KAPITEL 13

Im Laufe des Vormittags hatten Daisy und Slim hauptsächlich damit zu tun, Mike aus dem Krankenzimmer fernzuhalten. Der Junge zeigte wenig Verständnis für diese Maßnahme, die für ihn nur ein ungerechtfertigtes Verbot darstellte. Seine Beteuerungen, Jess bestimmt nicht zu stören, stießen bei den beiden Erwachsenen auf taube Ohren, daß er sich widerwillig an die ihm aufgetragenen Arbeiten machte. Nach dem Mittagessen half er Daisy Cooper erst nach einigem Hin und Her. Zuvor hatte er versucht, sich heimlich zu Jess zu schleichen; aber Daisy bemerkte es gerade noch rechtzeitig, packte ihn, halb ärgerlich, halb amüsiert, am Kragen und dirigierte ihn ohne Umschweife in die Küche, wo sie ihn besser im Auge behalten konnte.

Ehe Slim wieder das Haus verließ, um draußen auf dem Hof seiner Arbeit nachzugehen, wollte er sich vergewissern, daß Jess ihn inzwischen nicht vielleicht brauchte. Tatsächlich war dieser gerade am Aufwachen. Das bedeutete, daß die Arbeit noch etwas warten mußte, denn der Freund hatte vor allem anderen Vorrang.

Slim kam ans Bett und wartete geduldig, bis er endlich die Augen aufschlug. Noch ziemlich benommen blinzelte Jess zu ihm auf, hatte zuerst erhebliche Schwierigkeiten, ihn zu erkennen, weil immer wieder dichte Nebelschwaden ihn einhüllten. Mit einer schwachen Handbewegung fuhr er sich zitternd übers Gesicht, um den Schleier vor seinen Augen wegzuwischen. Sein Arm rutschte schwer zur Seite, als hätte ihn diese kaum nennenswerte Bewegung dermaßen angestrengt, daß er sich erst davon erholen mußte.

"Hallo, Slim", brachte er mühsam hervor. Seine Stimme war so leise, daß er sich wunderte, wieso Slim ihn überhaupt hören konnte.

"Na, endlich!" atmete der Freund auf und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. "Ich dachte schon, du wolltest gar nicht mehr aufwachen."

"Wie … wie spät ist denn?"

"Mittag vorbei."

"Was … was war denn … letzte Nacht?"

"Letzte Nacht?" Slim lächelte mitleidig auf ihn herab. "Letzte Nacht hast du geschlafen wie ein Murmeltier, den Tag davor auch. Du warst sechsunddreißig Stunden weggetreten."

"Ich kann mich gar nicht erinnern." Jess schloß für einen Moment die Augen, versuchte, tief durchzuatmen, mußte jedoch erkennen, daß ihm dies nach wie vor nicht bekam. "Ich weiß nur noch, ich hatte furchtbare Schmerzen, du hast mir von dem Teufelszeug gegeben, dann war plötzlich alles dunkel. Irgendwann hab' ich mal Stimmen gehört. Ich weiß noch nicht einmal, ob das Wirklichkeit war oder ich nur geträumt habe. Was war denn?"

"Dan war hier vorletzte Nacht."

"Dan? Weshalb? In der Nacht? Hast … hast du ihn geholt?"

"Ja", nickte der Rancher ernst. "Deine Wunde war aufgebrochen. Sie hat ziemlich stark geblutet. Daisy wollte allein den Verband nicht öffnen, und ich hatte Angst, es könnte Schlimmeres passiert sein. Dan konnte uns jedoch zum Glück beruhigen. Die Blutung war harmlos und nur äußerlich. Er meinte allerdings, du solltest dir nicht mehr soviel zumuten, damit so etwas nicht noch mal vorkommt und dann vielleicht schlimmer endet. Außerdem solltest du dich in Zukunft nicht so mit dem Laudanum anstellen. Es wäre besser, wenn du nicht so lange wartest, bis dir erst eine zweite Dosis hilft. Deine ständige Angst, du könntest dich an das Zeug gewöhnen, ist völlig unbegründet."

"Das sehe ich anders!" widersprach Jess energisch. "Ich mag dieses Zeug nicht."

"Das ist letztendlich deine Sache. Trotzdem solltest du vernünftiger sein."

Jess hatte eine entsprechende Erwiderung auf der Zunge, behielt sie aber für sich. Mit zusammengezogenen Brauen atmete er nur unwillig auf, was ihm jedoch sofort schlecht bekam, biß sich auf die Lippe, war für Sekunden von den Schmerzen wie erstarrt. Ein Hustenanfall folgte seinem Keuchen. Danach war er kaum in der Lage, den Freund um ein Glas Wasser zu bitten, weil seine Stimme ihren Dienst versagte. Slim ließ ihn trinken, gab ihm anschließend viel Zeit, sich von der Anstrengung zu erholen und neue Kräfte zu sammeln.

"Wie fühlst du dich?" fragte Slim nach einer Weile etwas unbeholfen.

Jess verzog das stoppelbärtige Gesicht – Daisy Cooper hatte bis jetzt auf die sonst regelmäßige Rasur verzichtet, um seinen Schlaf nicht zu stören.

"Wie ein dämpfiges Pferd, das bei der geringsten Anstrengung schnauft wie 'ne Lokomotive. Ich glaube, mehr bin ich auch nicht mehr wert. – Sag jetzt bloß nicht, das stimmt nicht!" gebot er einem möglichen Widerspruch des Ranchers noch im gleichen Atemzug Einhalt.

"Zum Glück glaube ich nicht dasselbe."

"Wo gehst du denn hin?" fragte Jess gleich darauf, als Slim aufstand. Anscheinend war es ihm nicht recht, daß er ihn jetzt allein lassen wollte.

"Ich werde Daisy Bescheid sagen, damit sie dir was zu essen bringt und den Urwald in deinem Gesicht rodet. Du siehst aus wie einer aus Morts Bildersammlung."

Jess fuhr sich über sein unrasiertes Kinn.

"Ich seh' bestimmt furchtbar aus", brummte er. "Wie ein schwindsüchtiger Tagedieb, was? Na ja, ich glaube allerdings nicht, daß daran ein Rasiermesser etwas ändert."

"So war es nicht gemeint."

"Ich weiß." Jess mußte keuchen. Von dem sonst folgenden Hustenanfall blieb er diesmal verschont. Vorsorglich schob Slim ihm noch ein Kissen unter, damit er höher lag. "Eh du gehst, gib mir bitte erst noch einen Schluck Wasser. Ich bin vom Reden ganz trocken. Wenn das so merkwürdig in meiner Kehle kratzt, ist die nächste Husterei meist nicht weit. Ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, wieder ein Handtuch vollzuspucken."

Das Keuchen wurde heftiger, mit ihm auch die Schmerzen, obwohl sich Jess nicht viel anmerken ließ.

"Du solltest nicht soviel reden", erinnerte Slim, nachdem er ihm beim Trinken geholfen hatte. "Ich werde dir Daisy schicken."

Durch die nur angelehnte Tür hörte Jess, wie draußen der Freund ein paar Worte mit Daisy Cooper wechselte und dann das Haus verließ, um sich um die eintreffende Mittagskutsche zu kümmern.

In der Küche schälte Mike gerade den letzten der Äpfel, die Daisy für den Kuchen benötigte, den sie am Nachmittag noch backen wollte. Mike zerkleinerte ihn, entfernte sorgfältig das Gehäuse und legte aufatmend das Messer auf den Tisch. Diese ewige Küchenarbeit würde ihn eines Tages noch um den Verstand bringen! Es gab gewiß viel wichtigere Arbeiten, als diese Äpfel zu schälen. Das einzige, was ihn bei dieser langweiligen Arbeit aufrecht hielt, war, daß die Äpfel für seinen Lieblingskuchen gebraucht wurden.

"Tante Daisy, ich bin mit dem Schälen fertig. Darf ich jetzt zu Jess?" fragte er hoffnungsvoll, während er sich die Hände wusch.

"Du warst wirklich sehr fleißig und hast mir viel geholfen", lobte die Frau, womit sie seiner Frage bewußt auswich.

"Sag doch! Darf ich zu ihm?"

"Nein, Mike, jetzt nicht."

"Aber warum denn nicht? Er schläft doch gar nicht mehr. Bitte, Tante Daisy, nur ganz kurz!" bettelte er.

"Nein, Mike!" wiederholte sie freundlich, aber sehr bestimmt. "Du wirst zuerst Slim bei der Arbeit draußen helfen. Außerdem muß Jess erst etwas essen und … überhaupt solltest du jetzt lieber gehorchen. Ich denke, du hast mit dem lieben Gott ein Abkommen getroffen", erinnerte sie ihn an sein Versprechen, artig zu sein und zu gehorchen. "Und jetzt geh und hilf Slim! Was soll ich denn sonst Jess sagen, wenn er mich fragt, ob du ihn auch ordentlich vertrittst?"

Diese Worte waren als Ansporn gedacht, versetzten Mike jedoch nicht in die gewünschte Begeisterung. Er brummte irgend etwas vor sich hin, stibitzte beim Hinausgehen einige Apfelschnitten aus der Schüssel und hatte dann tatsächlich die Absicht, Slim Sherman im Hof bei der Arbeit zu helfen.

Dieser Vorsatz währte allerdings nur bis ins Wohnzimmer. Hier war er unbeobachtet, da sich Daisy dem Küchenherd zuwandte und an dem Jungen nicht weiter interessiert war. Sie nahm an, daß sie ihm ausreichend ihren Standpunkt erklärt hatte, weshalb sie sich nicht weiter darum kümmerte, ob er ihre Anordnungen befolgte. Gewiß wollte Mike nicht ungehorsam sein, aber die Sehnsucht nach seinem Pflegevater ließ ihn alle guten Vorsätze sorgfältig beiseite legen, um später vielleicht darauf zurückzugreifen.

Auf Zehenspitzen schlich er durch den Wohnraum. Unbemerkt huschte er in das kleine Krankenzimmer, daß noch nicht einmal Jess sofort auf ihn aufmerksam wurde, der sonst immer gleich spürte, wenn jemand in seiner Nähe war.

Der Mann hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. In Wirklichkeit war er jedoch hellwach, wenn seine Sinne auch nicht so scharf waren wie sonst. Schuld daran war die leichte Benommenheit, die ihm noch etwas zu schaffen machte. Deshalb erschrak er sogar, nachdem Mike ihn angesprochen hatte, und zog seine Rechte reflexartig vor seiner Berührung zurück. Fast schien es, als fühlte er sich bei irgendeiner Schwäche ertappt.

"Ach, du bist es, Mike!" atmete er auf. Tatsächlich machte er dabei den Eindruck, erleichtert zu sein.

Aufgrund der unerwarteten Reaktion erschrak Mike ebenso, daß beinahe die Apfelschnitten aus seiner Hand gepurzelt wären, die er kunstvoll in seiner Linken aufgetürmt hatte.

"Ich … ich wollte … ich habe … ich wollte dich bestimmt nicht wecken. Ich … ich wollte doch nur … Jetzt … jetzt war ich so laut, daß du … daß du wachgeworden bist. Das … das wollte ich nicht! Bitte entschuldige!" stammelte der Junge.

"Keine Sorge, ich habe nicht geschlafen. Ich bin nur erschrocken, weil ich nicht erwartet habe, daß du da bist. Komm, setz dich zu mir!" Er griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich auf die Bettkante. "Wissen eigentlich Daisy und Slim, daß du hier bist?" Mike schüttelte stumm den Kopf mit wenig schuldbewußter Miene, denn an Jess' Tonfall erkannte er sofort, daß er ihn im Zweifelsfall auf seiner Seite hatte, falls Slim oder Daisy ihn bei seinem nicht genehmigten Besuch erwischte. "Dann paß bloß auf, daß sie dich hier nicht finden! Das gibt sonst ein fürchterliches Donnerwetter."

"Ich weiß, aber ich konnte nicht länger warten. Sie haben mich die ganze Zeit nicht zu dir gelassen. Dabei wollte ich dich doch gar nicht stören. Ich … ich möchte einfach nur … bei dir sein. Bist du mir jetzt böse?"

"Aber nein." Jess tippte ihm an die Nase. "Trotzdem mußt du mir versprechen, das nächste Mal zu gehorchen. Frag in Zukunft erst um Erlaubnis, ja?"

"Warum denn?"

"Weil …" Jess überlegte einen Augenblick. "Weil ich es so haben will."

"Weil du noch sehr krank bist, nicht wahr?" vergewisserte sich der Junge mit traurigem Blick.

"Ja, Mike, genau deshalb", nickte Jess ernst. Sein Gesicht hellte sich jedoch sofort wieder auf, um den Jungen aufzumuntern, noch ehe er anfangen konnte, weiter darüber nachzugrübeln. "Sag mal, für wen hast du denn die Apfelschnitten mitgebracht? Sollten wir die nicht essen? Oder willst du sie noch länger warmhalten?"

Plötzlich fand es Mike selbst komisch, wie er die aufgetürmten Schnitten balancierte. Hartnäckig bestand er darauf, Jess zu füttern.

"Damit du dich nicht anstrengen mußt", erklärte er altgescheit, während er sehr gewissenhaft darauf achtete, daß er ordentlich kaute und beim Essen nicht sprach, damit er sich nicht noch an einem zu großen Bissen verschluckte.

"Du machst das wirklich sehr fachmännisch", mußte Jess loben.

"Du sollst beim Essen nicht sprechen, sonst mußt du wieder husten."

"Von wem hast du denn das gehört?"

"Tante Daisy hat das gesagt. Sie sagte, du müßtest bloß soviel husten, weil du beim Essen immer sprechen wolltest und dich dann verschluckst."

"Da hat sie nicht ganz unrecht", ließ er ihn bewußt in dem Glauben. Die Erklärung fand er noch nicht einmal so schlecht für den Jungen. "Hm", machte er schließlich, als er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, "das war wirklich gut." Daß auch der Apfel nur nach Blut schmeckte, mußte der Junge nicht unbedingt wissen.

"Soll ich noch welche holen? Ich habe eine ganze Schüssel voll geschält und geschnitten – ganz allein!" berichtete Mike stolz. "Tante Daisy will nachher nämlich einen Kuchen backen. Da habe ich ihr geholfen."

"Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt keine Äpfel mehr wegnimmst, sonst reichen sie nachher nicht für den Kuchen. Außerdem könnte dich Daisy dabei erwischen. Dann würde sie doch noch erfahren, daß du dich hier hereingeschlichen hast."

"Dann würde sie mich bestimmt nicht mehr zu dir lassen."

Mike griff mit beiden Händen nach der Rechten seines Pflegevaters und hielt sie fest umschlossen, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein.

Kommentarlos ließ Jess ihn gewähren, erwiderte nur den sanften Druck, womit er dem Jungen ein wohliges Gefühl der Geborgenheit vermittelte, ohne daß sie darüber ein einziges Wort verlieren mußten. Aus diesen gefühlvollen Augenblicken schöpfte er selbst auf geheimnisvolle Art Kraft. Diese Momente waren das beste Mittel, das er allen Widerwärtigkeiten seiner Lage entgegenzusetzen hatte.

"Weißt du was?" brach Mike das Schweigen nach einer Weile, in der sich die beiden nur angesehen und stumme Zwiesprache gehalten hatten. Sie dokumentierte eindeutig die innere Vertrautheit zweier Freunde fürs Leben, das Zueinandergehören und Miteinanderfühlen von Brüdern, die liebevolle Verbundenheit zwischen Vater und Sohn. "Du siehst heute fast genauso aus wie ein richtiger Seeräuber."

Jess mußte verschmitzt grinsen. Im Grunde stimmte es ihn sogar etwas erleichtert, daß Mike schon wieder so unbeschwert mit ihm sprach, zeigte es ihm doch, daß der Junge wenigstens in den ersten Ansätzen das furchtbare Erlebnis verarbeitet hatte.

"So? Wie sieht der denn aus?"

"Na, genauso wie du, mit ganz vielen Stoppeln im Gesicht. Bloß hat der noch ein Auge zugebunden. Siehst du, so!" Mike hielt ihm mit der Linken ein Auge zu und legte den Kopf schief, als wollte er für die Augenklappe Maß nehmen. "Hast du schon einmal einen richtigen Piratenkapitän gesehen?"

"Nein, noch nicht."

"Schade."

"Na, ich weiß nicht, ob das so schade ist. Solche Piraten sind doch im allgemeinen ziemlich üble und gefährliche Burschen."

"Aber du hättest bestimmt keine Angst vor ihnen."

"So sicher wäre ich mir da an deiner Stelle nicht."

"Bin ich aber! Du würdest sie alle mit Leichtigkeit besiegen. Dann wärst du der Kapitän."

Jess schüttelte grinsend den Kopf.

"Ich glaube, Mike, du hast zu viele Räubergeschichten gelesen."

Mike drückte das eine Auge zu und verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen.

"Nur ein paar."

"In deinen Geschichten steht dann aber bestimmt nicht drin, daß solche Seeräuber meistens am Galgen enden, wenn sie erwischt werden. Vor ein paar Jahren hat man in New Orleans eine ganze Bande davon aufgehängt. Willst du, daß man mit mir das gleiche macht?"

"Dich würde man hundertprozentig laufen lassen. Du bist doch ein ganz, ganz furchtbar lieber Seeräuber!"

"Wenn du das sagst …"

"Ganz bestimmt!" versicherte Mike, legte tief aufatmend den Arm um seinen Hals und den Kopf neben den seinen, rieb das Gesicht an seiner unrasierten Wange und hatte in diesem Moment für kurze Zeit vergessen, was geschehen war, was seine Unbeschwertheit, sein Glück auf dieser Welt bedrohte. "Ich hab' dich ja so lieb!"

"Ich dich mindestens ebenso."

"Ist das auch wirklich wahr?"

"Zweifelst du etwa daran?"

Mike richtete sich etwas auf. Diesmal war er sehr vorsichtig dabei, um auf keinen Fall Jess' Wunde zu nahe zu kommen.

"Nein. Nur manchmal habe ich Angst, du könntest mich nicht mehr liebhaben, weil … weil … na ja, weil ich doch nie … weil ich nicht Vater zu dir sage, sondern immer nur deinen Namen", brachte Mike endlich heraus. Fast schien es, als schämte er sich für seine Worte, denn er wich Jess' Blick hartnäckig aus und drückte das Kinn auf seine Brust.

Jess legte den Zeigefinger unter sein Kinn und zwang ihn durch behutsamen Druck, den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. Irgendwie hatte er das Gefühl, Mike wollte seine Probleme damit bekämpfen, indem er sich wegen Nichtigkeiten neue schuf.

"Aber, Mike, es spielt doch keine Rolle, wie du mich nennst. Wichtig ist, was du da drinnen fühlst", Jess tippte ihm an die Brust, "was dein Herz sagt."

"Das sagt, daß du mir … daß du mir …" Vor lauter plötzlichem Eifer fielen dem Jungen nicht gleich die richtigen Worte ein. "… daß du mir unendlich vielmal lieber bist als ein richtiger Vater. Ich meine so einen, wie die anderen Kinder haben. Weißt du, die können alle nicht so mit ihren Vätern reden wie ich mit dir. Ständig erzählen die von dem schrecklichen Ärger, den sie mit ihren Vätern haben. Immer gibt es bei denen zu Hause Streit. Manchmal werden sie sogar ordentlich von ihnen verprügelt. Erst neulich kam Dennis Rover mit einem ganz blauen Auge zum Unterricht. Und einmal hat der Vater von Joe Stanton Joe mit einem Stock so sehr den Hintern versohlt, daß er gar nicht mehr richtig sitzen konnte. Und Mr. Courtney ist ständig betrunken und verprügelt Danny fast jeden Tag. Da bin ich wirklich froh, daß ich so einen Vater nicht habe, sonst wäre es ja genauso schlimm wie in diesem gräßlichen Waisenhaus, von wo ich weggelaufen bin. So einen Vater könnte ich nicht so liebhaben wie dich. Jedenfalls möchte ich dich gegen keinen von denen eintauschen. Nie im Leben! Lieber wäre ich tot!" redete sich Mike alles von der Leber.

"Übertreibst du da nicht ein wenig?"

"Nein, bestimmt nicht!" widersprach er leidenschaftlich, wurde im selben Augenblick jedoch wieder etwas unsicherer, als er mit fast zaghafter, ja, ängstlicher Stimme fortfuhr. "Deshalb mußt du auch unbedingt wieder gesund werden. Ich weiß doch sonst gar nicht, was …"

Jess merkte, daß er ins Stocken geriet und seine Stimme anfing zu zittern.

"Ich habe dir doch versprochen, es zu versuchen", erinnerte er deshalb und rieb ihm zärtlich über die Wange.

"Hast du … hast du es schon ein bißchen probiert? Ich meine, es zu versuchen."

"Natürlich! Deshalb habe ich so lange geschlafen. Ich glaube sogar, es hat etwas geholfen. Ein ganz klein wenig fühle ich mich schon besser."

Das war zwar nicht die absolute Wahrheit, aber auch keine bloße Lüge. Es war so ein Mittelding, eine von allem Negativem entschärfte, mit etwas Optimismus angereicherte Äußerung, die Mikes übermächtig scheinenden Sorgen schmälern sollte.

"Wirklich? Da bin ich aber froh!" rief Mike erfreut. Jess' Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. "Weißt du, ich habe auch ganz viel zum lieben Gott gebetet. Das hat er bestimmt gehört. Darum hat er dir endlich geholfen."

"Ganz sicher."

Jess zwinkerte ihm zu. Dann zog er ihn vorsichtig an sich, um sich nicht vielleicht selbst dabei Schmerzen zu bereiten, rieb ihm den Rücken und empfand es plötzlich als ein wunderbares Glück, den Jungen so nahe bei sich zu haben, seine tiefe Zuneigung zu spüren, zu fühlen, wie sehr sie sich gegenseitig brauchten, wie eng ihre Herzen miteinander verbunden waren.

Gerade rechtzeitig entdeckte Jess Daisy Cooper im Rahmen der Tür, ehe die Frau ein gehöriges Donnerwetter über die beiden loslassen konnte, das sie garantiert im gleichen Atemzug bereut hätte. Sie holte schon Luft und wollte zumindest Mike zurechtweisen, weil er, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, sich ins Krankenzimmer geschlichen hatte, anstatt zu gehorchen und das zu tun, was sie ihm aufgetragen hatte.

Mit einer unauffälligen, jedoch sehr abweisenden Bewegung seiner Rechten winkte Jess energisch ab, noch ehe ein Laut über Daisys Lippen kam. Sie verstand ihn sofort und zog sich, von dem Jungen unbemerkt, zurück. Diese innige Zweisamkeit wollte sie auf keinen Fall stören. Dazu hatte sie kein Recht. Das wußte und akzeptierte sie. Außerdem war sie sicher, daß Jess selbst ein tadelndes Wort mit Mike sprechen würde. Zwar nahm sie an, daß der Mann das auf eine andere Weise tat, als sie es täte oder könnte; dafür erreichte er sein Ziel gewiß leichter und vor allem nachhaltiger. Obwohl sie von sich durchaus behaupten konnte, Mike gut im Griff zu haben, versetzten sie Jess' erzieherische Fähigkeiten immer wieder in Erstaunen, wie er den Jungen geschickt mit einer selbstverständlichen Sicherheit konsequent führte. Bis jetzt konnte sie dieses Geheimnis nicht eindeutig ergründen. Sicher spielten dabei eine gehörige Portion Liebe und Verständnis eine entscheidende Rolle.

Daisy wußte wirklich nicht, worin Jess' Erfolgsrezept bestand, außer daß er es wenn möglich vermied, seinen Schützling mit groben, unbedachten Worten nur zu tadeln, sondern vielmehr versuchte, seine Vernunft und sein Verständnis zu wecken, ihm das Gefühl zu geben, selbst zu entscheiden, ob etwas gut oder schlecht war, wobei er ihn mit Fingerspitzengefühl und Geduld auf den Weg brachte, der ihm als der richtige erschien; ihn wie einen Erwachsenen ernst nahm, jedoch keinen Augenblick vergaß, daß er noch ein Kind war. Ihr war schon aufgefallen, daß er ähnlich bei seiner Arbeit vorging, wenn er junge Pferde trainierte. Sie hatte ihn oft beobachtet und bemerkt – obwohl sie nicht sehr viel von dieser Arbeit verstand –, wie er die Eigensinnigkeit eines störrischen Tieres mit Geduld, aber doch energischer Bestimmtheit brechen konnte, ohne dessen Charakter zu zerstören.

Das Nichtstunkönnen und untätige Herumliegenmüssen machten Jess auf die Dauer ebensoviel zu schaffen wie die eigentliche Ursache. Er war es nicht gewöhnt und verabscheute es, hilflos im Bett liegen zu müssen. Irgendwie kam er sich so nutzlos vor. Hinzu kam diese quälende Ungewißheit, ob er denn überhaupt jemals wieder zu etwas nützte.

Die Gefahr, sich in solche Grübeleien hineinzusteigern, war jetzt besonders groß. Der wirksamste Schutz dagegen war, sich in mehr oder weniger erholsamen Schlaf zu flüchten. Allerdings hatte er das unbestimmte Gefühl, daß ihn diese Überdosis an Schlaf noch träger machte und seine Müdigkeit wie zu einem chronischen, sich ständig steigernden Übel werden ließ.

Trotzdem trug der viele Schlaf erheblich dazu bei, daß es ihm jeden Tag etwas besser ging. Anfangs merkte er dies selbst nicht so richtig. Es wurde ihm kaum bewußt, daß sein labiler Zustand sich allmählich festigte, obwohl ein gewisser Rest an Gefahr für sein Leben bestehen blieb. Er war immer noch sehr schwach. Vor allem die allgegenwärtigen Schmerzen machten ihm manchmal dermaßen zu schaffen, daß es ein leichtes für Slim oder Daisy war, ihn davon zu überzeugen, sie mit Laudanum zu betäuben, obgleich Jess seine grundsätzliche Meinung über diese Art der Schmerzbekämpfung nicht änderte.

Zusammen mit den Schmerzen blieb ihm auch der Husten erhalten. Oft waren die Anfälle so schlimm, daß sie ihn beinahe erstickten. Sie überfielen ihn meist aus heiterem Himmel und trieben den Schmerzpegel bis an die äußerste, manchmal auch über die erträgliche Grenze. Dann zweifelte er jedesmal daran, daß sich sein Gesundheitszustand bereits auf dem Weg zur Besserung befand.

An einem der folgenden Abende war er gerade dabei, sich zu Tode zu langweilen, als ihm Slim nach dem Abendessen einen Besuch abstattete.

"Hallo, Slim!" Zur Begrüßung hob er kurz die Hand. "Ein Glück, daß du kommst, sonst wäre ich vor Langeweile eingegangen."

"Na, Gott sei Dank ist daran noch keiner gestorben", grinste Slim und setzte sich zu ihm. "Wie fühlst du dich denn?"

"Nach nichts Halbem und nichts Ganzem. Zum Wegwerfen zu schade, zum Aufheben nicht gut genug. Ehrlich! Wenn ich noch lange so reglos hier liegen muß …"

"Das wirst du bestimmt noch müssen, wenn du nicht willst, daß es zu unnötigen Komplikationen kommt. Dan sagte zwar, daß die Wunde anfängt, ganz gut zu heilen, aber …"

"Ich weiß!" fiel Jess ihm ins Wort. "Er hat es mir bei seinem letzten Besuch gesagt. So offen war er wenigstens."

"Was machen die Schmerzen?"

"Zur Zeit halten sie sich in Grenzen. Aber manchmal habe ich das Gefühl, die wollen auf gar keinen Fall in Vergessenheit geraten, besonders, wenn ich versuche, tief Luft zu holen."

"Du mußt noch sehr vorsichtig sein."

"Keine Angst, das vergesse ich garantiert nicht, wo du und das hier", er legte die Hand auf seine Brust, "mich ständig daran erinnern." Er grinste. "Sag mal, was macht eigentlich die Arbeit? Wie kommst du voran?" wechselte er dann schnell das Thema, weil er sich über seinen angeschlagenen Gesundheitszustand nicht in allen Einzelheiten auslassen wollte.

"Ganz gut. Es reicht halt gerade für das Nötigste. Irgendwie werd' ich's schon schaffen, bis du wieder einsatzfähig bist. Vor Wintereinbruch ist noch eine Menge zu erledigen."

"Wem sagst du das? Unser Nordzaun ist stellenweise in einem ziemlich üblen Zustand. Als ich das letzte Mal da oben unterwegs war, habe ich gesehen, daß einige Pfosten schon ganz schön angefault sind und unbedingt erneuert werden müssen. Wenn das Vieh im Winter auf die verschneite Hochebene abtriftet, werden wir zu viele Tiere verlieren. Pferde finden genug Futter, aber diese dummen Rindviecher verhungern ja lieber, als daß sie auf die Idee kämen, den Schnee wegzuscharren, um an das Gras darunter zu gelangen."

"Ja, ich weiß, aber für diese Arbeit braucht einer allein mindestens eine Woche, eher sogar zwei oder noch mehr. Wenn ich da hinaufreite – wer soll dann hier das Depot bedienen? Ich kann von Daisy nicht verlangen, daß sie die Gespanne wechselt."

"Die Kutscher könnten das selbst besorgen."

"Schon, aber um ganz ehrlich zu sein, ist der Hauptgrund ein anderer, weshalb ich das Haus nicht länger als unbedingt nötig auf weitere Entfernung verlassen will."

"Sag jetzt bloß nicht, meinetwegen, sonst spring' ich aus dem Bett!"

"Nein, aber du bist immerhin ein Teil des Grundes. Der andere Teil ist der, daß ich Daisy und Mike nicht ohne Schutz für längere Zeit hier allein lassen will, solange diese drei Halsabschneider noch auf freiem Fuß sind. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß sie hier noch einmal – aus welchen Gründen auch immer – auftauchen. Du bist jedenfalls nicht in der Verfassung, es mit ihnen oder auch nur einem von ihnen in irgendeiner Weise aufzunehmen. Ein paar Stück Vieh, die aus eigener Dummheit in den Bergen verhungern, können wir verkraften. Aber ich könnte es nicht ertragen, dich ein zweites Mal auf dem Gewissen zu haben und dazu auch noch Daisy und Mike."

"Du hast mich doch nicht auf dem Gewissen!" warf Jess fast ein wenig empört ein. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, daß Slim die Schuldfrage anders klärte als er.

"Laß uns darüber nicht schon wieder streiten!" bat Slim und hob abweisend die Hand. "Darüber werden wir wohl noch eine ganze Weile geteilter Meinung sein. Aber ich schätze, über Daisy und Mike sind wir uns einig. Ich hatte sogar schon ein ungutes Gefühl, als ich jetzt die drei Tage mit Heueinbringen beschäftigt war. Mike war zwar ständig in meiner Nähe, aber dir und Daisy hätte ich nicht schnell genug helfen können, wenn etwas gewesen wäre."

Beinahe hätte sich Jess in eine endlose Diskussion eingelassen, in der sie dann am Schluß doch nicht eindeutig zu einem Ergebnis gekommen wären. Gerade rechtzeitig besann er sich.

"Haben wir viel Heu verloren?" fragte er deshalb, um von diesem heiklen Thema abzulenken.

Zum Glück verstand Slim den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. Offensichtlich hatte er an diesem Abend auch keine besondere Lust, alte Brötchen aufzuwärmen.

"Nicht sehr viel", erwiderte er aufatmend, "höchstens vielleicht eine Fuhre. Wir haben es gerade noch vor dem Regen geschafft. Wenn Mike nicht so kräftig mit zugepackt hätte, wäre es wesentlich mehr gewesen. Bei manchen Arbeiten kann er schon eine sehr große Hilfe sein."

"Ja, ich weiß. Gerade deshalb mußt du aufpassen, daß du ihn nicht zu hart rannimmst. Mike wird schnell übereifrig und weiß dann nicht mehr, wo seine Grenzen sind. Manchmal ist es ganz angebracht, seinen Arbeitseifer zu bremsen. Schließlich ist er noch ein Kind."

"Deshalb habe ich ihn heute mittag auch zu Daisy geschickt, sonst wäre er in seinem Übermut womöglich noch vom Heuboden gefallen. Daß Daisy ihn allerdings in Sachen Schule an die Kandare genommen hat, schmeckte ihm weniger gut."

"Das kann ich mir vorstellen." Jess schmunzelte vor sich hin. "Aber es schadet ihm bestimmt nichts. Dann hat er wenigstens nicht soviel nachzuholen."

"Du solltest vielleicht am besten einmal mit ihm reden, daß er wieder zur Schule geht. Wenn du ihm das sagst, hat es ein ganz anderes Gewicht als bei Daisy oder mir."

"Sobald sich eine Gelegenheit ergibt, red' ich mit ihm. Ich möchte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Er hat noch einiges zu bewältigen. Das merke ich jedesmal, wenn er bei mir ist."

Ein leises Räuspern ließ beide den Kopf zur Tür drehen. Daisy stand im Rahmen.

"Ich möchte nicht stören, aber anscheinend haben Sie mein Klopfen nicht gehört."

"Aber nein! Sie stören bestimmt nicht!" erwiderte Jess, obwohl die Frau keinen von beiden direkt angesprochen hatte. "Kommen Sie doch herein!"

"Ich wollte nur fragen, ob Mike zu Ihnen kann."

"Er soll nur kommen."

"Mike!" rief sie über die Schulter ins Wohnzimmer.

"Ich bin schon da!" Der Junge fegte aus der Küche, von wo er eine Handvoll frische Kekse aus einer Vorratsdose mitgehen ließ. Er hielt sie hinter seinem Rücken versteckt, als er sich an Daisy vorbeischlängelte. "Hallo, Jess!" sagte er etwas unsicher und wechselte mit ihm einen vielsagenden Blick, der Slim nicht entging.

"Ich glaube, ich lasse euch beiden am besten allein", meinte der Rancher, der sofort verstand, verließ den Raum und lehnte die Tür hinter sich an.

Mike drehte sich prüfend um, um sich zu vergewissern, daß er mit seinem Pflegevater endlich allein war. Er kam zu ihm und setzte sich auf die Bettkante.

"Na, Cowboy, was versteckst du denn da hinter deinem Rücken?"

Der Junge zog die Hand hervor und hielt Jess die Kekse unter die Nase.

"Die habe ich bei Tante Daisy in der Küche … gefunden."

"Kaum zu glauben, was Daisy alles so achtlos herumliegen läßt", grinste Jess.

"Die schmecken gut! Ich habe sie fast allein gemacht. Tante Daisy hat mir nur ein bißchen geholfen. Du mußt bloß aufpassen, daß du keine Krümel ins Bett bekommst. Das ist nämlich ganz ekelhaft."

"Du wirst mir aber helfen müssen. Ich kann die unmöglich alle allein aufessen, sonst krieg' ich ja Bauchweh." Jess griff nach dem Gebäck, das sich in Mikes Hand stapelte.

"Keine Sorge, zu zweit schaffen wir das bestimmt." Bald hatten sie die Kekse aufgegessen. Mike schüttete die auf seiner Hand verbliebenen Krümel auf den Boden. "Das knirscht so schön, wenn man drauftritt."

"Daisy wird dir das Fell über die Ohren ziehen, und das nicht ganz zu Unrecht. So schön finde ich das nämlich auch nicht."

"Ich will doch nur, daß du sie nicht ins Bett bekommst. Das ist nämlich noch viel weniger schön. Das piekt wie lauter Ameisen." Mike schüttelte sich zum Nachdruck. "Dann sollen sie lieber auf dem Boden knirschen. Soll ich noch mehr holen?"

"Nein, laß nur! Jedenfalls nicht für mich."

"Wenn du keine mehr magst, mag ich auch keine mehr."

"Also, das muß ich dir lassen: Biskuits kannst du schon fabelhaft backen. Die waren tatsächlich gut." Aus gutem Grund verriet ihm Jess nicht, daß er gar nicht wußte, wie sie schmeckten, da seine Geschmacksnerven ihm immer noch jeden Dienst versagten.

"Ich kann dich auch schon richtig bei der Arbeit vertreten!" verkündete Mike stolz.

"So?"

"Ja, ich habe Slim geholfen beim Heueinbringen. Ohne mich hätte er es nicht geschafft. Er sagte, wir hätten nur eine einzige Fuhre verloren, bloß weil ich ihm so gut geholfen habe."

"Da bin ich sehr stolz auf dich!" Jess tat, als wüßte er davon noch nichts. "Du weißt, wie wichtig das Futter im Winter ist. Aber obwohl du Slim schon soviel helfen kannst, darfst du auch deine Schularbeiten nicht vernachlässigen. Hast du mit Daisy schon geübt?"

"Ja, aber Miss Finch sagte doch, daß ich erst wieder zum Unterricht muß, wenn …"

"Ich weiß", fiel Jess ihm ins Wort, weil er merkte, wie schwer er sich tat, seine Gedanken auszusprechen. "Aber gerade deshalb solltest du sie nicht enttäuschen. Sie hat sehr viel Verständnis für dich gezeigt, als sie dir erlaubte, zu Hause zu bleiben. Jetzt solltest du ihr beweisen, daß auch du dir Mühe gegeben hast."

Mike überlegte lange. Dabei verzog er das Gesicht wie jemand, der etwas gegen seinen Willen versprechen sollte, es jedoch dem Menschen zuliebe tun wollte, der ihn um dieses Versprechen bat.

"Tante Daisy hat immer mit mir geübt. Miss Finch wird es gewiß gar nicht auffallen, daß ich nicht zur Schule gegangen bin."

"Möchtest du denn nicht wieder ihren Unterricht besuchen?"

"Schon, aber … aber … Geht es dir wirklich schon besser?" platzte Mike auf einmal heraus. "Ich meine, daß … daß … Jess, ich habe immer noch entsetzliche Angst, du … du … weil … ich muß … muß immer daran denken, wie … wie …", stammelte er und brachte vor Aufregung keinen vollständigen Satz zustande. "Du … du bist doch noch so schrecklich krank!"

"Das werde ich noch eine ganze Weile sein." Jess wollte zwar ursprünglich etwas anderes sagen, aber eine zu große Unwahrheit hätte ihm der Junge nicht abgekauft. "Es kann noch Wochen dauern, bis ich wieder gesund bin. Willst du Miss Finch solange warten lassen?" Daß er sie dann vielleicht sogar für immer warten lassen müßte, behielt er lieber für sich.

"Nein, aber ich … ich möchte doch …" Mike wußte eigentlich gar nicht recht, was er sagen wollte. Deshalb war er froh, daß Jess ihm die Entscheidung abnahm.

"Überlege es dir in Ruhe, mein Junge. Es muß ja nicht gleich sein."

"Wenn ich wieder zur Schule gehe, versprichst du mir dann, daß du bald wieder gesund wirst?" schlug Mike ein sehr einfaches, für ihn aber sehr wirkungsvolles Geschäft vor.

"Ich habe dir doch gesagt, was ich dir versprechen kann und was nicht. Daran hat sich noch nichts geändert. Du wirst dich leider damit abfinden müssen."

"Das kann ich aber nicht! Ich habe solche Angst, du könntest … du könntest … Was ist, wenn du … wenn du … Vielleicht mußt du doch noch … sterben. Ich habe Miss Finch gefragt, ob sie weiß, wie es ist, wenn man tot ist. Jetzt will ich es gar nicht mehr wissen. Ich will nur, daß du am Leben bleibst!"

"Na, einstweilen bin ich doch noch recht lebendig, oder?" versuchte Jess, den Jungen wieder etwas aufzumuntern, als er sah, wie nahe er den Tränen war. "Ich habe nicht die geringste Lust, daran etwas zu ändern, auch wenn du nicht gleich wieder zur Schule gehst."

Mike sah ihn ungläubig an, zog verschämt die Nase hoch. Anscheinend war er einem Weinen näher als einem Lachen. Aber dann hellte sich sein Gesicht immer mehr auf.

"Weißt du was?" fragte er auf einmal. Seine aufgeheiterte Miene verriet, daß er jetzt an etwas anderes dachte als dieses Versprechen, das Jess ihm trotz seines Drängens nicht geben konnte. "Heute siehst du gar nicht mehr aus wie ein Piratenkapitän."

"Eher wie ein Gespenst, was?" ging Jess sofort darauf ein.

"Aber wie ein liebes Gespenst!"

Mike rutschte von der Bettkante, legte den Kopf neben den seinen und schmiegte sich an ihn. Das war wieder einer jener Momente, von denen er wünschte, sie sollten ewig dauern. Er spürte Jess' Arm auf seinem Rücken, hörte sein Herz schlagen, fühlte die gleichmäßigen Bewegungen seiner Brust beim Atmen, empfand eine tiefe Zufrieden- und Geborgenheit in seiner väterlichen Obhut, daß er für kurze Zeit seine Probleme und Ängste vergaß.

Schweigsame Minuten verstrichen, in denen sich die beiden fest umschlungen hielten, jeder seinen Gedanken nachhing und den Augenblick auf sich wirken ließ.

"Jess, wie weh tut das eigentlich, wenn man angeschossen wird?" wollte Mike plötzlich wissen und streichelte vorsichtig über Jess' linke Schulter, über die der Verband reichte.

"Das tut sehr weh. Ich hoffe, daß du selbst niemals erfahren mußt, wie weh so etwas tut."

"Ist das so schlimm, wie wenn man hinfällt und sich das Knie aufschlägt?"

"Es ist viel schlimmer. Ich möchte dir das jetzt nicht erklären."

"Hast du immer noch Schmerzen?"

"Manchmal."

"Jetzt auch?"

"Nein, Gott sei dank nicht."

Es wurde Jess nicht recht bewußt, daß er zum erstenmal nicht lügen mußte, als er diese Frage beantwortete. Er fragte sich nur, worauf der Junge noch hinauswollte.

"Aber neulich Abend … da hattest du Schmerzen, nicht wahr?" Im nachhinein war es wesentlich leichter für Jess, das zuzugeben. "Sehr schlimme? So schlimme, als es … als es … als du … als du … als der Mann … Ich meine, als er … geschossen hat?"

"Ich glaube, da war es noch schlimmer", beantwortete Jess nun zwar etwas widerwillig seine Fragen, aber irgendwie spürte er, daß Mike unbedingt darüber sprechen wollte und es gut für ihn war, wenn er sich jetzt mit ihm deshalb auseinandersetzte.

"Das glaube ich auch." Mike hob etwas den Kopf und sah ihn mit einer Mischung aus Traurigkeit, Ernst und vielleicht sogar etwas Furcht an. "Ich habe gehört, wie du … Du hast … du hast geschrien. Ich … ich habe es gehört. Dann muß es sehr wehgetan haben, nicht wahr?"

"Mehr, als du dir vorstellen kannst."

Der Junge starrte ihn an, ohne sich dessen bewußt zu sein. Vielmehr sah er die Bilder der Erinnerung vor sich, biß die Zähne aufeinander, preßte die Lippen zusammen und schloß die Augen, als fügte man ihm heftige Schmerzen zu, über die er nicht klagen wollte.

"Möchtest du darüber reden?" sprach Jess ihn behutsam an.

"Ich … ich weiß nicht", würgte Mike mühsam hervor. "Ich weiß nicht, ob ich das kann."

"Vielleicht probierst du es einfach. Vielleicht versuchst du, es mir zu erzählen, wie du es in Erinnerung hast. Vielleicht quält es dich dann nicht mehr so. Oft verliert eine schlimme Erinnerung an Gewicht, wenn man darüber geredet hat. Weißt du was? Erzähl mir einfach, was geschehen ist. Ich weiß es nämlich nicht. Slim wußte auch nicht alles, weil der Mann ihn niedergeschlagen hatte. Und Daisy war ohnmächtig geworden. Du bist der einzige, der alles von Anfang bis Ende verfolgen konnte."

"Und du? Weißt du denn nicht, wie es passierte?"

"Nein, Mike, ich kann mich an nichts erinnern. Als ich zu mir kam, wußte ich noch nicht einmal, was mit mir los ist."

"Sagst du das jetzt auch nicht nur so?"

"Du kannst Slim fragen. Außerdem – welchen Grund sollte ich haben, dich zu belügen?"

"Gar keinen." Mike sah ihn nachdenklich an, erinnerte sich plötzlich an sein verzerrtes Gesicht, das Blut, das ihm aus dem Mund quoll, hörte ihn schreien und husten. Er warf den Kopf neben den seinen und drückte sich fest an ihn. "Es war ganz schrecklich, Jess, so furchtbar! Ich will nicht mehr daran denken, aber ich kann's nicht vergessen. Warum hat der Mann das getan? Warum hat er das nur getan?"

"Nun, Mike, manchmal tun Menschen etwas, was andere nicht verstehen können, böse Dinge, an denen sie ihre Freude haben wie andere Menschen an guten." Ein wenig wunderte sich Jess, daß er darüber sprechen konnte, ohne zu sehr Partei zu ergreifen. "Ich kann dir diese Frage nicht beantworten. Wahrscheinlich kann das niemand, noch nicht einmal der, der es getan hat."

"Hast du ihn denn nicht gesehen, diesen gemeinen Kerl?"

"Nein, wo war er denn?"

"Hinter dem Fenster neben der Tür. Hast du ihn wirklich nicht gesehen?"

"Nein, du weißt doch, daß man von außen nicht in ein dunkles Fenster sehen kann, wenn die Scheibe spiegelt."

"Und du wußtest wirklich nicht, daß sie da waren?"

"Woher hätte ich das denn wissen sollen?"

"Wenn du es gewußt und diesen Hal gesehen hättest, hättest du dann auf ihn geschossen?"

"Mit Sicherheit nur, wenn er mir keine andere Wahl gelassen hätte. Auf jeden Fall hätte er es dann nicht so leicht gehabt, auf mich zu schießen. Sag, willst du denn nicht von Anfang an erzählen?"

Mike überlegte eine Weile, ehe er etwas zaghaft nickte. Er blieb neben dem Bett auf den Knien liegen, schmiegte sich fester an Jess, schlang den Arm um ihn und war froh, daß er seine Rechte an der Schulter spürte, die ihm doch die wunderbare Gewißheit verlieh, daß das, worüber er sprach, immerhin wenigstens zum Teil der Vergangenheit angehörte.

"Schon, aber ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Auf einmal geht alles so durcheinander."

"Vielleicht erzählst du mir erst einmal, warum du an dem Tag nicht in der Schule warst", half Jess ihm behutsam auf die Sprünge.

Seine ruhige, tiefe Stimme löste bei Mike das Chaos, durchbrach die Mauer des Schweigens, hinter die er aus Furcht vor der Wahrheit geflohen war, drang tief in sein Unterbewußtsein, ordnete seine wirren Gedanken. Diese ihm so vertraute Stimme nahm ihm die Angst vor seinen Erinnerungen, gab ihm den Mut, darüber zu sprechen – diese Stimme und Jess' unmittelbare Nähe; die Zuneigung, die er für diesen Mann empfand, der mehr für ihn war als nur Ersatz für einen unbekannten Vater; den er mit jeder Faser seines Herzens liebte. Nur ihm konnte er sich anvertrauen, von seinen Sorgen und Problemen berichten. Vielleicht wurden sie erträglicher, wenn er sie mit ihm teilte.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten verlor Mike bald seine Hemmungen und erzählte von seinen Erlebnissen, manchmal nur stockend, dann wieder sprudelten die Worte geradeso aus ihm heraus.

Geduldig hörte Jess zu, unterbrach ihn nur selten, wenn er seine Gedanken gar nicht mehr in Worte fassen konnte, half ihm, den Anschluß wieder zu finden, oder versuchte, eine seiner vielen Fragen zu beantworten, ihm in anschaulicher Weise die Dinge zu erklären, für die Mike keine Erklärung finden konnte. Dabei merkte der Junge nicht, wie schwer es oftmals Jess selbst fiel, darüber zu sprechen; was es für ihn bedeutete zu wissen, daß das, worüber sie sich unterhielten, ihn selbst, sie beide betraf, daß es Mike mit eigenen Augen gesehen hatte und er nicht nur etwas wiedergab, was er von jemandem gehört hatte.

Zum erstenmal erfuhr Jess hier von Dingen, dargestellt in recht lebhafter, lebendiger Ausdrucksweise, die ihm Slim bisher – weshalb auch immer – verschwiegen hatte. Wahrscheinlich wollte dieser den Freund nicht unnötig damit belasten. Vielleicht wollte er diese Dinge auch nur aus seinem eigenen Gedächtnis verdrängen, weil sie so ungeheuerlich waren.

Die kindliche Naivität, die Unbefangenheit, mit der sich Mike manchmal ausdrückte, ließen einen Alptraum Wirklichkeit werden, den Jess bisher nur erahnen konnte. Sein einziger Trost war, daß es dem Jungen offensichtlich guttat, über das alles mit ihm zu reden. Tatsächlich war er, zwar in Tränen aufgelöst, hinterher doch etwas ausgeglichener, obwohl ihn das eine oder andere nach wie vor beschäftigte.

"Jess, bist du da drinnen sehr schwer verwundet?" wollte er auf einmal wissen und legte mit einer zaghaften Vorsicht seine Hand auf Jess' Brust, daß dieser die Berührung kaum spürte.

"Ich denke, das hat im ersten Augenblick alles viel schlimmer ausgesehen, als es in Wirklichkeit ist."

Diesmal hatte Jess bewußt gelogen. Nach allem, was er bisher wußte, sich selbst zusammenreimen konnte und nun auch noch von Mike dank seiner Unbekümmertheit erfahren hatte, glaubte er mehr denn je, daß es im Grunde schlimmer war, als gewisse Leute – allen voran Doc Higgins – zugeben wollten.

"Ich habe gehört, wie der Doktor sagte, du hättest … Das ist etwas ganz Gefährliches, wenn man da blutet, wo man es nicht sehen kann, nicht wahr?"

Dem Mann wurde dieses Frage- und Antwortspiel immer unangenehmer, zum einen, weil er kaum noch passende Erklärungen finden konnte, ohne Mike gegenüber zu sehr ins Detail zu gehen; zum anderen, weil ihm mehr und mehr bewußt wurde, daß sie hier über ihn im besonderen und nicht über irgendwelche Dritten im allgemeinen sprachen.

"Das kann ich nicht beurteilen", erwiderte er deshalb ausweichend; er wäre froh gewesen, wenn es der Junge dabei bewenden ließe.

"Das ist ganz bestimmt etwas Gefährliches! Hat es sehr wehgetan, als der Doktor die Wunde ausbrannte?"

Jess mußte schlucken. Die Vorstellung, sein Schützling könnte noch mehr gesehen haben, als er bis jetzt wußte, raubte ihm beinahe den Atem. Wenn er Mikes kindliche Neugierde berücksichtigte, erschien ihm dies noch nicht einmal so unwahrscheinlich.

"Hast du … hast du das etwa auch gesehen?" Mikes Kopfschütteln beruhigte ihn Gott sei Dank in der Beziehung. "Woher weißt du denn davon?" versuchte Jess, etwas davon abzulenken, weil ihm selbst dieses Thema recht heikel war.

"Ich habe gehört, wie der Arzt sagte, daß er das tun mußte, um die inneren Blutungen zu stillen. Sag doch, hat es sehr wehgetan?"

"Nein, Mike, ich habe es nicht gespürt."

"Weil … weil du bewußtlos warst?"

"Ja."

"Wie ist das, wenn man bewußtlos ist? Tante Daisy meinte, das ist so, als wenn man ganz fest schläft. Ist das so?"

"Ja, Mike, das ist so."

Jess war sichtlich froh, daß der Junge ihm die Antworten schon vorwegnahm. Unangenehm war jedenfalls längst nicht mehr das richtige Wort, um seine Lage in diesem Gespräch zu beschreiben.

"Ich habe solche Angst, daß du nicht wieder gesund wirst." Mike schmiegte sich fester an ihn, als befürchtete er, daß ihm jemand in diesem Augenblick seinen Pflegevater nehmen wollte. "Ich habe solche Angst!"

"Die mußt du nicht haben, mein Junge. Hast du schon vergessen, daß ich dir etwas versprochen habe? Du solltest dich nicht mit Gedanken und Vorstellungen quälen, die du zufällig aufgeschnappt hast und womöglich völlig belanglos sind."

"Aber ich habe doch selbst gesehen, wie du gehustet und ganz viel Blut gespuckt hast."

"Vielleicht hast du dir das nur eingebildet. Du mußtest sehr schlimme Dinge sehen. Vielleicht hat dir nach diesem Schreck deine Phantasie einen Streich gespielt."

Jess wußte zwar, daß dies gewiß nicht der Fall war, aber er wollte versuchen, die Geschehnisse, von denen der Junge Zeuge geworden war und die er nur schwer verarbeiten konnte, etwas zu entschärfen. Allerdings bezweifelte er, damit Erfolg zu haben.

"Nein, Jess, ich habe mich bestimmt nicht getäuscht!" Mike hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. "Es war alles voller Blut – überall! Es lief dir aus dem Mund. Dann mußtest du husten und hast … hast ganz viel Blut gespuckt. Das habe ich gesehen. Ich dachte, du würdest ersticken. Das ist wahr! Das mußt du mir glauben!"

Seine Stimme hatte zu zittern begonnen. Schwer zu sagen, was für ihn schlimmer war: die Erinnerung oder die Ungewißheit, ob Jess seine Beteuerungen glaubte oder nicht.

"Aber, Mike, ich habe doch nicht behauptet, daß du mich anschwindelst." Jess zog ihn zu sich und drückte ihn fest. "Wenn du es sagst, wird es so gewesen sein. Wie gesagt, ich kann mich an nichts erinnern. Und du solltest dich nicht mehr damit quälen! Es ist doch vorbei. Ich fürchte zwar, daß du das nicht vergessen kannst, obwohl es gewiß das Beste für dich wäre, aber du mußt versuchen, darüber hinwegzukommen. Sieh mal, heute geht es mir schon viel besser. Ich habe kaum noch Schmerzen, du darfst bei mir sein, wir können miteinander reden, und bestimmt wird alles wieder gut. Freue dich doch darüber! Mach dir nicht so viele Gedanken über Vergangenes und Dinge, die heute so gut wie kein Gewicht mehr haben, oder über dunkle Vorstellungen von dem, was vielleicht noch kommen könnte. Das, was jetzt ist, zählt! Nur das ganz allein! So ein großer Cowboy wie du müßte das doch verstehen."

"Ich weiß nicht, ob ich das verstehen kann."

"Aber ich weiß es", versicherte Jess und durchwühlte sein Haar. "Du mußt es nur wollen. Dann wirst du feststellen, daß du es kannst."

Mike sah ihn ungläubig an. Endlich hellte sich Mikes Gesicht ein wenig auf.

"Einverstanden", sagte er. "Ich probiere es." Minutenlang sahen sich die beiden schweigend an, hielten eine stumme, dafür um so innigere Zwiesprache. "Jess", brach Mike auf einmal die Stille, "wirst du ihn jetzt hassen?"

"Wen meinst du?" antwortete Jess mit einer Gegenfrage, obgleich er genau wußte, wen er meinte.

"Den Mann, der es getan hat, diesen Hal. Er ist böse und gemein, er hat dir so wehgetan!"

Fast schien es, als entwickelte sich nun zwischen ihnen ein ähnliches Gespräch, wie es Mike vor mehr als drei Wochen schon einmal mit Slim Sherman geführt hatte.

"Aber deshalb kann ich ihn doch nicht hassen."

"Wieso denn nicht?"

"Ich habe, glaube ich, noch nie jemanden gehaßt. Ich könnte so etwas wahrscheinlich gar nicht."

"Aber wenn jemand so gemein ist wie dieser Hal …"

"Auch dann nicht! Wenn ich es täte, wäre doch niemandem damit geholfen. Ich würde damit nur mir selbst schaden, mir selbst und den Menschen, die mir etwas bedeuten."

"Aber wieso denn?"

"Haß ist wie ein tollwütiges, wildes Tier. Er zerfrißt das Gute im Menschen, macht ihn zum willenlosen Werkzeug des Bösen", erklärte Jess fast wortwörtlich, was Slim ihm schon gesagt hatte. "Wenn ein Mensch anfängt, einen anderen zu hassen, wird ihn sein Haß eines Tages selbst zerstören, so wie er damit den anderen zerstören wollte. Aus ihm selbst wird das, weshalb er den anderen haßt."

Es wunderte Mike, wieso ausgerechnet Jess das sagte, er, der immerhin eine Kugel dieses Menschen in der Brust hatte und vielleicht sterben mußte an den Folgen dieser Verletzung, die ihn fast schon das Leben kostete und es immer noch bedrohte, die eine allgegenwärtige Gefahr für seine Gesundheit darstellte.

"Slim hat auch so etwas gesagt. Aber ich versteh' das nicht. Ich versteh' auch nicht, warum du diesen Hal nicht haßt."

"Ich kenne ihn doch gar nicht. Wie kann ich jemanden hassen, den ich nicht kenne?"

"Würdest du es tun, wenn du ihn …"

"Nein, Mike, auch dann nicht! Ich verachte ihn vielleicht, verurteile das, was er getan hat, nicht, was er mir angetan hat, sondern den anderen und vor allen Dingen dir. Ich wünsche mir, daß er seine gerechte Strafe erhält, daß ihn jemand zur Strecke bringt, ehe er noch mehr Menschen Leid zufügt."

"Er hat mir doch gar nichts getan. Er hat doch auf dich geschossen."

"Das stimmt, aber dir hat er genauso wehgetan, viel schlimmer sogar noch als mir. Meine Wunde wird irgendwann verheilt sein. Aber was ist mit der da drinnen?" Jess tippte ihm an die Brust. "Mit der in deinem Herzen? Wird die auch heilen?"

"Jetzt weiß ich, was du meinst. Aber trotzdem … ich hasse ihn!"

"Das glaube ich dir nicht."

"Doch! Bestimmt! Ich hasse ihn so lange, bis er tot ist. Ich wünschte, er wäre es auf der Stelle! Er soll tot umfallen! Die Ratten sollen ihn fressen, mit Haut und Haaren!" rief Mike leidenschaftlich. "Aber zuvor soll er Blut spucken wie du und Schmerzen haben wie du und … und …", geriet er ins Stocken, weil ihm vor Aufregung und Abscheu nichts mehr einfiel.

"Mike", sagte Jess ruhig, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen, "kannst du mir sagen, was das Gegenteil ist von Haß?"

Der Junge besann sich tatsächlich und überlegte.

"Ich denke, jemanden liebhaben, oder?" fragte er unsicher.

"Das denke ich auch. Meinst du, daß ein Mensch, der liebt, zur gleichen Zeit hassen kann?"

"Das geht bestimmt nicht."

"Du hast mir gesagt, du hättest mich lieb, nicht wahr? Das stimmt doch, oder?"

"Aber natürlich! Ich hab' dich sogar sehr lieb, das weißt du doch! Lieber als alles auf der Welt!" bekräftigte Mike noch leidenschaftlicher, als er kurz zuvor diesen Hal hassen wollte.

"Wenn das wirklich stimmt – was ich annehme –, wie willst du diesen Mann dann hassen können? Hast du nicht gerade eben gesagt, es ginge nicht, daß man beides zur gleichen Zeit tut? Du mußt dich also für eines entscheiden. Was meinst du, ist dir wichtiger?"

Mike war beinahe ein wenig entsetzt über diese Tatsache. Die Erkenntnis, daß immer nur eines von beiden in seinem Herzen wohnen konnte, überzeugte ihn jedoch, daß das, was er für den Mann mit dem Namen Hal empfand, kein wirklicher Haß war, sondern eher eine kindliche Abscheu, die ihm eine Gänsehaut über den Rücken trieb, wenn man sein seelisches Trauma außer acht ließ, das er sowieso nicht bewußt als solches empfand.

"Ich … ich glaube, ich hasse ihn doch nicht. Ich würde sterben, wenn ich dich nicht mehr liebhaben könnte!" fiel er von einem Extrem ins andere, was aber für ein Kind in seinem Alter nichts Ungewöhnliches war, vor allem, wenn man berücksichtigte, was er bereits durchmachen mußte und womit er zu kämpfen hatte.

"Wer weiß, mein Junge, vielleicht wäre ich sogar längst tot, wenn du das nicht tun würdest", redete Jess sinnend vor sich hin.

"Wie meinst du denn das?"

Der Mann sah ihn erstaunt an, als hätte er nicht damit gerechnet, daß Mike seine Worte gehört hatte.

"Vergiß es ganz schnell wieder, mein Junge! Es hat nichts zu bedeuten."

"Aber wieso wärst du dann tot? Sag doch!"

"Bitte, Mike! Es war wirklich nur dummes, belangloses Zeug, was ich da geredet habe. Wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren!" wich Jess energisch aus. Er hätte sich selbst die Zunge dafür abbeißen können, daß er seine Gedanken so unkontrolliert geäußert hatte, obwohl er sonst genau überlegte, was er in Anwesenheit des Jungen sagte.

"Na schön, wie du willst", war Mike Gott sei Dank zufrieden, da er an Jess' ernstem Gesicht sehr deutlich erkennen konnte, besser nicht mehr mit Fragen weiterzubohren. "Aber, bitte, sei deshalb nicht mehr böse!"

Jess' Miene hellte sich sofort auf, als ihm bewußt wurde, wie sehr er den Jungen mit seiner unerwartet heftigen Reaktion verunsichert hatte.

"Aber, Mike, ich bin doch nicht böse! Das bildest du dir ein. Weißt du, ich habe mich nur über mein eigenes dummes Geschwätz geärgert. Das ist alles."

Da war Mike zufrieden. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung und als Ausdruck seiner Zufriedenheit kuschelte er sich an ihn. Es war einer dieser wunderbaren Augenblicke, die sein Herz vor Glück zerspringen lassen wollten, weil er so nahe bei Jess sein und seine väterliche Liebe spüren durfte. Plötzlich drückte der Mann ihn in einer Aufwallung seiner Gefühle so fest an sich, daß er sich damit beinahe selbst heftige Schmerzen zugefügt hätte.

"Ich kann dem lieben Gott nicht genug danken, daß ich dich habe, daß du hier, daß du bei mir bist! Ich wüßte nicht, was ohne dich wäre."

Jess schloß die Augen. Fast schien es, als könnte er das Glück kaum fassen, als müßte er es mit beiden Händen festhalten, als hätte er Angst, es zu verlieren, weil er nur seinen rechten Arm zur Verfügung hatte. Wieder einmal spürte er seine Zuneigung, die er für Mike seit dem Augenblick ihrer ersten Begegnung empfand, so übermächtig wie jedesmal, wenn ihm die latente Gefahr, in der sich nun dieses Glück befand, mit allen Auswirkungen bewußt wurde.

"Hab keine Angst, Jess, ich werde immer bei dir bleiben, wenn du nur auch immer bei mir bleibst!"

"Das verspreche ich dir, mein Junge! Solange ich lebe! Das weißt du."

"Hoffentlich lebst du noch ganz, ganz lange! Länger, als ich denken kann!"

Sie waren so sehr mit sich und ihrem Empfinden füreinander beschäftigt, weshalb keiner von ihnen bemerkte, daß sie während der letzten Minuten nicht allein waren. Slim war gekommen, um Mike und auch Jess daran zu erinnern, daß es längst Zeit war, schlafen zu gehen.

Für einen Augenblick blieb er in der Tür stehen, wollte gerade Mike auffordern, "Gute Nacht" zu sagen, als er unfreiwillig Zeuge des letzten Wortwechsels wurde. Daraufhin kam er sich äußerst fehl am Platze vor. Fast schämte er sich sogar, stehengeblieben zu sein und mitgehört zu haben. Da konnte er sich nur noch diskret zurückziehen.

KAPITEL 14

Am folgenden Montag ging Mike zum erstenmal nach fast vier Wochen wieder zur Schule. Diese Entscheidung traf er ganz allein, jedoch hatte Jess auf behutsame Weise etwas nachgeholfen und ihn auf den richtigen Weg gebracht und auch Slim und Daisy ausdrücklich gebeten, den Jungen nicht zu drängen, am besten das Thema Schule gar nicht zu erwähnen, es sei denn, Mike finge selbst davon an. Am Sonntag beim Frühstück stellte er dann alle vor vollendete Tatsachen, indem er stolz verkündete, wozu er sich entschlossen hatte.

Wie ein zweibeiniger Wirbelwind fegte Mike über den Hof. Im Stall traf er Slim, der das Geschirr für die Gespannpferde der bald eintreffenden Kutsche kontrollierte, ehe er es draußen über den Koppelzaun hängte.

"Jess sagte, ich soll Browny erst in der Koppel abreiten heute."

"Das rate ich dir auch. Wenn ein Pferd nur ein paar Tage gestanden hat, ist ihm nicht mehr zu trauen." Slim half ihm beim Satteln und Aufsitzen. "Rauf mit dir und zeig ihm, wer der Herr ist!"

Der Rancher führte ihn aus dem Stall und ließ ihn in die angrenzende Koppel. Browny tänzelte ein wenig, versuchte, seinen Willen durchzusetzen, aber Mike hatte ihn schon nach ein paar Runden fest im Griff.

Slim blieb am Zaun stehen und beobachtete ihn wohlwollend, wie er sein Pferd beherrschte. Dabei stellte er zum erstenmal bewußt fest, wie sehr die Haltung des Jungen der seines Partners glich. Mike hatte sie sich mit der Zeit durch ständiges Zusehen, wenn Jess mit Pferden arbeitete, abgeguckt und selbst angeeignet.

"Ich glaube, das reicht!" rief Slim auf einmal. "Du hast ihn wirklich hervorragend am Zügel. Bald kannst du es so gut wie Jess."

"Bis dahin muß ich noch sehr viel lernen."

"Er wird dir das schon noch beibringen." Slim öffnete das Gatter und reichte ihm sein Bücherbündel. "Hier, vergiß die nicht mitzunehmen! Und jetzt beeil dich! Aber hetze Browny für den Anfang nicht zu sehr."

"Keine Angst!" Mike schlang den Riemen ums Sattelhorn, während Slim den Bauchgurt für ihn nachzog. "Auf Wiedersehen, Slim!"

"Wiedersehen, Cowboy!"

Mike hob zum Abschied die Hand, trabte vom Hof und ließ Browny bald in munterem Galopp der Straße nach Laramie folgen. Dabei saß der Junge völlig gelöst im Sattel, mit sehr lang geschnallten Bügeln, die Zügelhand ziemlich hoch und nah am Körper gehalten, die Rechte locker an der Hüfte und halb auf dem Oberschenkel, sein willig vorwärts strebendes Pferd ohne Zweifel unter Kontrolle.

Slim schaute ihm nach, bis er hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war.

"Tatsächlich!" entfuhr es dem Rancher, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. "Er reitet genauso wie Jess. Komisch, das ist mir noch nie aufgefallen."

Am späten Vormittag ritt Mort Cory in den Hof. Slim arbeitete gerade neben der Remise, brachte Geschirre in Ordnung und bereitete die Gespanne für die Mittagskutschen vor. Der Sheriff trabte zu ihm hinüber, verhielt sein Pferd an der Tränke, wo er es sich selbst überließ.

Der Rancher hatte ihn schon von weitem kommen hören. Jetzt unterbrach er seine Arbeit und wartete, bis der Gesetzeshüter den freien Platz vor dem Schuppen überquert hatte.

"Hallo, Mort!" begrüßte er ihn. "Du hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen."

"Hallo, Slim!" Die Männer tauschten einen flüchtigen Händedruck. "Ich war die ganze Zeit unterwegs. Ich wollte schon früher kommen, aber ich mußte mich erst einmal ausschlafen. Bin die letzten vier Wochen kaum dazu gekommen, ein Auge zuzumachen."

"Du siehst auch ziemlich fertig aus. Gibt's was Neues?"

"Nicht viel." Mort schob den Hut in den Nacken. "Jedenfalls nichts, was uns weiterbringt."

"Keine Spur von den Kerlen?"

"Spuren gab's genug, nur führten die alle ins Leere, das heißt, meistens ins Wasser oder in felsiges Gelände. Wir haben ein paar kalte Feuerstellen gefunden, aber ansonsten noch nicht einmal ein Schweifhaar. Nach dem Unwetter war es dann völlig sinnlos, weiter zu suchen. Da waren auch die dürftigen Spuren dahin."

"Die sind anscheinend ständig in Bewegung, was?"

"Ja, sieht so aus. Solange sie diese Taktik beibehalten, sind sie wohl kaum zu kriegen. Jedenfalls bin ich schon lange nicht mehr so viele Meilen geritten."

"Und das alles umsonst", stellte Slim ziemlich lapidar fest.

"Tja, aber ich hätte mich sowieso nicht untätig ins Büro hocken können. Na ja, auf diese Weise bin ich wenigstens mal wieder in alle Ecken meines Bezirkes gekommen. Das letzte Mal wurden die drei offensichtlich in Twin Forks gesehen. Dort haben drei Burschen, auf die die Beschreibung paßt, das Postbüro am hellichten Tag überfallen und vollständig geplündert. Diesmal gab's zum Glück keine Schießerei. Sie haben nur den Mann hinter dem Schalter bewußtlos geschlagen. Er ist mit 'ner Beule und dem Schrecken davon gekommen."

"Das sieht denen aber nicht ähnlich."

"Nein, aber es handelte sich ganz sicher um die drei. Der Überfallene konnte sie ziemlich gut beschreiben. Ich fresse meinen Hut, wenn der eine davon nicht dieser Ausbrecher Alexander Owen und der andere unser Freund Hal war."

"Hm, Twin Forks", überlegte Slim und rieb sich nachdenklich das Kinn. "Dann sind sie aber noch nicht viel weiter nach Norden gekommen, eher sogar wieder zurück."

"Genau!" nickte Mort. "Zumindest treiben sie sich noch in unserem Territorium herum und machen keinerlei Anstalten, es in nächster Zeit zu verlassen."

"Denen scheint es hier tatsächlich zu gefallen."

"Kein Wunder! Das Gelände ist zum Versteckspielen wie geschaffen." Der Sheriff grinste bissig. "Anscheinend macht es denen unheimlichen Spaß, Leute wie mich an der Nase herumzuführen, auf unser aller Nerven rumzutanzen wie Akrobaten auf einem Seil, hin und wieder einen kleinen Überfall zu organisieren, um für den nötigen Lebensunterhalt zu sorgen, und nicht zuletzt aus reinem Vergnügen Leute über den Haufen zu schießen, aus welchen Gründen auch immer, manchmal auch ohne jeden ersichtlichen Grund. – Was macht eigentlich Jess?" wollte er im gleichen Atemzug wissen. "Ich hoffe, es geht ihm besser."

"So einigermaßen." Slims Blick wurde ernster, obwohl dies kaum möglich war. "Er ist noch nicht ganz überm Berg."

"Aber er wird doch wieder gesund?" Mort war deutlich anzusehen, daß er sich um den langjährigen Freund ehrlich sorgte.

"Selbst Dan kann diese Frage bis heute nicht beantworten. Jess wurde innerlich sehr schwer verletzt. Die Kugel muß ihn furchtbar zugerichtet haben, daß sogar Dan vor einem Rätsel steht und sich nicht erklären kann, wieso er noch lebt. Jess hat immer wieder schreckliche Hustenanfälle, die ihn beinahe ersticken. Dabei spuckt er Blut – mehr oder weniger –, daß mir jedesmal ganz anders wird. Gerade vorhin hatte er einen solchen Anfall, obwohl es ihm heute morgen relativ gut ging. Manchmal ändert sich sein Zustand von der einen zur anderen Minute. So etwas zerrt schon unheimlich an den Nerven, sag' ich dir. Vor allen Dingen, weil man nie weiß, ob er den nächsten Anfall überlebt."

"Es ist die Lunge, nicht wahr?"

Slim nickte mit zusammengepreßten Lippen.

"Wenn die Kugel glatt durchgegangen wäre, wäre alles nur halb so wild. Aber sie hat eine Rippe erwischt. Dadurch wurden Knochensplitter mitgerissen. Ganz zu schweigen von den inneren Blutungen, die jederzeit wiederkehren können. Die Gefahr, daß er innerlich verblutet oder an seinem eigenen Blut erstickt, besteht nach wie vor. Und die Schmerzen sind bisher auch nicht viel weniger geworden. Zeitweise kann er sie sogar kaum mit Laudanum ertragen."

"Das will bei Jess schon etwas heißen."

"Eben! Jetzt kannst du dir selbst ein Bild davon machen, wie die Sache aussieht."

"Da muß man ja tatsächlich dem lieben Gott dafür danken, daß er überhaupt noch lebt."

"Ja, Mort, das muß man. Du weißt, ich gehöre bestimmt nicht zu denen, die jeden Sonntag in die Kirche rennen, nur damit sie sich hinterher vielleicht besser fühlen. Aber soviel wie in den letzten vier Wochen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gebetet. Ich glaube, wenn einem nahestehenden Menschen so etwas Furchtbares widerfährt, verliert man seinen Glauben entweder völlig, oder man findet ihn wieder."

"Ich würde Jess ganz gerne mal besuchen. Meinst du, ich kann zu ihm?"

"Sicher! Er freut sich über jede Abwechslung. Ich glaube nicht, daß er schläft. Vorhin war er jedenfalls wach. Nach dem Hustenanfall war er zwar ziemlich fertig, aber das hing wohl in erster Linie mit den Schmerzen zusammen, die ihn dabei wie jedes Mal fast zum Wahnsinn treiben. Geh nur rein! Daisy ist im Haus. Von ihr kriegst du sicherlich einen Kaffee. Ich komme gleich nach. Ich muß nur noch die Gespanne fertigmachen."

"Wie offen kann ich Jess gegenüber sein?" vergewisserte sich der Sheriff, der unter keinen Umständen etwas Falsches sagen wollte. "Ich meine in bezug auf ihn selbst und Mike."

"Er weiß alles. Versuch ja nicht, ihn zu belügen! Du kennst ihn ja! Er hat ein unheimliches Gespür für die Wahrheit. Ich habe lange probiert, sie ihm vorzuenthalten, bis er mir klipp und klar auf den Kopf zusagte, was los ist. Trotzdem bemüh dich, nicht zu sehr ins Detail zu gehen. Über manches regt er sich mehr auf, als für ihn gut ist. Oder er fängt an zu grübeln. Aber das scheint in seiner Lage ganz verständlich zu sein."

"Ich werde aufpassen", versprach Mort, holte sein Pferd und führte es am Zügel hinter sich her bis zum Ranchhaus. Dort band er es am Halteholm an.

Mit absichtlich lauten Schritten betrat er die Veranda, daß Daisy ihn sofort hörte. Sie öffnete schon die Tür, noch ehe er dazu kam zu klopfen.

"Guten Morgen, Sheriff Cory!" begrüßte sie ihn in ihrer warmherzigen Art und ließ ihn herein.

"Einen wunderschönen guten Morgen, Mrs. Daisy!" erwiderte er ebenso freundlich, nahm den Hut ab und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Anscheinend war er froh, endlich wieder mit einer Frau wie ihr sprechen zu können.

"Sie waren ja schon fast eine Ewigkeit nicht mehr hier. Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade frischen gekocht."

"Ja, sehr gern. Slim sagte schon, daß ich von Ihnen bestimmt einen kriegen kann."

Daisy eilte in die Küche, um gleich darauf mit einem vollen Tablett zurückzukehren. Sie schenkte ein und reichte Mort die Tasse.

"Wollen Sie sich nicht setzen? Ich hoffe, Sie haben es nicht so eilig wie neulich."

"Danke." Mort ließ sich bei ihr am Tisch nieder. "Heute habe ich Gott sei Dank etwas mehr Zeit."

"Waren Sie die ganze Zeit unterwegs?"

"Bis gestern abend, kurz vor Mitternacht."

"War Ihre Suche denn wenigstens erfolgreich?"

"Leider nicht. Ich habe es gerade zu Slim gesagt. Wir haben zwar jede Menge Spuren gefunden, aber ansonsten nichts von Bedeutung." Mort trank von seinem Kaffee. "Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich diese Kerle während der ganzen Zeit verflucht habe, obwohl ich weiß, daß das niemandem etwas nützt."

"Slim hat mir erzählt, was diese Männer noch alles angestellt haben. Was sind das nur für Menschen?"

"Tja, Mrs. Daisy, manchmal frage ich mich, ob das überhaupt Menschen sind. Ich glaube, wenn die endlich einer zur Strecke bringt, wird denen keiner eine Träne nachweinen." Der Sheriff spülte seinen Groll mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter. "Trotzdem erscheint mir selbst im nachhinein alles nur halb so schlimm wie das, was sie Jess angetan haben; denn er zählt schließlich zu meinen besten Freunden. Seinetwegen bin ich eigentlich auch hier." Er leerte seine Tasse und hob abweisend die Hand, als Daisy nachschenken wollte. "Ich wollte ihm gern guten Tag sagen und sehen, wie es ihm geht."

Da drang auch schon eine sehr vertraute Stimme aus dem Krankenzimmer.

"Mort, bist du das?"

"Und ich dachte, er würde schlafen", meinte Daisy fast ein wenig vorwurfsvoll. "Bleiben Sie bitte nicht zu lange! Vorhin war er wieder in etwas schlechterer Verfassung. Sie wissen ja, Jess weiß in manchen Dingen einfach nicht, wann er genug hat."

"Keine Sorge, ich werde es kurz machen. Ich will ihm eigentlich nur guten Tag sagen."

"Wenn Sie es schaffen, Jess davon zu überzeugen, daß das genug für heute ist, müssen Sie mir nachher unbedingt verraten, wie Sie das angestellt haben."

"Mort?" kam es wieder aus dem Krankenzimmer, diesmal etwas lauter.

Cory ging zur angelehnten Tür des kleinen Raumes und klopfte an den Rahmen. Zuerst streckte er nur den Kopf ins Zimmer. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht.

"Bin ich hier richtig bei einem gewissen Jess Harper?"

"Nein, vor dir liegt nur das, was von ihm übrig ist", brummte Jess. Der Sheriff trat ein, kam ans Bett und tauschte mit ihm einen freundschaftlichen Händedruck. "Nimm dir den Stuhl und setz dich!"

Jess machte eine einladende Handbewegung, worauf sein Besuch den Stuhl heranzog und sich schwerfällig niederließ. Von den vielen Tagen im Sattel war er völlig steif und verspannt.

"Ich wollte schon immer mal 'ne lebendige Zielscheibe aus der Nähe begutachten. Daß sie ausgerechnet so aussieht wie du, hätte nicht zu sein brauchen. Daß du aber auch immer wieder mal einem Stück Blei im Wege stehen mußt! Kannst es einfach nicht lassen, was?" grinste Mort fast ein wenig verlegen.

"Du weißt doch, daß ich gern Kugelfang spiele. Diesmal konnte ich nicht genug kriegen."

"Jetzt mal Spaß beiseite! Wie geht es dir?"

"Na ja, wie es einem halt geht mit so einem Loch im Fell."

"Du siehst ganz schön mitgenommen aus."

"Unsinn! Ich verstell' mich nur, damit Daisy mich verwöhnt. In Wirklichkeit könnte ich glatt aus dem Bett springen!"

Jess keuchte. Obwohl er sich alle Mühe gab, vor Mort seine Schmerzen zu verbergen, gelang es ihm nicht, dem langjährigen Bekannten etwas vorzumachen.

"Du hast schlimme Schmerzen, nicht wahr?"

"Ich will ganz ehrlich sein, Mort – ja! Manchmal denke ich sogar, daß es überhaupt nicht mehr anders wird. Aber, bitte, das brauchst du Daisy nicht zu sagen. Reden wir lieber von etwas anderem, damit ich nicht ständig daran erinnert werde. Warst du die ganze Zeit unterwegs?" wollte Jess prompt wissen.

Vorläufig hatte er jedenfalls genug davon, von sich und seinem miserablen Zustand zu reden, der sich in den letzten zwei, drei Stunden tatsächlich etwas verschlechtert hatte, zumindest was die Schmerzen und seinen Hustenreiz betraf. Ein paarmal war er sogar nahe dabei, Laudanum zu verlangen, aber er wollte versuchen, so lange wie möglich ohne das Schmerzmittel auszukommen. Wenn es jedoch mit den brennenden und stechenden Schmerzen in seiner Brust so weiterging oder gar schlimmer wurde, könnte er es ohne Laudanum nicht mehr aushalten, wollte er nicht das ganze Haus zusammenschreien.

"Ja, bis gestern abend."

"Und? Hast du was gefunden?"

"Nicht viel. Die Kerle haben uns die ganze Zeit zum Narren gehalten. Manchmal sind wir einer auffälligen Spur gefolgt, die aber bald ins Wasser führte. Oder sie verlor sich in felsigem Gelände. Vielleicht hätten wir sie aufgestöbert, wenn du dabei gewesen wärst. Du bist ein wesentlich besserer Fährtenleser als ich und erst recht als meine Männer."

"Glaub mir, ich wäre bestimmt mitgekommen, vor allem, nachdem mir Slim erzählte, was sie sonst noch alles angestellt haben. Warum mußten diese Kerle nur den alten Bud Franklin umlegen? Und dann das Mädchen aus Medicine Bow! Was ist eigentlich mit der Kleinen? Konntest du schon was Neues erfahren?"

"Typisch Jess Harper! Machst dir mehr Gedanken über andere als über dich selbst."

"Das täuscht. Weißt du, wenn ich mir über andere Gedanken machen kann, komme ich nicht dazu, über mich selbst nachzugrübeln." Als Jess keuchte, sah Mort deutlich, wie sich seine Finger in den Verband gruben. "Was ist also mit dem Mädchen?" wiederholte er; es war schon beinahe ein Stöhnen.

"Der scheint es wieder ganz gut zu gehen. Jedenfalls hat mir das der Sheriff aus Medicine Bow telegrafiert. Ich schätze, das sah im ersten Augenblick schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war. Die Kleine wird bald wieder herumspringen. Auf jeden Fall hatte sie mehr Glück als Bud oder der Kassierer der Bank. Ganz zu schweigen von dir!"

"Wir wollten doch nicht mehr von mir sprechen", lenkte Jess mit rauher Stimme ab.

"Ich weiß. Aber wenn ich so unmittelbar vor Augen habe, was dieser schießwütige Verrückte mit dir angestellt hat, muß ich zwangsläufig immer wieder davon anfangen. Jess, ich will dir offen gestehen, daß du mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hast, als ich dich vor drei Wochen so reglos, wie tot habe daliegen sehen. Wenn ich von Slim nicht gewußt hätte, daß du noch lebst, hätte ich glatt angenommen, man hätte dich schon für die Beerdigung aufgebahrt. Für mich als dein Freund war es jedenfalls ein furchtbarer Anblick, ein richtiger Schock! Du siehst zwar heute auch nicht gerade aus wie das blühende Leben, aber immerhin. Glaube mir, es war wahrscheinlich ganz gut, daß wir die drei Kerle nicht gefunden haben. Ich fürchte fast, bei dem Amokschützen Hal hätte ich vergessen, daß ich einen Stern trage."

"Mach meinetwegen bloß keinen Unsinn! Die Sache ist es nicht wert, daß du deswegen deinen Posten riskierst."

"Die Sache bestimmt nicht, aber du auf alle Fälle!"

"Mort, das hätte mir genausogut auch bei einer anderen Gelegenheit passieren können."

"Ist es aber nicht!"

"Worin soll da der Unterschied liegen?"

"Jess, für mich gibt es da einen Unterschied, sogar einen sehr gewaltigen!"

"Das redest du dir ein! Sieh mal, du weißt ganz genau, mit welchem Ruf ich damals hierhergekommen bin und der auch heute noch an mir klebt wie 'ne Schmeißfliege am Dreck. Meine eigene Einstellung hat sich zwar im Laufe der Zeit geändert, aber für die Leute bin ich immer noch einer, der flink mit dem Schießeisen umgehen kann. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob ich mich dabei für oder gegen das Gesetz stelle. Feinde hatte ich deshalb schon von jeher und werde sie auch mein Leben lang haben. Bisher hatte ich immer nur sehr großes Glück. Das ist aber keine Garantie, daß das auch einmal vorbei sein kann. Irgendwann wäre sowieso einer gekommen, der schneller ist oder die besseren Nerven hat. Mit so etwas rechne ich, seit ich zum erstenmal eine Waffe in die Hand genommen habe. Daß es mich diesmal so schwer erwischt hat, ist mein Pech. Das Schlimme für mich ist nicht, daß ich hier liegen muß oder vielleicht nicht mehr gesund werde, sondern daß Mike gesehen hat, wie es passierte. Wenn ich das hätte verhindern können, würde ich gern noch viel Schlimmeres auf mich nehmen als diese verdammten Schmerzen oder die Ungewißheit über eine Zukunft, von der ich nicht weiß, was sie mir bringen wird, ob sie für mich überhaupt existiert."

Das lange Sprechen hatte Jess sehr angestrengt. Seine Stimme war immer heiserer geworden. Jetzt keuchte er sogar einige Male.

"Wenn ich gewußt hätte, wie sehr es dich aufregt, hätte ich gar nicht davon angefangen."

"Es ist nicht deine Schuld!" Jess biß sich auf die Unterlippe. Einen Augenblick hielt er die Luft an, schloß die Augen. Mit ganzer Kraft kämpfte er gegen die Flut von Schmerzen, die ihn plötzlich überrollten wie eine Lawine. "Manchmal … manchmal muß ich mir gewisse Dinge von der Leber reden. Verdammt! Ich werd' gleich verrückt!" stieß er hervor.

"Ich werde besser Mrs. Daisy oder Slim holen."

Mort wollte schon aufstehen, aber Jess hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück.

"Nein! Nicht! Laß sie!"

"Kann ich dir dann irgendwie helfen?"

Ein kaum merkliches Nicken war die Antwort.

"Auf dem Nachttisch … die braune Flasche … das … das ist Laudanum", stöhnte Jess, daß Mort ihn kaum verstehen konnte. In seinen Augen standen Tränen. So sehr quälten ihn die Schmerzen. "Ein … ein paar Tropfen auf … auf ein halbes Glas Wasser … Beeil dich!"

Der Sheriff griff wortlos nach der Karaffe mit dem Wasser, füllte das Glas bis zur Hälfte und träufelte einige Tropfen aus der braunen Arzneiflasche hinein.

"Ich hoffe, daß es genug ist", sagte er tonlos und ließ ihn trinken.

Jetzt wartete Jess mit zusammengepreßten Lippen, daß die Wirkung einsetzte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis er wieder Luft bekam, ohne daß es in seiner Brust brannte wie die Hölle.

"Entschuldige, Mort, daß du das mitgekriegt hast", keuchte er nach einer Weile, nachdem die Schmerzen sich endlich in erträglichem Rahmen hielten. "Aber ich konnte einfach nicht mehr. Um ein Haar hätte ich so laut geschrien, daß man es bis nach Laramie gehört hätte. Es tut mir wirklich leid."

Anscheinend war es ihm hinterher peinlich, daß er vor den Augen des Sheriffs seine Schwäche nicht ohne fremde Hilfe unter Kontrolle bringen konnte. Seit Stunden versuchte er, der schlimmer werdenden Schmerzen Herr zu werden, sie zu ignorieren, ohne Laudanum niederzukämpfen. Aber plötzlich überschritten sie selbst für ihn die Grenze des Zumutbaren. Jetzt, nachdem das Laudanum wirkte, das ihn zunehmend teilnahmslos machte, glimmte nur noch eine Glut unter seinem Verband.

"Du brauchst dich doch deshalb nicht zu entschuldigen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß das nicht gerade ein Sonntagsspaziergang für dich ist. Ich an deiner Stelle könnte das nicht so ruhig ertragen. Wahrscheinlich würde ich ständig schreien wie am Spieß."

"Wir sollten besser wieder von was anderem reden, sonst passiert trotz dieses Teufelszeugs ein Unglück. Sag mal, diese drei Kerle", fing Jess dann tatsächlich von etwas anderem an, um seine eigene Aufmerksamkeit von sich selbst zu lenken, "wo hast du denn ihre Spuren verloren? Haben die wenigstens endlich unser Territorium verlassen?"

Mort wunderte sich, wie schnell er das Thema wechselte. Anscheinend lag ihm wirklich nichts mehr daran, sich über seinen verheerenden Gesundheitszustand zu unterhalten. Ihm zuliebe bemühte sich der Sheriff, diesen so gut wie zu übersehen.

"Schön wär's!" sagte er unzufrieden. "Die letzte Meldung kommt aus Twin Forks, wo sie das Postbüro überfallen haben."

"Twin Forks?" überlegte Jess mit zusammengezogenen Brauen. "Das ist aber nicht sehr weit von hier."

"Nein, jedenfalls nicht so weit, wie ich es mir wünsche."

"Sieht fast so aus, als kämen sie zurück."

"Hoffentlich nicht! Mir reicht, was sie hier angestellt haben."

"Auf jeden Fall haben sie einen weiten Bogen nach Südwesten geschlagen. Ich hätte angenommen, die Burschen sind schlauer und verdrücken sich nach Norden durch Montana bis über die kanadische Grenze."

"Wenn die weiterhin so in Bewegung bleiben wie bisher, sind sie hier genauso sicher. Die Feuerstellen, die wir ab und zu fanden, waren garantiert von den Kerlen, aber allesamt schon mehrere Tage alt."

"Slim hat mir erzählt, daß Steckbriefe im Umlauf sind. Konnten die denn nicht helfen, die Suche voranzutreiben?"

"Bis jetzt nicht. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Jedenfalls hat es keinen Sinn, weiter in der Gegend umherzureiten und einem Phantom nachzujagen. Auf der anderen Seite habe ich allerdings ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich jetzt in mein Büro hocke und nur abwarte, bis wieder etwas passiert oder mir die Kerle durch Zufall irgendwann mal über den Weg laufen. Ich fürchte jedoch, es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Nur, irgendwie fühle ich mich für alles, was noch geschieht, verantwortlich."

"Das ist doch Unsinn!" Jess sah ihn ärgerlich an. "Du redest schon fast genauso wie Slim. Der will sich auch an allem die Schuld geben. Kein Mensch kann etwas dafür, daß das so ausgekochte Halunken sind. Für das, was sie anstellen, sind letztendlich sie selbst verantwortlich und sonst niemand."

"Wenn das so einfach wäre! Vergiß nicht, ich bin das Gesetz in diesem Bezirk, zumindest habe ich die Verantwortung dafür, daß es eingehalten wird, daß die Menschen hier in Frieden leben können und nicht Angst haben müssen, auf offener Straße oder gar vor der eigenen Haustür über den Haufen geschossen zu werden."

"Deine Anspielung auf das, was hier passiert ist, überhör' ich lieber, sonst rege ich mich bloß wieder auf. Du kannst doch nicht überall gleichzeitig sein."

"Das verlangt man aber von jemandem, der den Stern trägt."

"Das redest du dir ein!"

"Du brauchst gerade was zu sagen! Du bist doch jedesmal bei den ersten, die den Kopf für andere hinhalten, auch ohne daß man dir so einen Blechstern ansteckt."

"Wir reden hier nicht von mir!" wich Jess aus. "Das wollten wir doch lassen."

"Typisch Jess Harper! Sobald die Sprache auf ihn selbst kommt, will er davon nichts mehr wissen."

"Mort, du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen! Es wundert mich allerdings, wieso diese Kerle trotz der Steckbriefe überall auftauchen können, ohne rechtzeitig erkannt zu werden."

"Du kennst doch die Sache mit den Steckbriefen. Die Leute lesen sie zwar und würden auch gern die ausgeschriebene Belohnung kassieren, aber das ist auch schon alles. Solange sie nicht selbst betroffen sind, hält sich das Interesse in sehr engen Grenzen. Apropos Steckbriefe! Ich hatte meinen Deputy beauftragt, während meiner Abwesenheit ein paar Telegramme zu verschicken, ob die zwei der drei Kerle vielleicht doch irgendwo bekannt sind."

"Und?"

"Man kennt sie tatsächlich, und zwar in den Dakotas, vor allem im nördlichen. Jedenfalls sind dort Steckbriefe im Umlauf, auf die die Beschreibung paßt. Auch die Vorgehensweise ist dort bekannt. Auftauchen, kassieren, spurlos verschwinden, dabei manchmal wild um sich schießen. Den einen kennt man unter dem Namen Ronald McPherson, genannt Ron, den anderen als Gregory Thorne. Dabei handelt es sich eindeutig um unseren Freund Hal. Er gilt als besonders gefährlich, weil unberechenbar. Aber das ist uns ja leider zur Genüge bekannt."

Ein wenig ungläubig blickte Jess auf. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß bei dem Namen des einen etwas nicht stimmen konnte.

"Wie paßt denn Hal zu Gregory?"

"Frag mich nicht! Wahrscheinlich ist der eine so falsch wie der andere. Wer weiß, vielleicht weiß der Kerl selbst nicht genau, wie er heißt. Von mir aus kann er sich Ulysses Grant oder George Washington nennen, deshalb bleibt er trotzdem ein notorischer Killer."

"McPherson und Thorne", murmelte Jess nachdenklich vor sich hin.

"Ja – kennst du einen von ihnen?" Mort sah fast ein wenig hoffnungsvoll auf.

"Ich kannte mal einen Thorne, Adam Thorne, ein ziemlich billiger Revolvermann. Aber das ist mindestens schon neun, eher sogar zehn Jahre her. Unten in Como, Texas, sind wir uns mal begegnet. Er wollte sich unbedingt mit mir schießen. Eines morgens fand man ihn mit einer Kugel im Rücken. Einige seiner Gönner wollten mir das in die Schuhe schieben. Ich schwör' dir, ich war es nicht! Der Meinung war übrigens auch der Sheriff aus Como. Ich saß zu der Zeit nämlich für ein paar Tage bei ihm im Gefängnis wegen einer Prügelei, weil ich die Strafe nicht zahlen konnte. Ich weiß bis heute nicht, wer diesen Thorne ins Jenseits befördert hat. Ehrlich gesagt, es hat mich auch nie interessiert."

"Vielleicht ist unser Hal – ich bleib' mal bei dem Namen – mit diesem Thorne verwandt."

"Nein, Mort, das glaube ich nicht. Soweit ich weiß, hatte Adam Thorne keine Angehörigen. Außerdem meinte Slim, daß weder dieser Hal noch sein Kumpan mich kannte. Die Namensgleichheit wird purer Zufall sein."

"Ich werde der Sache auf jeden Fall nachgehen."

"Das ist reine Zeitverschwendung! Mort, ich habe die Steckbriefe gesehen. Zwischen diesem Hal und dem Adam Thorne, den ich kannte, besteht nicht die geringste verwandtschaftliche Ähnlichkeit. Die haben nichts miteinander zu tun."

"Konntest du den Kerl nicht erkennen, als er abdrückte?"

"Ich kann mich an nichts erinnern, noch nicht einmal an das Mündungsfeuer, was ja angeblich das letzte sein soll, das man in solchen Situationen sieht. Wenn Slim es mir nicht erzählt hätte, wüßte ich überhaupt nicht, was geschehen ist. Die Gesichter der beiden kenne ich nur von den Steckbriefen. Der dritte im Bunde ist ja wohl erst später zu den Kerlen gestoßen oder vielmehr, die zwei haben sich mit ihm hier getroffen."

"Ja, Alexander Owen. Vor etwa einem Jahr hat man ihn in Leavenworth eingebunkert. Man hätte ihn besser aufgehängt. Meiner Meinung nach reicht sein Strafregister mindestens zehnmal für den Strick, aber der Richter war damals anderer Ansicht. Bei seinem Ausbruch hat er übrigens einen Wärter getötet, den er zunächst als Geisel nahm. Als er keine Verwendung mehr für ihn hatte, jagte er ihm eine Kugel in den Bauch und ließ ihn einfach im wahrsten Sinne des Wortes verrecken. Diesmal ist der Kerl auf jeden Fall reif für den Galgen."

"Owen soll sich doch auch überwiegend in den Dakotas herumgetrieben haben. So steht's jedenfalls in der 'Laramie Chronicle'. Gary hat die Geschichte bis ins Detail ausgegraben."

"Ja, es ist anzunehmen, daß sich die drei von früherer gemeinsamer Arbeit her kennen. Nachdem sie damals die Dakotas in Angst und Schrecken versetzten, sind diesmal wir an der Reihe. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als sie endlich vor die Flinte zu kriegen. Zum erstenmal wünsche ich mir, daß mir jemand Anlaß gibt, von der Waffe Gebrauch zu machen, sogar auf die Gefahr hin, daß ich dabei den kürzeren ziehe."

"Ich sag' es dir noch einmal, Mort! Mach keinen Unsinn!"

"Da ich das allein zu verantworten habe, kannst du es auch getrost mir allein überlassen."

Plötzlich stockte Jess der Atem. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer steinernen Grimasse. Er wandte den Kopf zur anderen Seite, biß ins Kissen, damit er nicht aufschrie. Seine Rechte verkrampfte sich auf seiner Brust.

"Um Gottes willen, was ist denn?" fragte Mort besorgt.

Jess konnte nicht antworten. Als er husten mußte, gruben sich seine Finger tiefer in den Verband. Schließlich keuchte er nur noch, rang verzweifelt nach Atem. Endlich ließen die Schmerzen etwas nach, daß er wenigstens einigermaßen Luft bekam. Langsam drehte er den Kopf zu Mort. Dieser erschrak über sein verheerendes Aussehen, die geröteten Augen, die fahle Hautfarbe, die in dem schmerzverbissenen Gesicht intensiver wirkte.

"Es ist wohl doch besser, wenn ich Slim hole. Der kann dir vielleicht eher helfen als ich. Du siehst ja furchtbar aus. Wir werden ein andermal weiterreden. – Ich werde dir Slim schicken."

Diesmal schaffte es Jess nicht, ihn aufzuhalten. Mort nickte ihm noch zuversichtlich zu und beeilte sich dann, daß er Hilfe für ihn holte, denn Jess kämpfte anscheinend gegen einen aufkommenden Hustenanfall.

Als der Sheriff das Zimmer verließ, betrat gerade Slim Sherman das Haus.

"Gott sei Dank, daß du kommst!" rief er dem Rancher entgegen. "Ich glaube, Jess braucht dich."

"Was ist mit ihm?"

"Er hat ziemlich starke Schmerzen. Ich sollte ihm Laudanum geben. Es waren vielleicht zehn Tropfen auf ein halbes Glas Wasser. Ich fürchte, es war nicht genug. Er hat immer noch heftige Schmerzen, kriegt kaum Luft, muß ständig husten und keuchen. Es geht ihm anscheinend nicht besonders."

"Das ist schon das zweite Mal heute morgen", sagte Slim im Vorbeigehen.

Dann ließ er den Sheriff einfach stehen. Im Krankenzimmer kam er gerade recht, um Jess bei einem furchtbaren Hustenanfall zu helfen, bei dem er ohne fremde Hilfe erstickt wäre. In das vorgehaltene Handtuch erbrach er einen mit rostigbraunem Blut vermischten Auswurf, mußte sich sogar übergeben. Anschließend lehnte er völlig erschöpft gegen Slims Oberkörper, hielt die Augen geschlossen, röchelte mühsam nach Atem. Immer wieder zuckte er in den Armen des Freundes zusammen, wenn die Schmerzen schlimmer wurden und ihm das Atmen fast unmöglich machten. Sein schwerer Kopf hing nach vorn gebeugt auf seiner Brust. Im Augenblick fehlte ihm die Kraft, ihn zu heben. Außerdem fürchtete er, daß selbst schon diese Bewegung eine erneute Flut von Schmerzen auslöste.

Slim faßte ihm an die Stirn und legte seinen Kopf zurück an seine Schulter, wischte ihm Blut und Erbrochenes aus dem Gesicht, ließ ihm viel Zeit, sich von der Anstrengung zu erholen.

"Slim?" fragte Jess leise, wie um sich zu vergewissern, ob der Freund noch in seiner Nähe war.

"Sprich jetzt nicht! Es gibt nichts zu sagen. Jetzt nicht, Jess! Bitte! Du brauchst deine Kraft für andere Dinge. Beruhige dich erst einmal, sonst wird es nur noch schlimmer."

"Es tut so weh!" stöhnte Jess, die Finger seiner Rechten tiefer in seinen Verband grabend.

"Soll ich dir noch von dem Laudanum geben?"

Jess nickte kaum merklich. Gleich darauf drückte er sich fester an den Freund, als wollte er vor einer Last zurückweichen, die ihn langsam zermalmte.

Vorsichtig, damit er sich auf keinen Fall verschluckte, flößte ihm Slim von dem Beruhigungsmittel ein. Nach ein paar Minuten wirkte es. Endlich entspannte sich Jess' Körper. Seine Atemzüge wurden ruhiger und gleichmäßiger. Bald befand er sich in einem Zustand zwischen apathischem Wachen und Halbschlaf, in dem er die Schmerzen kaum noch wahrnahm.

"Bist du … noch da?"

Unsicher tastete seine Hand ins Leere. Slim ergriff sie mit freundschaftlichem Druck.

"Keine Angst, ich bin hier. Es ist alles in Ordnung", versicherte er. Zur Bestätigung verstärkte er den Druck seiner Rechten. "Bleib ganz ruhig. Soll ich dich zurücklegen oder möchtest du lieber noch einen Moment so bleiben?"

"Bitte nicht bewegen!" bat Jess, undeutlich zu verstehen. "Sonst fangen die Schmerzen wieder an." Abermals keuchte er. "Warum … warum hört das nicht auf? Ich dachte, ich hätte das endlich … hinter mir. Aber es … es kommt immer wieder."

"Mach dir darüber jetzt nicht so viele Gedanken! Versuch lieber, zu schlafen." Slim strich ihm die schweißverklebten Haare aus der Stirn. "Danach fühlst du dich bestimmt besser. Vielleicht hast du dir einfach zuviel zugemutet. Vergiß nicht, du bist noch sehr krank."

Jess wollte tief durchatmen, hielt jedoch sofort die Luft an, als das Stechen in seiner Brust stärker wurde.

"Wenn ich nur richtig atmen könnte und endlich diese Schmerzen aufhörten! Und dieser furchtbare Husten! Ich glaube, der … bringt mich bald um."

"Du mußt dir einfach mehr Zeit geben."

"Das ist es nicht! Die Zeit … sie läuft mir weg. Ich … ich habe keine mehr."

"Wenn du dir das auch noch ständig einredest … Komm, hör jetzt auf damit! Schlaf lieber!"

Es dauerte wirklich nicht mehr lange, bis Jess die Augen zufielen. Bald schlief er ruhig und so fest, daß er nicht merkte, wie Slim ihn behutsam auf den Kissenberg bettete. Ehe er die Decke über seine Brust zog und sorgfältig glättete, vergewisserte sich der Rancher, ob sich kein Blut auf seinem Verband zeigte, weil vielleicht die Wunde erneut aufgebrochen war. Seine Sorge war zum Glück unbegründet.

Da er im Moment nichts weiter für ihn tun konnte, verließ Slim schweren Herzens das Krankenzimmer. Im Wohnraum saß Mort Cory bei Daisy am Tisch.

"Slim, was ist mit Jess?" wollte Daisy wissen, die sich als erste getraute, etwas zu sagen. "Wir haben gehört …" Sie sah das zerknüllte, mit Blut und Erbrochenem verschmierte Handtuch in seiner Rechten. "Hatte er wieder einen Anfall?"

Slim nickte wortlos, stampfte in die Küche, öffnete geräuschvoll die Herdklappe und warf mit einer fahrigen Bewegung das ruinierte Handtuch in die Glut, in der er anschließend mit dem Schürhaken herumstocherte, daß die Funken flogen. Wütend schlug er die Klappe zu. Einen Augenblick lang stützte er sich mit beiden Händen auf die Handtuchstange am Herd, schloß die Augen und hielt die Luft an. Fast schien es, als betete er stumm vor sich hin oder kämpfte darum, die Fassung nicht zu verlieren. Schließlich warf er mit einem Ruck den Kopf in den Nacken, um an die Decke zu starren.

"Was hat Jess nur getan? Sag mir, was hat er getan, daß du ihn nicht in Ruhe lassen kannst. Es gibt so viele schlechte Menschen auf dieser Welt, aber ihn mußt du dir aussuchen! Warum ausgerechnet er?" Seine bebende Stimme wurde ruhiger. "Bitte!" flehte er. "Laß ihn endlich zufrieden! Mein Gott, laß ihn!"

Sekunden verharrte Slim noch in einem stummen Gebet, ehe er sich allmählich wieder fing. Wie über seine eigene Schwäche betroffen, fuhr er erschreckt zusammen. Mit beiden Händen wischte er sich über Gesicht und Augen, brauchte einen Moment, um zu sich selbst zu finden. Sogar seine Schritte wirkten etwas unsicher, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Darum bemüht, sich nichts von seinem Gefühlsausbruch anmerken zu lassen, setzte er sich zu den anderen an den Tisch.

"Bitte, entschuldigt, daß ich mich so gehen ließ, aber ich konnte nicht mehr! Auf einmal gingen die Nerven mit mir durch. Es war einfach zuviel!" Slim blickte langsam auf. "Das war heute der zweite Anfall innerhalb von nicht einmal drei Stunden. Ich fürchte, wenn es zu einem dritten kommt, wird er ihn nicht überleben. – Gibt es eigentlich sonst noch was Neues, Mort?" wollte er dann wissen, um sich selbst abzulenken, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß eventuelle Neuigkeiten von Seiten des Sheriffs wesentlich dazu beitrugen.

Mort Cory erzählte daraufhin von dem, was er mittlerweile alles in Erfahrung bringen konnte, worüber er auch mit Jess gesprochen hatte.

"Sheriff, könnte denn nicht dieser Gregory oder Hal Thorne irgend etwas mit dem Thorne zu tun haben, den Jess damals kannte?" vermutete Daisy, während sie die Tassen füllte.

"Jess meint, nein, aber ich bin mir nicht so sicher. Auf jeden Fall werde ich der Sache nachgehen."

"Dann gäbe es wenigstens einen Grund dafür, daß dieser Hal auf Jess geschossen hat."

"Ja, Mrs. Daisy. Allerdings ist dieser Hal auch in den Dakotas dafür bekannt, daß er keinen gravierenden Anlaß benötigt, um auf Leute zu schießen. Das ist ein zwanghafter Killer. Der schießt auf alles, was sich bewegt und irgendwie nach einem Menschen aussieht. Insofern könnte Jess recht haben, daß die Namensgleichheit reiner Zufall ist. Aber, wie gesagt, das werde ich überprüfen, sofern dies überhaupt möglich ist."

"Na ja, jedenfalls scheinen die drei Kerle allesamt vom gleichen Schlag zu sein", bemerkte Slim mürrisch. "Nach dem, was dieser Owen mit dem Wärter aus Leavenworth angestellt hat, wundert mich gar nichts mehr."

"Ja, der Mann war verheiratet und hinterläßt zwei kleine Kinder."

"Wie furchtbar!"

"Schon, Mrs. Daisy, aber in meinen Augen nicht furchtbarer als das, was dieser Hal hier angerichtet hat. Dafür könnte ich mich vergessen!"

"Als du das letzte Mal hier warst, wolltest du mir dieses Vergessen noch ausreden. Erinnerst du dich?"

"Das weiß ich noch sehr genau. Aber damals wußte ich nicht, was ich heute weiß. Was ich heute hinter dieser Tür –" Mort deutete mit Nachdruck auf die angelehnte Tür zum Krankenzimmer. "– aus nächster Nähe sehen und erleben mußte, hat mir für alle Zeiten gereicht. Danach gestehe ich mir das Recht zu, genauso Partei zu ergreifen wie jeder andere, der Jess als Mensch und Freund zu schätzen weiß. Daran wird mich weder das Gesetz noch mein Eid, den ich darauf geleistet habe, und noch viel weniger diese Blechmarke hier hindern." Sein ausgestreckter Daumen richtete sich wie ein gebieterisches Signal auf den Stern an seiner Brust. "Ich habe zwar nicht dieses brüderliche Verhältnis zu Jess wie du, aber er ist mein Freund. Und einen Freund wie ihn läßt man nicht ungestraft über den Haufen schießen. Warum soll ich da anders denken als du?"

"Weil es bei mir etwas anderes ist. Jess ist wie ein Stück von mir selbst, ein Teil meines Lebens, ein Bruder für mich. Seit vielen Jahren teile ich mit ihm alles, was ich ohne ihn schon längst verloren hätte, einschließlich meines Lebens. Wie oft hat er das seine riskiert, um meines zu retten, hat seine Knochen aufs Spiel gesetzt, beinahe seine Gesundheit ruiniert, hat Tag und Nacht geschuftet, nur um diese Ranch in Schwung zu halten. Weißt du noch, wie es damals aussah, ehe Jess nach diesem Viehtreck hier hängenblieb?" Offensichtlich hatte Slim das unwiderstehliche Bedürfnis, Resümee zu ziehen. "Auf der Ranch gab es keinen Yard Zaun, der nicht niedergerissen gewesen wäre. Das Vieh war überall in den Canyons und Bergen verstreut. Die Pferdezucht existierte nicht mehr. Das Haus war eine einzige Bruchbude. Durch das Dach regnete es, und durch die Ritzen in der Wand pfiff der Wind. Schuppen und Stall waren halb verfallen, die Brunnen versandet. Diese Ranch war so gut wie nichts mehr wert, weil ich anderes im Hirn hatte und mir die Arbeit so über den Kopf gewachsen war, daß ich kein Interesse mehr an diesem Stück Land hatte. Hätte mein Vater gewußt, was ich innerhalb kürzester Zeit aus seinem Lebenswerk gemacht hatte, hätte er sich im Grab rumgedreht – nicht nur einmal, sondern hundertmal! Ich habe damals bloß nicht an diesen Grundstückshai verkauft, weil ich zu stolz war zuzugeben, daß ich versagt hatte. Und dann tauchte Jess in der Stadt auf, lief mir mitten in diesem Chaos über den Weg, genauso heruntergekommen wie ich, vielleicht sogar noch etwas mehr. Ein rauhbeiniger, ungehobelter Kerl mit dem Ruf eines heißblütigen Texaners, dessen Schießeisen so locker im Holster steckte, daß es beinahe von alleine los ging. Aber er brachte noch etwas anderes mit, und das war Erfahrung. Die hatte ich nicht. Ich war immer der Meinung, eine Ranch führt sich von allein, machte es mir wohl allzu einfach. Ich weiß bis heute nicht, was Jess damals veranlaßte, hier zu bleiben, zudem man ihn anfangs nicht gerade freundlich behandelte. Für die Leute war er nur einer dieser schießwütigen Halbstarken, die die Zeit nach dem Krieg hervorbrachte, einer mit zweifelhaftem Ruf und krimineller Vergangenheit, mit dem man lieber nichts zu tun haben wollte, ein konföderierter Rebell, der sich im Norden ins gemachte Nest hocken wollte. Nur, hier gab es kein Nest, und Jess' Vergangenheit war nicht halb so kriminell wie die gewisser ehrbarer Bürger und er selbst nicht halb so schlecht wie sein Ruf, geschweige denn, wie die Vorurteile der Leute, die ihn lange Zeit in ihrer biederen Gesellschaft nicht dulden wollten. Komischerweise hat das Jess schon immer weniger gestört als mich. Was ihn letztendlich hier gehalten hat, weiß er wahrscheinlich genausowenig wie ich. Vielleicht war es das Abenteuer, die Herausforderung des Ungewissen, die Gefahr, beim Sichselbstbeweisen draufzugehen. Ich weiß es nicht. Als er hier anfing, konnte ich ihm noch nicht einmal seinen Lohn zahlen. Trotzdem hat er gegen diese Landgeier härter gekämpft als ich. Weil ich ihm den Lohn schuldig bleiben mußte, bot ich ihm die Partnerschaft an. Damals dachte ich, er würde mich auf der Stelle erschießen. Statt dessen sagte er zu. Er sagte einfach nur, warum nicht. Zuerst dachte ich, es wäre reine Dummheit von einem, der keine Ahnung hat. Aber dann mußte ich erkennen, daß Jess besser wußte, was in diesem Stück Land steckte als ich. Plötzlich standen wieder gesunde Rinder auf den eingezäunten Weiden, um unsere Pferde begannen sich die Züchter zu reißen. Sogar mir fing die Arbeit wieder an, Spaß zu machen. Alles, was du heute hier siehst, einschließlich der Tatsache, daß uns die Hypotheken nicht schon längst aufgefressen haben, ist einzig und allein Jess' Verdienst. Ich schulde ihm mehr, als ich je wieder gutmachen kann."

"Du hast ihm immerhin ein Zuhause gegeben."

"Nein, Mort, dieses Zuhause hat er sich selbst geschaffen. Wir haben es uns gemeinsam erarbeitet, aber ohne ihn gäbe es dieses Zuhause nicht. Jess bedeutet mir mehr als irgend jemand sonst auf dieser Welt, ich glaube, sogar mehr, als mir ein Bruder bedeuten könnte, wenn ich einen hätte. Ich kann es nicht richtig erklären, was uns verbindet. Ich weiß nur, es hat weder etwas mit Dankbarkeit noch Schuldgefühlen oder dergleichen zu tun. Jess behauptet immer, er verdanke mir, daß er seine Achtung vor Gesetz und Ordnung, vor der Menschheit und deren Gesellschaft wiedergefunden hätte. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber ich verdanke ihm, daß ich wieder Respekt vor mir selbst haben kann. Es ist etwas, das tief hier drinnen sitzt." Slim deutete mit dem Daumen auf die Stelle, wo sein Herz schlug. "Wir sind im Grunde völlig verschieden und doch so ähnlich. Wir können uns stundenlang über irgend etwas streiten, aber uns auch genauso selbst über Kleinigkeiten gemeinsam freuen. Wenn einer von uns in Gefahr ist, kann es der andere oftmals spüren, auch wenn er -zig Meilen entfernt ist. Wenn Jess wie jetzt Schmerzen erdulden muß, leide ich mit ihm. Er ist der einzige Mensch, für den … Mort, seinetwegen könnte ich jemanden töten, ohne hinterher die geringsten Gewissensbisse zu bekommen oder mir Gedanken über mögliche Konsequenzen zu machen. Für Jess ginge ich ohne Wenn und Aber durch den finstersten Teil der Hölle."

"Denkst du, ich nicht?"

"Das würde ich nie anzweifeln. Aber du trägst noch andere Verantwortung. Du hast eine Verpflichtung gegenüber vielen Menschen, die ihr Vertrauen in dich setzen. Diese Menschen kannst – darfst du wegen eines einzigen nicht enttäuschen, nur weil dieser eine ein besonders guter Freund von dir ist."

"Keiner kann von mir verlangen, daß ich in diesem speziellen Fall nur meine Pflicht tue."

"Tu, was du für richtig hältst. Aber ich weiß, daß du ein viel zu guter Sheriff bist, als daß du im entscheidenden Augenblick die Nerven verlierst."

Als sich Mort bald darauf verabschiedete, verließ Slim mit ihm das Haus.

"Die Kutsche aus dem Westen wird gleich kommen", sagte er im Hinausgehen.

"Slim!" Der Sheriff band sein Pferd los, behielt die Zügel noch unschlüssig in der Hand. "Ich wollte es vor Mrs. Daisy nicht sagen, aber weiß Jess wirklich, wie es um ihn steht?"

"Glaube mir, keiner weiß so gut wie er selbst, was mit ihm los ist, wahrscheinlich noch nicht einmal der Arzt."

"Ich fürchte fast, er …" Mort brach ab.

"Wir fürchten alle dasselbe, allen voran Jess selbst. Nicht seinetwegen, sondern wegen Mike. Für den Jungen wird er jedoch kämpfen, mehr als für sich selbst. Nur deshalb ist er noch am Leben. Davon ist sogar der Arzt überzeugt. Ich hoffe, daß Jess' Liebe zu Mike stärker ist als seine körperliche Schwäche, sonst werden wir uns doch bald Gedanken über seine Beerdigung machen müssen."

"Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er es schafft." Mort stieg etwas schwerfällig in den Sattel. "Sag ihm viele Grüße von mir und wünsche ihm gute Besserung. Sobald ich kann, werde ich ihn wieder besuchen. Vielleicht, das heißt, hoffentlich geht es ihm bis dahin besser."

"Ich werd's ihm ausrichten."

Mort hob die Hand zum Abschied, ehe er vom Hof ritt. Slim schaute ihm nach. Dann ging er hinüber zur Koppel, um das Gespann für die erste Mittagskutsche zu richten.

Fortsetzung folgt