KAPITEL 8
Slim war in dem schweren Ledersessel hinter seinem Schreibtisch tatsächlich eingenickt. Ein paar wenige Stunden hatte er mehr oder weniger fest geschlafen, als ihn der Lärm, der durch das offene Fenster hereindrang, erschreckt hochfahren ließ.
Es war die Mittagskutsche, die heute auf die Minute pünktlich eintraf. Er hörte, wie im Hof der Kutscher das Sechsergespann zügelte und dann seinen Fahrgästen zurief:
"Sherman-Ranch, fünfzehn Minuten Aufenthalt!"
Der Rancher ging hinaus, um die Pferde zu wechseln und den Passagieren die obligatorische Frage zu stellen, ob sie eine kleine Erfrischung wünschten. Aber diese lehnten dankend ab, wollten sich nur ein wenig die Beine vertreten. Es war ihm gerade recht, denn er mochte jetzt niemand Fremdes im Haus haben. Auch mit dem Kutscher wechselte er nur die üblichen Worte, belangloses Gerede wie meistens.
Rasch versorgte er die sechs Pferde. Da rollte auch schon die Gegenkutsche in den Hof, die er ebenso routinemäßig abfertigte, weder an einer Unterhaltung mit dem Fahrer noch mit den Insassen interessiert war. Als auch sie endlich weiterfuhr, kehrte Slim ins Haus zurück.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Jess ihn nicht brauchte, ging er nach nebenan, um sich zu rasieren und zu waschen. Danach fühlte er sich etwas wohler, wenn er mit seinem Aussehen nach einem kritischen Blick in den Spiegel auch nicht zufrieden war. Er war hager geworden. Um seine müden Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Es war ihm anzusehen, daß er die letzten Tage kaum geschlafen und eine Menge Probleme hatte. Die Sorge um den schwerverwundeten Freund stand ihm jedenfalls sehr auffällig im Gesicht.
Später zog er sich ins Krankenzimmer zurück. Irgendwie traute er dem Frieden nicht, konnte sich nicht vorstellen, daß Jess für längere Zeit völlig ruhig war und still auf dem Bett lag.
Derweil half Mike Daisy Cooper mit unübersehbarem Widerwillen, den Tisch abzuräumen. Küchendienst hatte ihm noch nie besonderen Spaß bereitet, ja, er sah es sogar manchmal als richtige Strafe an, wenn er beim Abwasch helfen sollte; aber heute hatte er besonders wenig Verständnis dafür. Miss Finch war er extra davongelaufen, um so schnell wie möglich nach Hause und zu Jess zu kommen. Jetzt war er hier, aber anstatt zu ihm zu dürfen, sollte er schon wieder etwas tun, wofür er nicht die geringste Lust hatte. Er wünschte sich, endlich erwachsen zu sein, damit er selbst bestimmen konnte, was er tun durfte oder sollte und was nicht.
"Wie war's denn eigentlich in der Schule?" wollte Daisy auf einmal wissen, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
"Langweilig wie immer", schwindelte Mike.
Er wollte nicht erzählen, was vorgefallen war; aber er war dazu erzogen, nicht zu lügen – vor allem nicht zu Hause! Deshalb plagte ihn sein schlechtes Gewissen schließlich so sehr, daß er sich Daisy anvertrauen mußte. Mit ihr konnte er darüber reden, auch wenn sie vielleicht schimpfte. Daß er darüber mit Jess hätte reden können, bedurfte keiner Frage. Bei Slim jedoch war er sich nicht ganz sicher. Wahrscheinlich wäre er bei ihm aber auch früher oder später mit der Sprache herausgerückt, wenn vielleicht auch nicht ganz freiwillig.
"Das hört sich ganz so an, als wäre da noch mehr gewesen", sagte Daisy spitzfindig, merkte sie doch sehr deutlich, daß er etwas loswerden wollte, sich aber noch nicht so recht getraute.
"Na ja, Miss Finch wollte, daß ich nachsitze, aber ich bin abgehauen."
"Mike!" entfuhr es Daisy prompt mit unüberhörbarem Tadel in der Stimme.
"Ich konnte nicht anders!" versuchte er sich zu rechtfertigen. "Sie wollte, daß ich erzähle, warum ich soviel nachdenken muß. Aber das konnte ich nicht! Ich kann nicht darüber sprechen. Nicht mit ihr! Das weißt du doch, Tante Daisy! Mit niemandem kann ich das! Und da hat sie gesagt, ich müßte so lange dableiben, bis ich es ihr gesagt habe. Aber dableiben konnte ich doch auch nicht! Ich wollte … ich mußte doch nach Hause. Ich habe mir ganz schreckliche Sorgen gemacht. Ich mußte immerzu an Jess denken. Ich hatte so entsetzliche Angst, daß er … daß er … Es ging ihm doch so furchtbar schlecht, und da hatte ich Angst … Tante Daisy, du kannst das verstehen, nicht wahr? Da konnte ich doch nicht den ganzen Tag in der Schule bleiben. Ich wäre gestorben vor Angst. Wenn Jess … wenn er … Miss Finch wollte kommen und mit ihm sprechen. Als ich sagte, das ginge nicht, hat sie das nicht verstanden. Sie hat geschimpft, aber ich konnte ihr nicht sagen, warum es nicht geht. Bitte, Tante Daisy, das mußt du mir glauben!" sprudelte es aufgeregt aus ihm heraus.
"Beruhige dich, mein Junge!" versuchte sie ihn zu beschwichtigen. "Ich will dir ja gerne glauben, kann dich sogar verstehen. Aber du weißt hoffentlich, daß es nicht recht war, was du getan hast. Man darf nicht einfach weglaufen."
"Aber ich wußte doch nicht, was ich sonst tun sollte."
"Auf jeden Fall nicht dich klammheimlich aus dem Staub machen! Du hättest versuchen müssen, dein Verhalten zu erklären."
"Aber das habe ich doch! Ich konnte ihr nur nicht erzählen, was passiert ist. Ich konnte ihr nicht sagen, was ich alles gesehen und gehört habe."
"Trotzdem bist du dir hoffentlich im klaren darüber, daß du deshalb Ärger bekommen wirst."
"Du wirst es Slim doch nicht erzählen?"
"Nein, das mußt du schon selbst tun. Aber den meinte ich auch nicht. Nein, ich habe da eigentlich mehr an Miss Finch gedacht. Sie wird der Sache nachgehen und garantiert bald hier auftauchen. Dann wirst du dich zumindest bei ihr entschuldigen müssen."
"Das will ich gern tun", war Mike reumütig bereit. "Vielleicht kommt sie auch gar nicht."
"Weißt du was? Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn sie da ist", meinte Daisy auf einmal und lächelte ihn zuversichtlich an, was soviel bedeutete, daß er mit ihrer Hilfe rechnen konnte, obwohl sie sein Verhalten nicht billigte.
"Und du bist mir nicht böse?"
"Ich will einmal ein Auge zudrücken, aber nur, wenn du einsiehst, daß es nicht richtig war, was du da angestellt hast. Und du mußt mir versprechen, so etwas nicht noch einmal zu tun. Man darf vor seinen Problemen nicht davonlaufen. Man muß versuchen, sie zu lösen, sonst holen sie einen immer wieder ein."
"Ich weiß", nickte Mike schuldbewußt.
Ihre Worte waren genau die, die ihm Jess Harper eingeschärft hatte. Als er daran dachte, merkte er, daß er ihn enttäuscht hatte, ohne es zu wollen.
"Geh jetzt, mein Junge!" erlaubte sie ihm, um ihn etwas aufzumuntern. "Den Rest schaffe ich allein."
"Wirklich?" Vor Freude strahlten zwei große Augen in seinem aufgehellten Gesicht. "Darf ich wirklich zu Jess?"
"Na, nun lauf schon!"
Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, wie er quer durchs Wohnzimmer rannte und dann abrupt vor der angelehnten Tür des Krankenzimmers stehenblieb. Etwas zaghaft drückte er die Tür auf, als fürchtete er sich vor dem, was ihn dahinter erwartete.
"Slim, darf ich …?" fragte er leise, weil er Angst hatte, er könnte sonst Jess stören.
Der Rancher, der gerade dabei war, den kalten Umschlag auf Jess' Stirn zu erneuern, warf nur einen flüchtigen Blick über die Schulter.
"Ja, komm nur, mein Junge."
Das ließ sich Mike natürlich nicht zweimal sagen. Neben Slim blieb er stehen und beobachtete ihn andächtig bei seiner Arbeit. Dann haftete sein Blick unbeweglich auf Jess' grauem Gesicht, in dem sich seit dem Vortag nichts geändert hatte. Auf seinen eingefallenen Zügen und um seine geschlossenen Augen lagen immer noch diese erschreckenden Schatten des Todes. Er kam Mike so hilflos und schwach, ja, fast zerbrechlich vor wie jemand, der keine Kraft mehr zum Leben hatte.
"Slim, geht es Jess denn noch nicht besser?" wollte er auf einmal wissen, den großen Mann neben sich hilfesuchend am Hemdsärmel zupfend. Erwartungsvoll blickte er zu ihm auf, als hoffte er, der Rancher könnte etwas tun oder wenigstens Jess' erbärmlichen Zustand zum Guten hin ändern.
"Leider nicht sehr viel, Mike, aber doch schon etwas."
"Dann wird er auch nicht sterben, oder? Er wird doch wieder gesund, nicht wahr? Sag doch! Wird er wieder gesund?"
"Daran solltest du nicht ein einziges Mal zweifeln! Du weißt doch, daß Jess nicht so leicht kleinzukriegen ist. Wenn er erst das Fieber überstanden hat, hat er es so gut wie geschafft."
Daraufhin schwieg Mike eine ganze Weile, in der er sich seine eigenen Gedanken machte. Gleichzeitig wuchs wieder der Wunsch in ihm nach dem körperlichen Kontakt zu Jess, das Verlangen, seine Nähe zu spüren, einfach zu wissen, daß er da war und lebte.
"Slim", wandte er sich schließlich an den Rancher, weil er es nicht mehr länger aushielt, "darf ich mich zu Jess setzen und seine Hand halten? Bitte!"
"Na schön", willigte Slim nach einigem Zögern ein. "Aber paß auf und tu ihm nicht weh!"
"Ganz bestimmt nicht!" versprach Mike. Nichts lag ihm ferner, als diesem ihm liebsten Menschen irgendwelche Schmerzen zu bereiten; er wollte einfach nur bei ihm sein.
Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante, wagte kaum zu atmen, denn er befürchtete, daß ihn dies bereits stören könnte. Dann umschloß er seine Rechte mit beiden Händen, als könnte er so dieses tragische Schicksal, das offensichtlich nicht aufzuhalten war und trotz Slims Behauptung, daß es dem Freund angeblich etwas besser ginge, unerbittlich seinen Tribut forderte: Jess' Leben.
Unbeweglich saß Mike da, starrte ihn unentwegt an, ohne weitere Notiz von seiner übrigen Umgebung zu nehmen. Wenn die Welt untergegangen wäre – er hätte es gar nicht gemerkt. Seine Welt war bereits am Untergehen und nur durch Jess' Überleben zu retten, was ihm jedoch äußerst fraglich erschien, wenn er ihn sich anschaute, wie er so leblos und still vor ihm lag. Er wünschte sich, daß er endlich die Augen aufschlüge und etwas sagte.
Völlig in Gedanken versunken, hatte Mike alles um sich herum vergessen. Noch nicht einmal Daisy Cooper registrierte er, die kurz hereinschaute, um Slim mitzuteilen, daß sie zum Waschhaus gehen wollte.
Der Lärm auf dem Hof ließ den Rancher aufhorchen, während Mike ihn gar nicht wahrnahm. Jedenfalls reagierte er nicht darauf, sondern kuschelte sich fester an Jess und schloß die Augen, als wollte er an seiner Seite einschlafen und von unbeschwerteren Zeiten träumen.
Nur ungern verließ Slim das Zimmer, aber er wollte nachsehen, wer da zu so ungewohnter Zeit vorbeikam. Seit dem Dienstagmorgen war er gegenüber unangekündigtem Besuch mißtrauisch geworden. Vorsichtshalber wollte er schon den Patronengurt mit seinem Schießeisen holen. Da erkannte er durch das zerschossene Fenster Miss Finch, die einen leichten Einspänner direkt vor dem Haus anhielt.
Erleichtert atmete Slim auf, ein bekanntes Gesicht zu sehen, denn von Fremden hatte er einstweilen genug. Durch einen kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, daß bei Jess alles in Ordnung war, ließ aber die Tür des Krankenzimmers hinter sich offenstehen, damit er ihn vom Wohnzimmer aus im Auge behalten konnte.
An der Haustür klopfte es.
"Ist jemand zu Hause?" fragte im gleichen Augenblick eine Frauenstimme, die eindeutig Miss Finch gehörte.
Während sie ungeduldig darauf wartete, bis sich auf ihre Worte jemand meldete und ihr die Tür öffnete, blickte sie sich neugierig um. Gerade begann sie sich über das glaslose Fenster direkt neben der Tür zu wundern – vielleicht hatte Mike die Scheibe bei einem übermütigen Schabernack zerschlagen und deshalb eine Strafe aufgebrummt bekommen, denn Fensterscheiben waren in dieser Zeit ein nicht zu übersehender und auch recht teurer Luxus –, an dem eine Gardine mit einem häßlichen, wie verkohlt aussehenden Flecken wedelte, als die Haustür geöffnet wurde und Slim Sherman vor ihr stand.
"Guten Tag, Miss Finch", grüßte er etwas unbeholfen, sichtlich erstaunt, sie zu sehen. "Was führt Sie denn zu uns?"
"Guten Tag, Mr. Sherman", erwiderte sie. Irgendwie kam er ihr verändert vor. "Darf ich einen Augenblick hereinkommen?"
"Aber natürlich! Bitte sehr!" Er ließ sie herein. "Mrs. Daisy ist im Waschhaus. Soll ich …"
"Nein, lassen Sie nur! Ich möchte sie nicht stören. Ich wollte eigentlich zu Mr. Harper."
Sie merkte, wie sich seine Miene verdunkelte, als hätte jemand in einem Zimmer die Vorhänge zugezogen. Da sie sich seine Reaktion nicht erklären konnte, befürchtete sie schon, daß Streit in der Luft lag. Vielleicht war eine unerwartete Zwistigkeit zwischen den beiden Männern der Grund für Mikes Verhalten. Sollte am Ende ihre langjährige Freundschaft aufgrund einer Meinungsverschiedenheit ins Wanken oder gar in Gefahr geraten sein? Zwar konnte sie sich das kaum vorstellen, aber von Daisy Cooper wußte sie, daß es hin und wieder Reibereien zwischen den beiden geben konnte, die zuweilen sogar ziemlich heftig ausfielen.
"Tut mir leid, Miss Finch, aber das ist im Moment nicht möglich", erklärte Slim, ihrem fragenden Blick ausweichend.
"Ach? Ist er gar nicht zu Hause?"
"Doch, er ist da."
"Ja, aber warum kann ich dann nicht zu ihm? Ich habe dringend mit ihm zu reden."
"Wie gesagt, das geht im Augenblick nicht. Um was handelt es sich denn? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?"
"Das glaube ich nicht. Ich möchte schon mit ihm persönlich sprechen. Wieso ist das denn nicht möglich, wenn er doch zu Hause ist?"
"Er ist verhindert. Sie müssen schon mit mir vorliebnehmen. Er kann wirklich nicht."
Um ein Haar wäre er unfreundlich geworden. Im Augenblick hatte er nicht die nötige Geduld für ihre Hartnäckigkeit, mit der sie darauf bestand, seinen Freund sprechen zu wollen.
Seine fadenscheinige Begründung erinnerte Miss Finch an Mikes Worte.
"Es ist aber sehr wichtig!"
"Das will ich Ihnen gern glauben. Trotzdem können Sie jetzt unmöglich zu ihm."
"Na schön", gab sie endlich nach, da sie einsah, daß es zwecklos war, Slim Sherman von der Dringlichkeit ihres Vorhabens, mit Jess Harper reden zu wollen, in irgendeiner Weise zu überzeugen. Vielleicht gelang es ihr, bis zu ihm vorzudringen, wenn sie erst einmal den Grund ihres Besuches erklärt hatte. Auf jeden Fall stimmte sie diese Geheimniskrämerei sehr nachdenklich. "Es handelt sich um Mike."
"Nanu?" Slim sah sie verwundert an, obwohl er sich hätte denken können, daß es nur um den Jungen gehen konnte, wenn Miss Finch so ganz unangekündigt hier auftauchte und mit solcher Vehemenz seinen Partner zu sprechen wünschte. "Hat der Junge etwas ausgefressen?"
"So einfach ist das nicht zu sagen. Keine Sorge! Er hat nichts angestellt. Es ist nur …" Sie wußte nicht, wie sie beginnen sollte, machte eine hilflose Geste. "Ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen das erklären soll. Vielleicht ist es doch besser, wenn ich darüber mit Mr. Harper spreche. Schließlich ist er Mikes erziehungsberechtigter Vormund und Pflegevater."
"Nun, ich bin zwar in dieser Beziehung ganz Ihrer Meinung, trotzdem wird es nicht möglich sein. Glauben Sie mir, es geht beim besten Willen nicht! – Entschuldigen Sie bitte vielmals", sagte er dann eifrig, als er sich seiner Unfreundlichkeit bewußt wurde, "aber ich habe Ihnen noch gar keinen Platz angeboten. Wollen Sie sich nicht einen Augenblick setzen? Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee? Ich …"
Er hatte sich schon halb umgewandt, um mit ihr zum Tisch zu gehen, aber sie fiel ihm, dankend ablehnend, ins Wort.
"Nein, vielen Dank! Ich will mich nicht lange aufhalten. Eigentlich habe ich gar keine Zeit, aber …" Sie brach mitten im Satz ab. Beim Aufschauen fiel ihr Blick durch die offene Tür des Krankenzimmers, denn Slim versperrte ihr nun nicht mehr die Sicht. Jetzt glaubte sie mit einem Schlag eine Antwort auf ihre vielen Fragen gefunden zu haben. Zumindest ging ihr in bezug auf Mikes merkwürdiges Verhalten ein erstes Licht auf. "Ach!" machte sie erstaunt, fast sogar ein wenig verblüfft. "Das habe ich nicht gewußt. Sie hätten mir doch getrost sagen können, daß Mr. Harper krank ist."
Etwas überrascht folgte Slim ihrem Blick. An die offene Tür hatte er nicht mehr gedacht. Er hatte nicht gewollt, daß sie zu sehen bekam, was sie nun doch gesehen hatte. Aber jetzt war es geschehen, daß er nur noch das Beste daraus machen konnte.
"Krank?" Im ersten Augenblick wußte er nicht, was er sagen sollte. "Nun ja, so kann man es auch nennen."
"Etwas Ernstes?"
"Es ist leider mehr als das."
"Aber hoffentlich nichts Ansteckendes, wenn der Junge so nahe bei ihm ist. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber …"
"Keine Sorge, ich kann Sie beruhigen", fiel er ihr sofort ins Wort. "Es ist bestimmt nichts Ansteckendes."
"Sind Sie sich da wirklich sicher? Er sieht aus … als ob er hohes Fieber hätte … Ich möchte bestimmt nicht neugierig sein … aber was hat er denn? Doch nicht etwa einen Unfall?"
"Nein, kein Unfall." Eigentlich hatte Slim die feste Absicht, nicht weiter darauf einzugehen. Nach kurzem Zögern fuhr er jedoch fort. "Warum soll ich es Ihnen eigentlich nicht sagen? Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie es von mir erfahren, ehe Ihnen irgendwer ein sensationstriefendes Märchen erzählt."
"Mr. Sherman, was ist hier passiert?" forderte sie ihn mit Nachdruck auf. "Vielleicht beantworten Sie auf diese Weise meine vielen Fragen, die ich habe. Vielleicht erklärt das auch, warum Mike sich seit gestern so merkwürdig verhält."
"Merkwürdig?"
"Ja, anders als sonst. Ich möchte fast sagen, er wirkt völlig verstört. Ich habe das Gefühl, der Junge hat ein sehr großes Problem, vielleicht sogar Angst, mit der er nicht fertig wird. Ich kenne ihn so jedenfalls nicht, so verstockt und interesselos. Etwas scheint ihn sehr zu beschäftigen, etwas, über das er jedoch nicht reden will oder kann. Ich dachte, daß Mr. Harper vielleicht wüßte, was los ist. Deshalb wollte ich mit ihm sprechen. Hat womöglich seine Krankheit oder sein Zustand etwas mit Mikes Verhalten zu tun? Wenn nicht, was hat den Jungen dann so verändert? Was ist mit ihm los? Oder soll ich besser fragen, was ist mit Jess Harper?"
"Das werde ich Ihnen sagen, aber es wird keine angenehme Geschichte."
"Wenn ich ihn mir selbst nur von weitem so anschaue, erwarte ich auch nichts Angenehmes. Was ist geschehen?"
Slim holte tief Luft. Sekundenlang suchte er nach den passenden Worten. Schließlich erzählte er ihr, was vor zwei Tagen auf der Ranch vorgefallen war.
"Das ist ja furchtbar!" entfuhr es einer entsetzten Miss Finch am Ende seiner kurzen Schilderung. "Und Mike? Was ist mit dem Jungen?"
"Tja, das Schlimmste für ihn ist, daß er alles mit angesehen hat."
"Mein Gott! Aber das ist ja schrecklich!"
"Es ist mehr als das, Miss Finch. Es ist ein einziger zur Wirklichkeit gewordener Alptraum, der sogar beinahe mich um den Verstand bringt, wenn ich bloß anfange, über alles nachzudenken. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie es in mir aussieht, nachdem ich tatenlos mit ansehen mußte, wie man meinen besten Freund über den Haufen geschossen hat, aus reiner Mordgier zur Belustigung eines in meinen Augen Wahnsinnigen. Ich glaube jedoch nicht, daß irgendwer auch nur ahnen kann, was es für einen Jungen in Mikes Alter heißt, wenn er erleben muß, wie man den Menschen, der für ihn Vater und Mutter, großer Bruder und Freund zugleich ist, der ihm alles auf dieser Welt bedeutet, vor seinen Augen so zurichtet. Ich wage nicht daran zu denken, was geschieht, wenn Jess …" Er konnte nicht weitersprechen.
"Ist es denn so schlimm?" Offensichtlich war diese Nachricht so ungeheuerlich für Miss Finch, daß sie daran zu zweifeln begann, alles richtig verstanden zu haben.
"Schlimm? Das ist ein sehr mildes Wort, um die Lage hier zu beschreiben. Und was mit Mike seit der Zeit los ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen."
"Wäre es dann nicht besser, wenn Sie ihn nicht zu Mr. Harper ließen?"
"Wie könnte ich ihm verbieten, bei dem Menschen zu sein, an dem sein Herz hängt, den er über alles liebt auf dieser Welt? Soll ich es ihm tatsächlich verbieten nach dem, was er erleben mußte, was er mehr oder weniger unbeabsichtigt mitgekriegt und gehört hat?"
"Vielleicht gerade deshalb."
"Und wie sollte ich ihm dieses Verbot Ihrer Meinung nach erklären?"
Miss Finch sah ihn mit großen Augen an. Ratlos hob sie die Schultern. Auf diese Frage wußte sie auch keine Antwort.
"Ich meinte ja nur", sagte sie schließlich. "Ich kann mir eben nicht vorstellen, daß es für einen Jungen in Mikes Alter gut ist, wenn er mit ansehen muß, wie ein Mann gegen Fieber und Schmerzen zu kämpfen hat."
"Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Nur um das zu verhindern, ist es bereits zu spät. Ich weiß nicht, Miss Finch, ob Sie schon einmal gesehen haben, wie ein Schuß jemanden zu Fall bringt, wie eine vierundvierziger Gewehrkugel in den Körper eindringt und höllische Schmerzen verursacht, daß selbst ein Mann wie Jess Harper, der bestimmt hart im Nehmen ist, aufschreit, weil er sie nicht ertragen kann. Und wenn Sie sich jetzt noch vorstellen, daß Mike das alles mit eigenen Augen gesehen hat, verstehen Sie vielleicht, daß das, was er im Moment sieht, mehr als harmlos ist. Der Junge braucht gerade jetzt die Nähe dieses Menschen, allein schon deshalb, damit er sich nach diesem furchtbaren Erlebnis vergewissern kann, daß er noch atmet, noch lebt. Es bräche ihm das Herz, wenn ich ihm verbieten würde, bei ihm zu sein, solange es Jess' Zustand irgendwie zuläßt."
"Womöglich haben Sie recht, ich weiß es nicht." Miss Finch wich seinem Blick aus, starrte an ihm vorbei auf den schwerverwundeten Mann im Hintergrund, an dessen Lager Mike kniete, den Kopf an seine Wange drückte und seine kraftlose Hand hielt.
Miss Finch war erst seit gut einem Jahr im Westen, hatte in dieser Zeit schon viel gelernt und auch erlebt, welch rauhes Land es hier am Rande der Zivilisation war, daß, obwohl es schon wesentlich ruhiger zuging, seit auch hier Gesetz und Ordnung Einzug hielten, immer noch viel zuviel geschossen wurde und oftmals nackte Gewalt herrschte, wenngleich wenigstens in diesem Bezirk ein energischer Sheriff Cory mit seinen Leuten sein Mögliches tat und gegen jegliche Ausschreitungen streng vorging; aber der Arm des Gesetzes konnte nicht überall sein. Viel zu oft hatte sie schon gehört, daß die einsamen Farmen und Ranches von Halbstarken überfallen wurden, manchmal ohne einen einzigen Nickel Beute abzuwerfen, denn die Landbevölkerung war hier nicht reich. Eine Postkutsche zu plündern konnte da wesentlich ertragreicher sein und zudem ungefährlicher als eine Bank, denn in der Stadt wachte das Auge des Gesetzes. Manchmal wurde auch eine entlegene Poststation von einer Bande von Wegelagerern heimgesucht. Erst vor ein paar Wochen hatte man bei einem solchen Überfall einen Posthalter an der Strecke nach Cheyenne getötet.
Bei all diesen Verbrechen war jedoch die Habgier des Menschen der auslösende Faktor, was Miss Finch bis zu einem gewissen Grade verstehen, allerdings nicht billigen konnte. Was jedoch den Mann mit dem Namen Hal dazu veranlaßt hatte, auf Jess Harper zu schießen, konnte sie nicht begreifen. Aber selbst wenn, hätte sie sich kaum vorstellen können, was sowohl er als auch Mike durchstehen mußten. Aus unmittelbarer Nähe hatte sie jedenfalls noch nicht erlebt, wie ein Mensch niedergeschossen wurde. Sie legte auch keinen gesteigerten Wert darauf, diese Erfahrungslücke zu schließen.
"Ich kann nur versuchen, es mir vorzustellen, weil ich so etwas, dem Himmel sei Dank, noch nicht erleben mußte. Ich wünschte nur, Mike wäre diese Erfahrung ebenfalls erspart geblieben."
"Tja, Miss Finch, das wünschte ich auch, und nicht nur Mike, sondern uns allen, vor allem jedoch Jess. Wissen Sie, wie weh das tut, wenn man zusehen muß, wie sich ein nahestehender Mensch quält?"
"Bitte, hören Sie auf! So genau wollte ich es gar nicht wissen!" wehrte Miss Finch mit erhobenen Händen ab.
"Ich habe Ihnen das nur gesagt, weil ich annehme, daß er Ihnen nicht ganz gleichgültig ist. – Tut mir leid", entschuldigte er sich im gleichen Atemzug, als er sah, wie eine feine Röte über ihren hellen Teint flog und sie sich verlegen abwandte, "ich hätte nicht zu persönlich werden sollen, aber ich denke, als Jess' bester Freund durfte ich das sagen. Ich wollte Sie gewiß auch nicht erschrecken, aber vielleicht fällt es Ihnen so leichter, sich ein Bild von den Ausmaßen dieses ungebetenen Besuches vom Dienstagmorgen zu machen", lenkte er schnell von ihren eigenen Gefühlen ab, um sie nicht weiter in Verlegenheit zu bringen. "Noch beim Frühstück hat sich Mike wie jedes andere Kind auf den Zirkus gefreut, die albernen Narren, die Kunststücke der Gaukler und den ganzen Rummel darumherum. Nur wenig später hat für uns der Zirkus hier stattgefunden. Auf die Vorstellung hätten wir alle verzichten können."
Als Miss Finch ihre Lider wieder hob, war die verräterische Farbe in ihrem Gesicht verschwunden. Statt dessen tat sie, wie wenn es ihre Verlegenheitsgeste nicht gegeben hätte.
"Jetzt kann ich auch Mikes merkwürdige Reaktion verstehen, als ich ihn nach seinen Erlebnissen fragte. Um über den Vorfall hier nicht sprechen zu müssen, hat er einfach Desinteresse vorgetäuscht. Nun weiß ich, wie sehr ich ihn mit meiner Fragerei gequält habe. Mein Gott, wenn ich das geahnt hätte! Er sagte aber auch kein Sterbenswörtchen, sondern immer nur, er könne über das, worüber er nachdenken muß, nicht sprechen. Jetzt, nachdem ich das alles weiß von Ihnen, kann ich ihn begreifen."
"Machen Sie sich keine Vorwürfe, Miss Finch. Sie können bestimmt nichts dafür. Der Schock, den der Junge erlitten hat, ist einfach so groß, daß er darüber nicht sprechen kann. Ich hoffe, daß er irgendwann Gelegenheit bekommt, mit Jess darüber zu reden. Ich glaube, er ist der einzige, dem er sich anvertrauen kann. Vielleicht überwindet er dann dieses Trauma."
"Ich wünschte, ich hätte das alles schon viel früher gewußt", redete sie vor sich hin, als sie sich über ihre Mitschuld an Mikes fluchtartigem Verschwinden und seinem nicht gerade respektvollen Benehmen während der letzten zwei Tage bewußt geworden war.
"Sie haben sich bestimmt nichts vorzuwerfen. Sie können gewiß nicht das geringste für das, was hier vorgefallen ist."
"Nein, dafür nicht, aber für Mikes Benehmen. Jetzt kann ich verstehen, daß er gar nicht anders handeln konnte. Er mußte weglaufen. Ich hätte es an seiner Stelle auch getan."
"Er ist weggelaufen? Wieso denn das?"
Sie berichtete in kurzen Worten von dem, was in der Schule vorgefallen war, ohne daß sie dabei die geringste Spur von Groll empfunden hätte. Slim hingegen fand Mikes Benehmen zunächst nicht für zu entschuldigen.
"Schimpfen Sie nicht mit ihm, Mr. Sherman! Nicht jetzt! Er würde es nicht verstehen."
"Aber er weiß, daß man vor seinen Problemen nicht davonlaufen darf."
"Das hat er auch nicht getan. Oder denken Sie, daß er vor diesem Problem davonlaufen kann?"
"Ich fürchte, nein", mußte Slim zugeben, über die Schulter nach hinten blickend, auf Jess' Krankenlager, an dessen Seite Mike kniete und sich fest an ihn gedrückt hielt, als hätte er Angst, jemand könnte ihm diesen über alles geliebten Menschen für immer wegnehmen. Bei diesem Bild verflog der düstere Ausdruck in Slims ernstem Gesicht. "Ich wünschte, er könnte es. Dieses eine Mal wünschte ich es uns allen."
"Mr. Sherman, ich glaube, das beste wird sein, wenn ich Mike für die nächsten Tage vom Unterricht befreie, zumindest solange, bis es Mr. Harper wieder bessergeht." Slim holte schon Luft und wollte etwas einwenden, aber sie kam ihm zuvor. "Sagen Sie jetzt nicht, daß dies nicht nötig wäre. Es ist nötig, glauben Sie mir! Oder meinen Sie, daß es Sinn hat, Mike in einen Unterricht zu zwingen, auf den er sich aus verständlichen Gründen beim besten Willen nicht konzentrieren kann? Ich bin sicher, daß er den Lehrstoff sehr leicht nachholen wird, wenn er das alles erst einmal überstanden hat. Er mußte sich schon genug quälen."
"Wahrscheinlich haben Sie recht", nickte Slim nach langem Zögern. "Sie haben sehr viel Verständnis. Vielen Dank, daß Sie die Sache so sehen."
"Nun, ich bin davon überzeugt, Mike würde lieber freiwillig rund um die Uhr einen von keinem der Kinder besonders geliebten Schulunterricht besuchen, anstatt diese schrecklichen Bilder der Erinnerung ständig vor Augen zu haben und um das Leben seines Pflegevaters bangen zu müssen. Ich wünsche ihm, daß er bald wieder zum Unterricht erscheinen kann. Nicht, weil ich Angst habe, er könnte sonst zuviel versäumen, sondern weil ich von ganzem Herzen hoffe, daß Mr. Harper recht bald auf dem Weg der Besserung sein wird."
"Das hoffen wir alle, Miss Finch, nur fürchte ich, daß es bis dahin noch ein langer Weg ist. Ich wäre schon froh, wenn Jess erst einmal halbwegs überm Berg wäre, wenn endlich keine akute Gefahr mehr für sein Leben bestünde. Aber bis dahin …" Slim brach ab. "Entschuldigen Sie, ich möchte Sie mit meinen …" Er besann sich, um den angefangenen Satz zu korrigieren. "… mit unseren Problemen nicht weiter belästigen."
"Sie belästigen mich damit nicht, Mr. Sherman. Schließlich bin ich hergekommen, weil ich Mikes Geheimnis auf die Spur kommen wollte. Ich konnte nicht ahnen, daß mich hier so etwas erwartete. Jetzt bin ich doppelt froh, daß ich gekommen bin und Sie so offen zu mir waren. Ich gäbe wirklich etwas darum, wenn ich irgendwie helfen könnte."
"Vielen Dank, Miss Finch, aber Sie haben mehr geholfen, als Sie denken. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber es hat mir gutgetan, mit jemand Außenstehendem darüber zu reden. Wahrscheinlich geht es mir in der Beziehung ähnlich wie Mike. Ich danke Ihnen jedenfalls dafür, daß Sie sich den weiten Weg zu uns hier heraus gemacht haben. Ich bitte Sie nur, sprechen Sie nicht mit jedem über das, was hier vorgefallen ist. Ich möchte nicht, daß man sich darüber die Mäuler zerreißt. Wenn Mort Cory mit seinen Männern zurückkommt, wird es Getratsche genug geben."
"Keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas!" versprach sie. "Glauben Sie denn, daß der Sheriff diese Heckenschützen findet?"
"Nein, die hatten einen ziemlichen Vorsprung. Sie sind nach Norden in die Berge geflohen. Dort könnte sie sogar eine Meute mit Bluthunden nicht vor der Grenze aufspüren."
"Mir wird ganz anders zumute, wenn ich mir vorstelle, daß solche Menschen frei herumlaufen." Miss Finch lief bei dem Gedanken eine Gänsehaut über den Rücken, daß es sie sogar fröstelte. "Wenn Sheriff Cory sie schon nicht ausfindig machen kann, hoffe ich wenigstens, daß sie inzwischen weit von hier entfernt sind. Ich möchte ihnen jedenfalls nicht begegnen."
"Die Gefahr besteht wohl nicht. Ich würde Sie gern zur Stadt zurückbringen, aber solange es Jess nicht bessergeht, kann ich unmöglich hier weg. Wenn Sie wollen, können Sie auch auf die Abendkutsche warten. Es dauert allerdings noch gut zwei Stunden, bis sie kommt. Ich weiß nicht, ob Sie soviel Zeit haben", schlug er vor, während er sie zur Tür begleitete.
"Vielen Dank, aber das wird nicht notwendig sein. So ängstlich bin ich nun doch nicht."
Er brachte sie hinaus, obgleich er jeden der paar Schritte mit unverkennbarer Unruhe machte. Aber er wollte nicht unhöflich sein und ihr wenigstens auf den Wagen helfen.
"Sie haben ja mein Pferd mitgebracht", stellte er etwas verblüfft fest, als er den Fuchswallach hinter dem Wagen entdeckte.
"Ja." Miss Finch glättete ihr Kleid und nahm die Zügel auf. "Mr. Carron meinte, Sie ließen Ihre Pferde nicht gern in fremden Ställen stehen. Er hat mich gebeten, das andere Pferd mit zur Stadt zurückzunehmen, falls es nicht mehr gebraucht wird."
"Ich brauche es nicht mehr. Ich werde Mike rufen, damit er es holt."
"Lassen Sie den Jungen! Das mit dem Pferd eilt doch sicherlich nicht so."
"Nein, das tut es gewiß nicht. Es geht mir auch nicht so sehr um das Pferd als vielmehr um Mike. Ich glaube, er hat Ihnen nach allem etwas zu sagen. Vielleicht fühlt er sich etwas besser, nachdem er Gelegenheit hatte, sich wenigstens bei Ihnen zu entschuldigen."
Sie verabschiedeten sich, und er ging ins Haus zurück, um Mike zu rufen, der immer noch neben dem Bett auf den Knien lag, für seine Umwelt nahezu völlig blind und taub, daß Slim ihn erst mehrmals rufen mußte, ehe er endlich reagierte.
"Muß ich schon wieder gehen?" fragte er traurig und fürchtete, daß er schon wieder Abschied nehmen mußte, nachdem er gerade erst diese heimelige Geborgenheit in Jess' Nähe verspürt hatte.
"Du darfst ja wiederkommen", versprach Slim. "Aber Miss Finch ist draußen …" Er merkte, wie Mike erschrocken zusammenzuckte und sich seine Hand fester um die von Jess schloß, wie bei dem Mann Zuflucht suchend vor den Schwierigkeiten, die möglicherweise gleich auf ihn zukamen. "Keine Sorge! Ich habe das ausnahmsweise für dich in Ordnung gebracht. Aber es war wirklich nur ausnahmsweise, weil ich weiß, warum du das getan hast und du so etwas auch nicht wieder tun wirst."
"Ganz bestimmt nicht!" gelobte Mike, sah dabei aber nicht den Rancher an, sondern Jess. "Ich konnte nicht anders. Sie wird jetzt ganz bestimmt nicht zu Jess kommen, nicht wahr? Sie kann es ihm jetzt nicht sagen, nicht wahr? Das darf sie doch nicht!" jammerte er weinerlich, ohne einmal den Blick zu heben. "Jess würde sich furchtbar aufregen und dann … dann würde er … Slim, nicht wahr, du läßt sie jetzt nicht zu ihm?"
"Meinst du denn tatsächlich, daß ich, solange Jess so schwer krank ist, jemanden zu ihm lasse, der ihm auch nur unbeabsichtigt irgendwelchen Schaden zufügen könnte? Miss Finch wollte doch nur mit ihm sprechen, weil sie sich dein Verhalten nicht erklären konnte und nicht weil sie irgend jemandem wehtun wollte."
"Hat sie nun dir alles erzählt?" Sein schlechtes Gewissen stand hinter seinen Worten wie zehn fette Fragezeichen. Dann starrte er wieder Jess an, als spräche er jetzt nur noch mit ihm. "Ich wollte bestimmt nicht weglaufen. Das mußt du mir glauben! Ich wollte es nicht, aber ich konnte nicht anders. Hast … hast du ihr gesagt, warum ich es tun mußte?"
"Ja, sie weiß es. Ob du's glaubst oder nicht, aber sie hatte sogar Verständnis dafür."
"Hast du ihr denn auch gesagt, daß ich ihr einfach nicht erzählen konnte, was … was ich gesehen habe? Hast du ihr auch von … von Jess erzählt … was mit ihm geschehen ist?"
"Sie weiß alles. Sie hat es sehr bedauert, daß sie es nicht schon viel früher wußte. Sie hätte es sicherlich gern gesehen, wenn du es ihr selbst gesagt hättest, aber sie wollte versuchen zu verstehen, warum du es nicht getan hast."
"Ich muß erst mit Jess darüber sprechen. Vorher kann ich mit niemand sonst reden. Ich … ich kann einfach nicht!"
"Es zwingt dich niemand, es zu tun – auch nicht Miss Finch!"
"Was will sie dann noch hier?"
"Eigentlich nichts mehr, und sie wäre auch schon längst wieder nach Hause gefahren, aber sie hat mein Pferd aus der Stadt mitgebracht. Mr. Carron aus dem Mietstall wollte, daß sie das andere mit zurücknimmt. Deshalb möchte ich, daß du es holst und am Wagen anbindest. Es steht im Stall. Es ist die große Fuchsstute mit der Blesse und den drei weißen Beinen. Ich hätte es ihr selbst gebracht, aber du weißt, daß ich Jess jetzt nicht allein lassen kann."
"Und ich darf wirklich wieder zu ihm?"
"Ganz sicher! Aber bevor du hereinkommst – wasch erst wieder deine Hände!"
"Mach' ich!"
Mike hatte vollstes Verständnis dafür, daß Slim ihn schickte und nicht selbst gehen konnte. Irgendwie war er sogar ein wenig stolz, daß er ihn bei der Arbeit vertreten mußte, auch wenn ihm der Grund dafür diesen Stolz gleich wieder nehmen wollte. Außerdem konnte er nicht leugnen, daß es ihm unangenehm war, jetzt Miss Finch unter die Augen zu treten; aber als er Jess sah, fiel ihm ein, daß dieser noch viel unangenehmere Dinge ertragen mußte. Da erschien ihm die Konfrontation mit Miss Finch plötzlich als gar nicht mehr so schlimm.
Ehe er hinaus auf die Veranda trat, holte er tief Luft, als müßte er ins Wasser springen und untertauchen. Bewußt hielt er den Blick gesenkt, starrte nur vor sich auf den Boden, um nicht in Versuchung zu geraten, Miss Finch in die Augen zu sehen. Er hoffte fest, sie spräche ihn nicht an, wenn er so tat, als sähe er sie nicht. Er wollte einfach nicht mit ihr sprechen, schämte sich und legte keinen besonderen Wert darauf, sich mit ihr über den Grund seines Weglaufens zu unterhalten, auch jetzt nicht, nachdem Slim ihm versichert hatte, daß sie soviel Verständnis für alles zeigte. In großem Bogen ging er um den Wagen herum. Dabei merkte er, wie ihr erwartungsvoller Blick ihm folgte.
"Hallo, Mike!" rief sie ihm mit freundlicher Stimme zu.
"Guten Tag, Miss Finch", murmelte er und rannte zu Slims Pferd, das erschreckt den Kopf hochwarf, als er sich an der Leine, mit der es am Wagen angebunden war, zu schaffen machte.
Schon wollte er innerlich aufatmen, denn er hoffte, die Frau ließe es bei der Begrüßung bewenden und würde nichts mehr weiter mit ihm reden. Zwar wußte er, daß er sich bei ihr entschuldigen mußte – das verlangte ganz einfach sein schlechtes Gewissen von ihm –, aber er wußte nicht, wie er es anstellen sollte. Zu allem Unglück konnte er den Knoten nicht so schnell lösen, wie er gerne wollte, daß ihm vor lauter Verlegenheit sogar eine leichte Röte übers Gesicht flog.
"Mike, ich möchte …", fing Miss Finch an und wandte sich auf dem Wagen um. Da hatte er jedoch das Seil endlich entwirrt und rannte mit dem Pferd über den Hof. Diesmal lief er vor ihr, nicht vor seinen Problemen davon. "Mike!" rief sie ihm hinterher, aber er hörte nicht.
Verständnislos schüttelte sie den Kopf, stieg vom Wagen und eilte ihm nach. Im Halbdunkel des Stalls fand sie ihn in einer Box, mit Slims Pferd beschäftigt. Er gab sich alle Mühe, sie nicht zu beachten.
"Mike, warum läufst du denn vor mir weg?" fragte sie mit ruhiger Stimme von der Boxtür, wo sie ihm ungewollt den Ausgang versperrte. "Slim Sherman hat mir alles erzählt. Ich konnte doch nicht ahnen, was hier passiert ist. Mein Gott, wenn ich gewußt hätte …" Sie brach ab, weil sie nicht wußte, was sie sagen, wie sie sich ausdrücken sollte, ohne ihn zu verletzen oder ihm mit aller Gewalt die Erinnerung vor Augen zu treiben.
"Es … es tut mir leid, Miss Finch", platzte er heraus, ohne anscheinend ihre Worte wahrgenommen zu haben. Wenn doch, dann hatte er sie gewiß nicht verstanden. "Ich … ich wollte das nicht tun! Bestimmt nicht! Das müssen Sie mir glauben! Ich werde es auch ganz bestimmt nicht wieder tun. Aber … aber ich mußte doch nach Hause. Ich hatte solche Angst, daß Jess … daß er … Ich konnte es Ihnen nicht sagen. Ich mußte immerzu an ihn denken und an den Mann, der … der … Es war so schrecklich! Ich kann es einfach nicht vergessen! Jess muß vielleicht sterben, weil … weil … Er hat so schlimme Schmerzen … er hat geschrien … ich … ich habe es gehört … und überall das Blut … das viele Blut!"
"Bitte beruhige dich!" bat sie, kam auf ihn zu, um ihn an sich zu drücken. Zuerst reagierte er nicht darauf, starrte wie abwesend an ihr vorbei ins Leere. "Es ist doch vorbei."
Augenblicklich schien Mike aus dem Alp zu erwachen. Er hatte zwar nicht geweint, aber seine Augen brannten, als hätte ihm jemand Seife hineingerieben.
"Sind … sind Sie mir noch sehr böse?"
"Aber nein, Mike!" Sie fuhr ihm lächelnd durch seinen Blondschopf. "Weißt du, eigentlich muß ich mich auch bei dir entschuldigen. Ja, du hast richtig gehört. Denn sieh mal, ich habe dich einfach für etwas bestraft, wofür ich keine Erklärung finden konnte. Wahrscheinlich kannst du das im Moment nicht verstehen. Aber das macht nichts. Hauptsache ist, daß wir uns wieder einig sind. Das sind wir doch, oder?"
Mike zögerte einen Augenblick, ehe er heftig nickte und ihre Hand drückte, die sie ihm zur Versöhnung entgegenstreckte. Er verstand nicht, weshalb sie sich bei ihm entschuldigte. Es war ihm schon oft schwergefallen, die Erwachsenen und ihre manchmal sonderbare Logik zu verstehen; deshalb machte er sich auch diesmal nichts daraus. Sie sagte ihm noch, daß sie ihm freigegeben hatte, bis es Jess wieder besser ging, aber seine Begeisterung darüber hielt sich in sehr engen Grenzen.
"Ich würde nichts lieber tun, als ab sofort von morgens bis abends zur Schule zu gehen, wenn dafür Jess auf der Stelle gesund werden würde", sagte er traurig. "Es geht ihm so schlecht. Keiner will mir das sagen, aber ich weiß es." Er verließ die Box, um das andere Pferd zu holen. "Ich glaube, er wird sterben", murmelte er vor sich hin. "Miss Finch, wie ist es, wenn man stirbt?" fragte er plötzlich und sah sie ernst an.
"Du fragst vielleicht Sachen!" rief sie fast ein wenig entsetzt.
"Sagen Sie doch, wie ist es, wenn man tot ist?" blieb er hartnäckig. Sie als Lehrerin mußte das schließlich wissen. "Hat man dann auch Schmerzen?"
Sie holte tief Luft, wußte im ersten Augenblick nicht, was sie sagen sollte. Sehr schnell merkte sie jedoch, daß er sich ohne Antwort von ihr nicht zufriedengäbe. Sie selbst hatte sich über dieses Problem allerdings nie ernsthafte Gedanken gemacht. Wie sollte sie es dann einem zehnjährigen Jungen erklären, der den Tod schon aus so unmittelbarer Nähe erlebt hatte?
"Nun, ich denke, daß man dann gar nichts mehr spürt. Man hört einfach auf zu leben. Man atmet nicht mehr. Das Herz hört auf zu schlagen. Um einen herum wird es dunkel und leer, wie wenn man einschläft. So stelle ich mir das vor. Ob es tatsächlich so ist, weiß ich nicht. Aber darüber solltest du dir wirklich nicht den Kopf zerbrechen."
"Ich habe vorhin Jess' Herz schlagen hören", erklärte Mike, ohne sich an ihrem Rat zu stören. "Es hat ganz laut und gleichmäßig geklopft. Ob das ein gutes Zeichen war?"
"Ganz sicher, Mike", versicherte Miss Finch und versuchte, soviel Zuversicht wie möglich in ihre Worte zu legen. "Wenn ein Herz kräftig schlägt, ist es auch gesund. Mit jedem Schlag pumpt es das Blut in die Adern, hält den Kreislauf aufrecht, läßt das Leben zirkulieren. Du wirst sehen, bald geht es Jess wieder besser. Bis dahin freue dich lieber über jeden Augenblick, in dem du erkennen kannst, daß er noch lebt. Dann wirst du schnell deine düsteren Gedanken vergessen haben."
"Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich muß immer wieder daran denken, wie es passiert ist. Ich würde es so gern einfach vergessen, aber ich kann nicht. Wenn ich doch nur endlich einmal mit Jess darüber sprechen könnte. Aber er ist immerzu so still. Ich habe so schreckliche Angst, daß er nicht mehr aufwacht."
"Mike, du solltest nicht mehr grübeln. Du wirst sehen, in ein paar Tagen sieht die Welt ganz anders aus."
"Ich wünschte, es wäre schon in ein paar Tagen." Mit hängenden Schultern schlurfte er neben ihr her, beobachtete dabei abwesend die Sandfontänen, die vor seinen Stiefelspitzen in die Höhe stoben. "Hoffentlich lebt Jess bis dahin noch."
"Wahrscheinlich wird er in ein paar Tagen fürchterlich mit dir schimpfen, weil du so mißmutig warst und dir so viele schlimme Gedanken gemacht hast." Mike erwiderte nichts darauf. Schweigend gingen sie bis zum Wagen, wo er das Pferd festband. "Versprichst du mir etwas zum Abschied?" Er nickte kaum merklich, preßte die Lippen aufeinander, als müßte er sich dieses Nicken unter Aufwendung seiner ganzen Kraft abringen. "Bitte hör auf, dir so schreckliche Sorgen zu machen und so große Angst zu haben! Es wird alles wieder gut, das weiß ich. Solange ein Funken Hoffnung besteht, solltest du diese Hoffnung nicht aufgeben, egal, was noch geschieht. Wenn du ganz fest daran glaubst, dann wird auch alles wieder gut werden", wiederholte sie, weil sie das Gefühl hatte, sie könnte es ihm nicht oft genug sagen. "Versprichst du mir das, mein Junge?" Er überlegte lange, ehe er endlich stumm nickte, dabei aber ihrem Blick auswich. "Ganz bestimmt?"
"Ganz bestimmt!" versprach er mit rauher Stimme, kreuzte jedoch die Finger hinter seinem Rücken, weil er wußte, daß er dieses Versprechen beim besten Willen nicht halten konnte. "Miss Finch!" rief er ihr nach, als sie nach vorn zum Wagen ging. Erwartungsvoll wandte sie sich um. Sie wußte nicht genau, was sie jetzt am liebsten von ihm gehört hätte, aber mit dem, was er ihr nun sagte, rechnete sie nicht. "Dafür, daß Sie eine Lehrerin sind, sind Sie sehr nett", gestand er und meinte es wirklich ernst.
"Vielen Dank, Mike!" Mit einem warmen Lächeln auf ihrem gepflegten Gesicht streichelte sie seine Wange. "Das ist eines der schönsten Komplimente, die ein Schüler seiner Lehrerin machen kann. Ich bin wirklich froh, daß wir uns wieder so gut verstehen."
Auf einmal war er so verlegen, daß er gar nicht wußte, ob er darauf etwas sagen sollte. Wie ein richtiger kleiner Kavalier half er ihr auf den Wagen und drückte zum Abschied etwas scheu ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
"Auf Wiedersehen, mein Junge, und vergiß dein Versprechen nicht!" erinnerte sie.
"Ganz bestimmt nicht!" beteuerte er und trat zur Seite, damit sie den Wagen wenden konnte. "Auf Wiedersehen, Miss Finch!"
Eine Weile blickte Mike ihr nach, sehr nachdenklich für einen Zehnjährigen, ernsthaft mit dem Inhalt ihres Gespräches und diesem Versprechen beschäftigt, das er ihr gegeben hatte. Er hätte es wirklich gern gehalten, aber als er sich langsam umdrehte und zum Haus zurückkehrte, mußte er dieses Versprechen genau in dem Augenblick brechen, als er am Vordachpfosten des Verandaaufgangs vorbeikam.
Sein Blick fiel ungewollt auf die dunklen Flecken, die Jess' Blut auf dem verwitterten Lack und von der Sonne ausgeblichenen Holz hinterlassen hatte, dann auf das glaslose Fenster neben der Tür. Er hörte den Schuß, das Klirren des Glases. Plötzlich war da wieder dieser Schrei, den er einfach nicht vergessen konnte, auch wenn er Miss Finch tausendmal versprochen hätte, nicht mehr daran zu denken. Er könnte das alles noch nicht einmal vergessen, wenn er Jess dieses Versprechen gegeben hätte. Er würde es nie in seinem Leben vergessen!
"Warum hat der Mann das nur getan?" stieß er plötzlich hervor. Ein Weinkrampf ließ ihn heftig erzittern. "Warum hat er das getan? Warum nur? Warum?"
Niemand hatte ihm bisher auf diese Frage eine Antwort geben können, die er akzeptieren wollte. Er konnte einfach nicht verstehen, nicht begreifen, daß ein Mensch Freude dabei empfand, wenn er einem anderen Schmerzen zufügte; daß man ohne Grund einen anderen zu töten versuchte, nur weil es einem eben Spaß machte zu sehen, was geschah, wenn eine Kugel jemanden zu Fall brachte; daß dieser Jemand ausgerechnet Jess Harper sein mußte, den er so heiß und innig liebte und verehrte, der ihm alles bedeutete auf dieser Welt.
Das ganze Geschehen war so sinnlos. Mike konnte schon kein Verständnis für jemanden aufbringen, der ein Tier quälte oder ohne Grund tötete. Aber daß es sogar Menschen gab, die andere Menschen ebenso grundlos quälen und töten wollten, war für ihn unbegreiflich.
Mike wußte, daß sich Jess Harper im Laufe seines Lebens eine Menge Feinde gemacht hatte. Überall in der Gegend galt er als sehr schneller und guter Schütze. Der Ruf eines treffsicheren Draufgängers hing ihm noch aus seiner Vergangenheit an, als er kaum einem Kampf aus dem Weg gegangen war, auch wenn seine Hauptbeschäftigung damals darin bestand, ruhelos von Ranch zu Ranch zu ziehen und sich mit Pferdezureiten und Rindertreiben seinen mehr als kargen Lebensunterhalt zu verdienen.
Allerdings war er auch in jener Zeit nie das gewesen, was man als einen Revolvermann im negativen Sinne hätte bezeichnen können. Auch damals hatte er nur zur Waffe gegriffen, wenn er gezwungen wurde und es keinen anderen Ausweg gab. Jedoch war er nie abgeneigt gewesen zu beweisen, daß er sein Schießeisen blitzschnell ziehen und seinen Schuß sicher ins Ziel bringen konnte, wenn es darauf ankam. Natürlich hatte ihm das trotz der Fairneß, mit der er seine Auseinandersetzungen zu regeln wußte, manchen Ärger mit dem Gesetz eingebracht.
Als er dann auf der Sherman-Ranch seßhaft geworden war, hatte er es nicht leicht, von dem Vorurteil loszukommen, ein wilder Texaner zu sein, dessen Revolver weit über die Grenzen des Territoriums hinaus gefürchtet war, auch wenn er oder vielleicht gerade weil er von da an seinen Ruf für treffsichere Zuverlässigkeit ausschließlich in die Dienste des Gesetzes und der Postkutschenlinie stellte, die um einen solchen Mann heilfroh war, wenn es um die Sicherheit ihrer Kutschen und deren Inhalt ging. Sheriff Cory sah es auch heute noch gern, wenn er ihn dazu überreden konnte, einen seiner Suchtrupps zu begleiten. Jess war ein guter Fährtenleser und außerdem ein Mann, auf den er sich in allen Situationen vollkommen verlassen konnte – und eben immer noch einer der besten Schützen weit und breit.
Seit er jedoch Mikes Vormundschaft übernommen hatte, riß sich Jess um diese kleinen Abwechslungen, wie er früher immer zu sagen pflegte, nicht mehr besonders. Er wußte, daß er bei einer Auseinandersetzung, egal, ob sie im Namen des Gesetzes stattfand oder nicht, genausogut den kürzeren ziehen konnte. Früher hatte er sich darüber nie großartige Gedanken gemacht, aber heute hatte er die Verantwortung für einen zehnjährigen Jungen, der ihm mehr am Herzen lag, als irgendwelche Strauchdiebe aufzuspüren. Zudem fehlte ihm für solche abenteuerlichen Unternehmungen meistens die Zeit.
Mike war zwar immer sehr stolz, wenn Jess dem Sheriff bei seiner Arbeit half; aber wahrscheinlich sah er gerade wegen dieses Stolzes nicht immer die Gefahr, die damit verbunden war. Ein paarmal hatte der Junge schon mitgekriegt, daß hin und wieder dunkle Schatten in Form von zwielichtigen Gestalten aus Jess' Vergangenheit aufgetaucht waren, weil sie dachten, eine alte Rechnung aus jenen Tagen begleichen zu müssen. Obwohl Jess an den Auseinandersetzungen, die diese Männer provozieren wollten, nicht im geringsten interessiert war, konnte er sie nicht immer verhindern. In letzter Zeit war dies allerdings seltener vorgekommen, worüber er gewiß nicht unglücklich war, nicht zuletzt deshalb, weil er anscheinend endlich aus dem Alter heraus war, in dem er annahm, ohne Waffe ginge es nicht.
Sein Freund und vor allem Daisy Cooper hatten diese grundlegende Änderung seiner Einstellung sehr begrüßt, zumal sie der festen Ansicht waren, sein bisheriges Leben könnte auch einen schlechten Einfluß auf Mike haben. Deshalb hatte dieser nun seltener Gelegenheit, von irgendwelchen Bravourstücken bei seinen Schulkameraden zu berichten, die Jess Harper im Dienste des Gesetzes hinter sich brachte. Sein Leben war auch ohne diese Abenteuer gefährlich genug; aber das ließ sich bei seiner gewiß nicht leichten Arbeit als Cowboy und Rancher nicht vermeiden.
Nachdenklich scharrte Mike im Sand, als diese Bilder der Erinnerung an ihm vorbeizogen. Er wußte, daß es eine ganze Menge Leute gab, die nicht gut auf seinen Pflegevater zu sprechen waren. Ebenso konnte er sich vorstellen, jemanden dermaßen hassen zu können, daß man bereit war, ihn dafür zu töten.
Aber was nur um alles in der Welt hatte den Mann mit dem Namen Hal dazu veranlaßt, auf Jess zu schießen? Er hatte doch nicht einmal seinen Namen gekannt, war ihm offensichtlich nie im Leben begegnet, hatte ihn nie gesehen, nie etwas mit ihm zu tun gehabt, weder irgendwann in der Vergangenheit – das nahm Mike jedenfalls an – noch sonst wann, weder im guten noch im bösen. Er hatte einfach nur geschossen, hatte im Hinterhalt auf Jess gelauert, um garantiert leichtes Spiel zu haben und sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Jess hatte keine Chance gehabt, sich zu verteidigen. Wäre er unbewaffnet gewesen, hätte er nicht wehrloser sein können. Das schien jedoch genau der Punkt zu sein, der dem heimtückischen Hal diebisches Vergnügen bereitete, mit dem er den Finger am Abzug krümmte. Als er seine Kugel ins Ziel brachte, lag ein gehässiges Grinsen auf seinem Gesicht, ein Grinsen, wie es nur jemand zustande bringen konnte, der Spaß am sinnlosen Zerstören hatte, ein Grinsen, das Mike sich vor Erschaudern schütteln ließ.
Es dauerte eine Weile, bis er sich einigermaßen gefaßt hatte, jedoch nicht etwa, weil er sich endlich damit abfand, daß geschehen war, was seine Welt so grundlegend mit einem Schlag veränderte, sondern weil er plötzlich daran dachte, was Miss Finch zu ihm gesagt hatte: "Freue dich lieber über jeden Augenblick, in dem du erkennen kannst, daß Jess noch lebt."
Von Slim hatte er sogar die Erlaubnis erhalten, ihn heute noch einmal zu sehen, bei ihm zu sein, seine Hand zu halten, seine Nähe zu spüren, einfach nur zu sehen, daß er noch lebte.
Vielleicht war dies die letzte Gelegenheit, ehe er doch noch gezwungen wurde, Abschied für immer zu nehmen. Bei diesem Gedanken sprang er erschrocken auf und rannte ins Haus zurück. In der Küche wusch er sich sorgfältig die Hände. Darin sah er zwar nach wie vor keinen rechten Sinn, aber da Daisy und Slim ausdrücklich darauf bestanden, fürchtete er, Jess damit zu schaden, wenn er mit ungewaschenen Händen, mit denen er im Stall gewirtschaftet hatte, zu ihm kam.
Als er das Wasser abschüttelte und nach dem Handtuch griff, mußte er urplötzlich wieder an die zwei Männer denken, an ihr ungepflegtes Äußeres, die verschwitzte und staubige Kleidung. Wieso er ausgerechnet jetzt an diese Nebensächlichkeit dachte, die ihn bisher in keiner Weise beschäftigt hatte, hätte er nicht zu erklären vermocht.
Mit einem Mal ekelte er sich vor ihnen, besonders vor dem mit dem Namen Hal, denn an dessen Händen klebte schließlich Jess' Blut. Mike mußte sich schütteln, als er sich das vorstellte, die Hände, die die Winchester hielten, den Zeigefinger, der den Abzug durchzog.
"Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!" stieß er hervor und zog eine fürchterliche Grimasse.
"Was redest du denn da mit dir selbst?" wollte Slim wissen, der in die Küche kam, um frisches Wasser für die kalten Umschläge zu holen.
"Ich habe gesagt, ich hasse ihn. Ich glaube, ich hasse ihn ganz fürchterlich!"
"Von wem redest du denn?" vergewisserte sich der Rancher, obgleich er genau wußte, wen er meinte. Er wollte ihm jedoch helfen, es loszuwerden, indem er ihn zwang, mit ihm darüber zu sprechen.
"Von diesem Hal! Er ist gemein! Er ist böse! Er hat Jess so furchtbar wehgetan. Dafür hasse ich ihn!"
"Das solltest du nicht tun", versuchte Slim, ihm das auszureden. "Es ist nicht gut, wenn man jemanden haßt. Haß zerstört immer denjenigen zuerst, der ihn empfindet. Egal, was dieser Hal getan hat – er ist es nicht wert, daß ein Junge wie du oder irgend jemand anders sich in einen Haß hineinsteigert, der ihn vielleicht zugrunde richtet."
"Ich hasse ihn trotzdem!" beharrte Mike, ohne den Sinn von Slims Worten verstanden zu haben. "Du etwa nicht?"
"Ich bemühe mich, es nicht zu tun. Ich verachte ihn und wünsche mir, daß er seine gerechte Strafe erhält für das, was er getan hat, was er uns und vor allem Jess und dir angetan hat. Aber ich kann ihn deshalb nicht hassen. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden gehaßt und werde es auch niemals können, selbst einen so gemeinen Menschen wie diesen Hal nicht. Ich werde jedoch auch kein Mitleid empfinden, wenn ihn endlich jemand zur Strecke bringt, egal wie."
"Aber Jess wird ihn ganz bestimmt hassen."
"Meinst du wirklich? Hast du schon jemals erlebt, daß Jess so etwas wie Haß für jemanden empfunden hat? Ganz sicher nicht, auch wenn ihm jemand noch so sehr zusetzte. Haß ist etwas ganz Schlimmes, mein Junge, etwas, das nur böse Menschen empfinden können. Wenn anständige Menschen davon heimgesucht werden, werden sie verbittert. Der Haß zehrt das Gute in ihnen auf, bis auch sie böse sind."
"Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht", sinnierte Mike und fand schließlich, daß etwas Wahres daran sein könnte, obwohl er den Sinn seiner Worte nicht ganz begriff. Aber in einem Punkt hatte Slim recht: er konnte sich nicht erinnern, daß so etwas wie "Ich hasse ihn!" jemals über Jess' Lippen gekommen war, weder bewußt noch unbewußt.
"Das solltest du aber." Slim lächelte ihn zuversichtlich an und versetzte ihm einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. "Was ist eigentlich mit Miss Finch?" wechselte er das Thema. "Konntest du mit ihr reden?"
"Ein bißchen."
"Das klingt aber nicht nach sehr viel."
"Na ja, ich habe mich bei ihr entschuldigt", berichtete Mike, nicht ohne Stolz. "Sie ist mir gar nicht mehr böse. Wir haben beschlossen, wieder gut miteinander zu sein. Weißt du was, Slim? Dafür, daß sie bloß eine Lehrerin ist, ist sie sehr nett."
"Hast du ihr das auch gesagt?"
"Ja, und darüber hat sie sich mächtig gefreut. Sie hat sich auch bei mir entschuldigt, aber ich weiß eigentlich gar nicht so genau, warum sie das getan hat."
"Hast du sie denn nicht nach dem Grund gefragt?"
"Ich habe es nicht verstanden. Dazu bin ich wohl noch zu klein. Ich glaube, manche Dinge versteht man erst, wenn man erwachsen ist. Das muß so etwas gewesen sein."
"So klein bist du doch gar nicht mehr, und ich nehme schon an, daß du es verstehen wirst, wenn du dir Mühe gibst."
"Vielleicht." Mike nagte an seiner Lippe. "Aber ich kann jetzt nicht soviel darüber nachdenken. Ich möchte jetzt lieber an Jess denken und an den lieben Gott, damit er ihm hilft. Meinst du, das nützt etwas?"
Slim verzog das Gesicht zu einem Lächeln, obwohl ihm im Grunde nicht danach zumute war. Aber er wollte dem Jungen nicht seinen Glauben nehmen. Vielleicht half es ihm selbst etwas, wenn auch er ein wenig von diesem Glauben überzeugt war.
"Bestimmt, du wirst sehen."
"Darf ich wieder zu ihm?"
"Das habe ich dir doch versprochen. Komm jetzt, wir wollen Jess nicht solange allein lassen."
Fortsetzung folgt
