KAPITEL 10

Am nächsten Tag nach dem Essen machte sich Slim daran, die neue Fensterscheibe, die mit der Mittagspost aus Laramie gekommen war, in den leeren Rahmen zu setzen. Jetzt erinnerte wenigstens das glaslose Fenster nicht mehr an den Zwischenfall, der vor einer Woche ihrer aller Leben so verändert hatte.

Er räumte das Werkzeug weg und ging sich in der Küche die Hände waschen. Gerade griff er nach dem Handtuch, als Daisy ihn mit verhaltener Stimme rief.

"Was gibt's?" fragte er, nichts Gutes ahnend.

"Bitte kommen Sie schnell! Jess … Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Er ist sehr unruhig. Vielleicht kommt er zu sich und braucht Sie."

Slim beachtete sie nicht weiter, hastete mit großen Schritten durchs Wohnzimmer und war im Nu bei seinem Freund, der zunehmend unruhiger wurde und wirklich zur Besinnung zu kommen schien. Sein Stöhnen wurde lauter. Immer wieder warf er den Kopf von einer Seite zur anderen oder vergrub sein schmerzverzerrtes Gesicht im Kissen, daß es Slim fast so vorkam, als wände er sich unter einer unerträglichen Last, die ihn zu erdrücken drohte.

Tatsächlich hatte Jess das Gefühl, unter einer Steinhalde zu liegen und das ungeheure Gewicht preßte ihm die letzte Luft aus den Lungen. Wütende Schmerzen drangen deutlicher in sein erwachendes Bewußtsein. Mit jedem Atemzug wurden Stechen und Brennen in seiner Brust schlimmer. Ein wahrer Feuersturm fegte über ihn hinweg, ohne daß er gewußt hätte, wo und was überhaupt die Ursache dafür sein könnte. Das Atmen fiel ihm schwer, bereitete ihm entsetzliche Schmerzen.

Er schlug die Augen auf; zumindest bildete er sich das ein, aber alles blieb dunkel. Erst nach mehrmaligem Blinzeln durchdrang endlich ein schwacher Lichtschein den dichten Nebel, der ihn einhüllte und nur langsam seine Sinne von außerhalb Reize empfangen ließ. Allmählich nahm der Schatten über ihm schärfere Konturen an.

"Slim?" fragte er unsicher und kaum vernehmbar, während seine Hand ins Leere tastete.

"Ich bin hier, Jess", versicherte Slim, ergriff seine schlaff auf die Bettdecke fallende Hand und drückte sie fest. "Bleib nur ganz ruhig!"

Heftige Schmerzen trieben Jess die Tränen in die Augen, ließen sein hager gewordenes Gesicht zu einer verzerrten Maske werden, auf dem in dicken Perlen der Schweiß stand und über seine zerfurchten Züge rann.

"Was … was ist los mit mir?" keuchte er mit gebrochener Stimme so leise, daß ihn Slim kaum verstehen konnte. "Ich … ich kann nicht … atmen." Jess versuchte, den Kopf zu heben, mußte allerdings feststellen, daß er selbst dazu nicht imstande war. "Warum tut das nur so weh?" Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was mit ihm geschehen war.

"Bleib ruhig liegen!" mahnte der Freund. "Du darfst dich nicht bewegen und machst alles nur schlimmer, wenn du nicht still liegst."

"Was … was ist passiert?"

Slim wollte es ihm zunächst nicht sagen und wich seinem verständnislosen Blick aus. Daß Jess von dem ganzen Vorfall nicht die geringste Ahnung zu haben schien, ja, sich offensichtlich nicht erinnern konnte, daß überhaupt etwas geschehen war, hätte ihm den Weg für jede x-beliebige Geschichte freimachen können. Vielleicht hätte er einen anderen belügen können, jedoch nicht diesen Mann, der ihm zugetan war wie ein Bruder, mit dem er die letzten acht Jahre seines Lebens in aufrichtiger Freundschaft teilte. Schließlich mußte er nicht bis ins kleinste Detail gehen. Genausowenig konnte ihn jemand dazu zwingen, eine Lüge zu erfinden, die womöglich einiges zerstörte, was ihm und auch Jess in diesen acht Jahren so wichtig gewesen war: Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, selbst wenn es im einen oder anderen Fall schwerfiel.

"Sag doch!" drängte Jess, als der Rancher immer noch zögerte. "Was ist … geschehen?"

"Jemand … jemand hat auf dich geschossen."

"Geschossen? Aber warum denn? Und wer?" wollte er es genauer wissen, weil er seinem fiebergeplagten Gehirn nicht die leiseste Erklärung für das alles entlocken konnte.

"Das sind zwei berechtigte Fragen, auf die ich selbst gern eine Antwort wüßte."

Aus reiner Verlegenheit klang Slims Erwiderung sehr hölzern, womit er den Freund anscheinend nur noch mehr verwirrte.

"Slim, ich …" Jess schluckte ein Stöhnen hinunter. Das Feuer flammte erneut in seinem Körper auf, ließ ihm beinahe wieder die Sinne schwinden. "Ich verstehe nicht."

"Das ist auch nicht zu verstehen." Slim machte eine hilflose Geste. "Der, der es getan hat, hatte keinen Grund. Er hat es einfach nur getan. Du solltest dir jetzt nicht zuviel den Kopf über Dinge zerbrechen, für die es im Moment keine Erklärung gibt. Du bist viel zu krank, um jetzt darüber zu sprechen."

"Hat … hat mich ganz schön erwischt, was?"

"Mach dir keine Sorgen! Das wird schon wieder", versuchte Slim so harmlos wie möglich zu klingen, wich jedoch seinem fragenden Blick aus. Betreten senkte er den Kopf und begann, an seiner Unterlippe zu nagen, ehe er kaum merklich nickte; er konnte den Freund nicht belügen. "Ziemlich", brachte er dann etwas einsilbig hervor, womit er sich selbst widerlegte.

"Ich werde sterben, nicht wahr?"

"Unsinn!" fuhr der Rancher energisch auf. An der Heftigkeit seiner Reaktion erkannte Jess, wie es in Wirklichkeit um ihn stand. "Ganz so schlimm ist es nicht!" Slim versuchte ein verharmlosendes Grinsen; aber seine Augen verrieten ihn.

"Du … du hast schon besser gelogen."

Jess verzog das eingefallene Gesicht und schluckte ein weiteres Stöhnen hinunter. Um ein Haar hätten ihn die Schmerzen zum Schreien gebracht. Statt dessen hielt er die Luft an. Für einen Moment war er von dem heftigen Stechen und Brennen wie betäubt. Obwohl ihn das Sprechen sehr anstrengte, versuchte er sich damit von dem Chaos in seiner Brust abzulenken, indem er seine Gedanken mühevoll auf das konzentrierte, was er sagen wollte. Trotzdem mußte er nach fast jedem zweiten oder dritten Wort immer längere Pausen machen. Seine gebrochene Stimme klang so leise, daß Slim Mühe hatte, ihn zu verstehen.

"Ich weiß zwar nicht, wo … wo genau es mich erwischt hat. Das … das will ich jetzt gar nicht wissen. Aber daß das kein … harmloser Kratzer ist, weiß ich."

"Das ist es wirklich nicht!" Slim konnte nicht verbergen, wie unbehaglich ihm dieses Thema war. Deshalb lenkte er fast übereifrig ein. "Jess, bitte, wir reden ein andermal darüber."

"Ein andermal? Hab' ich ein andermal … denn noch Zeit?"

Darauf konnte Slim nichts erwidern, versuchte statt dessen auszuweichen.

"Das beste ist, du versuchst zu schlafen. Das wird dir guttun und im Augenblick am meisten helfen."

"Vielleicht hast du … recht", ließ es Jess erstaunlich rasch dabei bewenden. Obendrein wußte er bald nicht mehr, wie er es noch länger aushalten sollte vor Schmerzen. "… wenn ich … wenn ich es nur … könnte …"

Slim, der seine Qualen nicht mehr mit ansehen konnte, dachte an die Flasche mit dem Morphium auf dem Nachttisch.

"Doc Higgins hat etwas für dich dagelassen. Ich werde dir davon geben. Dann kannst du schlafen."

Während er das sagte, füllte er die Schnabeltasse mit Wasser und träufelte ein paar Tropfen aus der braunen Arzneiflasche hinein. Mißtrauisch folgte Jess' Blick seinen Bewegungen.

"Was … was ist das?"

"Ein ziemlich starkes Schmerzmittel. Komm, ich helfe dir."

Slim schob ihm den Arm unter den Kopf, damit er es beim Trinken leichter hatte. Endlich war die Tasse leer. Allerdings hatte Jess kaum noch Kraft, die Augen offenzuhalten, so sehr hatte ihn das Schlucken angestrengt.

"Verdammt, tut das weh!" stöhnte er, schrie unversehens auf, klammerte sich mit unvermuteter Kraft an den Freund und biß verzweifelt die Zähne zusammen, weil er sich nicht mehr zu helfen wußte. "Bitte hilf mir!" flehte er wie jemand, der wußte, daß ihm niemand helfen konnte. "Slim!" schrie er mit heiserer Stimme.

Ein furchtbarer Hustenanfall überfiel ihn, erstickte ihn beinahe. Danach sank er erschöpft in Slims Armen zusammen. Die Schmerzen wurden mit einem Mal unerträglich, daß sie ihm die Besinnung raubten, noch ehe das Morphium anfing zu wirken.

Keiner Worte mehr fähig, drückte Slim den Freund an sich, hielt ihn selbst dann noch fest, als er schon längst bewußtlos, sein Körper schlaff und leblos geworden war. Schließlich bettete er ihn vorsichtig in die Kissen und zog die Decke über ihm zurecht.

Für den Rest des Tages regte sich Jess nicht mehr. Der kurze Wortwechsel und sein verbissener Versuch, gegen die Schmerzen anzukämpfen, hatten ihn zu sehr angestrengt. Selbst in der Nacht blieb er relativ ruhig, daß sogar Slim für ein paar Stunden Schlaf fand. So merkte er nicht, daß Jess gegen Morgen zunehmend unruhiger wurde. Offensichtlich quälte ihn ein schwerer Traum, der sein fieberumnachtetes Gehirn in Aufruhr brachte.

Schweißgebadet fuhr er in die Höhe. Irgend etwas schien seine Brust zu zerreißen. Aus milchigweißem Nebel tauchte ein Schatten auf, der auf ihn zukam und um die Schultern packte. Verzweifelt versuchte er, sich zu befreien.

"Geh weg!" keuchte er und wollte sich losreißen. "Laß mich! Verschwinde!"

"Jess!" rief Slim ihn an, aber dieser reagierte nicht darauf, sondern schlug wild um sich und wollte ihn mit erstaunlicher Kraft von sich schieben. "Jess! Um Gottes willen! Beruhige dich! Ich bin's – Slim." Er griff nach seiner verkrampften Rechten, mit der er ungezielte Schläge austeilte. "Jess!" wiederholte der Freund, schüttelte ihn sanft und drückte seine Hand fester, wobei er sich weiter über ihn beugte. "Keiner wird dir etwas tun. Es ist alles in Ordnung. Sei ganz ruhig!"

Jess konnte seine Worte nicht verstehen. Wirklichkeit und Traum verschwammen ineinander. In panischer Angst versuchte er, sich weiter zur Wehr zu setzen.

"Nein!" stieß er mühsam hervor wie jemand, der etwas Schreckliches auf sich zukommen sah und es nicht aufhalten konnte. "Bitte nicht!" wimmerte er. "Nein!" schrie er dann, als sein Traumgespenst einen schwarzen Mantel über ihn warf.

"Jess, komm zu dir!" rief Slim ihn mit eindringlicher Stimme und wußte bald nicht mehr, was er noch anstellen sollte, um ihn endlich zu sich zu bringen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jess ihn an. Einige Sekunden lähmte ihn nacktes Entsetzen über etwas, das nur er wahrnehmen konnte. Als Slim diesmal mit energischer Stimme seinen Namen rief, hatte er unerwartet Erfolg. Der verstörte Ausdruck in den von der Anstrengung geröteten Augen des Fiebernden wich einer jähen Verwunderung. Plötzlich erkannte er den Freund über sich.

"Slim?" fragte er unsicher.

"Ja, ich bin's", bestätigte die ihm vertraute Stimme. "Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist alles in Ordnung."

"Ist er weg?" wollte Jess wissen und hätte schwören können, daß die finstere Gestalt gerade eben noch über Slims Schulter grinste.

"Wen meinst du denn?"

"Den Mann … mit dem schwarzen Mantel."

"Aber, Jess, außer mir ist doch niemand da. Du hast geträumt. Das ist alles."

"Nein, er … er war da! Ich habe ihn … genau gesehen. Er ist mir gefolgt, wollte mich würgen. Und dann hat er … hat er gelacht."

"Unsinn!" widersprach der Freund energisch. "Du hattest einen schrecklichen Traum. Aber der ist nun vorbei." Seine Stimme wurde sanfter. "Glaube mir, es war niemand da. Ganz bestimmt! Das bildest du dir ein. Fieber und Erschöpfung haben dir einen Streich gespielt."

"Nein, Slim!" beharrte Jess, als könnte über die Realität dieser Gestalt nicht der geringste Zweifel bestehen. "Es … es war der Tod. Er wollte … er wartet auf mich. Ich weiß es."

"Ich bitte dich! Hör auf, so zu reden! Es war niemand hier! Hörst du? Niemand wollte dir etwas tun. Niemand!"

Jess sah den Freund ungläubig an. Daß er nur geträumt haben sollte, konnte er sich einfach nicht vorstellen. Dafür hatte er diese unheimliche Gestalt allzu deutlich gesehen, genauso deutlich, wie er diese entsetzlichen Schmerzen spürte, die in seiner Brust tobten. Jemand hat auf dich geschossen, hatte Slim ihm vor einer unendlich langen Zeit gesagt. Oder hatte er das auch nur geträumt?

Allmählich fing er an, an seinem Verstand zu zweifeln. Daran mußte dieses Fieber schuld sein, von dem Slim gesprochen hatte. Das Fieber und diese Schmerzen, die in seiner Brust wüteten wie eine wilde Bestie, Schmerzen, die ihn bei jedem Atemzug aufs heftigste an ihre Existenz erinnerten. Das träumte er gewiß nicht! Das mußte Wirklichkeit sein!

Wer immer diese Kugel aus welchem Grund auf ihn abgefeuert hatte … sie mußte ihn auf jeden Fall so schwer verletzt haben, daß bereits der Tod auf sein Leben lauerte. Dessen war er nun ganz gewiß. Egal, ob er von der schwarzen Gestalt nur geträumt hatte oder nicht … sie war dagewesen. Sichtbar oder unsichtbar … es war der Tod. Er wartete auf ihn. Das wußte er jetzt. Slim mußte es auch wissen, sonst hätte er ihm diese Gestalt nicht so hartnäckig auszureden versucht.

Vorm Sterben hatte Jess keine Angst, aber vor dem unfairen Spiel, das der Tod vielleicht noch mit ihm treiben wollte, daß er ihn mit den unerträglichen Schmerzen in den Wahnsinn trieb, ein Spielball für die Launen eines hämisch grinsenden Todes zu sein, dem es anscheinend die größte Freude bereitete, mit ihm und seinem Leben zu spielen wie die Katze mit einer Maus.

Jess hatte das Gefühl, daß sein Freund der einzige war, der ihm diesen unheimlichen Gesellen mit dem schwarzen Mantel und der knöchernen Hand vom Leib halten konnte. Offensichtlich hatte er – wer immer dieses gesichtslose Ungeheuer sein sollte – vor ihm mehr Respekt als vor einem, der bereits mehr tot als lebendig war.

Mehrmals konnte Jess die Gestalt beobachten, wie sie heimlich über Slims Schulter spähte und ihn niederträchtig angrinste; jedoch wagte sie es bisher nicht, vor ihn zu treten oder ihn zur Seite zu drängen. Solange Slim da war, hatte sie hoffentlich keine Chance, sein Leben zu holen.

Das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins an einen Feind, der in jeder Beziehung stärker war als er, dem er in keiner Weise gewachsen sein, gegen den er nur verlieren konnte, jagte ihm plötzlich eine unbeschreibliche Angst ein, eine Angst, die er bisher in dem Maße nicht kannte. Jess war froh, den Freund in der Nähe zu wissen, denn dieser war der einzige, dem er sich ohne Scheu anvertrauen konnte.

"Slim, ich … ich habe Angst", kam es dann leise über seine Lippen, daß der Freund Mühe hatte, ihn zu verstehen, sich weiter über ihn beugte und sein Ohr näher an seinen Mund brachte. "Ich habe zum erstenmal im Leben … schreckliche Angst und … und weiß nicht genau, warum und wovor."

Jess sah, wie das Grinsen in dem unheimlichen Gesicht über Slims Schulter breiter wurde. Im selben Augenblick ließ ihn ein brennender Schmerz, der wie ein Messerstich durch seine Brust fuhr, die Luft anhalten, um den unvermeidlichen Aufschrei besser unterdrücken zu können.

Slim merkte, wie sich seine Hand in der seinen verkrampfte, wie er versuchte, über das Stechen und Pochen, das sich in seinem ganzen Oberkörper wie ein Lauffeuer ausbreitete, Herr zu werden. Jess wollte die Schmerzen ignorieren, aber er konnte nicht verhindern, daß sie ihn schließlich doch laut aufstöhnen und die Lippen aufeinanderpressen ließen.

"Du brauchst keine Angst zu haben! Es wird alles wieder gut", versicherte ihm abermals die vertraute Stimme des Freundes, der, betreten über seine eigene Hilflosigkeit, nicht zu wissen schien, was er sonst sagen sollte oder tun konnte.

Als Jess mit brennenden Augen zu ihm aufblickte, war das unheimliche Wesen über Slims Schulter verschwunden. Wahrscheinlich versteckte es sich jetzt hinter dessen Rücken, nur um gleich über ihn herzufallen, wenn er sich in Sicherheit wähnte.

Behutsam fuhr Slim mit einem feuchten Lappen über seine glühende Stirn und wusch den Schweiß aus seinem Gesicht, während er mit der anderen Hand fest seine Rechte hielt, die sich immer wieder verkrampfte, sobald die Schmerzen zurückkehrten.

"Bitte, geh jetzt nicht! Laß mich jetzt … nicht allein!" bat Jess mit ihm versagender Stimme, kaum noch dazu imstande, gegen die ihn übermannende Ohnmacht anzukämpfen.

Seine Schwäche war so groß, daß er fast nicht mehr in der Lage war, die Augen offenzuhalten. Nur mit Mühe konnte er den Freund über sich erkennen, der ihn jetzt anlächelte und ihm zuversichtlich versprach:

"Sei unbesorgt, ich bleibe bei dir. Ich werde dich jetzt ganz bestimmt nicht allein lassen. Du brauchst keine Angst zu haben", wiederholte er und verstärkte wie zur Bestätigung den Druck seiner Hand. "Du kannst ruhig wieder schlafen. Ich pass' auf, daß niemand kommt", versprach er, und Jess schloß die müden Augen.

Obwohl ihn noch vor kurzem diese schreckliche Angst vor einer ihm unbekannten Gefahr quälte, fühlte er sich plötzlich so sicher in Slims Nähe, daß seine Furcht mehr und mehr wich, bis sie ihn endlich wieder Ruhe finden ließ. Seine Rechte verkrampfte sich noch ein paarmal, als ihn die furchtbaren Schmerzen in seiner Brust gar zu sehr peinigten, aber schließlich sank er immer tiefer in diese jedes Gefühl betäubende Dunkelheit, die seine Schmerzen aufzulösen schien. Seine Lippen zuckten, als wollte er noch etwas sagen. Es blieb jedoch nur unverständliches Gemurmel, hin und wieder unterbrochen von einem leisen Stöhnen, ehe sich ein tiefes Seufzen seiner Brust entrang und sein Kopf sich langsam zur Seite neigte.

Jess war in einen tiefen, ohnmachtsähnlichen Schlaf gefallen, aus dem er in den nächsten Tagen und Nächten nur selten erwachte, selbst dann seine Umwelt nur mühsam wie durch einen dichten Nebel hindurch wahrnehmen konnte.

Erst gegen Ende der Woche ging es ihm wider allen Erwartens endlich etwas besser. Das Fieber war weit gefallen und bedeutete keine unmittelbare Gefahr mehr. Die Schmerzen waren erträglicher geworden, obgleich sie ihn manchmal so schlimm heimsuchten, daß er sie fast nicht aushalten konnte.

Sein Zustand glich einem Dahindämmern ohne jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Oftmals schien er selbst nicht mehr zu wissen, ob er nun lebte oder bereits tot war. Sein Bewußtsein registrierte es kaum, wenn sie versuchten, ihm etwas einzuflößen, das er vom Geschmack her nicht identifizieren konnte. Einmal war es dünnflüssig wie Wasser, dann war es etwas Breiartiges; alles schmeckte gleich – nach Blut. Es tat ihm gut, wenn man sein Gesicht wusch und seine Hand hielt, obwohl er meist nicht imstande war festzustellen, wer sich da um ihn bemühte. Die Schatten des Todes auf seinen eingefallen Zügen waren noch nicht ganz verschwunden, aber wenn er für wenige Zeit seine Augen aufschlug, waren sie klar und hatten nicht mehr den fieberverschleierten, glasigen Ausdruck wie bisher.

Mittlerweile waren zwei Wochen vergangen, seit diese Kugel Jess zu Fall gebracht hatte, von der er nicht wußte, wer sie auf ihn abgefeuert und wo genau sie ihn getroffen hatte.

Während der letzten Tage versuchte er mehrmals, Slim darauf hin anzusprechen, wenn er gerade einmal für kurze Zeit aus diesem zähen Sumpf aus Schmerzen und Dunkelheit erwachte; aber entweder war er selbst zu schwach dazu, auch nur einen vollständigen Satz zu sagen, oder Slim wich einer Antwort geschickt aus und verschob die Erklärung jedesmal auf einen späteren Zeitpunkt.

Fortsetzung folgt