KAPITEL 7
Die Begeisterung, mit der sich Mike heute auf den Weg zur Schule machte, war um einiges geringer als gestern. Daß er die Stadt letztendlich doch erreichte, verdankte er mehr oder weniger seinem Pony, das die Strecke aus Gewohnheit kannte und längst wußte, daß eine saftige Wiese hinter der Schule wartete.
Während des Unterrichts merkte Miss Finch, daß er genausowenig bei der Sache war wie am Vortag. Still und apathisch saß er auf seinem Platz, hielt den Blick gesenkt und war anscheinend mit seinen Gedanken woanders. Obwohl sie ihn ständig ermahnte, besser aufzupassen, konnte er sich auf ihren Unterricht nicht konzentrieren. Am liebsten hätte er seine Bücher gepackt, um nach Hause zu reiten. Er wußte einfach nicht, was er hier sollte.
In der Pause sonderte sich Mike wieder ab, stand am Zaun, starrte die Straße entlang wie jemand, den in der Ferne das Heimweh quälte. Auf der kleinen Weide zog er sich rücklings auf das Gatter, hockte sich auf die oberste Querlatte und ließ das eine Bein baumeln. Er fummelte unter sein Hemd, von wo er einen Apfel hervorholte, den er von zu Hause mitgebracht hatte, und lockte damit seinen Browny.
Während das Pferd, genüßlich kauend, ihn übermütig anstupste, fuhr er ihm liebevoll über die Stirn. Dabei war ihm anzusehen, daß er auf seinen vierbeinigen Freund sehr stolz war. Seine Anwesenheit ließ ihn sogar für kurze Zeit seinen Kummer vergessen, denn er dachte daran, wie ihre Freundschaft vor gut zwei Jahren begann.
Kaum hatte er auf der Sherman-Ranch ein neues Zuhause gefunden, als er zum erstenmal auf einem Pferd reiten durfte. Jess ließ ihn damals bei sich mitreiten. Das gefiel ihm so gut, daß er nicht eher Ruhe gab, bis dieser es ihm beibrachte. Seit der Zeit versuchte der Junge, seine reiterliche Perfektion zu erlangen, was jedoch nicht leicht war, denn Jess war ein vorzüglicher Reiter. Mike bewunderte die Leichtigkeit, mit der er ein Pferd beherrschte, ihm die schwierigsten Aufgaben abverlangen konnte und es doch so aussah, als machte das Tier alles freiwillig wie von alleine. Er konnte ihn, stundenlang am Gatter stehend, bei seiner Arbeit beobachten, wenn er Pferde trainierte. Allein durchs Zusehen versuchte er von ihm zu lernen.
Nachdem Mike einigermaßen sattelfest geworden war, kam der Wunsch nach einem eigenen Pferd. Da er bald Geburtstag hatte, fragte er Jess, ob er ihm denn nicht eines schenkte.
"Ich wünsche mir nichts anderes. Bitte, bitte! Schenkst du mir eins? Eins für mich ganz allein!" hatte er gebettelt.
"Mal sehen. Aber wenn du eins bekommst, bist du dafür verantwortlich. Ein eigenes Pferd zu haben heißt nicht nur, es zu reiten, sondern auch, daß du es selbst pflegst und versorgst, seinen Stall sauberhältst und regelmäßig mit ihm arbeitest und das nicht bloß, wenn du Lust dazu hast", hatte Jess ihm versucht klarzumachen, und Mike hatte es ganz fest versprochen.
Bald darauf ritt Jess nach Billings, um einige Hengste zu verkaufen. Tatsächlich kam er mit einem zierlichen, temperamentvollen Indianerpony zurück, das lediglich halfterzahm war und ganz den Eindruck machte, nicht mehr werden zu wollen. Slim hatte ihn kopfschüttelnd gefragt, was er denn mit dem "Biest" vorhätte. Das wäre kein Biest, sondern Browny und sollte seinem Schützling gehören, hatte Jess unmißverständlich erklärt.
"Na, wenn das mal gutgeht", war Slims skeptischer Kommentar gewesen.
"Mach dir nur keine Sorgen! Das ist ein prächtiges Pferd", hatte Jess versichert.
"Fragt sich bloß, für wen. Für dich vielleicht, aber doch niemals für Mike."
"Wie soll der Junge ein guter Reiter werden, wenn er kein gutes Pferd hat?"
Mike war damals mit Daisy Cooper für ein paar Tage auf einer Nachbarfarm zu Besuch gewesen. Erst am Abend vor seinem Geburtstag kehrten sie nach Hause zurück. Im Stall stand ein sehr gut trainiertes Indianerpony, das auf den Namen Browny hörte. Jess hatte jeden Tag mit ihm gearbeitet. Schließlich mußte sogar Slim zugeben, daß in dem "Biest" mehr steckte, als er zu Anfang geglaubt hatte. Anerkennend gestand er ein, daß er, obwohl selbst ein guter Pferdekenner, dem Pferdeverstand des langjährigen Partners nicht gewachsen war.
Am nächsten Morgen führte Jess den Jungen zum Stall, um ihm sein "Schaukelpferd" zu zeigen. Mike war zunächst fürchterlich enttäuscht gewesen. Ein Spielzeug wollte er gewiß nicht! Im Stall erwartete ihn jedoch ein quicklebendiges Pony, das ihn neugierig aus großen braunen Augen ansah, als wüßte es genau, daß sie beide ab sofort zueinandergehörten.
"Ist das wirklich für mich?" hatte Mike verdutzt gefragt und Jess neben sich angesehen wie den leibhaftigen Weihnachtsmann.
"Für wen denn sonst? Außer dir hat doch heute niemand Geburtstag. Ich konnte ihn leider nicht in Geschenkpapier einwickeln. Dazu ist er ein bißchen groß. Ich hoffe, daß er dir auch so gefällt. Er heißt Browny und gehört dir ganz allein. Hier, gib ihm das und laß ihn an deiner Hand riechen, damit er deinen Geruch kennenlernt."
Jess hatte ihm einen Apfel in die Hand gedrückt, von dem er Browny abbeißen ließ. Das Pony war zutraulich und gab ihm einen übermütigen Schubs, daß Mike beinahe umgefallen wäre. Ihre Freundschaft war damit besiegelt.
"Darf ich einmal auf ihm reiten?"
"Wann immer du willst. Du brauchst mich nicht um Erlaubnis zu fragen. Er gehört dir."
Kaum hatte Mike die Großartigkeit dieser Worte begriffen, war er nicht mehr zu halten. Anfangs war Jess immer noch mitgeritten, um seinen sicheren Sitz zu prüfen, hatte ihm noch viele gute Ratschläge gegeben und ihn auch ermahnt, Browny nicht bis zum Rande der Erschöpfung zu hetzen, immer zuerst das Tier zu versorgen, zuerst an den Vierbeiner und dann erst an sich selbst zu denken. Und wenn er wirklich einmal nicht allein zurechtkäme, sollte er sich nicht scheuen, ihn um Rat und Hilfe zu bitten, ehe vielleicht etwas Ernsthaftes aus Leichtsinn oder falschem Stolz passierte. Mike hatte versprochen, das alles zu beherzigen. Bald waren er und Browny sehr gut miteinander vertraut, daß Jess seinen Schützling bedenkenlos allein reiten lassen konnte. Sattel und Zaumzeug lagen an Weihnachten unter dem geschmückten Tannenbaum, was sein Reiterglück perfekt machte.
Auf seinen Browny und den eigenen Sattel war Mike sehr stolz. Beides war für ihn von unschätzbarem Wert. Und doch hätte er sich sowohl von dem einen als auch von dem anderen leichten Herzens getrennt, wenn er damit etwas für ihn wesentlich Wichtigeres eintauschen könnte: Jess Harpers Leben und Gesundheit.
Gerade noch war ihm, der große Freund stünde neben ihm und hätte den Arm um seine Schultern gelegt wie damals im Stall, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel. Erschreckt blickte er auf. Miss Finch stand neben ihm. Ihre Anwesenheit brachte ihn augenblicklich auf den Boden der Gegenwart zurück. Mit Entsetzen dachte er daran, daß Jess vielleicht nie wieder neben ihm stehen und den Arm um seine Schultern legen konnte. Sekundenlang starrte Mike Miss Finch entgeistert an, während dieser furchtbare Gedanke durch sein Gehirn schoß.
"Mike, sag mal, brauchst du heute ständig Extraeinladungen? Die Pause ist vorüber."
"Bitte entschuldigen Sie, Miss Finch." Mike biß sich verlegen auf die Lippe und rutschte vom Zaun. "Ich habe das Läuten nicht gehört."
"Das war laut genug. Hast du wieder geträumt?"
"Ich mußte nachdenken", widersprach er, wobei er seinem Pony den Rest des Apfels gab.
"In letzter Zeit mußt du das aber sehr häufig." Noch einmal wollte sie versuchen, hinter das Geheimnis seines merkwürdigen Verhaltens zu kommen. "Willst du mir denn nicht endlich sagen, was los ist? Seit gestern benimmst du dich merkwürdig, bist völlig zerstreut, paßt im Unterricht nicht auf, kannst plötzlich die einfachsten Aufgaben nicht mehr lösen und sonderst dich ab. Anstatt die Pause mit den anderen Kindern beim Spiel zu verbringen, hockst du hier und verfütterst dein Frühstück an dieses Pferd", hielt sie ihm eine Standpauke, jedoch in sehr geduldigem Ton; aber Mike machte es ihr schwer, diese Geduld nicht zu verlieren.
"Das ist nicht dieses Pferd!" fuhr er sie aufgebracht an und hatte total vergessen, wen er vor sich hatte. "Das ist Browny, und er ist mein Freund! Und es ist meine Sache, mit wem ich das Frühstück teile. Außerdem habe ich den Apfel für ihn mitgebracht und nicht für mich."
"Wie sprichst du denn mit mir?" empörte sie sich.
"Es … es tut mir leid. Ich hab's nicht so gemeint. Aber warum können Sie mich nicht in Frieden lassen? Das, worüber ich nachdenken muß, können Sie ja doch nicht verstehen."
"Aber, Mike, wie soll ich etwas verstehen, was du mir nicht sagen willst?"
"Ich kann es Ihnen nicht sagen. Bitte lassen Sie mich doch!"
Mike ließ sie stehen und rannte zurück ins Schulgebäude. Verständnislos sah sie ihm nach.
Im nachfolgenden Unterricht strapazierte er ihre Geduld so sehr, daß sie beinahe die Beherrschung verloren hätte. Ständig schien er mit seinen Gedanken woanders zu sein. Wenn sie ihn ansprach, starrte er sie nur verstört an, konnte keine einzige ihrer Fragen beantworten. Selbst die einfachsten Dinge, die er sonst auf Anhieb wußte, fielen ihm nicht mehr ein.
"Mike, was hast du denn?" fragte sie zum wiederholten Mal, aber er reagierte zunächst nicht. Nachdem sie es dreimal erfolglos versucht hatte, wurde sie energischer. "Michael Harper!" Obwohl die Kinder wußten, daß es nichts Gutes bedeutete, wenn sie sie mit vollem Namen ansprach, schien das bei Mike diesmal nichts zu nützen. Wie weggetreten kam er ihr vor, fast so, als wäre er dem Geschehen hier in diesem Raum weit entrückt und hätte eine Art Vision von etwas Schrecklichem, Unfaßbarem. "Michael Harper!" wiederholte sie deshalb streng. Diesmal schien es endlich zu wirken, denn Mike zuckte wie nach einer gehörigen Ohrfeige zusammen. "Was ist nur mit dir los? Ich möchte, daß du mir das jetzt sofort erklärst, auf der Stelle! Ich bin es leid, dich ständig ermahnen zu müssen!" schimpfte sie nun doch mit ihm. Oft genug hatte sie ihm Gelegenheit gegeben, sich ihr anzuvertrauen, ihre Hilfe angeboten. Jedesmal hatte er sie abgelehnt, wollte gar nichts davon wissen. "Du störst mit deinem Desinteresse den Unterricht mehr als mit Schwätzen. Findest du es nicht unfair deinen Mitschülern gegenüber, wenn du so tust, als ginge dich ihre Anwesenheit nicht das geringste an? Wenn du mir jetzt nicht unverzüglich sagst, was los ist, wirst du nach dem Unterricht so lange hierbleiben, bis du endlich mit der Sprache herausrückst."
Sie konnte ganz deutlich erkennen, daß er bei ihren Worten erschrak.
"Aber … aber ich muß doch nach Hause", stammelte er.
"Das will ich dir gern glauben. Sobald du mir sagst, was seit gestern mit dir los ist, kannst du nach Hause gehen. Früher nicht! Und wenn du nicht willst, bleiben wir von mir aus bis morgen früh hier."
"Bitte, ich … ich kann doch nicht!" jammerte Mike; ohnmächtige Verzweiflung packte ihn.
"Das werden wir sehen", prophezeite sie wie jemand, der genau wußte, daß er am längeren Hebel saß. "Auf jeden Fall werde ich deinen Pflegevater aufsuchen und ihm von deiner Bockigkeit und Ungezogenheit berichten müssen. Denn so geht es nicht weiter."
"Das können Sie doch nicht tun, Miss Finch! Das geht nicht! Bestimmt! Glauben Sie mir! Das dürfen Sie nicht!" rief er entsetzt, als er sich vorstellte, wie sie mit energischer Rücksichtslosigkeit zu dem Sterbenskranken vordrang, um ihn mit ihren Beschwerden zu überfallen.
"Das wird ja immer schöner!" empörte sich Miss Finch, was eine feine Röte über ihr sonst rosiges Gesicht mit dem sehr hellen Teint trieb. "Jetzt willst du mir sogar noch vorschreiben, was ich zu tun habe."
"Aber nein! Bitte, Sie müssen mir glauben! Es geht wirklich nicht, daß Sie jetzt mit ihm sprechen. Das ist einfach unmöglich!" versuchte er ihr klarzumachen, und seine Tränen, die etwas unkontrolliert über seine Wangen kullerten, versiegten plötzlich.
"Das wollen wir sehen!" wiederholte sie. "Und glaube ja nicht, daß du mich mit deiner Heulerei einschüchtern oder umstimmen kannst!"
"Aber …"
"Und jetzt will ich darüber nichts mehr hören, es sei denn, du hast dich endlich dazu entschlossen, dein großes Geheimnis zu lüften", unterbrach sie ihn in strengem Ton mit mahnend ausgestrecktem Zeigefinger.
Nach dieser Auseinandersetzung beschloß Mike, sich nicht weiter mit ihr anzulegen, keinen Ton mehr von sich zu geben, der nicht unbedingt nötig war. Eine härtere Strafe als die, die sie ihm aufgebrummt hatte, konnte sie sowieso nicht über ihn verhängen – was sollte er sich dann also noch Mühe mit ihr oder seinen Schulkameraden machen?
Als Miss Finch mit ihrem Unterricht fortfuhr, bemühte sie sich zwar, sich von ihrer inneren Erregung nichts anmerken zu lassen, aber ganz konnte sie sie doch nicht verbergen. Jedesmal wenn sie Mike einen mürrischen Blick zuwarf, fragte sie sich, ob sie nicht doch zu heftig reagiert und die Strafe für sein verbissenes Schweigen etwas zu hoch angesetzt hatte. Vielleicht hatte er einen triftigen Grund für sein Verhalten. Vielleicht hatte er jemandem sein Wort geben müssen oder vielleicht brachte er sogar jemanden in Gefahr, wenn er redete. Im Grunde genommen hatte sie wegen etwas, das sie nicht kannte, ein Urteil über ihn gefällt, ohne genau zu wissen, ob sie überhaupt im Recht dazu war.
Kurz vor Unterrichtsende sammelte sie die Hefte mit den Hausaufgaben ein. Sie war sehr neugierig darauf, welchen Aufsatz Mike verfaßt hatte. Vielleicht hatte er sein Problem aufschreiben können, wenn er schon nicht darüber reden wollte. Noch während sie neben ihm in der Reihe stand, schlug sie sein Heft auf, als hätte sie eine Ahnung dazu getrieben, seine Arbeit sogleich zu kontrollieren. Daß er kein einziges Wort geschrieben hatte, ließ sie allerdings sofort zu ihrer ursprünglichen Meinung über ihn zurückkehren.
"Das hätte ich mir ja denken können, daß du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast!" sagte sie ärgerlich und setzte in sehr spitzem Ton hinzu: "Du hattest wohl keine Lust und keine Zeit, weil du natürlich wieder nachdenken mußtest."
Erst jetzt konnte sich Mike dunkel erinnern, daß sie gestern irgend etwas von einem Aufsatz über diesen lächerlichen Zirkus gesagt hatte.
"Ich hab's vergessen", murmelte er halblaut mit gesenktem Blick vor sich hin.
"Das ist keine Entschuldigung! Das kaufe ich dir nicht ab, nicht nachdem wir hier zwei Stunden darüber gesprochen haben. Offensichtlich hängt deine Vergeßlichkeit mit den Flausen zusammen, die du seit gestern im Kopf hast."
"Ich habe keine Flausen im Kopf!"
Sie war ungerecht, und das tat ihm weh. Daß sie seine Sorgen und Ängste, die ihn sogar nachts während des Schlafs in furchtbaren Alpträumen quälten, als Flausen bezeichnete, trieb ihn fast zur Raserei. Zu diesem Urteil hatte sie kein Recht!
"Wenn das keine Flausen sind, möchte ich einmal wissen, was es sonst sein soll!" stichelte sie. "Natürlich kannst du darüber ja nicht sprechen!"
"Ich konnte nichts schreiben."
"Du wolltest nicht!" war sie der Meinung, ihn korrigieren zu müssen; sie war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren.
"Nein, ich konnte nicht!" beharrte er.
Miss Finch schien tatsächlich am absoluten Ende ihrer Geduld angekommen zu sein. Es fehlte wirklich nicht mehr viel und ihr wäre aufgrund von Mikes trotziger Reaktion die Hand ausgefahren, um ihm eine ordentliche Ohrfeige zu versetzen. Sie konnte sich jedoch gerade noch beherrschen. Damit hätte sie nämlich etwas heraufbeschworen, was gewiß nicht ihre Absicht war: das Vertrauen zu dem Jungen für alle Zeiten zu zerstören und sich obendrein noch Jess Harper zum Gegner in Sachen Erziehung zu machen; denn für eine Ohrfeige hätte der Mann in diesem Fall gewiß kein Verständnis aufbringen können. Sie hätte sich damit selbst die Basis für ein klärendes Gespräch mit ihm genommen.
"Na schön", atmete sie auf, nachdem sie sich darüber klargeworden war, "wenn du nicht konntest, dann hast du eine vortreffliche Beschäftigung während der Zeit, die du nachsitzt."
Bald darauf war die Stunde zu Ende, die Kinder packten ihre Bücher zusammen und verstauten ihre Schreibutensilien unter den Tischplatten. Mike tat, als ginge ihn das Nachsitzen nichts an, schnürte sein Bündel und wollte aufstehen, um sich aus dem Staub zu machen. Da stand jedoch wie aus dem Nichts Miss Finch neben ihm und versperrte ihm den Weg.
"Wir beide werden noch ein wenig hierbleiben", sagte sie mit dem typisch überlegenen Ton einer Lehrerin. "Du kannst dich ruhig wieder hinsetzen und das Tintenfaß ausräumen. Ich bin sehr gespannt, was du über den Zirkus zu schreiben hast. Vielleicht hast du später sogar Lust, noch ein wenig mit mir zu plaudern." Das Klassenzimmer hatte sich bald geleert. Miss Finch schloß die Tür hinter dem letzten ihrer Schüler ab. "Ich an deiner Stelle würde endlich anfangen mit der Arbeit", riet sie Mike schließlich, nachdem er sich nach einer Viertelstunde immer noch nicht regte.
"Mir fällt nichts ein", gab er schnippisch Kontra; im Augenblick hatte er nicht den geringsten Respekt vor ihr.
"Dann würde ich mich anstrengen, denn ehe du den Aufsatz nicht geschrieben hast, kommst du hier nicht heraus, auch wenn du mir noch soviel erzählen solltest."
Das wollen wir doch mal sehen! dachte Mike, der nicht die geringste Absicht hatte, einen Aufsatz zu schreiben oder ihr etwas zu erzählen. Er wollte nur nach Hause.
Durch das halboffene Fenster drang hin und wieder das Gezwitscher eines Vogels.
Das Fenster! schoß es Mike durch den Kopf. Irgendwann ging Miss Finch nach nebenan, wo sie sich ein paar Unterlagen holen wollte. Dabei streifte sie Mike mit einem triumphierenden Blick, wobei ihre Hand in die Rocktasche glitt, wohin sie den Türschlüssel gesteckt hatte.
Der Junge gab vor, völlig teilnahmslos zu sein. Scheinheilig wartete er, bis sie in dem kleinen Büro verschwunden war. Er hörte Papier rascheln und wie sie verschiedene Schubfächer am Schreibtisch aufzog und wieder schloß. Dann griff er nach seinem Bücherbündel und rutschte geräuschlos bis zum Ende der Bank. Mit ein paar flinken Schritten huschte er zu dem halboffenen Fenster, hievte sich auf die Fensterbank, landete nach einem wohlabgemessenen Sprung auf dem Schulhof und rannte zu seinem Pony.
Im Vorbeirennen grapschte er nach dem Zaumzeug, das über dem Pfosten hing, warf es übers Sattelhorn, schlang den Riemen seines Bücherbündels darum und hatte mit einem Ruck den Bauchgurt festgezogen, daß Browny überrascht den Kopf hob. Mit einem behenden Schwung zog er sich in den Sattel, packte in die Mähne seines Ponys und hieb ihm die Hacken in die Seiten. Browny galoppierte erschreckt los, fegte quer über den Schulhof, an einer völlig überrumpelten Miss Finch vorbei, setzte mit einem kühnen Sprung über den Zaun und jagte mit Mike die Straße entlang.
"Mike!" schrie sie ihm nach. "Komm sofort zurück!"
Aber der Junge störte sich nicht daran. Er beachtete sie noch nicht einmal, als er an ihr vorbeipreschte. Ehe sie richtig begriff, daß er sie überlistet hatte, war von ihm nichts mehr weiter als eine Staubwolke zu sehen.
Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und kehrte in das leere Klassenzimmer zurück. Während sie zusammenpackte, grübelte sie wieder darüber nach, was wohl der Grund für sein mehr als merkwürdiges Verhalten war. Sie wußte nur eines: häuslicher Ärger, wie sie zunächst angenommen hatte, war es gewiß nicht. Nur, wenn sie den ausschließen konnte – was war es dann? Sie war wirklich gespannt, was sie von Jess Harper erfahren würde.
Fortsetzung folgt
