KAPITEL 12

In den nächsten paar Tagen schlief Jess fast rund um die Uhr. Gegen Ende der Woche besserte sich sein Zustand so weit, daß sich die Schmerzen in einigermaßen erträglichen Grenzen hielten und er meist sogar nachts ohne betäubende Wirkung von Laudanum oder sonstiger Medikamente Ruhe fand.

An diesem Abend half Mike mit seiner üblichen Begeisterung für diese Arbeit Daisy in der Küche beim Abwasch, während sich Slim mit der gleichen Begeisterung in sein Arbeitszimmer zurückzog, um die Post durchzusehen. Aus irgendeinem Grund konnte er sich jedoch nicht auf den Papierkram konzentrieren. Als ihm die neueste Ausgabe der "Laramie Chronicle" in die Hände fiel, war es mit seinem Interesse an der übrigen Post ganz aus.

"Amokschütze immer noch auf freiem Fuß" stand da in fetten Lettern auf der Titelseite. Gary Morgan hatte wieder einmal einen aufrührerischen Artikel geschrieben, wobei er bei der Wahl seiner Worte nicht gerade zimperlich gewesen war.

Slim konnte nicht alles lesen. Als er an die Stelle kam, an der Morgan den Zwischenfall auf der Ranch für seine Leser aufrollte und recht dramatisch für sie in Erinnerung rief, brach Slim ab und warf die Zeitung vor sich auf den Schreibtisch.

Gewiß machte er Gary Morgan keinen Vorwurf, daß er seine Leser auf dem laufenden hielt, aber Slim brauchte weder Gary Morgan noch dessen Zeitung, um seine Erinnerung an dieses Verbrechen wachzuhalten. Dafür sorgte leider schon sein todkranker Freund auch heute noch nach knapp drei Wochen.

Eine plötzliche Unruhe trieb ihn auf einmal ins Krankenzimmer. Im Wohnraum hörte er, wie Daisy und Mike in der Küche wirtschafteten und sich dabei unterhielten. Er beachtete sie nicht weiter und drückte die Tür zum Krankenzimmer auf.

Jess schien fest zu schlafen. Slim wollte sich schon wieder zurückziehen, um ihn keinesfalls zu stören. Aber da sprach Jess ihn ganz unvermittelt an.

"Slim?" rief er ihm nach, als er schon fast wieder die Tür hinter sich angelehnt hatte.

Heftige Schmerzen hatten ihn vor kurzem aus dem Schlaf gerissen. Als sie endlich nachließen, döste er vor sich hin, konnte aber trotz fester Absicht nicht wieder einschlafen. Dann hatte er plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Er hatte Slim nicht gehört, er hatte nur seine Nähe gespürt. Als er die Augen aufschlug, sah er gerade noch, wie der Freund schon wieder das Zimmer verlassen wollte. Jetzt wandte dieser sich um und kam zurück.

"Ich dachte, du schläfst. Ich wollte dich nicht stören", entschuldigte er sein Weggehen.

"Du hast mich nicht gestört."

"Wie fühlst du dich denn?"

"Willst du das tatsächlich wissen?" vergewisserte sich Jess und zog die Brauen zusammen, daß sein schmales Gesicht noch hagerer wirkte. "Weißt du, mir geht es prächtig. Ehrlich! Ich könnte Bäume ausreißen. Leider fehlt mir die Kraft dazu. Ich kann ja noch nicht einmal allein essen oder trinken." Er zwang sich zu einem Grinsen, um von seiner ernsten Lage abzulenken. "Um ganz ehrlich zu sein, ich fühl' mich mehr als beschissen. Aber das braucht dich nicht weiter zu beunruhigen. Vor allem brauchst du es Daisy nicht zu sagen. Ich will nicht, daß sie sich noch mehr Sorgen macht."

"Ich versprech' dir, daß es unter uns bleibt. Und was machen die Schmerzen?"

Jess zog abermals die Brauen zusammen, wobei er aussah, als wollte er wissen, ob diese Frage sein Ernst war.

"Du stellst vielleicht Fragen!" brummte er und verzog gleich darauf das Gesicht, weil er nicht ganz so offen zeigen wollte, wie sehr sich eine Beantwortung dieser Frage erübrigte. "Gibst du mir bitte einen Schluck Wasser?" bat er statt dessen.

"Natürlich!"

Obwohl sich Jess sichtlich Mühe gab, beim Trinken nichts in die falsche Kehle zu bekommen, hätte er sich beinahe dabei verschluckt. Sein Hustenreiz legte sich erst, als Slim den Kissenberg, auf dem er bereits lag, erhöhte. Allerdings dauerte es eine ganze Weile, bis auch die Schmerzen endlich erträglicher wurden.

"Ich will dich jetzt lieber nicht noch einmal fragen, wie das mit den Schmerzen war."

"Es ist … wirklich besser, wenn du es läßt." Jess versuchte ein argloses Grinsen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. "Wie wäre es eigentlich, wenn ich jetzt mal zur Abwechslung die Fragen stelle?"

"Ich kann mir schon denken, wovon du gleich wieder anfängst."

"Ist es denn ein Wunder, daß mich diese Sache beschäftigt?" fragte Jess fast ein wenig vorwurfsvoll auf Slims abweisende Reaktion.

"Nein, natürlich nicht, aber ich meine eben, daß du nicht soviel grübeln sollst. Das tut deiner angeschlagenen Gesundheit bestimmt nicht besonders gut."

"Das mag schon sein, aber ich kann es nicht verhindern. Was soll ich denn sonst tun, wenn ich hier liege? Sag jetzt bloß nicht, Schafe zählen, sonst spring' ich aus dem Bett."

"Nein, aber vielleicht so etwas Ähnliches."

"Hab' ich mir fast gedacht! Anstatt mir hier solche weisen Ratschläge zu geben, solltest du mir lieber noch einmal diese beiden Kerle genau beschreiben, die hier so unmißverständlich guten Tag gesagt haben. Und versuch nicht wieder auszuweichen! Wie sahen sie aus?"

Slim holte tief Luft. Jess hatte ihn in den letzten Tagen ständig darauf hin angesprochen. Anscheinend war er immer noch der Meinung, daß es für den Überfall auf der Sherman-Ranch einen bestimmten Grund geben mußte und er selbst oder ein Schatten seiner Vergangenheit zumindest ein Teil dieses Grundes war.

"Warum willst du bloß nicht einsehen, daß du die Kerle so wenig kennst, wie sie dich gekannt haben?"

"Woher willst du das so genau wissen? Was ist, wenn sie mich aus der Zeit kennen, ehe ich hierherkam? Du vergißt wohl ganz, daß es in meinem Leben einige dunkle Punkte gibt, die ich nicht leugnen kann und auch gar nicht leugnen will. Was ist, wenn sie zu einem solchen dunklen Punkt gehören?"

"Das glaube ich einfach nicht."

"Aber es ist – verdammt noch mal! – nicht auszuschließen! Wie sahen sie aus?" wiederholte Jess keuchend, ließ sich von seiner Schwäche jedoch nichts weiter anmerken.

"Das kann ich dir eigentlich ganz leicht beantworten", atmete Slim unwillig auf. Wieder einmal mußte er einsehen, daß es zwecklos war zu versuchen, vor dem Freund etwas auf Dauer zu verbergen.

"Dann frage ich mich, warum du's nicht schon längst getan hast!" kam es brummend aus den Kissen.

"Es ist so einfach, weil es von den Kerlen Steckbriefe gibt."

Erstaunt zog Jess die Brauen hoch. Einen Augenblick schien er zu überlegen, ob Slim nun scherzte oder die Wahrheit sagte.

"Steckbriefe? Wieso denn das? Sind die denn bekannt in unserer Gegend? Haben die noch mehr angestellt?"

"Bekannt sind oder waren sie vorher noch nicht, jedenfalls nicht hier. Aber dafür haben sie nach ihrem Besuch bei uns noch einiges angestellt."

"Das hört sich nach allerhand unangenehmen Dingen an."

"Das kann man wohl sagen. Zunächst trafen sie sich hier mit einem gewissen Alexander Owen, der drei Wochen zuvor aus Leavenworth geflohen war. Bei diesem Owen scheint es sich um einen Gewaltverbrecher ersten Grades zu handeln. Es gibt kaum etwas, wofür der nicht eine Strafe zu verbüßen hätte."

"Alexander Owen?" warf Jess nachdenklich ein. "Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor."

"Das kann schon sein. Vor gut einem Jahr hat man ihn nach mehreren Überfällen, darunter ein ziemlich dreister auf einen Zug der Union Pacific, geschnappt und zu lebenslänglich verurteilt. Gary Morgan hat die Geschichte vor ein paar Tagen ausgegraben. Als ich sie in der 'Laramie Chronicle' las, konnte ich mich dunkel daran erinnern, so etwas irgendwann schon einmal in der Zeitung gelesen zu haben. Wahrscheinlich hast du das damals auch getan. Daher wirst du den Namen kennen."

"Hm, schon möglich. Und mit dem Halsabschneider haben sich die zwei Kerle hier getroffen? Möchte wissen, warum das ausgerechnet hier sein mußte."

"Das war anscheinend reiner Zufall. Jedenfalls gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß ihr Zusammentreffen hier irgend etwas mit uns oder mit dir zu tun hatte. Wahrscheinlich haben sie sich unsere Ranch einfach nur als leicht zu findenden Orientierungspunkt ausgesucht. Zuerst hatte ich auch befürchtet, daß die zwei auf dich warteten. Als du nach Hause kamst, hat mich der eine gefragt, ob ich dich kennen würde. Ich habe ihnen absichtlich deinen Namen genannt und sie genau beobachtet, wie sie darauf reagierten. Glaube mir, die hatten keine Ahnung, wer dieser Jess Harper war, der ihnen da nichtsahnend vor die Flinte lief. Für die war es nur eine willkommene Abwechslung, auf einen Menschen zu schießen. Daß sie dich nicht kannten, erhöhte einfach nur das Vergnügen, das sie dabei hatten. Mir kommt es so vor, als wollten sie mit diesem Schuß nicht nur dir wehtun, sondern auch Daisy und mir, indem sie uns zwangen, es hilflos geschehen zu lassen und mit anzusehen. Dabei weiß ich nicht, was ihnen mehr Spaß machte." Slim machte eine kurze Pause, besann sich, ehe er mit düsterer Miene fortfuhr. "Von hier aus sind sie dann nach Pine City geritten, wo der, dem du diesen unfreiwilligen Aufenthalt unter der Bettdecke zu verdanken hast, erst einmal seinen Schießprügel gegen einen anderen eintauschte. Bei Deep River haben sie den Handelsposten überfallen und den alten Bud Franklin um die Ecke gebracht …"

"Den alten Bud?" vergewisserte sich Jess erstaunt, nachdem er sich zu Slims bisheriger Schilderung stillschweigend seine eigenen Gedanken gemacht hatte. Er kannte den alten Kauz ebenfalls und hatte ihm immer gern einen kurzen Besuch zu einem kühlen Glas Bier und ein paar freundlichen Worten abgestattet, wenn er in der Nähe von Deep River zu tun hatte. "Warum ausgerechnet ihn?"

Slim erzählte ihm daraufhin alles, was er von Mort Cory erfahren hatte.

"Das ist ja furchtbar!" Jess hatte über diese Nachrichten schnell seine Schmerzen vergessen. Vor allem die Sache mit dem Mädchen, das bei dem Überfall in Medicine Bow in die Schußlinie geraten war, schien ihn sehr zu berühren. Obwohl in gewisser Beziehung ein abgebrühtes Rauhbein – Kinder liebte er über alles, und er fand es als etwas Unverzeihliches, wenn sie wegen Erwachsener in Gefahr gerieten oder gar leiden mußten. "Jemand muß doch diese mordgierigen Halunken zur Strecke bringen können!"

"Mort hat sie sofort nach dem Überfall hier mit seinen Leuten verfolgt. Bis jetzt hat er es nicht geschafft, sie ausfindig zu machen. Die sind nicht nur gefährlich, sondern auch sehr gerissen. Mort meinte, sie halten sich in den Bergen versteckt, wo sie noch nicht einmal eine Meute mit Bluthunden aufspüren könnte. Er ist mit den Männern immer noch unterwegs. Und die Steckbriefe scheinen auch keinen Erfolg zu bringen."

"Kann ich diese Steckbriefe einmal sehen?"

"Sicher, aber du solltest dir nicht zuviel davon versprechen."

"Ich verspreche mir gar nichts. Ich wünsche mir nur, daß sie endlich jemand zur Hölle schickt, nicht meinetwegen, sondern wegen Bud und des Mädchens aus Medicine Bow."

"Ich hol' sie dir", versprach Slim und stand auf, um das Zimmer zu verlassen.

In seinem Arbeitszimmer zog er eine Lade seines Schreibtisches auf und griff nach den obenaufliegenden Steckbriefen. Der von Alexander Owen war vor ein paar Tagen aus Leavenworth mit der Post gekommen. Er hatte jeweils ein Exemplar von ihm und dem der beiden anderen an den dicken Stamm des Baumes direkt neben dem Haus geheftet, damit sie jeder, der vorbeikam, sofort sehen konnte. Einen zweiten verwahrte er in der Schublade. Die übrigen hatte Mike unbedingt haben wollen, um sie hinter dem Hof an die Stallwand zu hängen und in jeder freien Minute mit Schlammkugeln auf die Konterfeis zu schießen.

Slim ging zurück zum Krankenzimmer, blieb aber noch einen Augenblick im Rahmen der offenen Tür stehen, als zweifelte er erneut daran, daß es für Jess gut war, sich jetzt schon so sehr mit dem ganzen zu beschäftigen.

Sein Blick wanderte unschlüssig zwischen den Steckbriefen in seiner Hand und dem Freund hin und her. Er befürchtete zu recht, daß er ihn mit einer weiteren und vor allem intensiveren Konfrontation des Geschehens mehr aufregte, als er in seinem geschwächten Zustand verkraften konnte. Auf der anderen Seite kannte er ihn jedoch gut genug, um zu wissen, daß es ihn viel mehr aufregte, wenn er nur die halbe Wahrheit erfuhr und sich den Rest selbst zusammenreimte.

Eine Weile beobachtete Slim ihn unauffällig, ohne daß es ihm selbst bewußt wurde oder Jess es gemerkt hätte. Dieser hatte im Moment genug mit sich selbst zu tun, als daß er sich auf seine Umwelt hätte voll konzentrieren können. Seine Wunde schmerzte offensichtlich mehr, als er vor sich selbst, geschweige denn vor sonst jemandem zugeben wollte. Als er anfing zu husten und die Rechte fester gegen seine bandagierte Brust drückte, kam Slim mit raschen Schritten auf ihn zu, um ihm zu helfen. Jess beruhigte sich jedoch bald und hatte sich gleich darauf wieder fest in der Gewalt.

"Alles in Ordnung?"

"Alles bestens", log Jess und versuchte, sich von seinen Schmerzen nichts anmerken zu lassen, wenn ihn auch sein schwerer Atem verriet. "Hast du die Steckbriefe?" Slim reichte sie ihm. Mit einer schwachen Handbewegung griff Jess danach, und als er sie hochhielt, war deutlich zu sehen, wie seine Rechte zitterte, weil er selbst dafür kaum genügend Kraft besaß. "Diesen Alexander Owen muß ich schon mal gesehen haben", sinnierte er, während er die Abbildung auf dem obersten Blatt mit zugekniffenen Augen musterte, als könnte er sie so besser erkennen. "Ich weiß nur nicht genau, wo und wann. War der schon mal in unserer Gegend?"

"Ich glaube nicht. Bevor man ihn vor gut einem Jahr schnappte, hat er sich vor allem in den Dakotas herumgetrieben. Aber ich kann mich erinnern, daß von ihm ein Steckbrief auch in unserem Territorium im Umlauf war, nachdem er im Grenzgebiet zu Nebraska die Eisenbahn um eine hübsche Summe erleichtert hatte."

"Ja, ich meine, daran kann ich mich auch erinnern. Daher werde ich ihn kennen. Wenn ich ihm schon mal begegnet wäre, wüßte ich das bestimmt. So ein auffälliges Gesicht vergißt man nicht so leicht." Jess überflog die kurze Personenbeschreibung unter dem Bild, ehe er den Steckbrief auf die Bettdecke rutschen ließ. Als er nur noch den zweiten hochhielt, verfinsterte sich der Ausdruck in seinem Gesicht wie der Himmel beim Anzug eines gewaltigen Unwetters. "Und das sind die beiden", stellte er wie beiläufig mit einem drohenden Unterton in seiner rauhen Stimme fest. "Die habe ich noch nie gesehen. Welcher von ihnen hat … geschossen?"

"Der da." Slim tippte auf die eine der beiden Abbildungen. Der Anblick der beiden Männer weckte in ihm die schreckliche Erinnerung an den Vorfall auf der Ranch. "Es war dieser Hal, der abdrückte. Ihm hast du das alles zu verdanken. Ihm und mir."

"Slim!"

"Ist doch wahr!" begehrte er auf.

"Nein, das ist nicht wahr!" widersprach Jess ärgerlich. Für einen Augenblick hatte er die beiden Männer auf dem Steckbrief vergessen. Slims Selbstvorwürfe regten ihn dermaßen auf, daß er sogar für kurze Zeit Farbe ins Gesicht bekam. "Warum hörst du nicht endlich auf, dir diese unsinnige Schuld vorzuwerfen? Du machst mich mit deinem dummen Gerede ganz wild!"

"Ich kann's dir nicht verdenken; aber es würde nichts ändern. Dieses Schuldgefühl wird mich mein Leben lang verfolgen. Das wird keiner verhindern können – auch du nicht!"

"Du bist ja verrückt!"

"Mag sein. Trotzdem solltest du dich deshalb nicht so aufregen. Du würdest umgekehrt an meiner Stelle genau das gleiche sagen. Das weiß ich."

"Du weißt ja nicht, was du da redest! Manchmal denke ich, daß diese verdammte Kugel dich schlimmer erwischt hat als mich. Irgendwie scheint sie etwas mit deinem Verstand angerichtet zu haben", bemerkte Jess bissig. "War das deine Idee mit der Belohnung?" fragte er dann, um von diesem leidigen Thema abzulenken.

"Nein, aber Mort meinte, es könnte nichts schaden, wenn man auf ihre Köpfe einen Preis aussetzt. Vielleicht beschleunigt das die Sache, obwohl ich es nicht glaube. Und die Kerle selbst wird die Belohnung genausowenig beeindrucken wie die Steckbriefe. Das sind Profis, die sich von so etwas nicht einschüchtern lassen. Aber die Gemeinde war nun mal der Meinung, daß sie dir das schuldig ist. Sie hat die Belohnung ausgesetzt."

"Wieso schuldig ist?"

"Nun ja, der Bürgermeister meinte halt, daß du der Stadt schon sehr viel Gutes getan hast, daß du oft genug für sie dein Leben riskiert und deinen Kopf hingehalten hast. Da wollte er nun endlich einmal etwas für dich tun. Und ehrlich gesagt, ich finde das sogar in Ordnung."

"Aber das ist doch Unsinn! Wieso hast du denen das bloß nicht ausgeredet?"

"Warum sollte ich? Schließlich hat da der Bürgermeister noch nicht einmal so unrecht. Wenn es hier schon drunter und drüber ging und du deinen Hals oft genug für Leute hinhalten solltest, die nicht immer nur freundlich von dir sprachen, hast du noch nie die Hände in den Schoß gelegt. Auch Mort ist immer froh, wenn er auf dich zählen kann. Ganz zu schweigen von Kellington, der es immer trefflich versteht, deine Gutmütigkeit auszunutzen. Wie oft findet der es nicht nötig, seinen Fahrern einen Wächter mitzugeben! Und das nur, weil er weiß, daß du mehr Verantwortung besitzt als er. Du hast seine Kutschen schon jedesmal nur aus reiner Gefälligkeit begleitet, ohne daß es ihm eingefallen wäre, er könnte dir dafür etwas schulden. Auch wenn wir die Konzession für das Depot haben, bist du deshalb noch lange nicht verpflichtet, dein Leben für diese Gesellschaft zu riskieren. Du kannst jedesmal die Dreckarbeit für ihn machen, und er denkt nur an seinen Profit. Sicher, bis jetzt ist es immer oder, sagen wir, meistens gut gegangen und dir ist nie ernsthaft etwas passiert. Aber es kann auch einmal anders kommen."

"Ich habe dafür nie etwas verlangt. Mir geht es dabei weder ums Geld noch um Anerkennung oder schöne Worte, sondern ganz allein um die Sicherheit der Menschen. Ich bin mit vielen der Fahrer befreundet. Soll ich Däumchen drehen und zusehen, wie ihnen was geschieht, nur weil Kellington zu geizig ist, reguläre Wachen einzusetzen?"

"Das verlangt niemand von dir. Aber wenn es für Kellington schon eine Selbstverständlichkeit ist, daß du für die Gesellschaft aus reiner Gefälligkeit – oder nenn es von mir aus wie du willst! – Kopf und Kragen riskierst und dir dabei auch noch gelegentlich eines in den Pelz brennen läßt, nur weil du halt mehr Verantwortungsbewußtsein besitzt als er, finde ich es schon ganz in Ordnung, daß er als Mitglied des Gemeinderates diese Belohnung befürwortet hat. Wahrscheinlich hat er es in erster Linie getan, weil er sich um die Sicherheit seiner Kutschen sorgt, solange die Kerle noch nicht gefaßt sind, aber es macht einen besseren Eindruck bei seinen Wählern, wenn er behauptet, er hätte es für dich getan. Letztendlich ist es doch auch egal, aus welchem Grund die Stadt das Geld für eine Belohnung aufbringt. Hauptsache, sie erfüllt ihren Zweck, indem sie die Festnahme der Kerle beschleunigt."

"Glaubst du denn, daß sie das tut?"

"Nein, aber niemand braucht sich dann Vorwürfe zu machen, nicht alles versucht zu haben."

"Am besten werde ich versuchen, es auch so zu sehen." Jess wedelte mit finsterer Miene mit dem Steckbrief in der Hand. "Es fällt mir bestimmt leichter, wenn ich dabei an Bud und das Mädchen aus Medicine Bow denke und an all die anderen, die die Bekanntschaft von den Kerlen machen, ehe sie endlich hinter Schloß und Riegel oder, noch besser, gleich auf dem Weg zur Hölle sind. Mir kann die Belohnung jedenfalls nicht mehr helfen, aber vielleicht hilft sie all jenen, die nach mir an der Reihe sind und nicht soviel Glück haben."

"Genauso sehe ich die Sache auch. Diese drei sind skrupellose Killer, die eine Gefahr für jeden bedeuten, der ihnen in die Quere kommt. Je schneller man sie zur Strecke bringt, desto besser."

"Meinst du wirklich, das ist so einfach?"

"Nein, die verstehen ihr Geschäft. Die ballern grundsätzlich erst drauflos, ehe sie sich über das 'Warum' irgendwelche Gedanken machen. Die sind sich ihrer Sache sogar so sicher, daß sie es noch nicht einmal für nötig finden, sich bei ihrem Auftreten zu maskieren. Entweder ist das bodenloser Leichtsinn oder grenzenlose Dreistigkeit."

"Wahrscheinlich von allem etwas. Dieser Hal sieht jedenfalls so aus, als ob er nicht ganz richtig wäre. Und der andere steht ihm zumindest nach der Zeichnung nicht viel nach."

"Für mich besteht überhaupt kein Zweifel, daß der Bursche sie nicht alle hat. Was mit dir passiert ist, ist der beste Beweis dafür. Weißt du, für mich sind Menschen, die sinnlos Tiere abknallen, schon nicht normal. Wenn aber einer ebenso sinnlos auf Menschen schießt, ist das für mich ein Wahnsinniger."

"Ich bin nur froh, daß es ihm nicht auch noch einfiel, lästige Zeugen zu beseitigen, sonst hätte es hier ein Blutbad gegeben."

"Was denkst du, was das sonst hier war? Für mich war es so nicht weniger schlimm, als wenn sie mir auch noch eines verpaßt hätten."

"Und Daisy?" fragte Jess ernst, weil er ahnte, auf was Slim gleich wieder zu sprechen kam. "Du darfst nicht vergessen, was auch mit ihr hätte geschehen können. Oder Mike! Stell dir vor, dem Jungen wäre etwas geschehen! Ich kann Gott nicht genug danken, daß ihm nichts passiert ist. Ein Glück, daß er in der Schule war."

"Ja", erwiderte Slim mit etwas unsicherer Stimme und senkte den Blick. "Ein Glück!"

Er hatte nicht damit gerechnet, daß Jess ihn so genau beobachtete, sonst wäre er vielleicht etwas vorsichtiger gewesen. Aber auch die Art, wie seine Stimme klang, ließ einen aufmerksamen Menschenkenner stutzig werden. Genau das war der Freund!

Jess mochte zwar in seinem Handeln ein rauher Bursche sein, aber was sein Einfühlungsvermögen und seine Menschenkenntnis betraf, hatte er zweifellos so etwas wie einen sechsten Sinn. Schon die ganze Zeit hatte er einen gewissen Verdacht nicht loswerden können, daß hier in diesem Haus noch mehr geschehen war, als Slim ihm gestehen wollte; aber als jetzt der Rancher so merkwürdig reagierte, wußte er es mit Gewißheit. Anscheinend war es so schlimm, daß er es ihm nicht sagen wollte, um ihm die Aufregung zu ersparen, die einen ernsthaften Rückschlag für seinen Gesundheitszustand bedeuten könnte. Jess regte jedoch seine Geheimniskrämerei bald mehr auf, als er es sich von den Tatsachen vorstellen konnte.

"Slim, er war doch in der Schule, nicht wahr?" vergewisserte er sich deshalb und ahnte Unheilvolles.

"Natürlich!" fuhr Slim ungewollt auf, daß ihn seine unwirsche Reaktion erst recht verriet. "Wo soll er denn sonst gewesen sein um diese Zeit?"

"Ich weiß es nicht."

Der Freund sah ihn durchdringend an, aber Slim wich konsequent seinem Blick aus. Da wußte Jess, daß er nicht die Wahrheit sagte. Keiner von ihnen hatte es jemals fertiggebracht, den anderen anzulügen und dabei offen in die Augen zu sehen. Das verbot ganz einfach die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft. Diese Ehrlichkeit würde Slim auch dazu veranlassen, endlich mit der Wahrheit herauszurücken, selbst auf die Gefahr hin, Jess in seinem augenblicklichen Zustand mit seiner Offenheit mehr zu schaden als zu nützen.

"Vielleicht war er zu Hause, weil der Unterricht ausgefallen ist oder wer weiß was sonst. War er zu Hause?" wiederholte er, ließ den Steckbrief endgültig fallen und griff energisch nach seinem Arm.

"Wie kommst du bloß darauf? Mike war da, wo er vormittags die Woche über hingehört."

"Er war hier, Slim, das weiß ich jetzt. Zumindest war er nicht in der Schule, sonst würdest du nicht so heftig reagieren. Du kannst mich dabei ja noch nicht einmal ansehen. Du hast mich angelogen, deshalb weichst du mir aus. Ihm ist etwas geschehen, nicht wahr? Das willst du mir nicht sagen. Verdammt noch mal! Sag mir endlich die Wahrheit!" brauste Jess auf und verstärkte den Druck seiner Finger auf seinem Arm. "Was ist mit dem Jungen? Sag's mir endlich!" Er war so aufgebracht, daß er völlig vergaß, an seine Verletzung und die Schmerzen zu denken, die ihn wie eine Lawine überrollten, als er versuchte, sich aufzurichten. Stöhnend sank er in die Kissen zurück und ließ Slims Arm los, um die Rechte gegen seine Brust zu drücken, in der ein brennendes und stechendes Inferno zu herrschen schien. Aber die Sorge um seinen Pflegesohn ließ ihn das Feuer in seinem Inneren vergessen. "Was ist mit Mike? Wo war er?"

"Wie oft soll ich dir denn noch sagen, daß ihm nichts passiert ist?"

"Slim, wo war er?" wiederholte Jess mit zwar leiser, aber doch sehr eindringlicher Stimme, in der fast ein drohender Unterton mitschwang.

Der Rancher atmete unwillig auf und wich bewußt seinem Blick aus. Er wußte, daß er dem Freund die Wahrheit auf Dauer nicht vorenthalten konnte, aber er war der Meinung, daß es einfach zu früh war, ihn jetzt schon mit allen Einzelheiten zu konfrontieren. Mit seinen Ausflüchten hatte er ihn jedoch bereits wesentlich mehr aufgeregt, als er dies vermutet, geschweige denn, überhaupt beabsichtigt hatte oder gar für Jess gut war. Wenn er ihm jetzt die Wahrheit sagte, konnte es kaum schlimmer kommen.

"Na schön", brummte Slim, nachdem er zu einer Entscheidung gekommen war, vermied es aber weiterhin, ihn offen anzusehen. "Du hast recht. Er war nicht in der Schule."

"War er hier?"

"Ja", nickte er. Obwohl er sich dazu durchgerungen hatte, ihm nun die Wahrheit zu sagen, kostete es ihn eine Überwindung, darüber zu sprechen. "Die Kinder hatten an diesem Dienstag schulfrei, weil ein Zirkus in der Stadt war. Mike war zu Hause, als diese zwei Kerle hier auftauchten."

"Haben sie … haben sie ihm etwas angetan?"

"Nein, nicht direkt."

"Was willst du damit sagen?"

"Nicht direkt und auch nicht körperlich."

"Wie meinst du das?" vergewisserte sich Jess und ahnte bereits, was nun gleich kommen mußte.

"Er hat … er hat … nun ja, er hat alles gesehen."

Jetzt war es endlich heraus! Slim konnte nicht sagen, ob er sich hinterher wohler fühlte in seiner Haut.

Jess wandte hastig den Kopf. Einen Augenblick brauchte er, ehe er Slims Worte mit allen damit verbundenen Auswirkungen begriff. Mit etwas Ähnlichem hatte er zwar gerechnet, aber nachdem er nun Gewißheit hatte, trafen sie ihn doch hart.

"Das ist nicht dein Ernst! Du meinst, er hat … Mein Gott, das ist … das ist ja furchtbar!"

Für einen Moment schloß er die Augen. Ein neuer Schmerz machte sich in seiner Brust breit, ein Schmerz, der nichts mit seiner Wunde oder seiner schlechten körperlichen Verfassung zu tun hatte, der ihn jedoch jeden anderen mit einem Schlag vergessen ließ.

"Ich wollte dir das jetzt nicht sagen. Ich befürchtete, daß es zuviel für dich ist. Und genau das ist es auch!"

"Das … das ist auch fast zuviel", mußte Jess zugeben, als er sich einigermaßen gefaßt hatte. "Trotzdem bin ich froh, daß du es mir endlich gesagt hast." Mit zitternder Hand fuhr er sich übers Gesicht. Wenn Slim ihm sagte, die zwei Männer hätten den Jungen mißhandelt, träfe es ihn nicht schlimmer. "Konntest du das nicht verhindern?"

"Nein, sonst hätte ich es garantiert getan. Das kannst du mir glauben!"

"Haben die Kerle ihn dazu gezwungen?"

"Nein, sie wußten Gott sei Dank nicht, daß noch jemand im Haus ist. Mike war in seinem Zimmer, als die zwei hier eindrangen. Als dieser Hal das Haus durchsuchte, hat er sich unter seinem Bett versteckt. Ich wünschte, er wäre dort auch geblieben."

"Hat … hat ihn dieser Hal … hat er ihn gefunden?"

"Nein, zum Glück nicht! Aber … nun ja, du kennst ja Mike und weißt, wie er ist. Als die Gefahr für ihn erst einmal vorüber war, trieb ihn die Neugierde aus seinem Versteck. Er duckte sich auf dem Flur hinter das Treppengeländer. Von dort konnte er alles beobachten. Er sah dich fallen und hörte dich schreien. Er hat gesehen, wie du … wie du das Blut gehustet hast und daran beinahe erstickt wärst. Später hat er auch gehört, wie Dan zu uns sagte, daß wir … daß wir mit dem Schlimmsten … Mein Gott, Jess, ich wünschte, ich hätte … Verdammt noch mal! Ich konnte es nicht verhindern! Es tut mir leid! Noch nicht einmal das konnte ich für dich tun! Noch nicht einmal dazu war ich imstande!"

"Das ist doch Unsinn, Slim!" widersprach Jess energisch. Anscheinend hatte er sich nach diesem Schock besser unter Kontrolle als der Freund. "Was hättest du denn tun wollen? Wenn du versucht hättest, irgend etwas daran zu ändern, hättest du wahrscheinlich alles nur schlimmer gemacht. Vielleicht wären dann die Kerle auf die Idee gekommen, Mike … Slim, du konntest das genausowenig verhindern wie das andere."

"Es ist wirklich erstaunlich, wie du immer wieder versuchst, über meine Mitschuld an allem hinwegzusehen. Trotzdem kann es für all das keine Entschuldigung geben. Nicht für mich! Zuerst lass' ich dich ungehindert in diese Kugel rennen, dann unternehm' ich noch nicht einmal etwas, um wenigstens Mike dieses schreckliche Erlebnis zu ersparen."

"Slim, hör endlich auf, dir daran auch noch die Schuld zu geben! Du hast dir nichts vorzuwerfen! Ich sage es dir noch einmal: jeder andere hätte es an deiner Stelle genauso hilflos geschehen lassen müssen – jeder, auch ich! Ich will nicht, daß du dich in Selbstvorwürfe hineinsteigerst, die völlig unbegründet sind. Es wäre schade, wenn du damit mit der Zeit etwas zerstörtest, was uns beiden soviel bedeutet."

"Wie meinst du das?" fragte Slim verwirrt, mit zusammengezogenen Brauen und finsterer Miene.

"Muß ich dir das wirklich vorbuchstabieren?"

Sie wechselten einen langen, vielsagenden Blick. Ihre tiefe freundschaftliche, ja, brüderliche Verbundenheit ließ sie, ohne daß noch ein Wort in der Beziehung gefallen wäre, über diese Angelegenheit einig werden. Vielleicht half es Slim endlich, seine Selbstvorwürfe zu bewältigen, wenn Jess ihm unmißverständlich zeigte, daß sich zwischen ihnen und ihrem absoluten Vertrauen zueinander nichts geändert hatte und sich in Zukunft auch nichts änderte, selbst wenn die Schuld, die der Rancher glaubte, sich vorwerfen zu müssen, noch so groß war.

"Was ist mit Mike? Wie geht es ihm?" wollte Jess plötzlich wissen und war an nichts anderem mehr interessiert.

"Er hat einen ziemlichen Schock erlitten. Das kannst du dir sicher denken." Trotz aller Offenheit, mit der Slim ihm nun begegnen wollte, versuchte er, seine Worte genau zu wählen und ihn nicht unnötig mehr aufzuregen, als er es bisher schon getan hatte. "Miss Finch hat ihn bis auf weiteres vom Unterricht freigestellt. Sie war der Meinung, daß er zu Hause eher die Möglichkeit hat, darüber hinwegzukommen. In der Schule konnte er sich nicht konzentrieren. Er hatte nur Gedanken für das, was … was er gesehen hat. Daisy und ich versuchen, so gut es geht, ihn mit nützlicher Arbeit abzulenken. Ich habe das Gefühl, es hilft meistens nicht viel. Anfangs hat er sehr viel geweint und darunter gelitten. Seit er weiß, daß es dir bessergeht, hat er sich etwas gefangen. Das Schlimme ist, daß er mit niemandem darüber sprechen will außer mit dir. Jeden Tag fragt er mich mindestens ein dutzendmal, wie es dir geht und wann er endlich zu dir darf. So oft es dein Zustand zuließ, habe ich ihn hier sein lassen, weil ich das Gefühl hatte, er brauchte nichts so sehr wie deine Nähe. Obwohl du nur still dagelegen hast und ohne Besinnung warst, hast du dem Jungen mehr gegeben, als Daisy und ich es jemals fertiggebracht hätten. In diesen zweieinhalb Wochen habe ich erst so richtig gemerkt, wie sehr er dich liebt und was du für ihn bedeutest."

Für einen Augenblick wußte Jess nicht, was er sagen sollte. Schweigend starrte er auf die Stelle, wo sein linker Arm die Bettdecke wölbte. Deutlich war ihm anzusehen, daß ihn Slims Feststellung tief berührte.

"Er bedeutet mir auch sehr viel", murmelte er vor sich hin, daß Slim ihn kaum verstehen konnte. "Mein eigen Fleisch und Blut könnte mir nicht mehr bedeuten." Gedankenvoll faßte er an seinen Verband. Plötzlich schaute er entschlossen auf. In seinen dunklen Augen stand eine Melancholie, die eindeutig verriet, daß er nicht halb so rosig in die Zukunft blickte, wie er dies gern getan hätte und – vor allen Dingen – zeigen wollte. "Slim, für den Jungen muß ich wieder gesund werden! Egal, wie, aber ich muß es schaffen! Glaubst du, daß ich das kann?"

"Jess, was ich glaube, ist nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, was du glaubst."

"Sei ehrlich, Slim! Habe ich eine Chance? Was hat Doc Higgins gesagt?"

"Nichts, was du nicht längst wüßtest."

"Du weichst schon wieder aus!"

"Manchmal frag' ich mich, was du eigentlich hören willst, warum du immer wieder davon anfängst?"

"Weil ich die Wahrheit wissen will! Weil ich ein Recht darauf habe! Weil ich wissen muß, was ich zu erwarten habe – was ich Mike sagen kann", setzte Jess noch leise hinzu. "Soll ich dem Jungen vielleicht etwas versprechen, was ich unmöglich halten kann?"

Slim konnte seinem Blick nicht lange standhalten. Verbissen nagte er an seiner Unterlippe. Jess hatte ihn schon wieder festgenagelt.

"Was soll ich dir noch viel sagen? Dan weiß selbst nicht genau, ob du wieder in Ordnung kommst. Du wurdest sehr schwer verwundet. Das weißt du. Du hast lebensgefährliche innere Verletzungen. Es ist ein Wunder, daß du überhaupt noch lebst. Anfangs waren deine Chancen so gut wie gleich Null. Mittlerweile redet Dan immerhin schon von fünfzig zu fünfzig. Wenn du weiter so verbissen kämpfst und es wirklich schaffen willst, sehe ich keinen Grund, daran zu zweifeln, daß es dir auch gelingen wird. Da kann Dan von mir aus denken und sagen, was er will. Schließlich hat er auch an jenem Dienstag behauptet, du würdest den Tag nicht überleben. Nun, wenn ich ehrlich bin, habe ich heute genausowenig Lust wie damals, mir Gedanken darüber zu machen, ob du nun lieber auf dem Friedhof von Laramie oder auf dem Hügel hinter dem Haus begraben sein willst. Und wenn du mich fragst, solltest du daran auch keinen Gedanken verschwenden. – Wegen Mike …" Slim brach ab und überlegte einen Augenblick, ehe er neu anfing. "Vielleicht ist es das beste, wenn du ihm gar nichts versprichst. Versteh mich nicht falsch, Jess, aber ich glaube, das ist für euch beide im Moment besser."

"Ich verstehe", nickte Jess schwer.

Der Hustenanfall überfiel ihn aus heiterem Himmel. Selbst für Slim kam er so überraschend, daß er dem Freund nicht gleich helfen konnte. Zum Glück dauerte die Schrecksekunde bei ihm wirklich nur Sekunden, sonst wäre Jess womöglich erstickt. Slim richtete seinen Oberkörper auf, spürte, wie er regelrecht bebte, als er schwer an seiner Brust lehnte.

Jess hustete einen blutigen Auswurf in das vorgehaltene Handtuch. Die Finger seiner rechten Hand gruben sich tief in seinen Verband. Anscheinend waren die Schmerzen so schlimm, daß sie nur noch zu ertragen waren, indem er sich selbst welche zufügte.

Als sich der Hustenreiz endlich bei ihm legte, lag er erschöpft in Slims Armen, stöhnte und rang röchelnd nach Luft. Sein schwerer Atem und sein verzerrtes Gesicht verrieten, daß er mit aller Kraft und eisernem Willen gegen die übermächtige Flut von Schmerzen ankämpfte, der er um ein Haar nicht gewachsen war.

"Alles in Ordnung?" fragte der Rancher besorgt, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte und sich auch die Finger seiner verkrampften Rechten von seiner Brust lösten.

"Ich glaub' schon", keuchte Jess.

Slim ließ seinen Oberkörper an sich gelehnt, bis er sicher sein konnte, daß Jess den Hustenanfall tatsächlich überstanden hatte. Erst dann bettete er ihn behutsam in die Kissen, wusch sein schweißbedecktes Gesicht, kühlte ihm Hals und Schläfen mit einem feuchten Lappen.

Verstohlen biß sich Jess auf die Unterlippe. Slim beobachtete ihn schweigend, spürte deutlich, daß den Freund trotz seiner üblen Verfassung und seiner Schmerzen etwas beschäftigte. Daß es etwas Schwerwiegendes war, sah er an seinem ernsten, nachdenklichen Gesicht.

"Slim, ich möchte …" Er hielt inne. Fast schien es, als müßte er erst noch einmal überlegen, ob es richtig war, was er sagen wollte. Mit den gefalteten Steckbriefen trommelte er heftig auf seinen linken Arm und nagte an seiner Unterlippe. "Ich möchte den Jungen sehen", sagte er dann entschlossen. "Ich muß versuchen, mit ihm zu reden."

"Was denn? Jetzt?"

"Ganz recht, du hast dich nicht verhört", nickte Jess zum Nachdruck. Als er Slim geradewegs in die Augen sah, wußte dieser, daß er ihm das schwerlich ausreden konnte. "Jetzt!"

"Meinst du nicht, daß das etwas zu früh ist – für euch beide?"

"Du vergißt eines: es kann eigentlich nur zu spät sein, aber niemals mehr zu früh. Dazu ist es nämlich bereits zu spät."

"Jess, ich bitte dich! Du bist dafür noch nicht in der Verfassung. Was meinst du, wenn so etwas wie vorhin passiert, während der Junge dabei ist!"

"Ich werde mich bemühen, daß das nicht geschieht. Und selbst wenn … Wäre das so schlimm? Hat Mike nicht schon ganz andere Dinge sehen müssen? – Bitte, Slim, nur ein paar Minuten! In der kurzen Zeit wird schon nichts dergleichen geschehen. Aber ich muß ihn sehen! Bitte! Vielleicht hilft es ihm, wenn er nur für einen Moment hier sein kann. Glaub mir, ich weiß bestimmt, daß es ihm auf keinen Fall schaden wird."

"Ich dachte dabei weniger an Mike. Ich befürchte, daß es nicht für ihn zuviel wird, sondern für dich. Du hast heute schon genug Aufregung gehabt. Das reicht mindestens für die nächsten drei, vier Tage. Du weißt, was Doc Higgins gesagt hat. Wenn du dich nicht schonst, kann er für nichts garantieren."

"Das kann er anders auch nicht."

"Nein, aber du mußt es schließlich nicht herausfordern. Ich denke, du willst unbedingt wieder gesund werden – für Mike. Du weißt selbst, daß das viel wichtiger ist, als wenn du jetzt mit Gewalt versuchst, in einigen wenigen Minuten deine ganze Kraft zu vergeuden. Der Junge braucht dich nicht nur ein paar Augenblicke, sondern einen langen Teil seines Lebens."

"Es hat keinen Zweck, noch länger zu versuchen, mir das auszureden. Ich muß den Jungen sehen – heute noch!" Jess wurde zunehmend ungehalten. "Bitte, Slim, hol ihn her! Ich rege mich sonst tatsächlich mehr auf, als du dir vorstellen kannst."

"Deine Sturheit übertrifft die eines jeden Mulis. Wenn du so weitermachst, wird sie dich wahrscheinlich ins Grab bringen. Am wenigsten verstehe ich, wieso ich das unterstütze."

"Mach nicht so viele Worte! Ruf lieber den Jungen! Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich stärker bin als dieses Chaos in meiner Brust."

Slim atmete unwillig auf. In den acht Jahren, die er Jess nun kannte, hatte er immer wieder die Erfahrung gemacht, daß es zwecklos war, gegen seinen texanischen Dickschädel anzukämpfen. Um Mike an diesem Abend noch zu sehen, wäre er eher aus dem Bett gekrochen, als darauf zu verzichten.

"Hoffentlich bereue ich nicht, daß ich das zulasse", sagte Slim aufatmend und erhob sich.

"Bestimmt nicht!" Jess hielt die Steckbriefe hoch. "Nimm die bitte mit! Ich möchte nicht, daß Mike sie jetzt hier findet."

"Tu mir aber den Gefallen und mute dir nicht zuviel zu. Schick den Jungen rechtzeitig weg, wenn du nicht mehr kannst." Slim griff nach dem gefalteten Papier. "Ich bleibe in der Nähe, falls du mich brauchst."

"Danke", sagte Jess nur.

Er schloß die Augen, als wollte er sich damit vorbereiten. Slim beobachtete ihn noch, wie er versuchte, ruhig durchzuatmen und seinen Körper zu entspannen. Im stillen bewunderte er seine Disziplin. Soviel Selbstbeherrschung hatte er bei noch keinem Menschen erlebt. Slim wußte, daß den Freund nach dem letzten Hustenanfall starke Schmerzen quälten, von denen er sich jedoch auch vor ihm nichts anmerken ließ.

Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer. Draußen hörte er, daß Mike immer noch mit Daisy in der Küche beschäftigt war. Im Vorbeigehen warf er die Steckbriefe durch die offene Tür des Arbeitszimmers auf seinen Schreibtisch. Im Rahmen der Küchentür blieb er stehen, zunächst schweigend, weil er noch nicht wußte, was er sagen sollte.

"Sie wollen uns doch nicht etwa helfen?" sprach Daisy ihn an, die seine Schritte gehört hatte. "Da sind Sie etwas zu spät. Wir sind so gut wie fertig."

"Gott sei Dank!" Slim zwang sich zu einem verschmitzten Grinsen. "Ich war gerade bei Jess."

"Ist er denn wach? Möchte er … Ist etwas geschehen?" fragte sie besorgt. Mit einem Seitenblick auf Mike avisierte sie dem Mann, daß er vorsichtig sein sollte mit dem, was er in Anwesenheit des Jungen sagte. "Wie geht es ihm?"

"Keine Angst, Daisy, es geht ihm ganz gut."

Sie starrte auf das Handtuch in seiner Faust.

"Slim, hat er …?"

Der Rancher nickte stumm.

"Machen Sie sich keine Sorgen! Daran werden wir uns wohl oder übel gewöhnen müssen, zumindest in der nächsten Zeit." Er sah zu Mike hinüber, der die letzten Teller abtrocknete, in den Schrank auf ihren Platz räumte und dann das Geschirrtuch zum Trocknen aufhängte. "Jess hat mich wegen Mike gefragt", redete er mit gedämpfter Stimme, damit der Junge nicht hören konnte, worüber sie sprachen.

"Was haben Sie ihm gesagt?"

"Die Wahrheit, was sonst?"

"Meinen Sie denn, daß das gut für ihn war? Ist es dazu nicht noch ein wenig zu früh gewesen?"

"Sicher, Daisy, aber haben Sie schon einmal versucht, Jess etwas vorzumachen oder ihn zu belügen?" antwortete er mit einer Gegenfrage.

"Ich weiß, was Sie meinen." Sie nickte zustimmend. Genau die gleiche Erfahrung mußte sie auch schon machen, wenn sie versuchte, Jess etwas vorzutäuschen, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. "Wie hat er es aufgenommen?"

"Es hat ihn tief getroffen. Ich glaube, das macht ihm mindestens so viel zu schaffen wie seine Wunde. Er will ihn sehen."

"Slim!"

"Ich weiß, Daisy, aber ich konnte es ihm nicht ausreden. Zuerst dachte ich auch, er hätte sich das nicht richtig überlegt. Aber mittlerweile ist mir bewußt geworden, daß er sehr wohl weiß, was er tut. Sie kennen ihn so gut wie ich. Er tut nie etwas Unüberlegtes und schon gar nicht, wenn es den Jungen betrifft."

"Ich hoffe, daß es auch diesmal das Richtige ist", hatte sie ihre Bedenken.

"Das ist es, glauben Sie mir! Jess würde nie etwas tun, was dem Jungen schaden könnte. Vielleicht hilft es ihm sogar selbst, besser damit fertig zu werden."

"Sie müssen es ja wissen", war sie immer noch skeptisch.

"Nein, Daisy, Jess weiß es. Das ist für mich in dem Fall maßgebend."

Sie blickte zu Mike hinüber, der seine Hände an der Spüle wusch und sorgfältig abtrocknete. Dann starrte sie nachdenklich auf das Handtuch in Slims Hand, nahm es an sich und blickte, entschlossen nickend, auf.

"Ich glaube, Sie haben recht."

Wie zur Bestätigung berührte sie flüchtig seinen Unterarm. Dann ließ sie ihn stehen, um ihrer Arbeit weiter nachzugehen. Einen Augenblick lang schaute er ihr nach, ehe er sich dem Jungen zuwandte.

"Mike, komm bitte mal her!"

Erwartungsvoll kam er angerannt. Slim schlang den Arm um seine Schultern und dirigierte ihn ins Wohnzimmer.

"Jess möchte dich sehen."

"Wirklich?" In Mikes Gesicht ging vor Freude ein wahres Lichtermeer auf. "Darf ich wirklich zu ihm?"

"Ja, mein Junge, aber nur ganz kurz", schränkte Slim gleich ein. "Und du mußt mir versprechen, daß du sofort das Zimmer verläßt, wenn ich dich rufe oder er dich darum bittet."

"Warum denn?"

"Bitte, Mike, stell jetzt nicht solche Fragen! Versprich mir nur, daß du gehorchen wirst!"

"Ich verspreche es! Großes Ehrenwort!" gelobte Mike ohne gekreuzte Finger.

"Gut." Slim fuhr ihm anerkennend über seinen Blondschopf. "Und, bitte, Mike, du darfst ihn auf keinen Fall aufregen oder ihm zu nahe kommen. Du könntest ihm sonst wehtun." Mike wollte etwas einwenden, aber Slim ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Ich weiß, daß du das niemals tun möchtest, aber trotzdem … sei bitte sehr, sehr vorsichtig und komm nur an seine rechte Seite. Denke unbedingt daran, hörst du? Vergiß nicht, er ist sehr, sehr krank."

"Ich weiß", sagte Mike wie ein verständiger Erwachsener.

Slim versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken und folgte ihm bis zur Tür des kleinen Zimmers. Durch einen prüfenden Blick vergewisserte er sich, daß er ihn auch tatsächlich hineinlassen konnte. Während er einen Moment im Rahmen stehenblieb, nickte er ihm aufmunternd zu, da der Junge plötzlich zögerte. Offensichtlich konnte er nicht fassen, daß sein sehnlichster Wunsch der letzten Wochen endlich in Erfüllung gehen sollte.

Mike trat nur einen Schritt in das Zimmer. Gleich hinter der Tür blieb er stehen, schaute fragend zu Slim zurück, der ihm nochmals zunickte. Dann wandte er sich um.

Langsam kam er näher. Neben dem Bett blieb er stehen, starrte Jess mit einer schwer zu erklärenden Mischung aus Wehmut, Sehnsucht und Furcht an. Zuerst getraute er sich nicht, den Mann anzusprechen. Da schlug Jess die Augen auf und drehte den Kopf zu ihm.

"Komm nur her, mein Junge! Hab keine Angst, ich schlafe nicht."

Jess lächelte ihn warmherzig an. Auf seinem bleichen, eingefallenen Gesicht wirkte es etwas verzerrt, dafür sprachen seine dunklen, glänzenden Augen Bände.

"Jess …", stammelte Mike. Vor Freude wußte er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

"Komm, setz dich ein wenig zu mir!"

Mit einer schwachen Bewegung seiner rechten Hand winkte er ihn zu sich. Mike schluckte, biß sich auf die Lippe, um die Tränen zu unterdrücken. Dann war er nicht mehr zu halten, stürzte auf die Knie, fiel seinem Pflegevater um den Hals und weinte hemmungslos.

Unvermittelt zuckte Jess zusammen, als der Junge seiner Wunde zu nahe kam. Er konnte ein leises Aufstöhnen nicht verhindern, hielt einen Augenblick die Luft an, um die Schmerzen besser in den Griff zu bekommen.

"Vorsicht, Mike, nicht so stürmisch!" warnte er mit rauher Stimme und schob den Arm des Jungen etwas zur Seite, der auf seine Brust drückte.

Erschreckt fuhr Mike zurück und starrte ihn entsetzt an.

"Ich habe dir wehgetan, nicht wahr?"

"Nein, Mike, es geht schon. Hab keine Angst!"

Bewußt hatte er gelogen. Mike hatte ihm unbeabsichtigt wehgetan, als er ihn in seinem Ungestüm so heftig drückte, daß Jess fast keine Luft mehr bekam. Statt sich jedoch etwas anmerken zu lassen, zog er den Jungen wieder an sich.

"Das wollte ich nicht!" schluchzte Mike. "Das wollte ich wirklich nicht!"

"Beruhige dich! Es ist ja nichts passiert. Weißt du, es hätte sowieso wehgetan. Es war bestimmt nicht deine Schuld."

"Ganz sicher?"

"Ganz sicher!"

Daraufhin herrschte langes Schweigen. Mike weinte still vor sich hin, hielt dabei seinen Arm fest um Jess geschlungen, rieb seine Wange an der seinen, konnte einfach nicht fassen, daß er wach war, ihn im Arm hielt und sogar schon mit ihm gesprochen hatte.

Wortlos drückte Jess den Jungen an sich, strich ihm zärtlich über Kopf und Nacken und ließ ihn sich erst einmal ausweinen. Beide schöpften sie aus ihrer gegenseitigen Nähe Kraft – Mike für das Überwinden seiner kindlichen Ängste, Jess für die Energie, die seinen Lebenswillen nähren, mit der er gegen seinen hartnäckigen Gegner, den Tod, kämpfen mußte.

Nach einer langen Weile beruhigte sich Mike allmählich, löste sich halb aus Jess' Umarmung und fuhr sich mit dem Unterarm über sein verheultes Gesicht. Dabei hatte er erhebliche Schwierigkeiten, seine triefende Nase zum Stillstand zu bringen, die auch durch konsequentes Hochziehen nicht zu halten war.

"Auf dem Nachttisch liegen Tücher. Damit würde ich es einmal probieren", riet Jess ihm, liebevoll und doch fast ein wenig verschmitzt lächelnd, um ihn etwas aufzumuntern. "Ich komme nicht hin. Mein Arm ist nicht lang genug." Mit zwei Fingern wischte er ein paar Tränen von seiner Wange. "Vielleicht solltest du auch dein Gesicht etwas waschen, sonst fällt Daisy nachher in Ohnmacht, wenn sie dich so sieht. Du weißt doch, sie ist immer der Meinung, wir Männer wären so sparsam mit dem Wasser."

Verschämt heiterte sich Mikes Gesicht etwas auf. Er war sichtlich zwischen Weinen und Lachen hin und her gerissen, biß sich auf die Unterlippe und nickte zustimmend. Er ging um das Fußende des Bettes herum, auf die andere Seite, wo auf dem Nachttisch ein Stapel frischer Tücher lag, ein voller Krug Wasser und eine Schüssel standen.

Seine ausdauernd laufende Nase bekam er erst in den Griff, nachdem er zwei Tücher vollgeschneuzt hatte. Als er auch noch sein Gesicht gewaschen hatte, konnte er wenigstens wieder einigermaßen klar aus den Augen sehen, obwohl sie so verquollen waren, daß er sie zusammenkneifen mußte, weil ihn das Licht der Lampe blendete.

"Na, geht's wieder?" fragte Jess, der ihn die ganze Zeit beobachtete. Mike nickte stumm. "Komm wieder hierüber und setz dich noch ein bißchen zu mir!"

Dafür brauchte Mike keine zweite Aufforderung. Er kam wieder auf Jess' gesunde Seite und ließ sich bei ihm auf der Bettkante nieder. Jess legte halb seinen Arm um ihn, und Mike griff mit beiden Händen nach seiner Rechten.

"Bist du mir jetzt böse?"

"Warum sollte ich das denn?"

"Weil ich … weil ich so geheult habe wie ein albernes Mädchen. Das … das wollte ich wirklich nicht! Aber ich konnte einfach nicht aufhören. Ich werd's bestimmt nicht wieder tun! Das verspreche ich ganz fest! Nur sei mir bitte nicht böse!" redete sich der Junge sein vermeintliches Problem von der Leber.

"Aber, Mike, ich bin dir deshalb doch nicht böse." Jess umschloß mit der Rechten seine beiden Hände, die verlegen mit seinen Fingern spielten. "Manchmal ist es ganz gut, wenn man seinen Gefühlen freien Lauf läßt. Wenn dir nach Weinen ist, wein soviel und solange, wie du willst. Weinen ist so wichtig wie Lachen. Deshalb schämst du dich doch auch nicht."

"Bist du sicher?"

"Absolut!"

Mike war davon zunächst nicht so überzeugt, sondern eher der Meinung, daß Tränen ein Privileg der Mädchen waren, während sie bei einem Jungen nur den Schwächling verrieten. Daß Jess die Sache offensichtlich ganz anders sah, mußte er erst einmal verarbeiten. Über dieses Thema hatten sie sich noch nie ernsthaft unterhalten, weil bisher keine Veranlassung dafür bestand. Allerdings mußte Mike noch nie so viel weinen wie in der letzten Zeit.

"Aber ich möchte doch ein richtiger Cowboy werden – und richtige Cowboys tun das nicht", kam er schließlich zu der Feststellung, die für ihn nur die einzig richtige sein konnte.

"Cowboys in deinem Alter dürfen das."

"Meinst du?" Mike sah ihn ungläubig an. "Du hast aber bestimmt noch nie geweint."

"Doch, Mike", kam die überraschende Antwort, die den Jungen in so großes Erstaunen versetzte, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. "Es ist zwar schon lange her, aber ich war schon erwachsen."

"Das glaube ich dir nicht!"

"Es ist aber so."

"Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum … warum hast du denn geweint?"

"Weil ich vor vielen Jahren einen Menschen verlor, der mir sehr viel bedeutete."

"Wer war das denn?"

Jetzt war Mike neugierig geworden. Jess hatte ihm zwar schon viel von sich erzählt, aber anscheinend gab es da Dinge, über die er doch noch nicht mit ihm gesprochen hatte.

"Darüber wollen wir ein andermal reden", wich Jess aus, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß er hier ein Thema angeschnitten hatte, worüber er sich mit seinem Schützling zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall unterhalten wollte.

Irgendwann würde er ihm einmal davon erzählen, daß er Jahre, bevor er Slims Bekanntschaft machte, ein Mädchen geheiratet hatte, eine bildhübsche junge Frau, die wie ein Stern in sein ebenfalls noch junges Leben getreten war, die er über alles in der Welt geliebt hatte und im Inneren seines Herzens auch heute noch, mehr als zehn Jahre nach ihrem viel zu frühen Tod liebte. Diesen Verlust hatte er bis zu dieser Stunde nicht ganz verwunden.

Für Laura wollte Jess damals seßhaft werden, für sie beide und das Kind, das sie bald von ihm erwartete, eine Existenz aufbauen in der unendlichen Weite seiner texanischen Heimat. Aber es kam alles ganz anders. Laura wurde krank, daß ihr kein Arzt mehr helfen konnte.

Als er sie verlor, drohte er mit ihr endgültig seinen Halt in jeder menschlichen Gemeinschaft zu verlieren, weil das Leben für ihn plötzlich keinen Sinn mehr zu haben schien. Hals über Kopf stürzte er sich in Abenteuer und Gefahren, stand mit Gesetz und Ordnung auf Kriegsfuß, geriet durch schlechte Gesellschaft um ein Haar auf die schiefe Bahn und in die Mühlen der Justiz, lernte am eigenen Leib die Härten und Grausamkeiten eines die Persönlichkeit zerstörenden Strafvollzugs kennen, mußte immer wieder die Verachtung und Intoleranz seiner Mitmenschen spüren, was ihn lange verfolgte und beinahe geschafft hätte, aus ihm einen Kriminellen zu machen, ihm am Ende sogar das Genick zu brechen.

Erst die Begegnung mit Slim, ihre Freundschaft, die sich nach und nach zu dem entwickelte, was sie heute war, gab ihm seinen Respekt vor Recht, Gesetz und Ordnung, seinen Glauben an die Menschheit, nicht zu vergessen, an sein eigenes Leben zurück, machte ihn zu dem, was heute seine Mitmenschen so an ihm schätzten und bei ihnen soviel Anerkennung fand; jemand, der einen dicken Schlußstrich unter sein ehemaliges Leben gezogen hatte, das totale Gegenstück zu diesem ungebändigten Heißsporn, ein völlig anderer Jess Harper, ein grundanständiger Mensch, der bereit war, sich sogar mit seinem Leben dafür einzusetzen, was er früher bekämpfte, der mit voller Überzeugung auf der Seite des Gesetzes und der Gesellschaft stand, woran er zuerst beinahe gescheitert wäre.

Seine Freundschaft zu Slim war das eine Bein, auf dem nun sein Leben mit Standfestigkeit aufbaute. Den endgültigen Halt erhielt es allerdings erst durch die zweite Stütze: Mike. Der Junge bedeutete ihm heute soviel, wie ihm damals seine geliebte Laura bedeutet hatte.

Über diesen Punkt aus seiner Vergangenheit wollte Jess an diesem Abend unter keinen Umständen mit Mike reden. Nicht, weil er annahm, der Junge wäre nicht alt oder verständig genug für so etwas. Ganz im Gegenteil! Mike hätte es gewiß verstanden, denn so erwachsen war er mittlerweile sogar mit seinen zehn Jahren schon.

Vielmehr wäre es ihm selbst zuviel gewesen, darüber zu sprechen. Jess war nicht in der Verfassung, tiefschürfende Gespräche auf Dauer durchzuhalten, ohne daß sich sehr bald seine Schwäche allzu deutlich gezeigt hätte, weil so etwas ganz einfach noch über seine Kräfte ging.

Die Erinnerung an den schmerzlichen Verlust seiner jungen Frau würde ihm auf jeden Fall mehr zu schaffen machen, als ihm lieb sein konnte, weshalb er sofort versuchte, davon abzulenken, zudem er nicht verstehen konnte, wieso er ausgerechnet jetzt daran denken mußte. Jess konnte sich das nur damit erklären, daß er im Augenblick zuviel Zeit hatte zum Grübeln.

"Weißt du, Mike", sagte er schließlich und drückte seine Hände fester, "ich würde sogar auf der Stelle weinen, wenn ich dich verlieren müßte."

"Das würdest du tun?"

"Sicher, das kannst du mir glauben. Wenn man jemanden sehr, sehr liebhat und diesen Jemand in Gefahr weiß oder Angst um ihn hat, so große Angst, weil man ihn vielleicht verlieren könnte, wenn sich einem das Herz aus Furcht und Ohnmacht zusammenzieht, weil man jemandem, der einem sehr viel bedeutet, nicht helfen kann, ist es gewiß nichts Schlimmes, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, selbst wenn man kein Mädchen ist. Jeder, der das nicht verstehen will, hat niemals so etwas wie aufrichtige Zuneigung für jemanden empfunden." Jess blickte nachdenklich zu Mike auf, als wollte er feststellen, ob der Junge seine Worte verstanden hatte. "Es ist bestimmt keine Schande, daß du soviel geweint hast. Du brauchst dich deshalb nicht zu schämen. Im Gegenteil! Ich bin sogar sehr stolz darauf; denn schließlich haben mir deine Tränen gezeigt, wie sehr du mich …"

"Jess!" fiel Mike ihm ins Wort, rutschte von der Bettkante auf die Knie und kuschelte sich eng an ihn, um die wunderbare Gewißheit seiner Nähe besser auskosten zu können. "Ich hab' dich ganz, ganz furchtbar lieb!"

"Ich dich auch, mein Junge, ich dich auch …"

Der Mann legte den Arm um seine Schultern und schloß die Augen wie aus Dankbarkeit dafür, daß er diesen Moment erleben durfte.

"Ich will, daß du … daß du immer bei mir bleibst! Versprichst du mir das?"

Jess war froh, daß Mike sein Gesicht jetzt nicht sehen konnte, weil dieser das seine, an seine Schulter gedrückt, verborgen hielt. Er hätte dem Jungen sonst seine Hilflosigkeit zeigen, ihm gestehen müssen, wie groß die Gefahr eines baldigen Abschieds für immer und seine eigene Angst davor waren; wie die Ohnmacht über diese leidvolle Erkenntnis ebenso sein Gesicht zeichnete wie die körperlichen Schmerzen, die ihn mit ungebrochener Intensität quälten.

Mit zusammengepreßten Lippen und angehaltenem Atem starrte er über Mike hinweg und kämpfte mit aller Kraft darum, die Fassung nicht zu verlieren. Er konnte ihm nicht gleich antworten. Seine Stimme hätte ihm ihren Dienst versagt.

"Bitte, Jess, versprich es mir!" drängte der Junge.

"Ich werde bei dir bleiben, solange ich lebe. Das verspreche ich dir", wählte er sehr sorgfältig seine Worte, um keinerlei Mißverständnisse aufkommen zu lassen.

Mike durchschaute die Zweideutigkeit seiner Worte überraschend schnell.

"Warum denn nicht für immer? Bitte, Jess, versprich mir das! Bitte, du darfst doch nicht … Bitte, versprich es mir! Bitte!"

"Mein Junge, das kann ich dir nicht versprechen."

"Aber warum denn nicht? Sag doch! Warum nicht?"

"Weil …" Nun kam Jess beinahe ins Wanken. Für eine Sekunde wußte er nicht, was er sagen sollte, zweifelte daran, ob es das Richtige war, was er sagen wollte. "Weil ich das nicht allein zu entscheiden habe."

"Aber wieso denn nicht?" Mike erinnerte sich, daß ihm so etwas Ähnliches Daisy Cooper schon einmal gesagt hatte. Da Jess' Worte trotz allem Respekt, den er der Frau entgegenbrachte, für ihn mehr wogen, fürchtete er nun, daß an dieser Feststellung einiges wahr sein mußte. "Jess, du wirst doch wieder gesund werden! Du mußt wieder gesund werden! Bitte! Ich versprech' dir auch, daß ich immer ganz artig bin! Bestimmt! Ich werde Browny nicht mehr so hetzen und immer mein Zimmer aufräumen. Ich werde Tante Daisy freiwillig in der Küche helfen und in der Schule aufpassen und fleißig meine Hausaufgaben machen und alles lernen, was Miss Finch sagt. Ich will immer gehorchen und alles tun, was du willst, aber du mußt mir versprechen, daß du wieder gesund wirst!" Mike hatte sich so erregt, daß er sogar vergaß, gewiß nicht sonderlich zu Jess' Genesung beizutragen, indem er ihm den Ellbogen empfindlich zwischen die Rippen drückte, daß Jess fast die Engel singen hörte. Noch ehe dieser jedoch deshalb etwas sagen konnte, lag Mikes Kopf wieder neben dem seinen und der Junge schlang seinen Arm um seinen Hals, daß der Mann kaum noch Luft bekam. "Bitte, Jess, versprich es mir doch!" bettelte er schluchzend.

"Mike!" Jess versuchte, Mikes Arm von seinem Hals und den spitzen Ellbogen von seiner Brust zu schieben, der seiner Wunde gefährlich nahekam; aber der Junge reagierte auf sein Bemühen genau umgekehrt, wie er sollte. Seine Umklammerung wurde fester, als hätte er Angst, jemand könnte ihm seinen Pflegevater gerade jetzt in diesem Augenblick nehmen. Schließlich hielt es Jess nicht mehr aus. "Mike, bitte, paß auf!" stieß er mühsam hervor und schluckte gequält, um ein lautes Aufstöhnen zu verhindern. "Du … du tust mir sonst weh."

Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Erschreckt fuhr der Junge zurück.

"Jess!" rief er entsetzt. "Das … das wollte ich nicht! Wirklich! Das wollte ich nicht! Das mußt du mir glauben! Ich … ich … ich wollte dir doch nicht … Jess, bitte!" stammelte er und nahm seine Unterlippe so weit zwischen die Zähne, als beabsichtigte er, sie auf der Stelle mitsamt seinem Kinn zu verschlucken.

"Schon gut, mein Junge, beruhige dich!" Mit viel Mühe zwang sich Jess zu einem verharmlosenden Lächeln. In Wirklichkeit war ihm mehr nach Schreien zumute; aber das mußte Mike nicht unbedingt wissen. "Ist … ist ja nichts passiert. Es hat nur ein wenig gepiekt, nichts weiter. Es war nicht deine Schuld. Mach dir keine Sorgen! Ich habe nur ein bißchen übertrieben, weil ich Angst hatte, es würde gleich wehtun."

Diesmal schaffte es Jess nicht, ihm etwas vorzumachen.

"Und ich habe dir doch wehgetan!" stellte Mike mit unverkennbarem Nachdruck fest. "Dabei wollte ich nur, daß du mir versprichst, wieder gesund zu werden. Warum mache ich immer alles falsch, wenn ich es richtig machen will?"

"Aber das tust du doch gar nicht", versuchte Jess, ihn zu trösten.

"Versprichst du es mir?" fing Mike wieder hartnäckig davon an.

Jess antwortete nicht gleich, sondern rieb ihm gedankenversunken den Rücken und fuhr durch seinen Blondschopf.

"Sieh mal, Mike, das einzige, was ich dir versprechen kann, ist, es zu versuchen. Mehr kann ich nicht tun. Die Entscheidung liegt beim lieben Gott, nicht bei mir. Ich kann diese Entscheidung nicht für ihn treffen. Kein Mensch kann das! Wir alle müssen uns seinem Willen beugen. Manchmal erscheint es uns ungerecht, was er bestimmt. Aber glaube mir, er weiß sicher, was er tut. Es wird auf jeden Fall das Richtige sein."

"Aber wenn er … Jess, wenn du … Er darf dich nicht sterben lassen! Das ist bestimmt nicht richtig!"

"Wenn der liebe Gott der Meinung ist, daß es das Richtige ist und mich zu sich ruft, wird er seine Gründe dafür haben. Dann müssen wir das akzeptieren, auch wenn es uns noch so schwerfällt."

"Jess, bitte, du mußt ihm sagen, daß du nicht zu ihm kommen kannst! Dann läßt er dich bestimmt bei mir."

"Ich kann ihm das nicht sagen. Es würde nicht viel nützen. Das muß jemand anders tun."

"Jemand, der dich sehr lieb hat?" Der Mann erwiderte, stumm nickend, Mikes fragenden Blick. "Meinst du, daß es hilft, wenn ich … wenn ich ganz viel zu ihm bete?"

Wenn Jess ehrlich war, bezweifelt er dies; aber er wollte Mike weder die Hoffnung noch seinen Glauben an Gott nehmen.

"Es kann zumindest nicht schaden. Aber versprich dir davon keine Wunder! Wenn der liebe Gott sich nicht umstimmen lassen will, kannst auch du es nicht ändern – und wenn du noch soviel betest."

"Er wird mich schon verstehen", war Mike da viel zuversichtlicher. "Du wirst wieder gesund, bestimmt! Du mußt nur ganz fest daran glauben!"

Es überraschte Jess ein wenig, daß ausgerechnet Mike das zu ihm sagte. Offensichtlich bestand für Mike nicht mehr der geringste Zweifel, daß sein Pflegevater wieder gesund wurde. Jess selbst war sich darüber nicht halb so sicher. Aber er war froh, daß wenigstens sein Schützling etwas positiver in die Zukunft blickte, als es die Aussichten auf diese zuließen. Der Junge war eben wirklich erst zehn Jahre alt, weshalb er viele Dinge mit anderen Augen, mit kindlicher Unbefangenheit sah – sehen durfte –, obwohl er durch das tiefgreifende Erlebnis einen gewaltigen Sprung zum Erwachsensein gemacht hatte. Trotzdem war er immer noch ein Kind – und vielleicht war es gerade seine kindliche Liebe zu seinem Pflegevater, die diesem half, die schwierige Hürde zu nehmen, um endlich über den Berg zu kommen.

Dennoch wollte – nein! mußte – Jess den Jungen auf irgendeine behutsame Weise darauf vorbereiten, daß er bei dem Versuch, sein Versprechen einzulösen, auf der Strecke blieb.

"Mike, du mußt mir auch etwas versprechen", sagte er deshalb, nachdem er lange überlegt hatte, ob er den Jungen mit seinem schwerwiegenden Anliegen belasten sollte.

Mike schüttelte den Kopf und drückte das Gesicht neben Jess' Wange ins Kissen. Damit wollte er unmißverständlich zeigen, daß er nichts von dem hören wollte, womit ihm der Mann eine wahrscheinliche Realität vor Augen zu führen beabsichtigte.

"Mike, bitte, sieh mich an! Du bist doch ein großer Junge und kein kleines Kind mehr. Also, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!"

Zögernd hob Mike den Kopf, biß sich trotzig auf die Lippen, bemühte sich aber trotzdem, Jess' Blick konsequent auszuweichen. Mit einer schwachen Handbewegung strich der Mann über seine Wange. Geduldig wartete er, bis der Junge endlich aufschaute, wobei dessen Augen am Überlaufen waren.

"Mike, ich muß dir nun etwas sehr Ernstes sagen und ich möchte, daß du mir genau zuhörst. Sieh mal, du weißt, daß ich sehr, sehr krank bin. Ich habe dir zwar versprochen, daß ich alles versuchen werde, wieder gesund zu werden, aber trotzdem … Es ist möglich, daß …" Jess wußte auf einmal nicht mehr, wie er sein Anliegen erklären sollte.

"Es ist möglich, daß du sterben mußt, nicht wahr?" vollendete Mike weinerlich den Satz genau in seinem Sinne.

Jetzt war es Jess, der für einen Augenblick die Augen niederschlug und an seiner Lippe kaute. Anscheinend zweifelte er plötzlich daran, ob das, was er sagen wollte, überhaupt das Richtige war. Schließlich blickte er entschlossen auf.

"Ja, Mike, das kann passieren."

"Aber du darfst nicht sterben! Ich hab' dich doch so furchtbar lieb! Bitte, Jess, du mußt wieder gesund werden! Bitte, bitte!"

"Mein Junge, manchmal … manchmal geschehen Dinge, die … Mike, mach es mir doch nicht noch schwerer!" stieß Jess ziemlich hilflos hervor. "Was … was ich dir sagen will … Du mußt mir versprechen, daß, egal wie die Sache für dich und mich, für uns alle ausgehen wird, du niemals den Mut verlieren darfst und die Hoffnung, daß es irgendwie weitergehen wird – auch ohne … mich. Kannst du das verstehen? Ich meine, Slim und Tante Daisy werden immer … werden immer für dich da sein."

"Ich will aber, daß du da bist! Jess, ich will, daß du da bist!"

"Ich weiß, mein Junge. Glaube mir, ich werde alles tun, was ich kann, aber ich weiß nicht, ob meine Kraft reicht, es zu schaffen. Darum möchte ich, daß du weißt …" Jess brach ab. Er konnte nicht weitersprechen. Um ein Haar hätte er nun doch die Fassung verloren. In einer Aufwallung seiner Gefühle drückte er Mike an sich, wobei er sich selbst heftige Schmerzen zufügte, die jedoch neben seinem tiefen seelischen Schmerz harmlos erschienen. "Mein Gott!" schluckte er mühsam. "Steh mir bei! Um Himmels willen, steh mir bei, daß ich das durchhalte!" flehte er mit ihm versagender Stimme, sich nicht daran störend, vor dem Jungen seine Schwäche zu zeigen. Er konnte seine Gefühle nicht mehr verbergen. Dazu fehlte ihm die Kraft.

Noch lange hielten sie sich eng umschlungen, schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend und doch mit dem untrüglichen Empfinden ihrer tiefen Verbundenheit, ihres Zueinandergehörens.

Am liebsten wäre Mike die ganze Nacht über bei seinem Pflegevater geblieben, wäre geborgen in seinem Arm eingeschlafen, wenn auch in wenig bequemer Lage, aber zutiefst glücklich und zufrieden.

Jess hingegen mußte immer mehr gegen eine neue Flut von Schmerzen ankämpfen, die ihm das Atmen zur Hölle machten. Anscheinend hatte er sich vom letzten Hustenanfall doch noch nicht völlig erholt. Lange würde seine Kraft jedenfalls nicht mehr ausreichen, diese Hölle vor seinem Schützling zu verbergen. Zwar wußte er, daß Mike schon ganz andere Dinge erlebt hatte, aber er wollte ihm nicht mehr zumuten, als unbedingt nötig war.

Mike hatte sein Gesicht tief an Jess' Schulter vergraben, so daß er nicht sehen konnte, wie der Mann das seine immer häufiger vor Schmerzen verzog und die Zähne zusammenbeißen mußte, damit kein Laut, der ihn hätte verraten können, über seine aufeinandergepreßten Lippen kam. Schließlich konnte er es kaum noch aushalten. Seine hartnäckigen Versuche, die Schmerzen zu ignorieren, verursachten nur um so heftigere, daß er Mühe hatte, sich vor dem Jungen zu beherrschen.

"Mike", sagte er deshalb mit rauher Stimme, noch ehe es so schlimm wurde, daß er die Gewalt über seine schon bewundernswerte Selbstdisziplin verlor, "du mußt jetzt gehen."

Mike tat einfach, als hätte er seine Worte nicht gehört. Statt dessen kuschelte er sich nur fester an ihn.

"Mike, bitte, es ist schon spät", drängte Jess, da er nicht wußte, wie lange sein eiserner Wille stärker war als seine körperliche Schwäche. "Du mußt jetzt wirklich gehen!"

"Bitte, nur noch ein bißchen!" bettelte Mike und drückte seinen Kopf fester an seine Schulter. "Ich möchte so gern bei dir bleiben."

"Ich weiß. Trotzdem mußt du jetzt gehen!"

"Ich wollte dir doch noch soviel sagen." Mike löste sich endlich von ihm, blieb aber neben dem Bett auf den Knien liegen. "Jetzt ist mir gar nichts eingefallen."

"Du hast mir genug gesagt." Jess zwang sich zu einem Lächeln, aber sogar Mike merkte, daß sein Gesicht seltsam verzerrt wirkte. Feine Schweißperlen bedeckten seine Stirn. "Manchmal … manchmal sagt man mehr, wenn man nicht viel redet, sondern nur sein Herz sprechen läßt. Das hast du getan. Das war für mich viel wertvoller, als wenn die ganze Zeit dein Mund nicht stillgestanden hätte. Aber unsre Unterhaltung hat mich sehr angestrengt. Ich bin ziemlich müde. Deshalb ist es besser, wenn du jetzt gehst."

"Aber ich darf doch morgen wiederkommen?" Irgendwie hatte Mike das unbestimmte Gefühl, daß Jess ihm mit seiner Behauptung, er wäre ziemlich müde, nicht die Wahrheit sagte. "Sag, darf ich wiederkommen?"

"Natürlich", kam nach einigem Zögern die Antwort. "Du mußt vorher jedoch Slim oder Tante Daisy fragen."

Mike nickte stumm. Nach dem Warum wollte er lieber nicht fragen, nachdem er sah, wie Jess sich verstohlen auf die Unterlippe biß.

"Du hast schlimme Schmerzen, nicht wahr?"

Der Mann nahm den Arm von ihm und legte die Hand auf seine bandagierte Brust. Seine Finger tasteten nach der Stelle, wo ihn die Kugel getroffen hatte, verkrampften sich kaum merklich auf dem weißen Leinen seines Verbandes. Da wußte Mike Bescheid! Vorsichtig legte er seine Hand auf den Rücken von Jess' Rechten, als wollte er ihm mit dieser zaghaften Berührung einen Teil seiner Schmerzen abnehmen. Jess griff nach seiner Hand und drückte sie fest gegen seine Brust. Schwer zu sagen, ob er sich auf diese Weise ein wirkungsvolleres Mittel versprach, um seine Schmerzen unter Kontrolle zu halten, oder ob er dem Jungen damit nur zeigen wollte, daß alles halb so schlimm war. Dabei wußte er, daß Mike ihm auf keinen Fall eine strikte Verneinung seiner Frage geglaubt hätte.

"Ach was!" sagte er deshalb. "Es ist halb so wild. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Weißt du, ich denke nur manchmal nicht daran. Dann …"

Jess konnte nicht weitersprechen. Er mußte die Luft anhalten, sonst wäre ein Stöhnen über seine Lippen gekommen. An seinem verkniffenen Gesicht konnte Mike deutlich erkennen, was das "Dann …" bedeutete.

"Es tut sehr weh, nicht wahr?"

"Bitte, frag mich jetzt nicht mehr danach!" preßte Jess atemlos hervor. "Geh, Mike, um Gottes willen, geh! Du mußt … du mußt Slim holen! Ich … ich brauche ihn jetzt. Schnell, beeil dich!" keuchte Jess am äußersten Rand seiner Beherrschung.

Mike löste die Hand aus der seinen und sprang entschlossen auf. Obwohl zuerst nicht viel gefehlt und er beinahe wieder angefangen hätte zu weinen, tat er jetzt eifrig, worum Jess ihn gebeten hatte. Immerhin war er schon erwachsen genug, um zu erkennen, daß sein Pflegevater dringend Hilfe benötigte, die er ihm gewiß nicht geben konnte.

Wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte er aus dem Raum. Das Wohnzimmer war verlassen. Daisy wirtschaftete noch in der Küche. Die Tür zum Büro stand offen. Drinnen brannte Licht.

"Slim!" Mike stürmte hinein und fand Slim hinter dem Schreibtisch, in den Papierkram vertieft. "Slim, Jess sagt, du sollst schnell kommen. Ich glaube, er hat sehr große Schmerzen."

Der Rancher ließ alles fallen, was er gerade in den Händen hielt, sprang auf und ließ ihn stehen, um mit großen Schritten ins Krankenzimmer zu eilen. Er kam gerade recht, um Jess bei einem heftigen Hustenanfall zu helfen, bei dem er fast erstickte. Die sich anschließende Schmerzwoge raubte ihm um ein Haar die Besinnung.

Der Rancher richtete seinen Oberkörper auf und lehnte ihn gegen den seinen. Jess, der sich vor Schmerzen und Atemnot nicht zu helfen wußte, stemmte sich regelrecht gegen ihn, vergrub sein verzerrtes Gesicht tief an Slims Schulter.

Als sich der Hustenreiz endlich legte, war er völlig erschöpft. Seine Hand glitt kraftlos zur Seite, sein schwerer Atem ging stoßweise. Lange Zeit wagte er nicht, sich zu bewegen, hielt die Augen geschlossen und reagierte zunächst auch nicht, als Slim begann, sein Gesicht zu waschen, seine Stirn und Schläfen mit dem feuchten Lappen zu kühlen.

Erst als der Freund ihn vorsichtig zurück auf einen Berg von Kissen gebettet hatte, schlug Jess die Augen auf und drehte langsam den Kopf. Sein müder Blick verriet Slim, daß er mit seiner Kraft am Ende war.

"Ist wieder alles in Ordnung?" fragte der Rancher besorgt.

"Wenn … wenn ich so tue, als gäbe es dieses Brennen und Stechen in meiner Brust nicht …" Jess keuchte, hielt die Luft an und konnte das leise Aufstöhnen beim Ausatmen nicht verhindern. "Ich bin … völlig fertig! Ich kann … nicht mehr. Wenn ich … ganz ehrlich bin, habe ich mit so etwas eigentlich nicht mehr gerechnet. Hoffentlich wird das nicht noch zur Gewohnheit."

Slim erwiderte darauf nichts, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Das, was er befürchtete, wollte er trotz aller Offenheit lieber für sich behalten, obwohl er annahm, daß es auch für Jess kein Geheimnis war.

"Du solltest versuchen zu schlafen", riet er ihm nur. "Das war ein anstrengender Tag für dich. Du hattest genug Aufregung. Wenn du so weitermachst, wird es nie besser werden."

"Ich weiß. Slim, bitte, sag Mike, daß er sich keine Sorgen machen muß, ja? Ich habe ihm versprochen, daß er morgen wiederkommen darf. Er soll dich nur vorher fragen."

"Darüber reden wir morgen noch mal."

"Nein!" widersprach Jess energisch. Gleich darauf biß er sich auf die Unterlippe, weil es ihm sogar Schmerzen bereitete, als er zu schnell den Kopf wandte. "Slim, ich brauche ihn! Ob du es glaubst oder nicht, aber … aber er gibt mir Kraft und auch Mut, mit wenigstens etwas Zuversicht in diese für mich mehr als ungewisse Zukunft zu sehen. Ohne ihn schaffe ich es nicht. Glaub mir, ich brauche ihn! Vielleicht … vielleicht kannst du das nicht verstehen. Ich verstehe es ja selbst nicht. Aber vorhin, als er bei mir war, hatte ich für ein paar Augenblicke ein wunderbares Gefühl der Hoffnung, daß alles wieder gut wird."

"Dieses Gefühl solltest du eigentlich ständig haben und nicht nur für ein paar Augenblicke."

"Komm, hör auf! Machen wir uns nichts vor! Selbst wenn ich jemals wieder auf die Beine anstatt in die Hölle komme, dürfte es unwahrscheinlich sein, daß ich ganz gesund werde. Vergiß nicht, wo diese Kugel steckte! So wie die mich erwischt hat, werde ich über kurz oder lang an den Folgen dieser Verletzung eingehen wie ein Tier, dem man besser gleich den Fangschuß geben sollte. Bis dahin wird diese ewige Husterei noch das kleinere Übel bleiben. Mikes Nähe macht mir die Aussicht auf mein bevorstehendes Ende zwar nicht unbedingt angenehmer, aber ich möchte jeden noch möglichen Augenblick, den ich mit ihm verbringen kann und darf, genießen und dankbar sein für jede Minute, die mir noch für ihn bleibt. Sag jetzt bloß nicht, ich hätte nur Unsinn geredet!"

Slim wich seinem Blick aus.

"Ich sage dazu gar nichts."

"Womit du zugibst, daß ich recht habe."

"Das habe ich nicht behauptet!"

"Lassen wir es gut sein, Slim! Die Tatsachen sind nun mal nicht zu ändern. Ich konnte Mike nicht versprechen, wieder gesund zu werden. Ich habe ihm nur versprochen, es auf jeden Fall zu versuchen. Du weißt, daß ich ein gegebenes Versprechen nach Möglichkeit immer halte. Mach dir also meinetwegen keine Sorgen oder wegen des Jungen! Irgendwie werden wir beide es schon schaffen, über die Runden zu kommen. Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber es wird schon einen Weg geben. Du wirst sehen."

Slim war ein wenig erstaunt über Jess' ständigen Sinneswandel, von einem Extrem ins andere zu fallen. Solche gegensätzlichen Gedankensprünge war er nicht von ihm gewöhnt. Um ehrlich zu sein, vermißte er seine sonst so überaus geradlinige Art, auf die Dinge zuzugehen, allen Schwierigkeiten zu begegnen, seine Probleme in den Griff zu bekommen und zu meistern. Aber vielleicht veranlaßte den Freund diese erschreckende Erkenntnis über die Machtlosigkeit, die ihn lähmte und zur Unfähigkeit zwang, sein im Moment größtes Problem zu seiner eigenen Zufriedenheit oder der eines anderen lösen zu können, zu seinem gedanklichen Zwiespalt, der auf der einen Seite seinen Wunsch nach Leben nährte, auf der anderen Seite seinen Pessimismus in bezug auf seine nicht gerade rosige Zukunft schürte.

"Ich hoffe es für uns alle." Über Slims Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. "Trotzdem solltest du jetzt versuchen zu schlafen. Du hast es verdammt nötig!"

"Ich weiß." Vorsichtig legte Jess die Rechte auf seine Brust. Unter seinem Verband brannte es wie Feuer. Jeder Atemzug schürte die Glut bis zum fast Unerträglichen. "Ich werd's auch gleich versuchen, obwohl ich bezweifle, daß ich es fertigbringe." Erneut mußte er die Luft anhalten und sich auf die Lippe beißen, um nicht zu schreien. "Verdammt!" keuchte er, als er wieder zu Atem kam. "Hört das denn gar nicht mehr auf!"

"Möchtest du etwas von dem Laudanum nehmen?" fragte Slim, obwohl er wußte, daß Jess kein besonderer Freund von dem Beruhigungsmittel war. Ehe er davon nahm, ertrug er lieber die Schmerzen; aber Slim wollte es einfach nicht mehr länger mit ansehen, wie er sich quälte.

"So schlimm ist es noch nicht", log Jess; denn es war mehr als das. "Mach dir keine Sorgen, es wird schon gehen. Dieses … dieses Zeug macht mich … so willenlos. Wenn ich hinterher aufwache, meine ich immer, ich wäre betrunken."

"Aber du könntest wenigstens ruhig schlafen. Warum willst du es dir ständig schwerer machen, als es unbedingt sein muß? Manchmal habe ich das Gefühl, du willst dir damit selbst etwas beweisen."

"Das ist doch Unsinn!" fuhr Jess ungewollt auf. Der anhaltend hohe Schmerzpegel machte ihn anscheinend zunehmend aggressiv. "Ich glaube, ich habe es nicht nötig, irgend jemandem etwas zu beweisen. Am wenigsten mir selbst! Und wenn doch, dann würde ich mir bestimmt etwas Angenehmeres aussuchen als diese verfluchten Schmerzen, auf die ich liebend gern verzichten kann." Plötzlich besann er sich. "Entschuldige", sagte er mit etwas ruhigerer Stimme. "Du darfst es nicht persönlich nehmen, wenn ich mal wild werde."

"Das ist schon in Ordnung", nickte Slim verständnisvoll und lächelte ihn freundschaftlich an. "Ich glaube, das alles zerrt an unser beider Nerven. Ich sage auch oft Dinge, die ich besser für mich behalten sollte. Ich weiß ganz genau, du darfst dich nicht aufregen. Und was mache ich? Ständig reize ich dich, daß du dich ganz einfach aufregen mußt." Er grinste bis über beide Ohren. "Ich verspreche dir, mich zu bessern, aber nur, wenn du jetzt auf der Stelle die Augen zumachst und einschläfst."

Es dauerte eine ganze Weile, ehe ihm dies endlich gelang. Geduldig wartete Slim, bis sich sein Gesicht entspannte und auch seine Atemzüge ruhiger wurden.

Je länger er den Schlafenden betrachtete, desto mehr mußte er zugeben, daß er ihm heute abend ganz und gar nicht gefiel, ja, wenn er ehrlich war, bereitete er ihm irgendwie Sorgen. Er fand sogar, daß Jess verhältnismäßig schlecht aussah, kränker als während der letzten zwei Tage. Offensichtlich war die Aufregung, die er sich an diesem Abend zugemutet hatte, zuviel für ihn gewesen.

Da konnte Slim nur hoffen, daß dies nicht zu einem ernsthaften Rückfall führte und sich sein Gesundheitszustand nach der leichten Besserung in den letzten Tagen wieder verschlechterte. Jess war jedenfalls gewiß noch lange nicht in der Verfassung, einen derartigen Rückfall mit seinen kaum vorhandenen Kraftreserven auszugleichen.

An diesem Abend wagte sich Slim nicht von der Seite seines Freundes, weil er zu recht befürchtete, er könnte ihn noch brauchen. Jess war in einen unruhigen Schlaf gefallen, keuchte ab und zu, drehte immer wieder den Kopf von einer Seite zur anderen. Anscheinend plagten ihn heftige Schmerzen. Trotzdem wachte er nicht auf.

Gegen zwei Uhr morgens schreckte er plötzlich stöhnend auf. Für einen Moment saß er aufrecht im Bett, schien nicht zu wissen, was los war oder wo er sich befand. Offensichtlich hatte ihn ein schlimmer Traum aus dem Schlaf gerissen. Bald kehrte jedoch sein Bewußtsein zurück und mit ihm die Schmerzen. Schwer fiel er in die Kissen, halb auf die linke Schulter, daß es ihm wie Messerstiche durch die Brust fuhr. Gleich darauf erstickte ein Hustenanfall sein lautes Stöhnen. Um überhaupt Luft zu bekommen, rollte er ganz auf die Seite, krümmte sich bei jedem Husten vor Schmerzen, wühlte sich in die Kissen wie ein im Treibsand Versinkender, der verzweifelt einen Halt suchte.

"Slim!" rief er mit heiserer Stimme nach dem Freund, nachdem sich der Hustenreiz endlich bei ihm legte. "Slim!" Sein Hilferuf erstickte fast völlig in einem Röcheln.

Jess hing mit der rechten Schulter über die Bettkante und klammerte sich mit der Hand an die Lade. Die Schmerzen, die er sich selbst dadurch zufügte, waren harmlos im Verhältnis zu denen, die er damit betäuben wollte. Um nicht schreien zu müssen, biß er ins Kissen.

Slim fuhr auf, wie von einer Tarantel gestochen.

"Du lieber Himmel, Jess!" stieß er hervor, als er sah, was los war. Mit einem Schlag war seine Müdigkeit verflogen. Im Nu war er hellwach und nach wenigen großen Schritten bei seinem Freund, um ihm zu helfen. "Jess!" Aber dieser reagierte nicht.

Slim legte ihm die Hand auf den Rücken, packte ihn an der Schulter und versuchte, ihn auf den Rücken zu drehen. Jess hatte sich mit der Rechten so fest an die Bettlade geklammert, daß Slim eine Menge Geduld und auch Gewalt brauchte, um seine wie in Agonie verkrampften Finger zu lösen, und sich wunderte, woher er diese enorme Kraft nahm. Endlich konnte er ihn behutsam auf den Rücken drehen. Dann schob er ihm alle verfügbaren Kissen unter, um ihn in eine halbsitzende Lage zu bringen. Sein Gesicht war völlig verzerrt. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.

"Slim!" stöhnte er, griff mit der Rechten, blind vor Schmerzen, ins Leere.

"Ich bin hier", redete Slim auf ihn ein und ergriff seine suchend nach ihm tastende Hand. "Es ist alles in Ordnung. Beruhige dich, Jess! Es ist alles gut! Bleib ganz ruhig, sonst wird alles nur noch schlimmer."

"Das … das tut so weh! O Gott, tut das weh! Slim!" schrie er und klammerte sich an ihn.

"Komm, ich helfe dir." Der Rancher füllte mit der einen Hand das Glas auf dem Nachttisch halb mit Wasser und schüttete eine ordentliche Menge Laudanum dazu, während er mit der anderen versuchte, ihn ruhig zu halten. "Trink das! Dann hören die Schmerzen auf."

Indem er Jess das Glas an die Lippen setzte, zwang er ihn zu trinken, wenn dieser es auch nur sehr widerwillig tat.

"Ich … ich mag dieses Zeug nicht!" protestierte er und stellte sich an wie ein kleiner Junge, der seine Suppe nicht löffeln wollte.

"Mach nicht so ein Theater! Sei froh, daß es dir über das Schlimmste hinweghilft."

Mit geröteten Augen starrte Jess ihn an. Für einen Augenblick schien er nicht bei vollem Bewußtsein zu sein. Von den starken Schmerzen war er wie gelähmt, hielt die Luft an, klammerte sich fester an Slim und stieß einen jener stummen Schreie aus, die man genau in dem Moment verschluckte, wenn sie die Kehle verlassen wollten.

"Ich … ich glaube, du hast … recht."

Bald setzte die betäubende Wirkung des Laudanums ein, was die Schmerzen erträglicher und Jess selbst etwas ruhiger werden ließ. Trotzdem verzog er immer wieder das Gesicht zu einer verzerrten Grimasse, wenn das Feuer in seiner Brust mit einer Stichflamme aufloderte, daß er sich kaum noch zu helfen wußte. Er atmete schwer, war völlig erschöpft, konnte jedoch trotz des Laudanums nicht einschlafen.

"Was war denn nur?" wollte Slim wissen, der ihm unermüdlich Stirn und Schläfen betupfte.

"Ich weiß nicht genau." Jess konnte nur langsam sprechen wie jemand, der Schwierigkeiten hatte, seine Gedanken in klare Worte zu fassen, der zu müde war, um Lippen und Zunge zu bewegen. "Ich … ich habe geträumt … von … von Laura."

"Von Laura?"

Jess nickte kaum merklich. Einen Augenblick lang schloß er die Augen, als wollte er neue Kraft sammeln.

"Aber das mit Laura ist doch schon so lange her! Möchtest du darüber sprechen?"

Jess überlegte eine Weile. Schließlich sah er mit müden Augen auf.

"Vielleicht wäre das ganz gut. Ich … ich mußte schon am Abend plötzlich an sie denken, als Mike hier war. Ich weiß nicht, wieso auf einmal. Vielleicht weil ich ihr durch all das im Augenblick so nahe bin. Ich habe keine Ahnung."

"Du bist ihr jetzt nicht näher als die ganzen Jahre", wollte Slim ihm seine erneut auflebende Todesahnung ausreden. "Das bildest du dir nur ein."

"Ich wollte, es wäre nur Einbildung." Jess keuchte und nahm stöhnend seine Unterlippe zwischen die Zähne, hielt den Atem an, ehe er endlich weiterreden konnte. "Erinnerst du dich an den Kerl mit dem schwarzen Umhang, der mich in meinen Träumen verfolgt? Von ihm habe ich vorhin geträumt. Diesmal … diesmal habe ich das Gesicht gesehen. Es … es war ein Totenkopf, der mich angrinste. Es ist der … der Tod, der mich verfolgt. Er ist hinter meinem Leben her. Er stand vor mir, hat mir seine knöcherne Hand entgegengestreckt. Ich konnte nicht ausweichen, stand auf einem riesigen Felsen. Um mich gähnte ein Abgrund. Ich wollte fliehen, aber ich wußte nicht, wohin. Der Felsen begann zu bröckeln. Als ich mich fast nicht mehr halten konnte, verwandelte sich plötzlich dieser schwarze Teufel in eine Frauengestalt. Da konnte ich ihr Gesicht erkennen. Es war … es war Laura." Jess schluckte. Das Sprechen strengte ihn sehr an, aber er fuhr fort. Jetzt hatte er davon angefangen, nun mußte er zu Ende erzählen, selbst wenn ihn das Reden noch soviel Kraft kostete. Slim wagte deshalb nicht, ihn zu unterbrechen, obwohl er sah, welche Mühe es ihm bereitete, seine Gedanken in einigermaßen verständliche Worte zu fassen. "Nur ein schmaler Abgrund trennte uns. Sie streckte die Hand nach mir aus, rief meinen Namen. Ich sollte zu ihr kommen. Ich wollte ihr die Hand reichen und über den Abgrund springen. Unsere Fingerspitzen berührten sich. Da rief mich Mike von der anderen Seite. Ich drehte mich um, aber ich konnte ihn nicht sehen, konnte nur seine ängstliche Stimme hören, sollte bei ihm bleiben, nicht zu Laura gehen. Als ich ihr sagen wollte, daß ich ohne den Jungen nicht kommen kann, verwandelte sie sich wieder in diese häßliche Totenkopfgestalt mit dem schwarzen Umhang. Der Tod griff nach meiner Hand und zerrte mich in den Abgrund. Ich fiel und fiel, hörte Mikes Schreie, sein Weinen, Lauras Rufe und das widerliche Lachen des Todes. Davon bin ich wohl wachgeworden."

"Ich wollte, ich könnte verhindern, daß du solche Träume hast." Slim wischte ihm die feinen Schweißperlen von der Stirn. "Nicht genug, daß dich die Schmerzen ständig quälen … Trotzdem … du solltest diesen Traumerlebnissen nicht allzuviel Bedeutung beimessen."

"Ich habe schon seit Jahren nicht mehr von Laura geträumt. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Warum ausgerechnet jetzt? Ich habe noch nicht einmal von ihr geträumt, als ich so hohes Fieber hatte. Zumindest bin ich mir dessen nicht bewußt. Auf einmal ist sie wieder da, so nah und lebendig, als wäre sie gar nicht tot – oder als wäre ich …" Jess brach ab. Ein schwerer Hustenanfall erstickte ihn fast. Danach überrollte ihn trotz des Laudanums eine Schmerzlawine, die ihm die Tränen in die Augen trieb und sein Gesicht zu einer steinernen Grimasse werden ließ. "Slim!" stieß er mühsam hervor, weil er zuerst nicht genügend Luft bekam und beinahe in Panik geriet, als sein Körper eindringlich nach Sauerstoff verlangte, den seine behinderte Atmung nicht sogleich zur Verfügung stellen konnte. Röchelnd und keuchend, klammerte er sich an den Freund, der aus Verzweiflung, ihm nicht helfen zu können, beinahe die Fassung verlor und kein Wort hervorbrachte. "Ich … ich kann das nicht mehr aushalten! Bitte, gib … mir noch von … von dem Zeug!"

Wenn Jess selbst nach dem Laudanum verlangte, dann mußten die Schmerzen mehr als schlimm sein. Schweigend füllte Slim das Glas auf dem Nachttisch. Mit dem Laudanum war er nicht ganz so sparsam, nachdem es beim erstenmal so gut wie keine Wirkung zeigte.

Diesmal trank Jess das Glas ohne Widerrede, ja, fast gierig leer, daß Slim Angst hatte, er würde sich dabei verschlucken. Ehe die Wirkung einsetzte, wüteten die Schmerzen noch einmal so verheerend, daß Jess sogar laut aufschrie. Dann endlich begann das Beruhigungsmittel zu wirken. Die Schmerzen ließen nach. Sein schweres Atmen wurde ruhiger. Sein verkrampfter Körper entspannte sich. Die zweite Dosis Laudanum war anscheinend so hoch, daß sie prompt wirkte. Sein Kopf neigte sich langsam zur Seite, seine rechte Hand rutschte kraftlos von seiner Brust. Endlich schlief er ein.

Slim legte seinen Arm unter die Decke, die er ordentlich glättete und zurechtziehen wollte, als er mit Entsetzen das Blut auf dem weißen Leinen des Verbandes entdeckte. Es war ganz frisch. Der rote Fleck vergrößerte sich rasch, war schon fast so groß wie ein Handteller.

"Um Gottes willen! Auch das noch!" rief er entgeistert.

Eine Weile brauchte er, bis er richtig begriff, was los war. Offensichtlich war die Wunde aufgebrochen, was sicherlich die entsetzlichen Schmerzen verursachte, die Jess nicht mehr aushalten konnte, obwohl er wirklich sehr viel zu ertragen in der Lage war. Jetzt befürchtete Slim, daß vielleicht auch eine innere Blutung eingetreten war, deren Folgen Jess nicht überlebte.

Im Nu hatte sich Slim gefaßt. Da er selbst nichts weiter für den Freund tun konnte, deckte er ihn nur sorgfältig zu und stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Jetzt konnte er ihm nur helfen, indem er in die Stadt ritt und den Arzt trotz der frühen Morgenstunde für ihn holte.

Im Wohnzimmer machte er Licht, zog seine Jacke über, die am Kleiderhaken neben der Haustür hing, und griff nach dem breiten Patronengurt. Routinegemäß überprüfte er die Waffe, obgleich er wußte, daß sie geladen war. Aber er wollte sicher sein, denn unterwegs konnte das Leben davon abhängen, zudem er vermutete, daß sich die Kerle, denen sie ihre Probleme zu verdanken hatten, noch in der Gegend herumtrieben. Deshalb wollte er auch nur ungern das Haus verlassen und die drei anderen Bewohner der Ranch ungeschützt zurücklassen. Aber Jess verblutete vielleicht, wenn er nicht auf dem schnellsten Weg Doc Higgins für ihn holte.

Hastig legte er den Gurt um. Noch während er die Schnalle schloß, eilte Slim in sein Arbeitszimmer, wo er in einer Schublade seines Schreibtisches den Revolvergürtel des Freundes verwahrte. Er zog den Colt aus der Tasche, öffnete die Trommel, füllte die leeren Kammern mit Patronen aus den Laschen seines Gürtels und kontrollierte die einwandfreie Funktion der Waffe, die seit Wochen weder benutzt, noch gereinigt wurde. Jess hielt sie jedoch tadellos in Ordnung, denn wenn er unterwegs war, konnte er es sich nicht leisten, daß sie ihren Dienst versagte – und wenn er nur einer Klapperschlange den Garaus machen mußte.

Slim steckte den Revolver in den Hosenbund, hastete die Treppe hoch und klopfte an Daisy Coopers Schlafzimmertür. Bald sah er durch den Spalt unter der Tür Licht. Gleich darauf öffnete die Frau, noch mit ihrem Morgenrock kämpfend, die Tür.

"Slim, was ist denn?"

"Entschuldigen Sie, daß ich Sie geweckt habe, aber ich muß dringend in die Stadt."

"Was? Jetzt? Mitten in der Nacht?"

"Ich muß Doc Higgins holen."

"Ist etwas mit Jess?"

"Seine Wunde ist aufgebrochen. Er blutet ziemlich stark."

"Oh, mein Gott! Wie konnte das geschehen?"

"Keine Ahnung!" Sie gingen hinunter und betraten das Krankenzimmer. "Vielleicht ist alles nur halb so wild … Auf jeden Fall bedeutet es nichts Gutes. Nachher ist es doch ernster. Dann machte ich mir ewig Vorwürfe, wenn ich nicht den Arzt holte."

Daisy erwiderte zunächst nichts darauf. Sie fühlte Jess' Puls, zählte genau die Schläge, fuhr ihm übers Gesicht, um festzustellen, ob er Fieber hatte.

"Sein Puls ist kräftig, aber er hat erhöhte Temperatur." Dann hob sie die Decke. "Das sieht nicht gut aus. Er verliert ziemlich viel Blut. Es ist wirklich besser, wenn Sie den Arzt holen. Ich möchte den Verband nicht allein öffnen. Damit könnte ich es noch schlimmer machen."

"Meinen Sie, daß er auch wieder innere Blutungen hat?"

"Ich hoffe es nicht. Gehen Sie!" drängte sie nun. "Ich passe solange auf ihn auf."

Er zog Jess' Revolver aus seinem Hosenbund und drückte ihn Daisy in die Hand.

"Hier, nehmen Sie!" Erstaunt sah sie ihn an, da sie nicht wußte, was sie mit dem Schießeisen anfangen sollte. "Das ist Jess' Waffe. Sie ist geladen. Ich nehme an, er wird nichts dagegen haben, wenn ich Ihnen die gebe. Sie können ja zur Not mit so einem Ding umgehen. Vergessen Sie nicht, daß die Kerle noch frei herumlaufen. Ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, daß ich Sie nicht ganz ohne Schutz hier zurücklasse. Jess kann Ihnen nicht helfen, wenn jemand versucht, hier einzudringen. Es müssen ja nicht unbedingt die drei von neulich sein."

Unschlüssig hielt sie den schweren Revolver in der Hand, ehe sie ihn in die geräumige Tasche ihres Morgenrockes steckte.

"Wahrscheinlich haben Sie recht. Jetzt beeilen Sie sich! Es ist ein langer Weg bis Laramie in der Nacht."

Gegen fünf Uhr morgens kam Slim mit dem Arzt zurück.

Higgins untersuchte seinen Patienten sehr gewissenhaft, hörte ihn sorgfältig ab, kontrollierte genau jeden seiner Atemzüge, um eventuell eine innere Blutung festzustellen. Nachdem er den durchgebluteten Verband von der nässenden Wunde entfernt hatte, kam er zu der Diagnose, daß die äußere Blutung der Wunde schlimmer aussah, als sie in Wirklichkeit war.

Endlich nahm Dan das Stethoskop aus den Ohren und blickte nacheinander in die gebannt auf ihn gerichteten Gesichter von Daisy und Slim.

"Soweit ich feststellen kann, hat er uns zum Glück nur einen Schrecken eingejagt. Da sind zwar immer noch jede Menge Geräusche in seiner Lunge, die mir ganz und gar nicht gefallen, aber die hören sich nicht nach einer erneuten Blutung an."

"Gott sei Dank!" entfuhr es Daisy, der diese immerhin den Umständen entsprechend gute Nachricht half, den Anblick der häßlichen Wunde zu ertragen.

"Bist du dir da ganz sicher?" war Slim auf jeden Fall um eine gehörige Portion skeptischer, da er einfach nicht glauben konnte, daß alles nur völlig harmlos war.

"Nun, um ganz sicher zu sein, müßte ich ihn – ziemlich deutlich ausgedrückt – aufschneiden. Aber das würde er nicht überleben."

Im Nu hatte Higgins mit Daisys Hilfe eine perfekt sitzende Bandage um Jess' Brust, Schulter und Arm gelegt. Dank des Laudanums hatte er alles über sich ergehen lassen, ohne sich zu regen. Er schlief tief und fest und machte ganz den Eindruck, als wollte er so schnell nicht wieder aufwachen. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, jedoch nicht ganz so tief wie der eines Gesunden, aber wenigstens frei von diesem entsetzlichen Röcheln, das so oft Husten- und Erstickungsanfälle verursachte. Sein Kreislauf war einigermaßen stabil. Jedenfalls stellte der Arzt zufrieden fest, daß Jess' Herz kräftig, wenn auch mit leicht erhöhter Frequenz schlug.

"Das war wirklich nicht halb so schlimm, wie es zunächst aussah. Egal, was er in den letzten paar Stunden durchgemacht hat … Im Moment geht es ihm verhältnismäßig gut. Die Blutung war zwar nicht ganz harmlos, aber auch nicht lebensbedrohend und zum Glück nur äußerlich."

"Wieso konnte es überhaupt dazu kommen?"

"Nun, Slim, wahrscheinlich sind da mehrere Faktoren gleichzeitig oder nacheinander eingetreten. War er vielleicht in der letzten Zeit besonders unruhig oder aufgeregt?"

"Das kann man wohl sagen. Seit gestern abend weiß er …" Der Rancher überlegte zwei Sekunden. "… weiß er, daß Mike … Er weiß es halt!"

"Du hättest es ihm nicht sagen dürfen. Dafür war es viel zu früh. Kein Wunder, daß dieser seelische Tiefschlag Auswirkungen auf seinen körperlichen Zustand hat. Du hättest wissen müssen, daß ihm deine Offenheit im Moment noch mehr schadet als nützt."

"Es ist nicht meine Schuld, Dan. Ich versuchte so lange wie möglich, ihm die Wahrheit zu verschweigen. Aber Jess hat ein unglaubliches, ich möchte fast sagen, unheimliches Gespür dafür. Ich habe lange genug versucht, ihm etwas vorzumachen. Aber wenn er mich so ansieht, dann … dann kann ich ihn nicht belügen. Sein Blick … Dan, das ist schlimmer, als wenn er einem die Pistole auf die Brust setzte. Deshalb konnte ich ihm auch nicht abschlagen, den Jungen noch am Abend zu sehen. Ich weiß nicht, worüber sich die beiden unterhielten. Jess sagte mir nur heute nacht, er mußte dabei an Laura denken. Von ihr hatte er auch geträumt, was ihn dann aufschreckte."

"Laura? Das ist doch seine verstorbene Frau, nicht wahr?" vergewisserte sich Dan mit einem sinnenden Seitenblick auf seinen Patienten. "Aber soweit ich weiß, ist das mit Laura doch schon über zehn Jahre her."

"Heute nacht war es das nicht. Dieser Traum hat ihn total aufgewühlt. Anscheinend macht er im Moment Dinge durch, die ihm nicht nur körperliche Schmerzen verursachen. Dazu gehört offensichtlich ebenso die Bewältigung dieses Schicksalsschlages aus der Vergangenheit. Dan, es hätte auch nicht so glimpflich ausgehen können. Es hätte ihn umbringen können!"

"Schon möglich, aber diese Gefahr besteht im Moment bei jeder Kleinigkeit. Sein Gesundheitszustand ist nun mal noch sehr labil. Jess ist nach wie vor lange nicht überm Berg und wird es in nächster Zeit auch nicht sein."

"Wenn ich ihn mir so ansehe, habe ich das unbestimmte Gefühl, als wäre er diesmal endgültig eingeschlafen, um nicht wieder aufzuwachen."

"Keine Angst, das kommt von dem vielen Laudanum. Er wird mindestens vierundzwanzig Stunden durchschlafen, sogar eher mehr als weniger."

"Meinst du, die hohe Dosis hat irgendwelche Folgen?"

"Das ist kaum anzunehmen."

"Jess mag dieses Zeug nicht. Neulich hat er mir gesagt, daß er die Schmerzen lieber aushält. Anscheinend befürchtet er, sich zu sehr daran zu gewöhnen."

"Die Gefahr besteht bei ihm gewiß nicht. Dazu ist er viel zu willensstark. Mir wäre sogar lieber, er würde eher welches nehmen, anstatt zu warten, bis ihm nur eine doppelte Dosis hilft. Er sollte froh sein, daß es seine Schmerzen erträglicher macht."

"Du kennst ihn doch."

"Ja, leider!" Dan kontrollierte noch einmal Jess' Puls und legte ihm die Hand auf die Stirn, um festzustellen, ob das Fieber gestiegen war. "Alles unverändert", bemerkte er zufrieden.

Jess verschlief tatsächlich den ganzen Tag und auch die folgende Nacht. Selbst am nächsten Morgen hatte er erhebliche Schwierigkeiten, zu sich zu kommen. Der ausgedehnte, tiefe Schlaf war nicht nur eine Folge des Laudanums, sondern eher der völligen Erschöpfung und eine wirkungsvollere Medizin als alles, was Doc Higgins verschreiben konnte.

Fortsetzung folgt