälende Angst um den geliebten Menschen konnte ihm niemand nehmen. Während den Jungen immer wieder heftige Weinkrämpfe schüttelten, zog Daisy ihn an sich und hielt ihn schweigend in ihren Armen.

Den ganzen Nachmittag über blieb sie bei ihm. Gegen Abend schlief er vor Erschöpfung ein. Seine Augen brannten vom vielen Weinen, als hätte ihm jemand Sand hineingestreut. Schließlich fielen sie ihm vor Müdigkeit zu. Die Frau ließ ihn in den Kleidern schlafen, um ihn nicht wieder zu wecken.

Der Arzt und Slim hatten alle Hände voll mit dem Verletzten zu tun. Jess lag in hohem Fieber, warf unruhig den Kopf hin und her, sprach im Delirium wirre Worte, die nicht zu verstehen waren, stöhnte und röchelte. Dabei quälten ihn verheerende Schmerzen. Sein Atem ging schwer. Oftmals schien er kaum Luft zu bekommen. Dann endeten seine qualvollen Atemzüge jedesmal in einem entsetzlichen Röcheln und Keuchen, daß Slim dachte, er erstickte.

Während der Arzt ihn ständig mit seinem Stethoskop abhörte und dabei ein äußerst bedenkliches Gesicht machte, biß sich Slim verzweifelt auf die Unterlippe. Aus Angst, Jess die Luft wegzunehmen, wagte er kaum zu atmen.

"Dan, was ist?" fragte er mit ihm versagender Stimme, nachdem der Arzt erneut das Stethoskop ansetzte. "Wie sieht's aus?" wollte er wissen und starrte den Mann auf der anderen Seite des Krankenlagers mit feuchtschimmernden Augen und zusammengepreßten Lippen an.

Doc Higgins sah auf, senkte aber gleich wieder den Blick, weil er dem leidvollen Ausdruck in Slims Augen nicht lange standhalten konnte. Dabei schüttelte er langsam den Kopf und hob in hilfloser Ohnmacht die Schultern.

"Nicht sehr gut."

"Aber du mußt ihm doch helfen können!"

"Tut mir leid, Slim, aber ich kann nichts mehr für ihn tun." Ein Ausdruck von mitfühlender Anteilnahme lag auf Dans ernstem Gesicht, als er sich über Jess hinwegbeugte und dem Rancher tröstend die Hand auf die Schulter legte. "Du darfst dir nichts vormachen! So wie die Dinge im Moment stehen, wird Jess die Nacht nicht überleben. Das einzige, was du noch für ihn tun kannst, ist beten. Leider bleibt mir auch nichts anderes mehr übrig."

Slim sah den Arzt verstört an. Dans Feststellung war so entmutigend, so niederschmetternd, daß er deren Sinn zuerst nicht verstehen wollte, nicht glauben konnte, was sie bedeutete.

"Das kann doch nicht dein Ernst sein!" würgte er hervor, weil er das Gefühl hatte, jemand drückte ihm mit festem Griff die Kehle zu.

"Slim, es fiele mir niemals ein, so etwas zu sagen, wenn es nicht wahr wäre. Du brauchst dir Jess nur anzusehen, dann weißt du, wie ernst es mir ist."

Slim konnte seine Worte nicht fassen. Als er endlich begriff, füllten sich seine Augen mit Tränen. Eine Weile dauerte es, ehe er sich endlich wieder etwas gefaßt hatte.

"Dan, bitte", flüsterte der Rancher kaum vernehmbar, "laß mich jetzt mit ihm allein! Bitte! Nur für einen Moment."

Der Arzt nickte verständnisvoll. Tief aufatmend erhob er sich, um das Zimmer zu verlassen.

An der Tür traf er auf Daisy Cooper, die sich am Türknopf festhielt, die Rechte in die Magengrube gedrückt, weil sie das Gefühl hatte, sie müßte sich übergeben. Plötzlich schwindelte ihr. Sie war froh, daß sich Doc Higgins ihrer annahm, sie stützte und zum Tisch geleitete, wo sie sich wie eine gebrechliche alte Frau niederließ. Vor kurzer Zeit noch hatte sie versucht, Mike zu trösten. Jetzt brauchte sie selbst jemanden, der ihr beistand.

"Doktor, ist das wirklich wahr?" Ihre Stimme zitterte. Trotz ihrer tränengefüllten Augen versuchte sie sich immer noch zu beherrschen. "Wird Jess wirklich sterben?"

Higgins wich ihrem Blick aus. Er wußte, daß sie eine außergewöhnliche Frau war mit sehr starken Nerven, die schon viel erlebt hatte, die Kummer und Leid gewöhnt war, die den Tod schon bei vielen Menschen hatte kommen sehen, die seine Qualen und seine Grausamkeit kannte, die um ihren gefallenen Sohn genauso hatte trauern müssen wie um ihren Mann und die für die Bewohner der Sherman-Ranch mehr war als nur eine Haushälterin, die das Haus in Schuß hielt und für ihr leibliches Wohl sorgte. Sie war der gute Geist, der ruhende Pol, fast eine Art ungekröntes Familienoberhaupt, verstand es beinahe so gut wie Jess Harper, den Jungen Mike zu führen, ohne ihn zu gängeln, versuchte ihm eine Mutter oder zumindest eine gute Tante zu sein. Durch ihr ausgeprägtes weibliches Einfühlungsvermögen war sie sogar imstande, die zwei Männer im Zaum zu halten, ihr Temperament mit ungewöhnlichem Feingefühl zu zügeln, ohne zum Haustyrann zu werden.

Es war vor allem Jess, der sie deshalb von jeher bewunderte, vielleicht weil er der impulsivere, aber auch der sensiblere der beiden Freunde war, immer noch ein rechter Draufgänger, wenngleich er in den letzten Jahren wesentlich ruhiger geworden war, seit er die Verantwortung auf sich genommen hatte, Mike ein guter Freund und Kamerad zu sein, versuchte ihm den Vater zu ersetzen und ein Zuhause zu geben. Von Anfang an hatte er Mike klargemacht, daß ihr Wort soviel galt wie sein eigenes, wenn es sich um ein Verbot oder eine Erlaubnis handelte. Der Junge akzeptierte das, und sie kamen bestens miteinander aus.

Jetzt sollte all das zu Ende sein, nur weil es einem verrückten Heckenschützen eingefallen war, aus Langeweile und purem Vergnügen auf einen Menschen zu schießen.

Daisy konnte einfach die Sinnlosigkeit dieses Verbrechens nicht verstehen. Sie war grundsätzlich gegen Gewalt, begriff aber, daß ein gewisses Maß an Gewalt nicht immer zu vermeiden war, um in solch einer Zeit und einem rauhen Land wie diesem sein Leben und das von Angehörigen zu schützen und zu verteidigen. Aber einfach nur zu verletzen und zu töten, weil es Freude bereitete, einen Menschen zu quälen, zudem er einem nicht das geringste getan hatte, konnte sie nicht einmal mehr mit Sadismus erklären. Das mußte schon ein Fall von Wahnsinn sein.

"Wird er wirklich sterben?" wiederholte sie mit brüchiger Stimme.

"Ja, Mrs. Cooper", nickte Higgins ernst, "mit ziemlicher Sicherheit."

"Mein Gott, das kann doch nicht möglich sein! Sagen Sie doch, daß das nicht wahr ist! Sie müssen sich einfach irren, Doktor!"

"Leider nicht."

"Aber wenn es einen Gott gibt, kann er so etwas doch nicht zulassen! Jess hat doch niemandem etwas getan. Warum mußte es ausgerechnet ihn treffen? Er ist doch noch viel zu jung zum Sterben!"

"Sie wissen genau, daß der Tod weder Alter noch Schuld oder Unschuld kennt."

"Aber warum ausgerechnet Jess? Warum er und dann auch noch auf solche Weise? Warum nur?"

Darauf wußte Doc Higgins keine Antwort. Als Arzt war ihm schon sooft der Tod begegnet. Er schlich sich immer heimtückisch, heuchlerisch und scheinheilig heran, streckte beharrlich die Hand nach seinen Patienten aus und wich erst wieder, wenn er bekam, was er forderte. Dann stahl er sich mit einem niederträchtigen Grinsen mit seinem Opfer davon wie ein feiger Dieb und lud ihm, Dan Higgins, die schwere Bürde auf, es den Angehörigen mitzuteilen, daß er wieder einmal seinen schwarzen Mantel ausgebreitet hatte, um seine unersättliche Gier zu stillen. Dan fiel es nie leicht, diese Bürde zu tragen. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, daß sie ihn jemals so sehr belastete wie diesmal.

Sicherlich war einer der Gründe dafür, daß Jess Harper auch zu seinen Freunden zählte. Seit der Mann hier in der Gegend seßhaft geworden war und auf der Sherman-Ranch lebte, kannte er ihn. Dan wußte nicht mehr, wie oft er in all diesen Jahren seine zerschundenen Knochen geflickt und ihn wieder auf die Beine gebracht hatte.

Jess war gewiß nicht das, was man hätte leichtsinnig nennen können; denn Leichtsinn gehörte zweifellos zu den Eigenschaften, die er sich nicht leisten konnte. In mindestens neunzig von hundert Fällen hätte ihn diese Schwäche nämlich das Leben gekostet. Aber die Arbeit auf den Weiden mit den störrischen Rindern, den wilden und halbwilden Pferden in einem oftmals unwegsamen Gelände war nicht ungefährlich. Es mußten nicht unbedingt Viehdiebe am Werk sein, wenn er in Lebensgefahr geriet. Daran konnte auch Mutter Natur oder eine kleine Unachtsamkeit schuld sein.

Dan hätte nie für möglich gehalten, daß es einmal so schlimm kam und er ihm nicht mehr helfen konnte. Wenn Doc Higgins für ihn selbst jedoch nichts mehr tun konnte, so wollte er wenigstens versuchen, seinen Angehörigen beizustehen und ihnen zu helfen, darüber hinwegzukommen.

"Mrs. Cooper", sprach er die Frau deshalb vorsichtig mit verhaltener Stimme an, "Sie sollten sich hinlegen und ein wenig ausruhen."

"Hinlegen?" vergewisserte sie sich, ihn verständnislos anstarrend. "Wer? Ich? Ich soll mich hinlegen, wenn der Mann, der wie ein eigener Sohn für mich ist, im Sterben liegt? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Das können Sie nicht von mir verlangen!"

"Na schön, wie Sie wollen. Ich kann Sie nicht zwingen. Aber bleiben Sie wenigstens hier draußen. Es ist nun mal kein schöner Anblick, wenn ein Mensch mit dem Tode ringt." Sie holte Luft, um etwas Scharfes einzuwenden; aber er hielt sie mit einer raschen Handbewegung davon ab. "Ich bitte Sie – Jess zuliebe!"

Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an, starrte ihn entgeistert an, schien heftig mit sich selbst zu kämpfen. Schließlich nickte sie schweren Herzens.

"In Ordnung, Sie haben recht. Ich werde hier draußen bleiben – ihm zuliebe", versprach sie, und Dan Higgins merkte, wie schwer es ihr fiel.

Dann ließ er sie allein, um ins Krankenzimmer zurückzukehren.

Daisy saß noch eine ganze Weile reglos am Wohnzimmertisch, ehe sie aufstand und ein paarmal nervös durch das große Zimmer lief, bis sie beinahe über den Blutfleck "stolperte". Das getrocknete Blut hatte die Holzdielen schwarz gefärbt. Unwillkürlich sah sie Jess vor sich am Boden liegen.

"Oh, mein Gott!" stammelte die Frau und schlug die Hände vors Gesicht.

Mit unsicheren Schritten wankte sie zu einem Sessel vor dem kalten Kamin, wo sie sich schwer in die Polster fallen ließ. Sie konnte endlich weinen. Es war für sie wie eine Erlösung.

Etwa drei Stunden nach Mitternacht erreichte Jess' Todeskampf seinen einstweiligen Höhepunkt. Einmal bäumte sich Jess in den Armen des Freundes, als wollte er so dem Feuer entkommen, das in ihm brannte. Seine Schmerzen wurden unerträglich. Ein Schrei blieb in seiner Kehle stecken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Rancher an, ohne ihn zu erkennen.

"Das kann doch kein Mensch aushalten!" stieß Slim hervor, der es nicht mehr mit ansehen konnte. "Dan, so tu doch endlich was! Du mußt ihm noch mehr von dem Laudanum geben!"

"Das hat keine Wirkung mehr." Der Arzt fingerte nach einer sorgfältig beschrifteten Arzneiflasche. "Jetzt kann ich ihm nur noch das hier geben."

"Was ist das?"

"Morphium. Leider habe ich keine Injektionsnadel dabei. Dann würde es schneller wirken. Wenn er es schluckt, dauert es länger, bis es im Blut ist."

"Wenn es ihm nur hilft", murmelte Slim.

"Nun, helfen kann es ihm nicht, aber er wird es leichter haben – hoffe ich."

Ruckartig hob Slim den Kopf. Sein herausfordernder Blick verriet, daß er auf der Zunge hatte zu fragen, wobei sein Freund es durch das Morphium leichter haben sollte; aber er verkniff sich die Frage.

"Und?" würgte er statt dessen hervor, nachdem der Arzt Jess nochmals untersucht hatte.

"Unverändert", antwortete Dan im gleichen Tonfall, nahm das Stethoskop aus den Ohren und fuhr sich erschöpft übers Gesicht.

Slim beachtete den Arzt nicht weiter, der sich tief aufatmend in einem Armlehnstuhl niederließ, weil er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Der Rancher hatte nur noch Augen für den schwerverletzten Freund, der in seinen Armen ruhte.

Ständig versuchte er ihn mit seinem Körper zu wärmen, paßte sogar seinen Atemrhythmus dem seinen an, als wollte er ihm damit das Luftholen erleichtern. Dabei hatte er Angst, sich zu bewegen, weil er befürchtete, er könnte ihm sonst wehtun.

Irgendwann schlief er aufgrund völliger Übermüdung ein. Zwar wollte er nicht schlafen, aber plötzlich, nachdem es so still geworden und auch Jess einigermaßen zur Ruhe gekommen war, forderte die Müdigkeit doch ihren Tribut. Knapp zwei Stunden schlief er in dieser nicht gerade bequemen Lage. Gegen Morgen wachte er erschreckt auf, weil ihm alle Knochen wehtaten und er sich kaum regen konnte.

Jess' Oberkörper lehnte noch an seiner Brust. Sein Kopf war weit zur Seite gerutscht. Seine kalte Rechte, die in Slims Hand lag, schien ohne Leben zu sein, daß es der Rancher mit der Angst bekam.

"Jess?" rief er entsetzt, obwohl er nicht annahm, daß der Freund ihn hörte; er befürchtete sogar eher, daß er dies nie wieder tun könnte. Mit einer hastigen Bewegung legte er zwei Finger auf die Stelle, wo das Klopfen von Jess' Halsschlagader den Puls erkennen ließ. Es zeigte ihm, daß der Freund noch lebte, sein Herz gleichmäßig, jedoch nicht ganz so kräftig wie sein eigenes schlug. "Gott sei Dank!"

Jetzt stellte er auch erleichtert fest, daß Jess noch atmete, daß er nur in einem tiefen, ohnmachtsähnlichen Schlaf lag, hervorgerufen durch die völlige Erschöpfung und Entkräftung vom großen Blutverlust und dem hohen Fieber.

Vorsichtig schob Slim ihn von sich und bettete ihn in die Kissen. Dann zog er die Decke zurecht, wischte ihm Schweiß und Haare aus Stirn und Gesicht. Ihm kam es so vor, als wäre sein Fieber etwas gefallen. Trotzdem hatte sich Jess' besorgniserregender Zustand keineswegs gebessert, aber – und diese Tatsache wertete Slim bereits wie einen Hoffnung verheißenden Lichtschimmer in trostloser Dunkelheit – auch nicht weiter verschlechtert. Immerhin ging es schon auf den Morgen zu. Obwohl sogar der Arzt nicht damit rechnete, daß Jess solange durchhielt, lebte er noch. Unerwartet hatte er diese entsetzliche Nacht überstanden.

Slim wagte nicht, von Jess' Seite zu weichen, weil er befürchtete, der Tod wartete nur darauf, um dann ungestört mit unerbittlicher Härte zuschlagen zu können. Vielleicht konnte er ihn mit seiner Anwesenheit einschüchtern, von dem Freund, der ihm hilflos ausgeliefert war, fernhalten und ihn zum Schluß sogar vertreiben.

Auch der Arzt wachte bald auf und streckte sich stöhnend auf dem Stuhl in der Ecke. Mit steifen Gliedern erhob er sich und trat ans Bett, um sofort nach seinem Patienten zu sehen, beugte sich über ihn und untersuchte ihn sorgfältig. Dabei blickte er ziemlich ratlos, denn er hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, daß Jess um diese Zeit noch lebte.

"Gibt's was Neues, Dan?" fragte Slim mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen, als wollte er etwas Bestimmtes hören.

"Sein Zustand ist unverändert kritisch. Er schwebt immer noch in Lebensgefahr. Wenn ich ehrlich bin, ist es ein Wunder, daß er noch lebt. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, diese Nacht zu überstehen. Eigentlich müßte er längst tot sein." Dan Higgins schüttelte verständnislos den Kopf. Offenbar war er am Ende seiner ärztlichen Weisheit angelangt. "Ich fürchte nur, daß sich dieser knöcherne Seelenräuber nicht so leicht einschüchtern läßt und zurückkehrt, um sich doch noch zu holen, was er heute nacht nicht bekommen hat."

"Vielleicht irrst du dich. Heute nacht hast du es jedenfalls getan."

"Ich weiß. Glaube mir, Slim, ich bin selbst noch sie so froh über einen Irrtum gewesen. Ich wünschte wirklich, ich irrte mich auch jetzt."

Fortsetzung folgt