KAPITEL 6

So schnell wie heute war Mike noch nie zu Hause gewesen. Daisy richtete ihm rasch ein paar Brote. Wenn er erst so spät am Nachmittag aus der Schule kam, kochte sie erst abends. Mittags gab es dann nur etwas Schnelles oder Sandwiches. Oft kamen die beiden Männer auch erst spät von ihrer Arbeit zurück, daß sie die Hauptmahlzeit meistens auf den Abend verlegte, denn dann hatten sie alle Zeit, sich das Essen schmecken zu lassen.

Der Junge verschlang hastig, jedoch ohne besonderen Appetit die Sandwiches und schüttete zwei Gläser Milch hinterher, daß Daisy Cooper ihn mehrmals ermahnen mußte, ordentlich zu kauen und nicht so gierig zu sein.

"Darf ich jetzt zu Jess?" fragte er mit großen Augen, als er fertig war. "Bitte, Tante Daisy, darf ich jetzt zu ihm?"

"Ja, aber nicht so lange", nickte die Frau, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie ihn hineinlassen konnte. "Und sei leise, damit du ihn nicht störst!"

"Ich sag' kein Wort! Ganz bestimmt! Ich möchte nur bei ihm sein."

Nun war er nicht mehr zu halten. Auf Zehenspitzen kam er herangeschlichen und setzte sich ein wenig unbeholfen neben das Bett. Daisy folgte ihm bis zur Tür, beobachtete ihn eine Weile, wie er so still dasaß, den Mann auf dem Bett anstarrte, stumm und andächtig, als betete er mit ihm um sein Leben.

Mike konnte dem übermächtigen Wunsch, Jess zu berühren, seine Nähe zu fühlen, nicht lange widerstehen. Schließlich schob er seine Hand in die des Freundes, die unter der Bettdecke hervorschaute. Sie war kraftlos, schien ohne Leben zu sein. Trotzdem gab sie dem Jungen wunderbaren Halt, obgleich er selbst es war, der sie festhielt, und sie dem sanften Druck seiner Finger nachgab.

Dem Jungen fehlte völlig das Zeitgefühl dafür, wie lange er so dagesessen hatte, still und unbeweglich, voller Furcht, Jess bereits mit der geringsten Bewegung zu stören oder gar wehzutun, ihn unentwegt anstarrend, als Daisy Cooper erneut in den Rahmen der Tür trat und meinte, er müßte jetzt wieder gehen.

"Bitte, Tante Daisy, nur noch ein paar Minuten! Bitte!" bettelte er, während sich seine Hand tiefer in die seines Pflegevaters grub.

"Na schön, mein Junge, noch ein paar Minuten, aber nicht länger."

Mike wandte sich wieder der reglosen Gestalt auf dem Bett zu. Tränen wollten danach drängen, aus seinen Augen zu quellen, weil er schon wieder Abschied nehmen sollte. Plötzlich spürte er, daß in Jess' bisher schlaffe Hand Leben kam, seine Finger krampfartig zuckten. Der Mann stöhnte leise. Schließlich begann er zu keuchen und zu röcheln.

"Tante Daisy!" schrie Mike.

Entsetzt sprang er auf, als er sah, wie Jess sich quälte und nach Luft rang. Im nächsten Augenblick war die Frau bei ihm, um ihm zu helfen. Verzweifelt nach Luft ringend, kämpfte er gegen einen heftigen Hustenanfall.

"Mike!" rief sie nach dem Jungen. "Lauf und hol Slim! Schnell, beeil dich!"

Wie eine Uhrenfeder schnellte er durchs Wohnzimmer, stolperte über die Veranda, die Stufen hinunter auf den Hof.

"Slim!" schrie er aus Leibeskräften, während er auf den großen Mann zurannte, der vor der Remise gerade eine Reparatur an dem schweren Ranchwagen beendet hatte. "Slim, du mußt schnell kommen! Jess geht es ganz furchtbar schlecht."

"Um Gottes willen!" Slim hastete zur Tränke, um sich in fliegender Eile die schmutzigen Hände und Unterarme zu waschen. Noch während er sich abtrocknete, eilte er ins Haus, schleuderte das Handtuch in eine Ecke und war nach ein paar großen Schritten an der Tür zum Krankenzimmer. "Du bleibst hier draußen, verstanden?" befahl er mit sehr ernster, energischer Stimme dem Jungen, der ihm zurück ins Haus gefolgt war.

Mike nickte verschreckt und wollte ihn nicht durch sinnlose Widerrede aufhalten.

Sofort überblickte Slim die Lage, noch ehe er die Tür richtig hinter sich geschlossen hatte.

Jess bekam kaum Luft. Husten und Röcheln wurden schlimmer. Ein schwerer Hustenanfall ließ seinen Körper erbeben. Während Slim sich bemühte, dem beinahe an seinem Husten Erstickenden zu helfen, hielt Daisy ihm ein Handtuch vor, in das er einen mit dunklem Blut vermischten Auswurf erbrach. Nach einem weiteren Hustenanfall lag Jess keuchend in Slims Armen, verzweifelt gegen Schmerzen und Atemnot kämpfend, ehe endlich eine wohltuende Mattigkeit seinen geschwächten Körper überfiel und er in eine tiefe Ohnmacht versank.

"Wie ruhig er auf einmal war", bemerkte Daisy mit merkwürdig heiser klingender Stimme, das verschmierte Handtuch an sich gedrückt. "Ich hatte schon Angst …"

Oft hatte sie erlebt, wie ein Sterbender vor dem nahenden Tod plötzlich von Ruhe und Zufriedenheit erfüllt wurde, wenn das Ende kam. Jetzt war sie erleichtert, daß nur eine tiefe Bewußtlosigkeit Jess von seinen Qualen erlöste.

"Gehen Sie jetzt bitte!" bat Slim. "Ich werde bei ihm bleiben und auf ihn aufpassen."

Ohne Widerrede wandte sie sich zum Gehen. Nur allzu deutlich merkte sie, daß er jetzt mit seinem Freund allein sein wollte, mit ihm, mit sich und seinem Kummer.

Wieder im Wohnzimmer, versuchte sie, Mike von seinen Sorgen abzulenken und mit etwas Sinnvollem zu beschäftigen. Den Rest des Nachmittags verbrachte er draußen auf dem Hof und im Stall, wo er lustlos die ihm aufgetragenen Arbeiten verrichtete und sich bald auf dem Heuboden in eine bestimmte Ecke kauerte, als suchte er diesen Platz, um sich intensiver an etwas erinnern zu können. Es war die Stelle, wo er sich vor vier Jahren versteckt hatte, ehe Jess ihn halbverhungert, ziemlich verwahrlost fand. Genau hier hatte der glücklichere Teil seines noch jungen Lebens begonnen, der seit dem Vortag in Gefahr geraten war, auf so tragische Weise zu enden.

Damals war Mike in einer stürmischen Herbstnacht wiederholt aus einem Waisenhaus bei Cheyenne davongelaufen. Bis dahin hatte er es schon ein paarmal versucht, aber sie hatten ihn immer wieder geschnappt. Obwohl die Strafen jedesmal härter ausfielen, probierte er es ständig von neuem.

Praktisch seit seiner Geburt lebte er in diesem ihm so verhaßten Heim, nachdem er eines Morgens als schreiendes Bündel vor der Tür gefunden worden war. Er wußte weder etwas über seine Eltern, noch woher er kam. Auf einem Zettel, der an die Decke geheftet war, in die man ihn gewickelt hatte, stand nur in ungelenken Buchstaben sein Vorname. Das Heimleiterehepaar nannte ihn, wenn es ihn ärgern wollte, Mike Niemand. Seit er denken konnte, kränkte ihn dieser Spitzname, den auch bald die anderen Kinder benutzten, um ihn mit ihren Hänseleien zu ärgern und auch zu quälen. In dieser Zeit hatte er oft grundlos Prügel bezogen, wochenlang Stubenarrest, manchmal sogar nur bei Wasser und Brot, durfte mit niemandem sprechen. Bei seinem letzten Weglaufen hatte er sich geschworen, lieber tot zu sein, als jemals wieder in dieses Prügelhaus, wie er das Waisenhaus getauft hatte, zurückzukehren.

In jener Nacht lief er zu den Verladekoppeln am Bahnhof, wo im ersten Morgengrauen ein paar Schweine verladen wurden. Dort kletterte er heimlich in einen der Viehwaggons. Bald darauf rollte der Zug nach Westen. Irgendwann hielt er auf freier Strecke, um Wasser zu fassen. Mike hörte, wie der Bremser offensichtlich mit sich selbst redete und froh war, daß sie bald nach Laramie kämen, wo die "stinkenden Säue", wie sich der Mann ausdrückte, den Zug wieder verlassen sollten. Sofort bekam es Mike mit der Angst, er könnte in der Stadt entdeckt und wieder zurückverfrachtet werden. Von dem Bremser unbemerkt, sprang er aus dem Waggon, wobei es ein Wunder war, daß er sich nicht verletzte.

Noch drei Tage und Nächte irrte er in der Wildnis umher, hatte nichts weiter zu essen als ein paar Scheiben trockenes Brot, die er stibitzt hatte. Am späten Abend des dritten Tages fand er endlich dieses Gehöft. Da er nicht wußte, was für Leute hier wohnten, ob sie ihm gut oder schlecht gesinnt waren, versteckte er sich sicherheitshalber vorerst hier oben auf dem Heuboden, wo er völlig erschöpft einschlief.

Am nächsten Morgen weckte ihn eine Stimme, die vom Hof durch die halboffene Tür zu hören war. Es war Jess gewesen, der sein Pferd holen wollte und sich über die nicht verschlossene Stalltür wunderte.

"Ich könnte schwören, daß ich gestern abend den Riegel vorgeschoben habe", glaubte Mike, ihn in diesem Augenblick sagen zu hören.

Im Stall hatte Jess sofort das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Sein Instinkt, seine vom Leben in der freien Natur geschärften Sinne verrieten es ihm. Mehrmals fragte er, ob da jemand wäre. Alles blieb still. Doch als Heu vom Speicher durch die Ritze zwischen den Holzbohlen nach unten fiel, fuhr seine Hand unbewußt zum Schießeisen, das er stets bei der Arbeit trug, wenn er allein unterwegs war. Dann stieg er vorsichtig die Leiter nach oben. Er wußte nicht, wer oder was ihn da oben erwartete, vermutete aber, daß es ein Mensch sein mußte, denn ein Tier hätte die verriegelte Tür nicht öffnen können.

Oben entdeckte er Mike in seinem Versteck. Völlig verblüfft, stand er dem Jungen gegenüber. Wenn er mit allem gerechnet hatte, aber einen Dreikäsehoch hatte er nicht erwartet. Mike sah sein verwirrtes Gesicht vor sich, erinnerte sich, daß er im ersten Augenblick nicht wußte, was er sagen sollte.

"Wer bist denn du?" fragte er schließlich verdutzt. "Und was in drei Teufels Namen suchst du hier?"

Mike, vollkommen verstört, hatte plötzlich fürchterliche Angst, nicht vor dem Mann, sondern davor, er könnte ihn wieder zurück ins Waisenhaus bringen.

"Bitte, bitte, tu mir nichts!"

Jess starrte auf seine Rechte, die immer noch die Waffe hielt. Plötzlich kam er sich sehr lächerlich vor mit dem Schießeisen in der Hand. Mit einer hilflosen Geste, die seine ganze Verlegenheit verriet, steckte er es ins Holster zurück.

"Keine Angst, ich tu' dir nichts", versuchte er, den vor Angst zitternden Jungen zu beruhigen.

"Und du schickst mich auch nicht wieder zurück?"

"Zurück? Wohin zurück?"

"In dieses gräßliche Waisenhaus."

"Bist du von da etwa ausgebüxt?"

Mike nickte nur. Das war genau der Moment, in dem der berühmte Funke zwischen den beiden übersprang. Zwischen ihnen war etwas Eigenartiges vorgegangen, etwas, das weder Jess und erst recht nicht Mike erklären konnte.

Jess hatte ihn nicht wieder zurückgeschickt, konnte sogar seinen etwas skeptischen Freund davon überzeugen, daß dies überhaupt nicht in Frage kam. Tage und Wochen mußte er für den Jungen kämpfen, gegen Unverstand und einen schier unüberwindlichen Berg von Bürokratie und Paragraphen. Aber er hätte eher sich selbst aufgegeben als diesen flachsköpfigen Jungen, der ihm von Anfang an ans Herz gewachsen war, wofür er keinen plausiblen Grund finden konnte. Vielleicht sah er sich selbst in ihm, die eigene Kindheit, die alles andere als angenehm verlaufen war. Er wußte es nicht.

Auf jeden Fall erreichte er, daß er das Sorgerecht für den Jungen erhielt und dieser seinen Namen tragen durfte. Von nun an wagte es keiner mehr, ihn Mike Niemand zu nennen. Jetzt hatte er ein richtiges Zuhause und wußte, wohin er gehörte. Eine tiefe Zuneigung, ein inniges Verstehen verband ihn mit diesem Mann, ohne den er sich ein Leben nicht mehr vorstellen konnte. Obwohl Jess hart arbeiten mußte und manchmal nicht viel Zeit hatte, war er immer da, wenn der Junge ihn brauchte.

Wenn Jess jetzt sterben mußte, nur weil es einem bösen Menschen eingefallen war, aus Langeweile und Freude am Töten auf ihn zu schießen, verlor er mehr als seinen Pflegevater und besten Freund. Niemand konnte diesen ihm liebsten Menschen auch nur annähernd ersetzen.

Die folgende Nacht war für die Bewohner der Sherman-Ranch nicht weniger schlimm als die vorangegangene. Während Daisy Cooper auf der Couch im Wohnzimmer schlief – oder es zumindest versuchte –, wich Slim Sherman keine Minute von der Seite seines schwerverletzten Freundes, der auch in dieser Nacht einen erbitterten Kampf gegen Fieber und Schmerzen führte, den er jeden Augenblick zu verlieren drohte.

Slim wußte kaum noch, wie er Jess ruhig halten sollte, als er sich im Delirium auf dem Bett wälzte und sogar ein paarmal aufstehen wollte. Bald starrte er ihn mit verstörtem Blick an, ohne ihn zu erkennen, bald lag er reglos mit aufgerissenen Augen, als lähmte ihn eine Todesangst vor etwas, das nur er wahrnehmen konnte. Dann wieder fuhr er schreiend auf und klammerte sich verzweifelt an Slim, der ihn an sich drückte und beruhigend auf ihn einredete, bis er schließlich erschöpft zusammensank und ganz still wurde, daß der Rancher jedesmal besorgt nach seinem Puls tastete, um erleichtert festzustellen, daß er noch lebte. Jess überstand mehrere Hustenanfälle, an denen er um ein Haar erstickte, trotzte den Schmerzlawinen, die ihn von Zeit zu Zeit überrollten und seinen geschwächten Körper heimsuchten wie einen Feuersturm.

Aber auch diese Nacht ging vorüber mit ihrem ständigen Auf und Ab von Schrecken und Qualen und all der Angst und Ungewißheit, was die nächste Minute brachte: Leben oder Tod. Als der Morgen zu dämmern begann, konnte Slim kaum fassen, daß ein weiterer Tag anbrach und Jess Harper noch lebte.

Selbst für den Arzt, der im Laufe des Vormittags auf der Ranch eintraf, war es unbegreiflich, wieso sein Patient solange und so hartnäckig dem Tod trotzen konnte.

"Ich möchte nur mal wissen, wie lange das noch so weitergehen soll!" murrte Slim. Das Zittern in seiner Stimme wurde fast zum Beben, als er beim Weitersprechen versuchte, die Ereignisse der letzten Nacht in Worte zu fassen. "Jess hat diese unmenschlichen Torturen nicht verdient! Nicht er! Wenn ich nur wüßte, wie ich ihm helfen kann!"

"Jedenfalls nicht, indem du dich selbst kaputtmachst, dir Tage und Nächte um die Ohren schlägst und dir obendrein noch selbst die Schuld an allem vorwirfst", wies der Arzt ihn ungewollt hart zurecht, traf damit aber offensichtlich direkt den Kern des Grundes für Slims jämmerliche Verfassung.

"Hör bloß auf, so mit mir zu reden! Ja, ich mach' mir Vorwürfe, und du wirst das nicht verhindern können!" schrie Slim den Arzt hemmungslos an. Seine Gereiztheit ließ ihn einfach die Beherrschung verlieren. "Es könnte kaum schlimmer sein, wenn ich selbst geschossen hätte! Ich habe es tatenlos mit angesehen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, es zu verhindern. Stell dir doch mal vor, wie das ist! Dazustehen und nichts zu tun, einfach nur zuzusehen, wie man einen Freund über den Haufen schießt, der noch nie an sich selbst gedacht hat, wenn es um mein Leben ging! Und ich steh' da und rühr' keinen Finger! Ich lass' es einfach geschehen! Ich lass' es zu, daß man ihn abknallt wie einen räudigen Hund, wie einen, der's nicht besser verdient hat! Es ist ganz allein meine Schuld, wenn er jetzt durch diese Hölle gehen muß."

"Ach, und wie hättest du das verhindern wollen?"

"Ich weiß es nicht", kam nach einigem Zögern die unsichere Antwort. Slim hatte sich anscheinend wieder etwas gefaßt, denn seine Stimme klang wesentlich ruhiger und kontrollierter, obwohl er sich noch nicht ganz in der Gewalt hatte. "Ich weiß es nicht", wiederholte er und kehrte dem Arzt den Rücken. "Ich weiß nur, daß ich es hätte tun müssen. Jess hätte es jedenfalls an meiner Stelle getan. Er hätte die Gefahr auf sich genommen."

"Auf sich schon, aber was ist mit Mrs. Daisy? Meinst du wirklich, er hätte soviel anders gehandelt wie du? Denkst du, er hätte ihr Leben aufs Spiel gesetzt? Seines hätte er bestimmt riskiert, so wie du es mit deinem getan hättest, wenn ihres nicht auch in Gefahr gewesen wäre. Im Grunde hätte er dir genausowenig helfen können wie du ihm. Und wenn es umgekehrt gekommen wäre, stünde er jetzt an deiner Stelle da und redete denselben Unsinn, den du von dir gibst." Der Arzt fuchtelte mit dem Stethoskop in der Luft herum, um mit den heftigen Bewegungen seine Worte zu unterstreichen. Er war verärgert über Slims Verbohrtheit und verwünschte seinen undurchdringlichen Dickschädel. "Ich weiß nur eins: Jess ist der letzte, der dir irgendwelche Vorwürfe machen wird. Und das weißt du auch!"

"Sicher, er ist sogar imstande und sieht die alleinige Schuld bei sich selbst. Das würde ich ihm jedenfalls zutrauen."

"Sag mal, ist es denn so wichtig, diese verdammte Schuldfrage zu klären?" wollte Dan etwas mürrisch wissen.

"Für dich vielleicht nicht, aber bestimmt für mich! – Bitte entschuldige! Ich habe mich gehenlassen. Ich habe einfach die Nerven verloren. Während ich mich hier aufführe wie ein kleiner Junge, lacht sich der Tod eins ins Fäustchen, weil er denkt, er könnte sich jetzt unbemerkt ranschleichen. Aber nicht mit mir! Jess' Leben kriegt er nicht!" Energisch trat er ans Krankenlager des Freundes. "Dafür werd' ich schon sorgen! Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber ich werde ihn schon noch vertreiben! Darauf kannst du dich verlassen!"

"Slim, hör auf, dir was vorzumachen! Auch du kannst den Lauf der Dinge nicht aufhalten."

"Warum sagst du das?"

"Die Chancen stehen denkbar schlecht für Jess. Die Wahrscheinlichkeit, daß er es schafft, ist mehr als gering. Und selbst wenn …" Er brach ab, weil er den Rest des Satzes lieber für sich behalten wollte.

"Was ist, selbst wenn …?" Dan hatte ihn mit seiner Andeutung neugierig gemacht. Jetzt sah er erwartungsvoll auf. "Was ist, selbst wenn?"

Higgins atmete laut hörbar auf. Die Zunge hätte er sich abbeißen können, weil er überhaupt davon angefangen hatte!

"Selbst wenn er durchkommt, ist es mehr als fraglich, ob er jemals wieder ganz gesund wird."

Slim zog die Brauen zusammen, daß sich die Furchen auf seiner Stirn noch vertieften. Obwohl ihm Dan nichts anderes gesagt hatte, als er im Grunde bereits vermutete, trafen ihn seine Worte hart.

"Wie meinst du das? – Wie du das meinst, will ich wissen!" wiederholte er und war es sichtlich leid, jede Frage doppelt stellen zu müssen, ehe Dan endlich antwortete.

"Du weißt, wie ich das meine."

"Seine Lunge?"

"Ja."

"Mein Gott, warum sagt mir denn keiner, daß das alles nicht wahr ist? Verdammt noch mal! Warum sagt es mir denn nicht endlich einer?" fragte er mit ihm versagender Stimme und wußte sich in seinem Schmerz kaum noch zu helfen. "Warum mußte das nur geschehen? Herrgott noch mal! Warum mußten diese Halsabschneider ausgerechnet hierher in dieses Haus kommen? Warum, zum Teufel? – Bist du dir mit deiner Diagnose überhaupt sicher?" wollte er auf einmal wissen, als ihm einfiel, daß ihm der Arzt schon seit zwei Tagen mit angeblicher Sicherheit klarzumachen versuchte, Jess würde innerhalb der nächsten paar Stunden sterben; aber er lebte immer noch.

"Absolut! Ich weiß zwar immer noch nicht, ob er durchkommt. Da bin ich mir nach wie vor nicht sicher, aber mit dem anderen schon. Die Kugel hat Gewebe zerrissen. Ganz zu schweigen von den Knochensplittern, die nicht weniger angerichtet haben. Ob das jemals ganz vernarbt, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen, ist mehr als fraglich. Auf jeden Fall heilt so etwas nicht von heute auf morgen. Die Wahrscheinlichkeit, daß es überhaupt nicht heilt, ist ziemlich groß. Wenn …"

"Bitte, sprich nicht weiter!" fiel Slim ihm ins Wort. "So genau will ich es gar nicht wissen. Es ist so schon schlimm genug."

"Slim, du solltest dich endlich etwas ausruhen!" Energisch packte er ihn am Arm, um ihm zu zeigen, wie ernst ihm diese Aufforderung war. "Wie willst du Jess sonst helfen können, wenn er dich braucht? Nur ein paar Stunden, bitte!" redete der Arzt ihm ins Gewissen. "Mrs. Daisy kann solange die Wache übernehmen. Glaube mir, bei ihr ist er in besten Händen. Du kannst froh sein, daß sie in Krankenpflege soviel Erfahrung hat. Sie wird schon gut für ihn sorgen."

Der Arzt holte seine Tasche, um den Raum zu verlassen.

"Du willst schon wieder gehen?" rief Slim ihm erstaunt hinterher, als er schon an der Tür war.

"Ja, ich muß weiter. Ich habe einen weiten Weg vor mir. Ich muß noch ein paar Krankenbesuche machen. Mrs. Horsley hat letzte Woche ein Baby bekommen. Es ging ihr nicht besonders; da will ich lieber noch mal nach ihr sehen. Zuvor werd' ich kurz bei den McAllisters vorbeischauen. Auf Bar-X werde ich wahrscheinlich übernachten. Auf dem Rückweg zur Stadt komme ich auf jeden Fall hier vorbei und seh' nach Jess, obwohl ich bezweifle, daß ich bis dahin mehr für ihn tun kann als heute", erklärte Higgins mit einem langen Seitenblick auf seinen Patienten, der ihm heute nicht viel besser gefiel als gestern.

"Und wie soll ich dich bei den Horsleys schnell genug erreichen, wenn er dich braucht?"

"Slim, glaube mir, selbst wenn ich hierbliebe, könnte ich ihm nicht mehr helfen. Ich kann auch nicht mehr für ihn tun als du oder Mrs. Daisy. Begreif das doch endlich!"

"Das kann ich mir einfach nicht vorstellen."

"Es ist aber leider so. Ich würde es sonst bestimmt nicht sagen! Ich wünschte, es wäre anders."

Damit wandte er sich zur Tür, verabschiedete sich und verließ das Haus.

Nach einigem Hin und Her zog sich Slim daraufhin tatsächlich in sein Arbeitszimmer zurück, wo auf seinem Schreibtisch noch das aufgeschlagene Herdenbuch lag, wie er es vorgestern zurückgelassen hatte, als er bei den Eintragungen durch den unheilvollen Besuch gestört wurde. Auf der oberen Tischkante fiel sein Blick auf Jess Harpers zusammengerollten Patronengürtel, den Daisy am Vortag beim Schrubben des Zimmerbodens in seinem Versteck gefunden hatte. Sorgfältig hatte sie die Waffe, die sie aus der hintersten Ecke zu Tage förderte, in die Ledertasche geschoben. Sie wollte das Schießeisen nicht achtlos herumliegen lassen und brachte es nach nebenan. Jetzt lag der Gurt wie ein drohendes Mahnmal auf Slims Schreibtisch. Zögernd griff er danach und zog den sechsschüssigen Colt aus dem Holster.

Er ließ die leere Trommel kreisen, erinnerte sich an das, was Mike ihm berichtet hatte. Dann hatten ihn die Schrecken des furchtbaren Vormittags wieder eingeholt. Seine Hände umschlossen krampfhaft den Revolver, dessen kühler Stahl plötzlich brennendheiß zu werden schien. Ein unerträglicher Schmerz der Verzweiflung fraß sich durch Slims Brust.

"O Gott!" stieß er hervor. "Hilf ihm! Bitte, hilf ihm doch!" Erschöpft sank er in den schweren Ledersessel hinter dem Schreibtisch. Behutsam, als ob sie zerbrechen könnte, legte er die Waffe vor sich auf die Tischplatte, lehnte sich zurück und schloß die brennenden Augen. "Bitte!" flehte er mit ihm versagender Stimme. "Bitte!"

Fortsetzung folgt