KAPITEL 5
Nach dem Frühstück, bei dem der Arzt als einziger so etwas wie Appetit entwickelte, machte sich Mike schweren Herzens auf den Weg zur Schule, obwohl ihm überhaupt nicht der Kopf danach stand.
An diesem Morgen wäre er beinahe zu spät zum Unterricht gekommen. Kaum hatte er nämlich das Land der Sherman-Ranch hinter sich, als er sein Pony parierte, bis es in einem munteren Trab vorwärtsstrebte. Da er es jedoch nicht weiter antrieb, fiel es bald von selbst in gemächlichen Schritt. Anscheinend träumte von den beiden einer mehr als der andere: das Pferd von einer saftigen Wiese, der Junge von besseren Zeiten.
Mike hatte die Welt um sich völlig vergessen. Ihm war anzusehen, daß er eine Menge Probleme mit sich herumschleppte, daß er sich Sorgen machte, Sorgen, die ein Junge in seinem Alter besser niemals kennengelernt hätte. An seinen traurigen Augen war zu erkennen, daß er vor kurzem erst viel geweint hatte.
Er konnte keine Erklärung dafür finden, weshalb der Mann auf Jess geschossen hatte, konnte einfach nicht begreifen, wieso jemand einen Menschen ohne Grund töten wollte. Natürlich sah er ein, daß nicht jeder Jess so lieben und verehren konnte, wie er es tat, daß es Leute gab, die nicht gut auf ihn zu sprechen, ihm nicht besonders freundlich gesinnt waren; aber schließlich mochte er seine Schulkameraden auch nicht alle gleich gut leiden. Dem einen oder anderen wünschte er hin und wieder schon einmal etwas Böses, eine schlechte Note oder eine ordentliche Tracht Prügel, aber doch nie so etwas Schlimmes wie den Tod. Den konnten sich offensichtlich nur die Erwachsenen wünschen und bewußt bringen, eine Tatsache, die Mike sich mit seiner kindlichen Logik nicht erklären konnte. Er wußte nur, daß eben aufgrund dieser Tatsache jemand den Tod zu seinem Pflegevater gebracht hatte. Jemand hatte sich einen Spaß daraus gemacht, ihn zu verletzen, ihm Schmerzen zuzufügen in einer Heftigkeit, wie sie Mike bis dahin nicht einmal erahnte. Zum erstenmal in seinem Leben begann der Junge, jemandem den Tod zu wünschen: dem Mann, der einen Teil seiner Kindheit zerstört und Jess auf dem Gewissen hatte.
Hinter den ersten Häusern von Laramie bog Mike in die Seitenstraße, an deren Ende das Schulhaus lag. Er brachte seinen Browny auf die kleine Weide hinter dem einstöckigen Gebäude, wo schon die Pferde und Ponys seiner Schulkameraden standen, die so wie er auf den umliegenden Ranches und Farmen wohnten und jeden Morgen und Nachmittag einen ein- oder sogar mehrstündigen Weg zurückzulegen hatten.
Ohne Uhr wußte Mike, daß er heute später war als sonst. Das hatte er einfach im Gefühl. Außerdem war sein Pony sonst eines der ersten auf der Weide, während heute schon wenigstens zehn andere Tiere dort grasten. Trotzdem konnte er sich nicht aufraffen, sich etwas mehr zu beeilen. Miss Finch hatte schon zum erstenmal geläutet. Sie stand im Rahmen der Tür, um darauf zu achten, daß ihre Zöglinge in einigermaßen geordneten Reihen hereinströmten, als Mike gerade erst aus dem Sattel rutschte.
Durch sein Trödeln wurde Miss Finch auf ihn aufmerksam. Mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen beobachtete sie ihn, wie er den Bauchgurt lockerte und seinem Pony das Zaumzeug abnahm. Er hängte das Geschirr sehr sorgfältig über einen Zaunpfosten, als wäre es eines seiner wertvollsten Besitztümer. Dann nahm er seine Schulbücher. Bevor er ging, fuhr er seinem Browny noch einmal über die Nüstern und versetzte ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hals. Fast erweckte er den Eindruck, sich nicht von ihm trennen zu wollen, als überlegte er, ob er nicht wieder aufsitzen und nach Hause reiten sollte. Gemächlich schlenderte er über den Schulhof. Dabei kickte er, wie abwesend zu Boden starrend, ein paar Steine vor sich her.
Nicht ein einziges Mal ließ Miss Finch ihn aus den Augen. Sofort merkte sie, daß irgend etwas nicht stimmte. Sie kannte ihn als einen aufgeweckten Jungen, der sich weder absonderte noch besonders hervortat. Mike war ein guter Schüler, wenn auch – Gott sei Dank! – kein Musterknabe oder gar Streber. Sein aufgeschlossenes Wesen bewies ein intaktes Zuhause, von dem so manch anderer ihrer Schüler nur träumen konnte. Meist sprühte er vor wahrer Lebensfreude, steckte die anderen regelrecht mit seiner guten Laune an. Wenn sie ehrlich sein wollte, hatte sie ihn noch nie so nachdenklich und niedergeschlagen gesehen.
Als er näher kam und kurz den Kopf hob, um mit kaum verständlicher Stimme ein "Guten Morgen, Miss Finch!" zu murmeln, wunderte sie sich über seinen glasigen Blick, seine Trübsinnigkeit, die wie eine zentnerschwere Last auf seine kindlichen Schultern drückte. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, wie er als letzter hinter den anderen herschlurfte und sein Bücherbündel fast auf dem Boden schleifen ließ, als wäre es ihm zu schwer zum Tragen.
Während sich die anderen Jungen noch wilde Verfolgungsjagden rund um die Tische und Bänke lieferten, die Mädchen ärgerten und an den Zöpfen zogen, setzte sich Mike still auf seinen Platz, starrte vor sich hin, als befände er sich wie in einer Art Hypnose. Er war so intensiv mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er gar nicht merkte, wie es um ihn herum still wurde, weil Miss Finch in den wilden Haufen endlich Ordnung brachte.
"Mike, träumst du?" fragte sie, ihn forschend ansehend; aber er reagierte nicht darauf. "Mike, ich habe dich etwas gefragt. Mike!"
"Ja bitte, Miss Finch?" fragte er endlich mit belegter Stimme und traurigen Augen.
"Ich fragte, ob du träumst", wiederholte sie geduldig, da sie vermutete, daß er Probleme hatte. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihn schon jemals so mitgenommen, so verstört gesehen zu haben.
"Nein, Miss Finch", antwortete er leise; ihr entging das Zittern seiner Stimme nicht.
"Bist du dir da ganz sicher?" vergewisserte sie sich deshalb und sah ihn ungläubig an, womit sie ihm Gelegenheit geben wollte, noch einmal darüber nachzudenken.
"Ganz bestimmt!" wich er aus.
"Mir kommt es aber nicht so vor. Dich bedrückt doch etwas." Sie kam zu ihm in die Reihe und blieb direkt vor ihm stehen. "Ist dir nicht gut?"
"Mir fehlt nichts", sagte er monoton und starrte auf das Bündel Bücher vor sich auf dem Tisch.
"Mike, sieh mich mal an!" forderte sie ihn auf, ohne die Geduld zu verlieren, wenn auch ein unverkennbarer Nachdruck herauszuhören war.
Nach einigem Zögern hob Mike mit zusammengebissenen Zähnen endlich den Kopf. Die Frau erschrak ein wenig, als sie ihn aus der Nähe anschaute. Er hatte kaum Farbe im Gesicht. Um seine vom vielen Weinen geröteten, noch leicht verquollenen Augen lagen tiefe Schatten.
"Mit dir stimmt doch etwas nicht, mein Junge", stellte sie besorgt fest. "Willst du mir nicht sagen, was los ist?"
"Bitte, Miss Finch, ich … ich kann nicht!" stammelte er, den Tränen nahe.
"Dann muß es ja etwas besonders Schlimmes sein."
Mit zusammengepreßten Lippen nickte er stumm. Dabei bemerkte sie, wie seine Augen feucht wurden. Am liebsten wäre er aufgestanden und hinausgerannt. Er wollte einfach weglaufen, nicht vor Miss Finch oder seinen Kameraden, die ihn neugierig anstarrten und sich sein Verhalten ebensowenig erklären konnten wie sie, sondern vor seinen Sorgen und Ängsten, vor allem vor der schrecklichen Erinnerung an das furchtbare Erlebnis und seine Folgen. Er konnte mit niemandem hier im Raum darüber sprechen. Wie sollte er auch, wenn er es zu Hause kaum fertigbrachte.
"Vielleicht kannst du später mit mir darüber reden", lenkte sie schnell ein, als sie erkannte, wie nahe er den Tränen war.
Mike antwortete nicht und wich ihrem Blick aus. Aber wo er auch hinsah, immer wieder tauchten Jess' schmerzverzerrtes Gesicht und seine blutige Brust auf. Der furchtbare Anblick verfolgte ihn ebenso hartnäckig wie sein Aufschrei.
Miss Finch ahnte, daß Mikes außergewöhnliches Verhalten und seine alles in allem jämmerliche Gemütsverfassung auf einem schwerwiegenden Grund beruhen mußten, vielleicht auf einem Erlebnis, das ihm einen Schock versetzt hatte. Sie konnte nicht wissen, wie recht sie mit ihrer Vermutung hatte. Jedenfalls konnte sie sich kaum vorstellen, daß er nur aufgrund einer häuslichen Auseinandersetzung so verstimmt, so verstört war.
Er war einer ihrer wenigen Schüler, die zu Hause so gut wie nie Schwierigkeiten hatten, auch wenn sie wußte, daß er ab und zu aus kindlichem Übermut über die Stränge schlug oder einen Schabernack ausheckte. Aber welcher Junge tat das nicht in seinem Alter?
Vor allem hatte sie bisher immer Jess Harper bewundert, wie er mit diesem zehnjährigen Bündel an Energie und kindlichem Tatendrang zurechtkam, ohne die von manchen Eltern so gepriesene züchtende Gewalt anzuwenden. Offensichtlich beruhte sein erzieherischer Erfolg einzig und allein auf Liebe und Verständnis, obgleich auch er der Meinung war, ein strenges Wort könnte hier und da nicht schaden, wenn es angebracht war.
Miss Finch kannte diesen Mann, der gewiß seine Fehler hatte, manchmal sehr eigensinnig sein konnte, aber im großen und ganzen recht verträglich war und nur dazu neigte, seinen weichen Kern hinter einer rauhen Schale zu verbergen. Er besaß ein instinktives Gefühl für Gerechtigkeit, einen ausgeprägten Sinn für Freundschaft, Kameradschaft und Aufrichtigkeit – Eigenschaften, die er auch seinem Schützling mit auf den Weg zu geben versuchte.
Sollte am Ende diesem Mann, der sich fürchterlich mit ihrem Vorgänger angelegt hatte, weil dieser sich öfter einen Spaß daraus machte, seine Schüler und auch Mike körperlich zu züchtigen – meist ohne triftigen Grund –, der ihr einmal sagte, die Erwachsenen sollten die Schläge für ihresgleichen aufheben und ihre Wut nicht an Kindern auslassen, nun selbst die Hand ausgefahren sein, worüber Mike jetzt enttäuscht und so durcheinander war, grübelte sie, obwohl sie sich das nicht vorstellen konnte.
Selbst wenn Mike eine Tracht Prügel bezogen hatte – zu Recht oder zu Unrecht –, wäre er gewiß nicht derart verstört gewesen, daß ihm Angst und Entsetzen so auffällig im Gesicht standen. Irgend etwas Schwerwiegendes mußte ihn aus seinem kindlichen Gleichgewicht geworfen haben, irgend etwas, womit er nicht fertig wurde.
Sie wollte ihm noch etwas Zeit geben. Sollten seine ungewöhnliche Verschlossen- und Verstocktheit länger andauern, wollte sie auf jeden Fall zur Sherman-Ranch fahren, um mit Jess Harper zu sprechen und so vielleicht des Rätsels Lösung zu finden.
Da es für ihre Sprößlinge an diesem Morgen nur ein Thema gab und auf etwas anderes sich keiner so recht konzentrieren konnte, griff sie zum Unterrichtsbeginn eben dieses Thema auf: Zirkus. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen hatten alle Kinder das Spektakel am Vortag besucht. Jeder wollte als erster von seinen Erlebnissen berichten. So ging es während der ersten beiden Stunden recht turbulent zu.
"Und du, Mike?" fragte sie ihn schließlich, um ihn etwas aus seiner Lethargie zu reißen. "Warst du denn nun beim Zirkus oder nicht? Du hast dich bei meiner Frage weder beim einen noch beim andern Mal gemeldet."
"Zirkus?" fragte er mit leiser Stimme. Er hatte nicht die geringste Ahnung, worum es ging.
"Ja, du Träumer! Warst du nun dort oder nicht?"
"Nein."
"Und warum nicht? Hast du etwa auch etwas angestellt wie Joey, Frank und Amalie?"
"Nein."
"Hattest du denn niemanden, der mit dir hingehen konnte?" fragte sie weiter, um so vielleicht eine Erklärung für sein Verhalten zu finden.
"Doch."
"Ja, und warum warst du dann nicht dort?"
"Weil …", fing er deshalb etwas ratlos an. Da wußte sie, daß er nach einer Ausrede suchte. "Ich wollte nicht!" stieß er dann hervor, ihrem prüfenden Blick ausweichend.
"Am Montag warst du da aber noch ganz anderer Meinung!" stellte sie spitzfindig fest und wußte, daß er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Das sah sie ihm einfach an.
"Das ist doch schon so lange her!" seufzte er mit wehmütiger Stimme, als handelte es sich um den längst vergangenen Teil eines unbeschwerten Lebens.
"Na, so lange ist das auch noch nicht her, mein Junge. Ich muß sagen, du hast eine etwas merkwürdige Auffassung von Zeit."
"Für mich ist das lange – fast eine ganze Ewigkeit."
"Es wundert mich ein wenig, wieso ein Junge in deinem Alter so etwas sagt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wieso du auf einmal nichts mehr vom Zirkus wissen willst, gerade weil du vor dieser ganzen Ewigkeit noch völlig anderer Ansicht warst. Das muß doch einen Grund haben. Willst du mir den nicht nennen?" trieb sie ihn in die Enge, um so vielleicht den wahren Grund für sein Ausbleiben bei der Vorstellung zu erfahren, da sie jetzt annahm, daß darin auch seine Verstimmtheit begründet war.
"Ich interessiere mich halt nicht mehr dafür", erklärte er kurz angebunden in der Hoffnung, sie würde jetzt nicht mehr weiter fragen.
Dieser verdammte Zirkus! dachte er. Als ob es auf der Welt nichts Wichtigeres gäbe, als so ein paar Feuerschlucker zu bestaunen und über alberne Clowns zu lachen. Zu Hause wartete der Tod auf den Menschen, der für ihn alles bedeutete, während er sich hier über Gaukler und Schießbudenfiguren den Kopf zerbrechen sollte. Warum konnte Miss Finch ihn mit ihrer hartnäckigen Fragerei nicht in Ruhe lassen?
Für ihn völlig überraschend, gab sie es vorläufig auf. Sie wollte ihn nicht weiter drängen, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, ihn mit ihren Fragen zu quälen. Statt dessen verteilte sie die Hausaufgaben. Jeder sollte einen Aufsatz darüber schreiben, was ihm am besten an dem Zirkus gefallen hatte.
"Und die, die nicht zur Vorstellung waren, schreiben auf, warum sie nicht hingehen durften. Das gilt auch für diejenigen, die sich nicht mehr dafür interessieren", sagte sie am Ende der Stunde mit einem Seitenblick auf Mike, der jedoch an Hausaufgaben ebensowenig interessiert zu sein schien wie am übrigen Unterricht.
Dann entließ sie die Klasse in die Pause. Der quirlige Haufen ergoß sich lärmend auf den Schulhof. Nur Mike schlurfte mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf hinaus. Miss Finch begann sich allmählich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen, blickte nachdenklich hinter ihm her, wie er sich in einen stillen Winkel des Hofes zurückzog, wo er sich auf einen Stein hockte und mit einem Stecken abstrakte Figuren in den Sand malte.
Als Miss Finchs Schatten auf ihn fiel, blickte er langsam auf, während er mit dem Stecken ziellos auf dem Boden herumstocherte, daß kleine Sandfontänen in die Höhe schossen.
"Mike, warum spielst du denn nicht mit den anderen?"
"Ich habe keine Lust."
"Junge, dich bedrückt doch irgend etwas. Jetzt sind wir allein. Da kannst du es mir doch sagen." Sie wollte ihm wirklich nur helfen, ohne neugierig zu sein. "Hast du vielleicht Ärger zu Hause? Möchtest du, daß ich einmal mit deinem Pflegevater spreche?"
Mike starrte sie entgeistert an, als hätte er nicht begriffen.
"Jess … er … er …", stotterte er. Für einen Augenblick schien er es herausschreien zu müssen, was zu Hause passiert war. Dann ließ er wieder den Kopf hängen. "Er kann nichts dafür. Es ist nicht seine Schuld", beteuerte er mit leicht zitternder Stimme.
"Wessen Schuld ist es dann? Und vor allem, wofür kann er nichts? Mike, du bist doch sonst nicht so verstockt. Wenn du nicht willst, daß ich ihn selbst frage, dann mußt du mir den Grund für dein merkwürdiges Verhalten nennen."
"Bitte, Miss Finch, ich kann nicht! Warum fangen Sie bloß immer wieder davon an? Ich kann mit Ihnen darüber nicht sprechen. Bitte, lassen Sie mich doch!"
"Ich will dir doch nur helfen."
"Sie können mir nicht helfen! Niemand kann mir helfen! Niemand!"
"Laß es mich wenigstens versuchen."
Miss Finchs Besorgnis wuchs mit jeder weiteren von Mikes heftigen Reaktionen.
"Ich will es nicht! Ich brauche keine Hilfe!"
"Tja, wenn du dir nicht helfen lassen willst, will ich dich nicht zu deinem Glück zwingen."
Mit dieser Bemerkung ließ sie ihn allein, jedoch nicht aus den Augen. Dabei gab sie die Hoffnung nicht auf, daß er früher oder später doch ihren Rat suchte.
Nachdem sie die Klasse wieder im Unterrichtsraum versammelt hatte, rutschte Mike als letzter auf seinen Platz. Dabei machte er ganz den Eindruck, er hätte gerade erst geweint. Zwar versuchte er es zu verbergen, aber Miss Finch entgingen nicht seine traurig glänzenden Augen und die rasche Bewegung, mit der er sich mit dem Unterarm über die Nase fuhr. Sie tat jedoch, als hätte sie nichts gemerkt, und begann mit dem Unterricht.
Sie ließ die Kinder ihre Geschichtsbücher aufschlagen. Eines der Mädchen begann zu lesen, wie George Washington im Unabhängigkeitskrieg den Delaware überquerte.
"Mike, würdest du jetzt bitte weiterlesen!" forderte sie ihn auf, da sie gesehen hatte, daß er nicht bei der Sache war.
"Weiterlesen?" wiederholte er abwesend.
"Ja, an der Stelle, an der Peggy aufgehört hat."
"Ich … ich habe nicht zugehört", gestand er, gequält schluckend.
"Michael Harper!" rief sie in tadelndem Ton. Wenn sie die Kinder mit vollem Namen ansprach, war das immer ein sicheres Zeichen dafür, daß ihr Geduldsfaden am Reißen war.
"Ja, Ma'am?" Mike sah sie schuldbewußt an.
"Auch wenn dich irgend etwas sehr zu beschäftigen scheint, über das du mit niemandem reden kannst oder willst, finde ich es ausgesprochen unhöflich von dir, wenn du die Arbeit deiner Mitschüler derart ignorierst!"
"Ja, Ma'am." Er schluckte und senkte den Blick. "Es … es tut mir leid, Miss Finch, ich werde es nicht wieder tun."
"Na, hoffentlich! Und jetzt lies weiter!"
Den Rest des Unterrichts brachte er irgendwie herum, obwohl er nach wie vor nicht bei der Sache war. Miss Finch mußte ihn noch ein paarmal ermahnen, besser aufzupassen. Aber erst als sie mit Nachsitzen drohte, gab er sich etwas mehr Mühe.
Am frühen Nachmittag entließ Miss Finch ihre Rasselbande endlich. Mike raffte seine Schulbücher zusammen und fegte vor den anderen als erster hinaus, daß sich Miss Finch nur wundern konnte, woher dieses plötzliche Leben in ihm kam.
Schnurstracks lief er zu seinem Pony, streifte ihm in Windeseile das Zaumzeug über, zog den Sattelgurt fest und saß im nächsten Augenblick oben. Als die anderen Kinder endlich zu der kleinen Weide kamen, um ihre Ponys und Pferde zu holen, war Mike schon auf der Straße.
Miss Finch sah ihm kopfschüttelnd nach, während er am Schulzaun vorbeigaloppierte und weder rechts noch links blickte. Eines stand jetzt für sie fest: Ärger gab es gewiß nicht bei ihm zu Hause, denn sonst hätte er es nicht so eilig gehabt, dorthin zurückzukehren.
Sie wollte ihm noch einen Tag Zeit lassen. Vielleicht war er morgen wieder ganz der alte. Kinder hatten öfter einmal merkwürdige Launen, die Erwachsene nicht immer verstanden. Wenn er morgen jedoch noch genauso durcheinander war, konnte sie das als Laune nicht mehr bezeichnen. Dann sah sie sich doch gezwungen, hinaus zur Sherman-Ranch zu fahren, um Jess Harper von dem merkwürdigen Verhalten seines Pflegesohnes in Kenntnis zu setzen.
Fortsetzung folgt
