KAPITEL 11
Eine relativ ruhige Nacht lag hinter Jess. Am Morgen jedoch wachte er erschreckt auf. Nach einem unsinnigen Traum fuhr er halb in die Höhe. Verwirrt blickte er um sich, um gleich darauf stöhnend in die Kissen zurückzufallen. Seine rechte Hand verkrampfte sich auf seiner bandagierten Brust. Irgend etwas schien in seinem Inneren zu zerreißen. In seinem Ungestüm hatte er völlig vergessen, daß er sich nicht bewegen durfte.
Zum erstenmal jedoch war er sich sofort seiner Situation und Umgebung voll bewußt. Der dichte Nebel, der ihn bisher einhüllte und ihn von außerhalb kaum etwas wahrnehmen ließ, hatte sich bis auf ein paar unbedeutende Schwaden aufgelöst.
Jess, der sich nach dieser Feststellung erstaunt umsah, konnte das Zimmer, in das hell die Morgensonne schien, klar erkennen, entdeckte sogar die große Gestalt seines Freundes, der am offenen Fenster stand und hinausstarrte. Dieser hatte die Nacht über wie alle vorangegangenen Nächte auch bei ihm gewacht, obgleich er sich nun immer öfter getraute, ein paar Stunden auf dem Feldbett, das er sich in einer Ecke des Zimmers aufgestellt hatte, zu schlafen.
Das Stöhnen in seinem Rücken ließ ihn sich mit einem Ruck umdrehen. Anscheinend fühlte er sich dabei ertappt, daß er ausnahmsweise nicht auf der Hut, sondern in Gedanken versunken war. Mit wenigen Schritten war er am Krankenlager des schwerverletzten Freundes.
"Bleib ganz ruhig, Jess! Nicht bewegen!" redete er auf ihn ein, um ihn daran zu hindern, auch nur den Kopf zu heben. "Du mußt still liegenbleiben, sonst reißt die Wunde wieder auf." Er legte ihm beschwichtigend die Hand an die gesunde Schulter, während er sich zu ihm auf die Bettkante setzte. "Es ist alles in Ordnung. Bleib nur ganz ruhig! Du willst doch bald wieder gesund werden."
"Glaubst du denn, daß ich … daß ich das schaffe?" ächzte Jess ungläubig, ziemlich geräuschvoll ein Stöhnen hinunterschluckend. Offensichtlich war es diesen Schmerzen egal, ob er ruhig liegenblieb oder nicht, denn er konnte keinen Unterschied in ihrer Intensität feststellen.
"Zweifelst du etwa daran?"
"Ich weiß es nicht", erwiderte er mit rauher Stimme und wich seinem Blick aus. "Ein paarmal dachte ich, ich wäre … schon tot, aber dann … Slim, warum willst du mir nicht sagen, wo genau mich diese Kugel erwischt hat? Bitte sag's mir endlich!" drängte er, als hinge von dieser Kenntnis sein weiteres Leben ab. "Oder ist es so schlimm, daß du's mir nicht sagen willst?"
Mit niedergeschlagenen Lidern rang Slim heftig mit sich selbst, ob er ihm nun die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Noch eine ganze Weile druckste er herum, ehe er den Freund wieder ansehen konnte. Anscheinend kam er endlich zu dem Schluß, daß es für ihn besser war, wenigstens einen Teil der Wahrheit zu kennen, anstatt sich völlig falsche Vorstellungen von dieser Verletzung zu machen, die seit zwei Wochen sein Leben bedrohte.
"Die Kugel …" Der Rancher schluckte und nagte an seiner Unterlippe. "… sie ist … sie ist dir tief in die linke Brust gedrungen und direkt seitlich des Herzens steckengeblieben." Mit einer flüchtigen Handbewegung fuhr er bei sich über die Stelle, die er meinte.
"Wieso steckengeblieben?"
"Sie ist an einer Rippe abgeprallt."
"Dann weiß ich Bescheid", murmelte Jess vor sich hin. Er wußte, daß, wenn diese Kugel tatsächlich den von Slim vage beschriebenen Weg in seinem Körper zurückgelegt hatte, sie ihn innerlich schwer verletzt haben mußte, schwerer jedenfalls, als wenn sie glatt durchgegangen wäre. "Und was ist mit meinem Arm?" wollte er nur noch wissen, weil er in ihm bisher keinerlei Schmerzen spürte. Vielleicht hatte ihn eine zweite Kugel zerfetzt und er konnte deshalb nichts spüren, weil man ihm den Arm amputieren mußte, obwohl er hätte schwören können, daß er ihn durch den Verband hindurch ganz deutlich fühlte.
"Keine Angst", beruhigte Slim ihn jedoch, "der Arzt hat ihn nur mit einbandagiert, damit du die Schulter nicht bewegen kannst. Die Wunde könnte sonst wieder aufbrechen." Zuversichtlich lächelte er ihn an, aber seine Augen verrieten wenig von dieser angeblichen Zuversicht. "Mach dir keine Sorgen! Das hört sich jetzt alles viel schlimmer an, als es in Wirklichkeit ist."
"Warum willst du mir etwas vormachen? Ist es denn nicht so, daß es schlimmer ist, als es sich anhört?"
Slim holte tief Luft.
"Wenn ich jetzt versuche, dich von was anderem zu überzeugen, wirst du mir nicht glauben, nicht wahr?"
Ein Blick, der keine erklärenden Worte nötig hatte, war die stumme Antwort.
"Diese Kugel … wie schwer hat sie mich wirklich verletzt?" fragte Jess trotz der Schlüsse, die er bereits zu diesem Thema gezogen hatte, weil er sich nicht vielleicht falsche Vorstellungen von etwas machen wollte, wovon immerhin sein Leben abhing.
"Diese Frage kann noch nicht einmal Doc Higgins beantworten", versuchte Slim auszuweichen. Zu spät erkannte er, daß er mit dieser Bemerkung den Stein erst richtig ins Rollen brachte, anstatt ihn aufzuhalten. In der Eile war ihm jedoch nichts anderes eingefallen, jedenfalls nichts, was glaubhaft geklungen hätte.
"Vielleicht will er es nicht. Vielleicht hat er Grund, es nicht zu wollen. Wahrscheinlich bin ich innerlich so schwer verletzt, daß er es deshalb nicht will … weil es keine Hoffnung gibt."
"So etwas solltest du nicht sagen! So etwas solltest du noch nicht einmal denken!"
"Bildest du dir etwa ein, ich wüßte nicht, woher diese ewigen Schmerzen kommen, die mir das Atmen zur Hölle machen, und dieser ständige Husten, der mich jedesmal aus heiterem Himmel überfällt? Wahrscheinlich habe ich sogar schon Blut gehustet, nicht wahr?" Slims verbissenes Schweigen war eine recht eindeutige Antwort; trotzdem wollte es Jess diesmal genau wissen. "Habe ich?" Slim preßte die Lippen zusammen und nickte kaum merklich. "Findest du nicht, daß es endlich Zeit ist, mir zu sagen, was wirklich mit mir los ist? Welche Chance habe ich? Habe ich überhaupt eine? Werde ich wieder gesund werden? Bitte, sag mir das endlich!" drängte er ungehalten, weil er diese Geheimniskrämerei leid war. "Du wolltest an meiner Stelle doch auch Gewißheit haben. Was ist also los? Ist meine Lunge so kaputt, daß ich eigentlich schon längst überfällig bin?"
"Also schön", gab Slim schließlich nach, weil er wirklich nicht mehr wußte, wie er auf diese direkte Frage hin ausweichen sollte. Er sprach nun sehr schnell, als wollte er damit verhindern, selbst über seine eigenen Worte nachzudenken. "Ja, du hast Blut gehustet. Du hattest einen heftigen Blutsturz, unmittelbar nachdem es passiert war. Frag mich nicht, wieso du den überlebt hast. Ich weiß es nicht. Du wärst um ein Haar dabei erstickt. Und Dan hat gesagt, du würdest den Tag nicht überleben. Aber du hast ihn überlebt, sogar die Nacht. Du hast furchtbare Tage und Nächte hinter dir, und es war das Schrecklichste, was ich je erlebt habe. Als du vor ein paar Tagen zum erstenmal zur Besinnung gekommen bist, hätte ich heulen können vor Freude. Ich konnte einfach nicht glauben, daß du nach allem noch fähig warst, die Augen aufzuschlagen, überhaupt ein Wort zu sagen. Und heute geht es dir sogar schon so viel besser, daß wir richtig miteinander reden können. Glaub mir, ich kann dem lieben Gott nicht genug dafür danken, daß du diese Hölle aus Fieber und Schmerzen endlich so gut wie hinter dir hast. Trotzdem schüttelt Dan immer noch den Kopf, wenn er dich untersucht", sprudelte ein wahrer Schwall von Worten aus Slim heraus wie ein Wasserfall.
Er hatte Dinge gesagt, die er eigentlich gar nicht sagen wollte, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Wenn er langsamer gesprochen hätte, hätte er sich gewiß auch das eine oder andere verkniffen, obwohl er im Grunde froh war, daß es endlich heraus war. Jess hätte es früher oder später doch erfahren – erfahren müssen –; vielleicht war es besser, wenn dies jetzt endlich geschehen war. Er hätte sich so oder so aufgeregt; aber vielleicht konnte er tatsächlich einiges leichter verkraften, wenn er die Wahrheit wußte.
"Warum?" fragte er jedoch völlig ruhig, hatte Slim ihm doch nichts anderes gesagt, als er schon die ganze Zeit vermutete. "Weil er nicht fassen kann, daß ich noch lebe, oder weil er denkt, ich wäre wie ein angestochener Apfel, der, je gesünder und reifer er nach außen hin aussieht, um so fauler innen drin ist?"
"Ich weiß es nicht." Slim, der ihn während seines Wortergusses offen angesehen hatte, wich nun seinem Blick aus. "Darüber ist er sich anscheinend selbst nicht im klaren. Du solltest jedoch nach allem nicht so schwarz sehen. Nachdem du das alles überstanden hast, besteht für mich kein Zweifel, daß du wieder gesund wirst, egal, wie oft und warum Dan den Kopf schüttelt."
"Ich wollte, ich wäre so sicher wie du", murmelte Jess vor sich hin, daß Slim ihn kaum verstehen konnte und ihn verwundert ansah. Als sich ihre Blicke trafen, konnte einer die Gedanken des anderen lesen, worauf sie kein Wort mehr darüber verloren. Vielmehr versuchte Jess sich über etwas anderes ebenso Gewißheit zu verschaffen. "Slim, sag, wie ist das alles nur gekommen? Was ist geschehen? Ich … ich kann mich an überhaupt nichts erinnern. Wenn ich es versuche, verschwimmt alles vor meinen Augen … wie in einem dichten Nebel. Mir ist, als fiele ich in ein dunkles Loch … ein Nichts."
"Sei froh, daß du dich an nichts erinnern kannst. Ich wünschte, mir ginge es ebenso."
"War es denn so schlimm?"
"Schlimm? Es war, glaube ich, mehr als das. Bitte, Jess, laß uns ein andermal darüber reden. Ich möchte jetzt nicht davon sprechen. Ich wünschte, ich könnte es einfach vergessen."
"Wäre es dann nicht besser, wenn du es los wirst? Bitte sag's mir! Meinst du denn nicht, ich hätte … ein Recht darauf zu erfahren, weshalb ich hier liegen muß?"
"Wahrscheinlich hast du recht", gab Slim nach langem Zögern nach. "Vielleicht hilft es uns beiden."
"Aber versuch bitte nicht, mich anzulügen! Du weißt, ich merke das sofort. Außerdem würdest du dich selbst belügen."
Slim sah ihn überrascht an. Machte er ihm nur etwas vor? Wußte er etwa doch Bescheid und verstellte sich nur? Nein, das konnte er nicht glauben. Offensichtlich war es ihm selbst überdeutlich anzusehen, daß er unter diesem Zwischenfall und vor allem an seinen unüberwindbaren Schuldgefühlen mehr litt, als er zugeben, geschweige denn zeigen wollte. Und Jess hatte ein ausgesprochenes Gespür für solche Dinge, das ihn nur selten im Stich ließ.
"Was ist denn das letzte, woran du dich erinnern kannst?" wollte Slim schließlich wissen.
Jess dachte angestrengt nach, aber er konnte sich wirklich an nichts erinnern.
"Ich habe keine Ahnung. Vielleicht fällt mir wieder etwas ein, wenn … du mir dabei hilfst."
"Also schön", willigte Slim endlich ein. "Du warst auf der Nordweide unterwegs. Du wolltest dort die Zäune nachsehen. Das war vor gut zwei Wochen."
Er sprach absichtlich langsam und beobachtete ihn genau, wie er jedes Wort sehr sorgfältig verarbeitete, nach einem Gegenstück in seinem Gedächtnis suchte. Jetzt machte er eine Pause, um ihm Gelegenheit zu geben, das Mosaik selbst zusammenzusetzen.
"Ja", sagte Jess auf einmal. Anscheinend benötigte er nur einen kleinen Anstoß zur Hilfe. "Ich glaube, jetzt erinnre ich mich. Es war an einem Montag. Ich bin gleich nach dem Frühstück losgeritten. Jetzt weiß ich's wieder. Ich habe noch zu dir gesagt, daß diese Woche mal wieder gut anfängt."
"Genau!" bestätigte Slim und überließ es zunächst ihm, weiterzuerzählen.
"Ich brauchte fast den ganzen Vormittag, bis ich die Stelle endlich entdeckte. Der Zaun war auf etwa dreißig Fuß niedergerissen. Ich hab' ihn provisorisch in Ordnung gebracht und versuchte dann, die Ausreißer aufzustöbern. Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch fand ich sie im Winshaw Canyon. Sie ließen sich willig zurücktreiben. Ich ritt gleich weiter nach Hause. Aber ich weiß nicht, ob und wie ich hier angekommen bin." Jess dachte scharf nach und blickte mit zusammengezogenen Brauen auf. "Ist … ist es da oben oder unterwegs passiert?"
"Nein, nicht da oben und auch nicht unterwegs, sondern …" Slim fühlte sich unbehaglich. "… sondern hier auf der Ranch, sozusagen direkt vor … der Haustür."
"Vor … wieso … ich … ich verstehe nicht … wieso vor der Haustür?" stammelte Jess eine Frage zusammen, denn damit hatte er nicht gerechnet. "Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich habe die ganze Zeit gedacht, jemand hätte mich irgendwo unterwegs aus dem Hinterhalt erwischt und mir eine Kugel zwischen … zwischen die Schulterblätter gejagt, die mir beim Durchschlagen mindestens ein Pfund Fleisch aus der Brust gerissen hat. Deshalb war ich auch so erstaunt, als du mir sagtest, ich wäre von vorn getroffen. Was ist da bloß passiert? Sag's mir endlich!" In seiner Ungeduld versuchte er, sich aufzurichten, stöhnte jedoch vor Schmerzen laut auf und biß sich fast die Lippe blutig. "Verdammt! Diese Schmerzen machen mich noch wahnsinnig!"
"Wenn ich gewußt hätte, wie sehr es dich aufregt, hätte ich nicht damit angefangen. Wenn du dich unbedingt umbringen willst, ist das deine Sache, aber verlange nicht, daß ich dir dabei helfe. Wir sollten besser ein andermal darüber reden."
"Nein!" widersprach Jess sofort, die Schmerzen anscheinend schon wieder vergessen. "Ich will es jetzt wissen! Bitte!"
Unwillig atmete der Rancher auf, nickte schweren Herzens. Vielleicht würde sich Jess mit einer entschärften Version begnügen, wenn sie nicht allzu oberflächlich war. Jedenfalls wollte Slim nicht zu sehr ins Detail gehen. Wahrscheinlich konnte sich der Freund diese Details besser vorstellen, als ihm lieb war.
"Es ist nicht leicht für mich, das alles in Worte zu fassen, aber ich werde es versuchen."
Während einer kurzen Pause suchte er nach den richtigen Worten, ehe er endlich mit der Sprache herausrückte, wobei er sich anfangs anstellte wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hatte und es nun einem strengen Lehrer beichten mußte.
"Was wollten denn diese Männer hier? Geld?" warf Jess irgendwann einmal ein, weil Slim sich darüber nicht weiter ausgelassen hatte.
"Nein, weder Geld noch sonstige Wertgegenstände, auch kein Vieh und keine Pferde, rein gar nichts in der Beziehung."
"Ja, aber was denn sonst?"
"Du wirst es nicht für möglich halten, aber die wollten hier nur auf jemanden warten."
"Warten?" In Jess' hagerem Gesicht stand das Erstaunen wie fette Fragezeichen. "Auf wen? Auf mich?" vermutete er gleich, weil ihm dies als das Wahrscheinlichste erschien. Schließlich war er derjenige der Ranchbewohner, der am ehesten mit solch unliebsamem Besuch rechnen mußte. Deshalb war er um so verblüffter, als Slim mit einem entschiedenen "Nein!" antwortete. "Ja, aber auf wen denn sonst?"
"Auf einen Kumpan, mit dem sie sich hier um die Mittagszeit verabredet hatten."
"Das ist nicht dein Ernst! Warum ausgerechnet hier?"
"Frag mich mal etwas Leichteres! Vielleicht der Einfachheit halber. Eine Poststation ist für gewöhnlich ein Markierungspunkt, der leicht zu merken und ausfindig zu machen, trotzdem weit genug vom nächsten Sheriff entfernt ist. Anders kann ich mir das Ganze nicht erklären. Dem einen der beiden Kerle – der, der auch geschossen hat – war anscheinend die Warterei, hinter ein paar Bäumen und Büschen versteckt, zu langweilig, weshalb sie dann hier eingedrungen sind, offensichtlich nur, um uns zu erschrecken und die starken Männer zu demonstrieren. Dem einen saß der Finger wirklich sehr locker am Abzug. Ich möchte wetten, der hatte keine Skrupel, zur Abwechslung eine Frau über den Haufen zu schießen, wenn wir ihm auch nur den geringsten Anlaß dazu gegeben hätten oder es ihm sein Kumpan nicht ausredete. Ich weiß bis heute nicht, was ihn letztendlich davon abgehalten hat. Sein Gewissen war es jedenfalls nicht."
"Und du bist ganz sicher, daß sie es nicht doch auf mich abgesehen hatten?"
"Ganz sicher! Sie kannten dich überhaupt nicht, weder deinen Namen noch deine Person. Sie kannten dich sowenig wie Daisy und mich."
"Das kann ich einfach nicht glauben."
"Das ist auch schwer zu glauben, aber Tatsache. Dein einziger Fehler war, ausgerechnet dann nach Hause zu kommen, als dieser schießwütige Killer gerade Lust dazu verspürte, seine Winchester statt auf Konservenbüchsen oder Flaschen auf einen ahnungslosen Menschen abzufeuern. Er hat dich bis zum Verandaaufgang herankommen lassen und dann durch das Fenster neben der Tür geschossen. Ich habe noch nie erlebt, daß jemand eine derartige Freude beim Abdrücken hatte. Sei froh, daß du sein Gesicht nicht gesehen hast. Dieses befriedigende Grinsen verfolgt mich noch immer auf Schritt und Tritt. Aber das Allerschlimmste ist, daß mich sein Kumpan gezwungen hat, es tatenlos mit anzusehen. Als ich dich warnen wollte, hat der andere gedroht, Daisy über den Haufen zu schießen. Er hat es mir als unvergleichliches Vergnügen offeriert, erleben zu dürfen, wie …" Slim brach ab, senkte den Blick und biß sich auf die Lippe, als er an die furchtbarsten Sekunden seines Lebens dachte. "… wie ein Freund stirbt", vollendete er leise den Satz. "Ich … ich habe dann doch noch versucht, dich zu warnen, aber es war zu spät. Ich habe nur noch gesehen, daß … ich konnte … ich habe … dich fallen sehen", stammelte er. Anscheinend kostete es ihn eine große Überwindung, über diesen entscheidenden Punkt mit ihm zu sprechen, denn er machte sich nach wie vor die schlimmsten Vorwürfe. "Dann hat mich der andere niedergeschlagen. Ich wünschte, er hätte es früher getan, damit ich das nicht hätte sehen müssen." Er machte eine kurze Pause, in der er verbissen auf seine Hände starrte, die er mit krampfartigen Bewegungen knetete, als wollte er damit Lähmungserscheinungen verhindern. "Als ich wieder zu mir kam, waren die beiden verschwunden und du …" Diesmal sprach er den Satz nicht zu Ende. "Daisy ist nichts geschehen. Sie wurde nur vor Aufregung ohnmächtig. Dafür warst du … Mein Gott, Jess, bitte verzeih mir! Ich hätte es verhindern müssen! Zumindest hätte ich es versuchen müssen!" stieß er hervor. In seiner Erregung wußte er sich nicht zu helfen, bis er Jess' Rechte auf seinem Unterarm spürte, als wollte ihn der Freund mit dieser Berührung zur Besinnung bringen.
"Mach dir keine Vorwürfe, Slim! Ich bitte dich!" versuchte er ihn mit ruhiger, aber sehr eindringlicher Stimme zu beschwichtigen. "Es war gewiß nicht deine Schuld!"
"Jess, ich hätte das verhindern müssen!" beharrte Slim. Seine Selbstvorwürfe ließ er sich auch von ihm nicht ausreden. "Ich weiß nicht genau, wie. Ich weiß nur, ich hätte es tun müssen! Weil ich mich von so ein paar Strauchdieben hab' einschüchtern lassen … weil ich solange gezögert habe, mußt du hier liegen und es ausbaden."
"Das ist doch Unsinn! Was hättest du denn tun wollen? Egal, wie und was du angestellt hättest … du hättest Daisy gefährdet. Und dann weiß ich noch nicht einmal, ob ich eine Warnung von dir richtig verstanden hätte. Wahrscheinlich hätte ich trotzdem nicht schnell genug kapiert, was überhaupt los ist, und hätte deshalb auch nicht rechtzeitig und entsprechend reagieren können. Du hättest unnütz auch noch euer beider Leben aufs Spiel gesetzt, ohne daß jemandem damit geholfen gewesen wäre. Wer weiß, wenn du etwas unternommen hättest, lägen wir jetzt vielleicht alle drei hier, wenn nicht sogar wo ganz anders."
"Damit versuche ich das Ganze auch immer zu entschuldigen, aber die Entschuldigung hinkt wie ein lahmes Pferd. Ich habe dich ja gerufen, wenn auch viel zu spät, und trotzdem ist nur ein Schuß gefallen, nämlich der, der dich getroffen hat. Deshalb nehme ich an, daß auch nicht viel mehr passiert wäre, wenn ich meinen Mund früher aufgemacht hätte. Ich möchte wetten, daß dann weit weniger geschehen wäre."
"Das bezweifle ich", war Jess da ganz anderer Meinung. "Wahrscheinlich ist nur deshalb nicht mehr passiert, weil diese Kerle ihr Vergnügen bereits hatten. Vielleicht sahen sie aus dem Grund keine Veranlassung mehr zu schießen."
"Das kann ich mir einfach nicht vorstellen! Ich wünschte nur, ich könnte alles noch einmal zurückdrehen, alles einfach ungeschehen machen. Es kann mir einer erzählen, was er will – mir ist, als hätte ich diese verfluchte Kugel selbst abgefeuert. Ich habe einfach zu lange gezögert. Und genau dieses Zögern hat dich um ein Haar das Leben gekostet. Darüber kann ich einfach nicht hinwegkommen. Es ist und bleibt ganz allein meine Schuld!"
"Diese Schuld, die du dir da einredest, kann ich beim besten Willen nicht sehen. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Sieh das doch endlich ein! Ich hätte an deiner Stelle garantiert nicht anders gehandelt, hätte genauso wie du gar nicht anders handeln können. Sieh mal, du darfst Daisy nicht vergessen. Du kannst nicht mit Sicherheit behaupten, daß du sie nicht gefährdet hättest. Wenn ihr jedoch meinetwegen etwas geschehen wäre … Slim, das hätte ich dir nie verziehen."
"Vielleicht wäre alles nicht so schlimm, wenn das Ganze nicht so sinnlos erschiene. Aber alles geschah ohne jeglichen Sinn und Zweck. Du mußt dir das einmal vorstellen! Dieser Kerl hat einfach nur auf dich geschossen, weil es ihm Spaß machte, aus purer Langeweile, aus reinem Vergnügen beim Verletzen, beim Töten. Und ich seh' auch noch seelenruhig dabei zu!"
"Seelenruhig?" vergewisserte sich Jess, als hätte er sich verhört. Dabei sah er ihn so lange an, bis er endlich seinen Blick erwiderte. Für Sekunden hielten sie stumme Zwiesprache, in der sie offensichtlich mehr zwischen sich in bezug auf diese Schuldfrage, die Slim so beschäftigte, klärten, als sie bisher mit Worten fertiggebracht hatten. Wenn man sich schon solange kannte wie sie, waren Worte oftmals überflüssig und ein einziger Blick konnte ein ganzes Gespräch ersetzen. "Wer weiß, vielleicht …" Jess mußte innehalten, weil sich ein wilder Schmerz wie ein Dolch in seine Brust bohrte und ihm den Atem stocken ließ.
Um nicht doch noch zu schreien, hielt er die Luft an und drückte die Rechte fest gegen seine bandagierte Brust. Er rang nach Luft und warf den Kopf zur Seite, um sein verzerrtes Gesicht im Kissen zu verbergen. Slim saß hilflos daneben und konnte nichts für ihn tun.
Schließlich gewann Jess die Oberhand über das in seinem Inneren wütende Feuer und hatte sich nach einem lauten, nicht zu verhindernden Stöhnen bald wieder einigermaßen in der Gewalt. Langsam drehte er den Kopf.
"Keine Sorge, es … es geht schon wieder", keuchte er mit rauher Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte. "Es war … halb so wild."
"Jess, du solltest versuchen, wieder zu schlafen." Slim wusch ihm von Gesicht und Hals den Schweiß, der ihm von der Anstrengung auf der blassen Haut glänzte. "Unser Gespräch hat dich zu sehr angestrengt. Du bist für so etwas noch nicht in der richtigen Verfassung. Ich hätte dir das alles nicht erzählen dürfen und warten sollen, bis es dir bessergeht."
"Egal, wann du es mir erzählt hättest … ich könnte nicht begreifen, weshalb es geschehen ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es für das alles keinen plausiblen Grund geben soll, daß ein Mensch ohne besondere Veranlassung auf einen anderen schießt. Selbst wenn einer keinerlei Skrupel vorm Töten hat, muß er doch einen bestimmten Zweck damit verfolgen, wenn er es tut. Vielleicht habe ich ihn ungewollt provoziert … mit irgendeiner Bewegung, die dir gar nicht als herausfordernd auffiel … mit irgendeiner nichtssagenden Geste, die der Kerl falsch verstanden hat. Vielleicht hat er mich mit jemandem verwechselt, oder er hat sich durch meine Haltung bedroht gefühlt", beschäftgite Jess die Sache mehr, als Slim im Moment recht war.
"Das ist ausgeschlossen!" entschied der Freund und gab es vorerst auf, ihn davon zu überzeugen, daß ihr Gespräch nicht gerade die beste Medizin für ihn war und er sich lieber ausruhen sollte.
"Bist du dir da ganz sicher? Vielleicht hatte ich meine Rechte zufällig in der Nähe meines Schießeisens, oder es sah für ihn auch nur so danach aus. Du weißt, daß ich manchmal die dumme Angewohnheit habe, meine Hand gedankenlos auf den Kolben zu legen. Vielleicht ist mir das diesmal zum Verhängnis geworden."
"Nein, Jess! Deine Rechte war nicht in der Nähe deines Schießeisens, noch nicht einmal in einer entfernten Nähe. Du hattest mit ihr nach dem Vordachpfosten gegriffen, wie du es immer machst, wenn du mit einem Satz auf die Veranda springen willst. Selbst mit noch soviel Phantasie konnte dieser Killer nichts Provozierendes an dir oder deiner Haltung erkennen. Daß ihm der Finger locker am Abzug saß, hatte mit dir nicht das geringste zu tun. Du warst nur zufällig da, als er Lust dazu verspürte, auf jemanden zu schießen. Er wollte einfach nur töten. Dabei ist es reiner Zufall, daß er ausgerechnet dich erwischte. Wenn du nur eine halbe Stunde später nach Hause gekommen wärst, wäre dir gar nichts geschehen. Und daß du letztendlich noch lebst, verdankst du offensichtlich nur dem Schießprügel dieses Verrückten. Der Lauf seiner Winchester war total verzogen, das Visier nicht richtig justiert. Der Kerl hat das anscheinend falsch eingeschätzt, sonst hätte dich seine Kugel auf der Stelle getötet."
"Woher weißt du das mit der Waffe?"
"Mort hat sie bei einem Büchsenmacher in Pine City ausfindig gemacht, bei dem sich der Kerl darüber beschwert hat. Die Winchester war für einen exakten Schuß anscheinend überhaupt nicht zu gebrauchen. Mit dem Schloß war wohl auch was nicht in Ordnung, sonst hätte dich die Kugel auf die kurze Entfernung … Die Knarre muß neu gewesen sein. Wahrscheinlich wollte sie der Kerl selber einschießen und brauchte dafür ein naturgetreues Ziel, bei dem es ihm mehr Spaß machte als mit leeren Blechbüchsen. Erstens sind die schwerer zu treffen und zweitens bluten die nicht."
"Das kann ich einfach nicht glauben."
"Es ist aber so. Ich sage dir, dieser Spinner hätte in dem Augenblick auf jeden geschossen, auch auf seinen eigenen Bruder oder seine Großmutter. Er hätte auf alles geschossen, was sich bewegte und auch nur im entferntesten nach einem Menschen aussah. Sein Kumpan sagte mir frech ins Gesicht, daß er es leid war, auf leere Flaschen und Konservendosen zu schießen. Einen Menschen als Zielscheibe zu benutzen, sei viel reizvoller. Er brauchte endlich wieder ein lebendiges Ziel, damit er nicht aus der Übung käme. Die Warterei hat den Kerl anscheinend so auf die Palme gebracht, daß er wie unter Zwang stand. Auf mich wirkte er wie ein überspannter Bogen, dessen Sehne jeden Augenblick reißen mußte – wie ein Wahnsinniger. Wahrscheinlich ist er das auch. Ich wünschte, der Teufel würde ihn holen!" entfuhr es Slim in leidenschaftlicher Verachtung. "Mein Gott, warum hat er sich denn nicht einen anderen ausgesucht? Warum mußtest ausgerechnet du ihm vor seine verkorkste Flinte laufen? Warum mußte er dir das antun? Warum ausgerechnet du und kein anderer?" stieß er plötzlich hervor, weil er es einfach nicht mehr länger für sich behalten konnte.
Diese Frage hatte er schon jedem gestellt, am häufigsten jedoch sich selbst. Allerdings hatte ihm bisher keiner eine zufriedenstellende Antwort geben können. Jess war der letzte, von dem er eine erwarten konnte. Slim wußte, daß es dem Freund in keiner Weise half, wenn er endlich eine Antwort darauf fände; aber es half vielleicht ihm, darüber hinwegzukommen, wenn er es auch bei ihm los wurde.
"Wenn sich das alles tatsächlich so zutrug, wie du mir erzählt hast", war es nun Jess, der versuchte, beruhigend auf ihn einzureden, "gibt es auf diese Frage keine Antwort, kann es gar keine geben. Hör auf, dich damit zu quälen! Wir müssen uns nun mal damit abfinden, daß es geschehen ist. Ich weiß, daß dir das nicht leichtfallen wird. Aber egal, was hinter uns liegt … es hätte bestimmt auch noch schlimmer kommen können. Wenn dieser Kerl nur halb so verrückt ist, wie du sagst, grenzt es fast schon an ein Wunder, daß tatsächlich nicht mehr passiert ist. Du mußt dich endlich damit abfinden, daß es geschehen ist und du weder etwas daran ändern konntest noch im nachhinein ändern kannst."
"Wirklich nicht?"
"Verdammt, hör endlich auf, dir Vorwürfe zu machen! Diese unsinnige Schuld, die du dir da ständig einredest, kann ich einfach nicht sehen!" wiederholte Jess ungehalten. "Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie dir nicht vorwerfen, weil du sie nämlich gar nicht hast. Warum will das bloß nicht in deinen Dickschädel?" schimpfte er und war darüber so aufgebracht, daß er beinahe vergessen hätte, wie miserabel er sich fühlte.
"Du redest wie Doc Higgins."
"Ich rede wie dein Freund, der seit vielen Jahren weiß, welch sturer Kerl du bist", korrigierte Jess, wieder etwas ruhiger. "Weißt du, um ganz ehrlich zu sein, mußte mir irgendwann mal so etwas passieren. Ich habe sogar ständig mit so etwas gerechnet. Früher oder später hätte mich so oder so einer erwischt. Mit der Gefahr lebe ich, seit ich zum erstenmal eine Waffe in die Hand nahm. Man macht sich mit so einem Ding nun mal einen Haufen Feinde, egal, ob man damit für oder gegen das Gesetz ist."
"Natürlich, aber das ist nicht der Grund, weshalb es passierte."
"Spielt ein Grund denn überhaupt eine Rolle? Es ist geschehen. Nur das allein zählt. Auch wenn der, der es getan hat, tatsächlich keine Veranlassung gehabt haben sollte, kenne ich doch ein gutes Dutzend Leute, die auf Anhieb einen Grund gefunden hätten. Ich habe mir halt nur immer gewünscht, daß, wenn es einmal soweit ist und ich an der Reihe bin, es dann wenigstens schnell gehen sollte. Die einzige Angst, die ich schon immer hatte, war und ist die, daß es einmal so kommt, wie es nun gekommen ist, daß ich einmal an so einem verdammten Stück Blei langsam, aber sicher krepieren muß und nichts weiter tun kann, als warten, bis es endlich vorbei ist. Wer weiß, vielleicht wäre es für alle besser, wenn die Winchester dieses Kerls in Ordnung gewesen wäre."
"Jess, ich will nicht, daß du so dummes Zeug redest!" fuhr Slim ihn ungewollt hart an, weil er so etwas von ihm nicht hören wollte. Die Hoffnungslosigkeit, die in seiner Stimme mitklang, hatte er ausgerechnet von ihm nicht erwartet, nachdem er während der letzten zwei Wochen so verbissen gekämpft hatte und er es gerade dieser Hartnäckigkeit zuschrieb, daß er heute überhaupt noch lebte. "Ich bitte dich, sei endlich still!"
"Natürlich, du hast recht", gab Jess nach einer Weile zu, im selben Augenblick ein Stöhnen hinunterschluckend, gerade als es über seine Lippen kommen wollte. "Ich … ich sollte nach allem nicht so undankbar, sondern lieber froh sein, daß ich noch lebe."
"So war das nicht gemeint!"
"Ich weiß. Trotzdem kann mir keiner weismachen – auch du nicht! –, daß ich nicht doch mit der Möglichkeit …" Jess konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil heftige Schmerzen ihm plötzlich den Atem raubten. Mit zusammengepreßten Lippen versuchte er, dagegen anzukämpfen, damit aus dem Stöhnen kein Schreien wurde. "Verdammt noch mal!" stieß er mühsam hervor. "Warum muß das nur so wehtun?"
"Soll ich dir etwas von dem Laudanum geben?"
"Nein!"
"Aber wenn es noch schlimmer wird …"
"… werde ich es trotzdem irgendwie aushalten", fiel Jess ihm ins Wort und wollte keine Widerrede mehr zulassen.
"Wenn du es unbedingt so willst." Slim beobachtete ihn aufmerksam, wie er versuchte, mit der erneuten Flut von Schmerzen fertig zu werden. "Jess, es tut mir leid", sagte er auf einmal und fuhr sich mit einer hilflosen Geste durchs Haar. "Ich wollte dich bestimmt nicht aufregen. Wenn ich gewußt hätte …" Im nachhinein ärgerte sich Slim über seinen Mangel an nötigem Feingefühl, so daß er den schwerverwundeten Mann mit seinen unüberlegten Äußerungen mehr reizte, als für seine labile Gesundheit gut war.
"Ist nicht deine Schuld, aber du … du mußt mir etwas versprechen!" bat Jess mit rauher Stimme, die um ein Haar ihren Dienst versagt hätte. "Es … es handelt sich um Mike."
"Um Mike?"
Fast bekam es Slim ein wenig mit der Angst, weil er befürchtete, der Freund könnte vielleicht ahnen, daß der Junge von dem Unglück Zeuge geworden war. Diese Aufregung durfte er ihm auf keinen Fall zumuten, denn er wußte, daß dies für seinen geschwächten Gesundheitszustand zuviel wäre.
"Du mußt mir versprechen, daß … daß du dich um ihn kümmern wirst, wenn ich … das hier nicht überlebe. Er soll nicht wieder ins Waisenhaus müssen. Ich will, daß das hier sein Zuhause bleibt, auch wenn ich es nicht schaffen sollte. Nimm meinen Anteil an der Ranch für seine Ausbildung. Er soll einmal etwas Anständiges lernen und es im Leben zu mehr bringen, als ich es getan habe."
"Jess!"
"Bitte, ich … ich bin noch nicht fertig!" ließ sich Jess diesmal nicht das Wort nehmen. Was er noch zu sagen hatte, war ihm zu wichtig, als daß er jetzt einen Einwand hätte akzeptieren können. "Du weißt, er ist ein guter Junge", fuhr er fort, "der nur manchmal versucht, über die Stränge zu schlagen. Sei nicht zu hart mit ihm, aber zeige ihm mit Bestimmtheit den richtigen Weg. Du mußt auf ihn eingehen, versuchen, ihn und seine Probleme zu verstehen. Du mußt ihn als vollwertigen Menschen anerkennen, darfst ihn keinesfalls nur als Kind abtun. Behandle ihn wie einen Erwachsenen, aber vergiß nicht, daß er noch ein Kind ist. Trotzdem muß er ein gewisses Maß an väterlicher Strenge spüren, damit er bestimmte Grenzen kennenlernt. Ich kann dir jetzt nicht die ganze Erziehungslitanei herunterbeten. Nur eins noch! Sorge dafür, daß er … daß er niemals mit einem Schießeisen so vertraut wird wie ich. Hörst du? Ich will nicht, daß er einmal so endet wie … Bitte, Slim, das mußt du mir versprechen!"
"Jess, ich …"
"Bitte, Slim! Ich könnte sonst keine Ruhe finden. Selbst wenn es für dieses Mal nicht notwendig sein sollte … es wird ganz bestimmt ein nächstes Mal geben. Wir haben darüber nie gesprochen, weil ich es bisher verdrängt habe. Wir hätten es schon viel früher tun müssen."
"Vielleicht haben wir es nie getan, weil wir es beide als selbstverständlich betrachtet haben", hörte sich Slim sagen, obwohl er etwas ganz anderes erwidern wollte. Aber Jess redete, als müßte er bereits in den nächsten Augenblicken sein Leben beschließen. Das jagte ihm einen gewaltigen Schauer über den Rücken. "Auch wenn du mir das nun alles nicht gesagt hättest, hätte ich es als meine Pflicht angesehen, mich um Mike zu kümmern, falls du …" Er brach ab und biß sich auf die Unterlippe. Diesen Satz konnte er einfach nicht zu Ende sprechen. Statt dessen senkte er den Blick.
"Du versprichst es mir also?" vergewisserte sich Jess, dem dieses Versprechen sehr am Herzen zu liegen schien, nicht um seiner selbst willen, sondern Mikes wegen.
Auf seltsame Weise tief bewegt, sah Slim ihn jetzt offen an. Wie zur Bestätigung drückte er dabei seine Hand.
"Du weißt, daß ich dir das verspreche."
"Danke!"
Erleichtert atmete Jess auf. Für einen Moment schloß er die Augen, womit er seine Zufriedenheit zum Ausdruck brachte. Nachdem er diesen für ihn so entscheidenden Punkt geklärt hatte, konnte er endlich beruhigt sein, egal, wie die Sache am Ende für ihn ausging. Für Mikes Zukunft hatte er nun das Wichtigste geregelt. Er war sicher, daß er sich auf das Wort seines Freundes absolut verlassen konnte. Obwohl an sich überflüssig, war es für ihn wie eine Art Testament, wußte er doch, daß Slim dieses Versprechen genauso ernst nahm wie ein schriftliches Vermächtnis; denn er würde alles tun, ihm diesen letzten Willen auch ohne amtliche Niederschrift zu erfüllen. Zwar hatte Jess nie bezweifelt, daß es für Slim selbstverständlich wäre, sich um den Jungen zu kümmern, sollte er einmal nicht mehr dazu imstande sein, aber in seiner jetzigen immer noch kritischen Lage war es ausgesprochen beruhigend für ihn, diese Selbstverständlichkeit ausdrücklich bestätigt zu erhalten.
"Du wirst es mir jedoch hoffentlich nicht verübeln, wenn ich dir gestehe, daß ich keinen besonderen Wert darauf lege, weder jetzt noch irgendwann in der Zukunft dieses Versprechen einlösen zu müssen."
"Wie könnte ich?" warf Jess mit kaum verständlicher Stimme ein, sagte es mehr zu sich selbst.
"Deshalb solltest du auch so schnell wie möglich wieder gesund werden. Der Junge braucht dich – nicht mich. Du mußt ganz einfach wieder gesund werden – für ihn!"
"Nichts täte ich lieber als das. Aber leider habe ich … das nicht allein zu bestimmen."
Nur mit Mühe konnte Jess den angefangenen Satz beenden. Ein wilder Schmerz fraß sich in seiner Brust fest, ließ ihn laut aufstöhnen. Es war so schlimm, daß er die Luft anhielt, um nicht zu schreien. Seine Rechte verkrampfte sich in Slims Hand, ehe er sie ihr mit unwahrscheinlicher Kraft entriß und die Finger in seinen Verband grub, als wollte er ihn von sich zerren. Slim sah, wie ihm der Schweiß vor Anstrengung auf die Stirn trat. Schließlich mußte er sich abwenden, weil er es nicht mehr ertragen konnte, wie er sich quälte und es ihm selbst entsetzlich wehtat, daß er ihm nicht helfen konnte.
Plötzlich schrie Jess auf, weil er das Brennen und Stechen in seiner Brust nicht mehr ertragen konnte. Seine Rechte suchte verzweifelt einen Halt, ehe Slim sie endlich ergriff und fest drückte. Er wußte nicht, wie er ihm helfen sollte, ließ ihn wortlos gewähren, als sich seine Finger um seine Hand schlossen und immer tiefer gruben, daß es ihn beinahe schmerzte. Aber dieser Schmerz war harmlos gegen jenen, den er im Herzen spürte, weil er so tatenlos mit ansehen mußte, wie Jess sich quälte.
"Slim, ich … ich kann es nicht mehr aushalten. Ist doch besser, wenn … du mir von dem Laudanum gibst. Ich kann vor Schmerzen nicht mehr atmen."
Ein erneuter Aufschrei blieb in seiner Kehle stecken. Slim wunderte sich über die Kraft, mit der seine Rechte gleich darauf seine Hand umschloß.
"Du hättest schon viel früher welches nehmen sollen", meinte Slim in tadelndem Ton, während er das Glas auf dem Nachttisch mit Wasser füllte und einige Tropfen des Beruhigungsmittels hineinträufelte.
Er ließ ihn trinken und hatte das Gefühl, daß er dabei nur deshalb nicht lauthals schrie, weil er schlucken mußte. Nachdem das Glas endlich leer war, rang er verzweifelt nach Atem, als versuchte jemand, ihn zu ertränken. Sein Keuchen wurde heftiger, ging schließlich in ein entsetzliches Husten über, daß Slim sofort seinen Oberkörper aufrichtete und im Rücken stützte, damit er es leichter hatte. Diesmal fürchtete er tatsächlich, er würde ersticken.
Hilfesuchend klammerte sich Jess an ihn. Sein Auswurf war wie immer bei diesen heftigen Anfällen mit Blut vermischt. Dabei bekam es Slim ständig mit der Angst zu tun, die Wunde könnte wieder aufbrechen, innere Gefäße könnten zerreißen und neue Blutungen auslösen.
Diesmal hatte Jess sehr zu kämpfen, bis er den Hustenanfall überstanden hatte. Völlig erschöpft, lehnte er mit dem Oberkörper schwer an Slims Brust. Dieser schob ihm die Kissen zurecht und ließ ihn behutsam zurückgleiten.
Ein paarmal keuchte er noch, hatte sich dann endlich fast ganz beruhigt. Seine geröteten Augen wurden wieder klarer, ja, er versuchte sogar ein müdes Grinsen, als er zu Slim aufblickte wie jemand, der sich mit letzter Kraft an ein sicheres Ufer gerettet hatte.
"Ob du's glaubst oder nicht … aber ich lebe noch. Frag mich bloß nicht … wieso!" flüsterte er mit schwerer Zunge.
"Du solltest jetzt nicht mehr soviel reden!" Slim griff nach dem Lappen in der Wasserschüssel und begann ihn zu waschen. "Deine Schmerzen werden vom vielen Reden gewiß nicht weniger."
"Hoffentlich gewöhne ich mich nicht an das Zeug."
"Wolltest du deshalb erst keines nehmen?"
Jess deutete ein schwaches Nicken an. Hinterher fand er es selbst töricht, sich deshalb zuerst dagegen gesträubt zu haben.
"Schließlich schluckst du es nicht zu deinem Vergnügen. Du solltest lieber froh sein, daß es dir wenigstens über das Schlimmste hinweghilft, wo du auch so noch genug aushalten mußt."
"Wem sagst du das?" Jess keuchte, verzog das Gesicht, aber die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Endlich konnte er etwas freier atmen, obwohl ihm nach wie vor jeder tiefere Atemzug unmöglich war. "Hätte nie gedacht, einmal solche Schmerzen zu haben, daß ich sogar schreien muß. Glaub mir, ich wollte das wirklich nicht, aber ich konnte einfach nicht mehr anders", entschuldigte er sich, da ihm dies anscheinend auch vor Slim peinlich war.
"Du mußt dich vor mir nicht genieren. Ich kann mir gut vorstellen, daß es für dich die reinste Hölle ist." Slim deckte ihn sorgfältig zu. "Ich wünschte, ich könnte dir mehr helfen, anstatt nur hier zu sitzen, dir kalte Umschläge zu machen und Laudanum zu geben."
"Du hilfst mir mehr, als du denkst, weil du einfach da bist", sagte Jess leise. Sein Blick verriet mehr, als er mit Worten auszudrücken vermochte. "Es ist gut, jetzt nicht allein sein zu müssen. Ich danke dir dafür – für alles! Ich mußte dir das einmal sagen. Vielleicht habe ich sonst keine Gelegenheit mehr dazu."
Fast sah es so aus, als wollte er Resümee ziehen, gewisse Dinge klarstellen, sein Leben in geordneten Verhältnissen beschließen. Trotz der vorübergehenden Besserung seines Zustandes fürchtete er, am Ende zu sterben, und irgend etwas, das ihm noch am Herzen lag, müßte ungesagt bleiben, nur weil er damit zu lange gewartet hatte und es dann schließlich zu spät wäre. Er hatte einfach das Bedürfnis, sich seinem langjährigen Freund und Partner anzuvertrauen, ihm endlich all die Dinge zu sagen, die die ganzen Jahre ungesagt blieben, weil jeder von ihnen sie als selbstverständlich betrachtet hatte.
"Ich bitte dich! Hör auf, so zu reden und dich mit deiner Todesahnung zu beschäftigen!" wies Slim ihn mit ruhiger Stimme zurecht. "Bitte, versprich mir das!"
"Es wird mir nicht leichtfallen, solange ich den Tod so deutlich vor Augen habe." Jess biß sich trotz des Laudanums auf die Lippen. "Denn daß es so ist, weißt du so gut wie ich. Wir sind immer noch zu dritt in diesem Zimmer. Sag jetzt nicht, das stimmt nicht!" widersprach er sofort, noch ehe Slim ein weiteres Wort einwenden konnte. "Wenn du versuchst, mich zu belügen, kann ich es dir noch nicht einmal übelnehmen. Ich will nur nicht, daß … daß du dich selbst belügst. Es ist nur gut, daß er wenigstens vor dir mehr Respekt hat als vor mir. Ich glaube, er hätte mich schon längst geholt, wenn du ihn nicht jedesmal allein durch deine Anwesenheit einschüchtern würdest. Ich habe jedenfalls nicht mehr die Kraft, ihm noch lange Widerstand zu leisten."
"Du hast sie wieder, diese Kraft, vorausgesetzt, du glaubst daran", ging Slim nun doch darauf ein, nachdem er eingesehen hatte, daß es zwecklos war, ihm diese Gedanken auszutreiben. "Ich weiß, du bist stärker als dieser Seelenräuber. Du mußt es nur wollen."
Jess wußte, daß er nicht die Wahrheit gesagt hatte, aber er äußerte sich dazu nicht weiter. Es hatte wenig Sinn, mit Slim noch weiter darüber zu diskutieren, wer von ihnen in diesem ungleichen Kampf der Stärkere war. Jess wußte nur eines: er war es gewiß nicht.
Statt zu diesem Thema noch ein Wort zu verlieren, verlangte er nach einem Glas Wasser. Es graute ihm zwar vor den Schmerzen, die er womöglich wieder beim Schlucken auch trotz des Laudanums hätte, aber er hatte entsetzlichen Durst, daß er bereit war, sie für ein Glas Wasser in Kauf zu nehmen. Slim ließ ihn trinken und wartete geduldig, als er nicht in der Lage war, das Glas auf Anhieb zu leeren, weil er sich nach der Hälfte beinahe verschluckt hätte und erst verschnaufen mußte wie jemand, der sich trotz seiner Schwäche mehr zumuten wollte, als er verkraften konnte.
"Danke", sagte Jess leise und leckte sich die rissigen Lippen, nachdem er es endlich geschafft hatte. "Ich danke dir", wiederholte er, "nicht nur für das Glas Wasser und auch nicht nur dafür, was du in den letzten zwei Wochen für mich getan hast."
"Soviel war das gar nicht", unterbrach Slim ihn, obwohl er merkte, daß er noch mehr sagen wollte. "Ich wollte, es wäre mehr gewesen."
"Es war mehr, als du denkst. Nicht allein in den letzten zwei Wochen, sondern in all den Jahre vorher schon", fügte er mit melancholischem Unterton hinzu. Er fühlte die aufkommende Müdigkeit und wollte noch ein paar wichtige Gedanken loswerden, ehe er einschlief. Trotz aller Vorsätze und Versprechungen mußte er mit der Möglichkeit rechnen, nicht mehr aufzuwachen. "Nachdem ich alles verloren hatte, hast du mir hier zum erstenmal wieder das Gefühl für ein Zuhause gegeben. Selbst die kurze Zeit mit Laura bedeutete kein anhaltendes Glück." Über diesen schmerzlichen Punkt in seiner Vergangenheit ging er sehr schnell hinweg, um sich nicht auch noch mit traurigen Erinnerungen zu quälen. "Es ist gut zu wissen, wenn man so etwas wie eine Familie hat, die in jeder Lage zu einem hält, die einen nicht im Stich läßt, wenn man Hilfe braucht, ein Heim, wohin man gehört." In seinen Augen spiegelte sich die innere Zufriedenheit, die ihn plötzlich überkam, als er an die freundschaftliche Verbundenheit dachte, mit der er sich an diese Ranch und ihre Bewohner gekettet fühlte. "Früher konnte ich so etwas nur schwer begreifen, vielleicht weil ich wenig Gelegenheit hatte, so etwas in dem Maße kennenzulernen, bis ich hierherkam. Es ist mir in all den Jahren nie so deutlich bewußt geworden wie in diesem Augenblick." Wenn Sentimentalität ein Zeichen dafür sein soll, daß es bald zu Ende geht, dachte Jess, dauert es bei mir nicht mehr lange. Trotzdem hätte er sich seine Worte nicht verkniffen, weil er sie nun einfach sagen wollte. Seine Situation erlaubte es ihm zum erstenmal, über diese Empfindungen zu sprechen, weil seine körperliche Schwäche die harte Schale um seinen weichen Kern schmelzen ließ und ihm wenigstens in dieser Minute das Recht gab, Dinge offen zu sagen, die er sonst allenfalls verschämt dachte, weil er befürchtete, sie könnten seinem männlichen Stolz Abbruch tun. "Vielleicht verstehst du jetzt, warum mir dieses Versprechen so wichtig war."
Schweigend sah Slim ihn an, war im Moment nicht fähig, irgend etwas zu sagen. Seine Worte berührten ihn seltsam, er fühlte einen Kloß in seiner Kehle, der sich selbst nach heftigem Schlucken nicht lösen wollte. Auch ihm war in all den Jahren diese tiefe brüderliche Zuneigung, die ihn mit diesem Mann verband, nie so intensiv bewußt geworden wie gerade jetzt.
In stiller Ergriffenheit drückte er seine Hand, nickte stumm. Um ein Haar hätte er dabei die Fassung verloren, als er daran dachte, wie groß die Gefahr war, den Freund auf eine Weise zu verlieren, die bei ihm eine vergleichsweise ebenso schmerzende Wunde riß, wie sie die Kugel bei Jess verursacht hatte.
"Mike darf die Geborgenheit dieser Familie nicht verlieren, auch wenn ich nicht mehr für ihn dasein sollte. Die Gefahr, so wie ich damals den Halt zu verlieren und auf die schiefe Bahn zu geraten, ist einfach zu groß. Das mußt du unbedingt verhindern. Wer weiß, ob er soviel Glück hätte wie ich vor acht Jahren, als ich deine Bekanntschaft machte. Ich weiß, du wirst gut zu ihm sein, daß er mich bald kaum vermissen wird."
Das Sprechen fiel Jess immer schwerer, aber er behauptete seinen Willen noch eisern gegen die größer werdende Schwäche und die aufkommende Müdigkeit, die ihn übermannen wollte.
Slim verkniff es sich im letzten Augenblick, heftig Widerrede zu geben. Es hätte nur zu einem unnötigen Wortgefecht geführt, für das Jess nicht in der richtigen Verfassung war.
"Bitte, hör jetzt auf zu reden, Jess!" bat er statt dessen in beinahe sanftem Ton, als er sah, daß der Freund vor Erschöpfung kaum noch die Augen offen halten konnte. "Schlaf lieber! Ich werde die Vorhänge zuziehen."
"Laß nur! Es ist so angenehm, wenn die Sonne hereinscheint. Wer weiß, ob ich …" Den Gedanken behielt er lieber für sich. "Ich möchte nur, daß du noch einen Augenblick bleibst. Bitte warte, bis ich eingeschlafen bin, ehe du gehst. Ich … ich möchte jetzt nicht allein sein."
"Keine Angst, ich bleibe", versprach der Rancher. "Und, Jess, mach dir bitte keine Sorgen wegen Mike!" fügte er hinzu, weil er der Meinung war, ihm dies nicht klar genug versichert zu haben.
"Danke", sagte Jess so leise, daß es außer ihm niemand mehr verstehen konnte.
Endlich schloß er die Augen. Noch ein paarmal verzog er keuchend das Gesicht, ehe sich seine Züge allmählich entspannten.
Geduldig wartete Slim, bis er eingeschlafen war, während er still auf der Bettkante saß und sein ruhiges, gleichmäßiges Atmen verfolgte. Als er nach einer Weile aufstand, schlief der Freund so fest, daß er wahrscheinlich nicht einmal aufwachte, wenn das Haus über ihm zusammenbräche.
Slim verließ das Zimmer. Nachdenklich blieb er an der angelehnten Tür stehen und rieb sein unrasiertes Kinn. Als Daisy, die den Frühstückstisch deckte, auf ihn zukam und ihn ansprach, erschrak er sogar etwas, weil er anscheinend nicht mit ihrer Anwesenheit gerechnet hatte. Mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte er ihren Gutenmorgengruß, bewußt ihrem forschenden Blick ausweichend, obwohl er sich denken konnte, daß sie einiges trotz der geschlossenen Tür des Krankenzimmers mitbekommen hatte.
"Wie geht es ihm?" fragte sie deshalb.
"Er schläft."
"Slim, ich habe ihn vorhin … Was ist denn gewesen?"
"Er war wach, und wir haben uns lange unterhalten, bis ihn die Schmerzen … Zuerst wollte er nicht, daß ich ihm Laudanum gebe. Dann ist es jedoch so schlimm geworden, daß er mich selbst darum gebeten hat. Daisy, ich weiß, daß Jess eine Menge aushalten kann, bestimmt sogar mehr als ich. Aber das … Es muß furchtbar sein, wenn man das Gefühl hat, jeder Atemzug zerreißt einen. Wie er das überhaupt aushält … Ich bewundre ihn. Das hilft ihm zwar nicht, aber vielleicht hilft es mir, darüber hinwegzukommen, daß ich nichts für ihn tun kann."
"Sie tun mehr für ihn, als Sie denken."
"Genau davon wollte er mich auch überzeugen. Ich wollte, es wäre so. Dabei ist er nicht halb so optimistisch, wie er vorgibt zu sein."
"Wie meinen Sie das?"
"Ich mußte ihm versprechen, mich um Mike zu kümmern, falls er es … nicht mehr kann."
"Slim!" Aus ihrem Erstaunen wurde mit einem Mal Entsetzen.
"Die Hoffnungslosigkeit, mit der er das sagte … Daisy, ich habe Jess noch nie so reden hören. Wie jemand, der weiß, daß es keine Rettung mehr geben kann. Als ob er für immer einschlafen und nicht mehr aufwachen wollte."
"Weiß er denn, was passiert ist?"
"Ja, er hat nicht eher Ruhe gegeben, bis ich es ihm sagte. Nur daß Mike alles gesehen hat, habe ich ihm nicht gesagt. Das wäre zuviel für ihn gewesen. Anscheinend nimmt er an, daß der Junge in der Schule war. Ich habe ihn vorerst in dem Glauben gelassen. Das ist im Augenblick bestimmt besser für ihn. Die Wahrheit hätte ihn umgebracht."
"Weiß er auch über sich Bescheid?"
Slim nickte stumm mit zusammengepreßten Lippen.
"Meinen Sie nicht, daß es noch zu früh war, ihm das zu sagen?"
"Natürlich", brummte er unwirsch. "Nur wußte er es schon. Nicht ich habe es ihm gesagt, sondern er mir. Und als er mich fragte, ob … ob seine … seine … Daisy, was sollte ich ihm da sagen? Sollte ich ihn vielleicht anlügen? Abgesehen davon, hätte er mir nichts anderes als die Wahrheit geglaubt, zudem er letztendlich ein Recht darauf hat."
"Wenn er das alles weiß, ist es doch nur verständlich, wenn er so redet, wenn er sich Sorgen um Mikes Zukunft macht und sich Ihnen als seinem besten Freund anvertraut."
"Anvertrauen schon, es fragt sich nur, wie. Daisy, so wie er geredet hat, glaubt er selbst anscheinend noch weniger an eine Zukunft für sich als ich. Es hörte sich ganz so an, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen. Ich glaube, er ist eher bereit … es macht ihm weniger aus, sterben zu müssen als zu leben und nicht wieder gesund zu werden."
"Wundert Sie das?"
"Es erschreckt mich."
"Warum? Weil er so denkt, wie Sie an seiner Stelle denken würden?"
"Ich weiß nicht, ob ich so denken würde."
"Aber ich weiß es", sagte sie mit unverkennbarer Bestimmtheit und legte wie zur Bestätigung die Hand auf seinen Unterarm. "Geben Sie ihm Zeit, damit fertig zu werden. Ich kann mir vorstellen, daß es nicht einfach für ihn ist. So etwas wäre für niemanden einfach. Für ihn sowenig wie für Sie oder jemand anders, der sich in seiner Lage befände. Aber wer weiß, vielleicht löst sich dieses Problem von ganz allein, wenn er die Sache doch noch ohne bleibenden Schaden übersteht."
"Glauben Sie denn daran?"
Sie nahm die Hand von seinem Arm und wich seinem Blick aus. Jetzt war sie es, die nach den passenden Worten suchte. Wenn sie ehrlich war, ging es ihr genauso wie ihm, als er versuchte, auf Jess einzureden, ihm gutgemeinte Ratschläge erteilen wollte, an die er sich selbst nicht hielt.
"Ich hoffe es", kam es etwas unsicher über ihre Lippen. "Deshalb glaube ich daran. Das sollten Sie auch. Um so mehr, solange er es selbst nicht tut."
"Ich wollte, das wäre alles so einfach. Ich habe ganz einfach Angst, daß er trotz der leichten Besserung, die sich Gott sei Dank in den letzten Tagen bei ihm eingestellt hat, plötzlich seinen letzten Atemzug macht und die Augen für immer schließt. Mir wird überhaupt nicht besser dabei, wenn er damit auch noch selbst allen Ernstes rechnet. Ich will zwar nicht behaupten, daß er darauf wartet, aber überraschen würde es ihn nicht."
"Wie gesagt, Slim, wir müssen ihm Zeit geben", meinte Daisy und mußte sich anscheinend trotz aller gespielten Zuversicht zwingen, nicht ganz so hoffnungslos zu klingen wie der Rancher. "… und uns selbst wahrscheinlich auch."
"Sicher, aber solange ihn diese Schmerzen zum Schreien bringen und ihn dieser blutige Auswurf bei jedem Hustenanfall aufs neue zu ersticken droht, fürchte ich, daß er keine Zeit mehr hat, daß ich bald gezwungen bin, dieses Versprechen, das ich ihm geben mußte, einzulösen. Ich kann nur hoffen, daß es nicht soweit kommen wird."
"Ich glaube, das tun wir alle, auch Jess. Er weiß, daß Mike ihn braucht wie sonst niemanden auf dieser Welt. Für ihn wird er kämpfen, auch wenn er es für sich selbst vielleicht schon längst aufgegeben hätte. Dieser entscheidende Punkt ist das, was mich mit einer gewissen Zuversicht in die Zukunft blicken läßt."
"Hoffentlich behalten Sie recht", war Slim da weitaus skeptischer.
"Ich behalte recht, Sie werden sehen!"
"Wo ist eigentlich Mike?" wechselte er dann sehr spontan das Thema. "Ist er noch oben?"
"Nein, er ist draußen, die Hühner füttern und die Eier einsammeln. Er war heute ausnahmsweise einmal sehr früh auf."
"Ist er schon länger draußen?"
"Keine Sorge, er hat Jess bestimmt nicht gehört."
"Gott sei Dank! Ich möchte ihm das jetzt nicht erklären müssen. Sorgen Sie bitte dafür, daß er nicht zu ihm reingeht. Jess kann jederzeit aufwachen. Ich will nicht, daß der Junge ausgerechnet dann bei ihm ist. Ich glaube, die Aufregung wäre zuviel für ihn."
"Keine Angst, ich werde ihn schon irgendwie beschäftigen und von Jess fernhalten, auch wenn es nicht ganz einfach werden wird."
Fortsetzung folgt
