KAPITEL 14

Am folgenden Montag ging Mike zum erstenmal nach fast vier Wochen wieder zur Schule. Diese Entscheidung traf er ganz allein, jedoch hatte Jess auf behutsame Weise etwas nachgeholfen und ihn auf den richtigen Weg gebracht und auch Slim und Daisy ausdrücklich gebeten, den Jungen nicht zu drängen, am besten das Thema Schule gar nicht zu erwähnen, es sei denn, Mike finge selbst davon an. Am Sonntag beim Frühstück stellte er dann alle vor vollendete Tatsachen, indem er stolz verkündete, wozu er sich entschlossen hatte.

Wie ein zweibeiniger Wirbelwind fegte Mike über den Hof. Im Stall traf er Slim, der das Geschirr für die Gespannpferde der bald eintreffenden Kutsche kontrollierte, ehe er es draußen über den Koppelzaun hängte.

"Jess sagte, ich soll Browny erst in der Koppel abreiten heute."

"Das rate ich dir auch. Wenn ein Pferd nur ein paar Tage gestanden hat, ist ihm nicht mehr zu trauen." Slim half ihm beim Satteln und Aufsitzen. "Rauf mit dir und zeig ihm, wer der Herr ist!"

Der Rancher führte ihn aus dem Stall und ließ ihn in die angrenzende Koppel. Browny tänzelte ein wenig, versuchte, seinen Willen durchzusetzen, aber Mike hatte ihn schon nach ein paar Runden fest im Griff.

Slim blieb am Zaun stehen und beobachtete ihn wohlwollend, wie er sein Pferd beherrschte. Dabei stellte er zum erstenmal bewußt fest, wie sehr die Haltung des Jungen der seines Partners glich. Mike hatte sie sich mit der Zeit durch ständiges Zusehen, wenn Jess mit Pferden arbeitete, abgeguckt und selbst angeeignet.

"Ich glaube, das reicht!" rief Slim auf einmal. "Du hast ihn wirklich hervorragend am Zügel. Bald kannst du es so gut wie Jess."

"Bis dahin muß ich noch sehr viel lernen."

"Er wird dir das schon noch beibringen." Slim öffnete das Gatter und reichte ihm sein Bücherbündel. "Hier, vergiß die nicht mitzunehmen! Und jetzt beeil dich! Aber hetze Browny für den Anfang nicht zu sehr."

"Keine Angst!" Mike schlang den Riemen ums Sattelhorn, während Slim den Bauchgurt für ihn nachzog. "Auf Wiedersehen, Slim!"

"Wiedersehen, Cowboy!"

Mike hob zum Abschied die Hand, trabte vom Hof und ließ Browny bald in munterem Galopp der Straße nach Laramie folgen. Dabei saß der Junge völlig gelöst im Sattel, mit sehr lang geschnallten Bügeln, die Zügelhand ziemlich hoch und nah am Körper gehalten, die Rechte locker an der Hüfte und halb auf dem Oberschenkel, sein willig vorwärts strebendes Pferd ohne Zweifel unter Kontrolle.

Slim schaute ihm nach, bis er hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war.

"Tatsächlich!" entfuhr es dem Rancher, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. "Er reitet genauso wie Jess. Komisch, das ist mir noch nie aufgefallen."

Am späten Vormittag ritt Mort Cory in den Hof. Slim arbeitete gerade neben der Remise, brachte Geschirre in Ordnung und bereitete die Gespanne für die Mittagskutschen vor. Der Sheriff trabte zu ihm hinüber, verhielt sein Pferd an der Tränke, wo er es sich selbst überließ.

Der Rancher hatte ihn schon von weitem kommen hören. Jetzt unterbrach er seine Arbeit und wartete, bis der Gesetzeshüter den freien Platz vor dem Schuppen überquert hatte.

"Hallo, Mort!" begrüßte er ihn. "Du hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen."

"Hallo, Slim!" Die Männer tauschten einen flüchtigen Händedruck. "Ich war die ganze Zeit unterwegs. Ich wollte schon früher kommen, aber ich mußte mich erst einmal ausschlafen. Bin die letzten vier Wochen kaum dazu gekommen, ein Auge zuzumachen."

"Du siehst auch ziemlich fertig aus. Gibt's was Neues?"

"Nicht viel." Mort schob den Hut in den Nacken. "Jedenfalls nichts, was uns weiterbringt."

"Keine Spur von den Kerlen?"

"Spuren gab's genug, nur führten die alle ins Leere, das heißt, meistens ins Wasser oder in felsiges Gelände. Wir haben ein paar kalte Feuerstellen gefunden, aber ansonsten noch nicht einmal ein Schweifhaar. Nach dem Unwetter war es dann völlig sinnlos, weiter zu suchen. Da waren auch die dürftigen Spuren dahin."

"Die sind anscheinend ständig in Bewegung, was?"

"Ja, sieht so aus. Solange sie diese Taktik beibehalten, sind sie wohl kaum zu kriegen. Jedenfalls bin ich schon lange nicht mehr so viele Meilen geritten."

"Und das alles umsonst", stellte Slim ziemlich lapidar fest.

"Tja, aber ich hätte mich sowieso nicht untätig ins Büro hocken können. Na ja, auf diese Weise bin ich wenigstens mal wieder in alle Ecken meines Bezirkes gekommen. Das letzte Mal wurden die drei offensichtlich in Twin Forks gesehen. Dort haben drei Burschen, auf die die Beschreibung paßt, das Postbüro am hellichten Tag überfallen und vollständig geplündert. Diesmal gab's zum Glück keine Schießerei. Sie haben nur den Mann hinter dem Schalter bewußtlos geschlagen. Er ist mit 'ner Beule und dem Schrecken davon gekommen."

"Das sieht denen aber nicht ähnlich."

"Nein, aber es handelte sich ganz sicher um die drei. Der Überfallene konnte sie ziemlich gut beschreiben. Ich fresse meinen Hut, wenn der eine davon nicht dieser Ausbrecher Alexander Owen und der andere unser Freund Hal war."

"Hm, Twin Forks", überlegte Slim und rieb sich nachdenklich das Kinn. "Dann sind sie aber noch nicht viel weiter nach Norden gekommen, eher sogar wieder zurück."

"Genau!" nickte Mort. "Zumindest treiben sie sich noch in unserem Territorium herum und machen keinerlei Anstalten, es in nächster Zeit zu verlassen."

"Denen scheint es hier tatsächlich zu gefallen."

"Kein Wunder! Das Gelände ist zum Versteckspielen wie geschaffen." Der Sheriff grinste bissig. "Anscheinend macht es denen unheimlichen Spaß, Leute wie mich an der Nase herumzuführen, auf unser aller Nerven rumzutanzen wie Akrobaten auf einem Seil, hin und wieder einen kleinen Überfall zu organisieren, um für den nötigen Lebensunterhalt zu sorgen, und nicht zuletzt aus reinem Vergnügen Leute über den Haufen zu schießen, aus welchen Gründen auch immer, manchmal auch ohne jeden ersichtlichen Grund. – Was macht eigentlich Jess?" wollte er im gleichen Atemzug wissen. "Ich hoffe, es geht ihm besser."

"So einigermaßen." Slims Blick wurde ernster, obwohl dies kaum möglich war. "Er ist noch nicht ganz überm Berg."

"Aber er wird doch wieder gesund?" Mort war deutlich anzusehen, daß er sich um den langjährigen Freund ehrlich sorgte.

"Selbst Dan kann diese Frage bis heute nicht beantworten. Jess wurde innerlich sehr schwer verletzt. Die Kugel muß ihn furchtbar zugerichtet haben, daß sogar Dan vor einem Rätsel steht und sich nicht erklären kann, wieso er noch lebt. Jess hat immer wieder schreckliche Hustenanfälle, die ihn beinahe ersticken. Dabei spuckt er Blut – mehr oder weniger –, daß mir jedesmal ganz anders wird. Gerade vorhin hatte er einen solchen Anfall, obwohl es ihm heute morgen relativ gut ging. Manchmal ändert sich sein Zustand von der einen zur anderen Minute. So etwas zerrt schon unheimlich an den Nerven, sag' ich dir. Vor allen Dingen, weil man nie weiß, ob er den nächsten Anfall überlebt."

"Es ist die Lunge, nicht wahr?"

Slim nickte mit zusammengepreßten Lippen.

"Wenn die Kugel glatt durchgegangen wäre, wäre alles nur halb so wild. Aber sie hat eine Rippe erwischt. Dadurch wurden Knochensplitter mitgerissen. Ganz zu schweigen von den inneren Blutungen, die jederzeit wiederkehren können. Die Gefahr, daß er innerlich verblutet oder an seinem eigenen Blut erstickt, besteht nach wie vor. Und die Schmerzen sind bisher auch nicht viel weniger geworden. Zeitweise kann er sie sogar kaum mit Laudanum ertragen."

"Das will bei Jess schon etwas heißen."

"Eben! Jetzt kannst du dir selbst ein Bild davon machen, wie die Sache aussieht."

"Da muß man ja tatsächlich dem lieben Gott dafür danken, daß er überhaupt noch lebt."

"Ja, Mort, das muß man. Du weißt, ich gehöre bestimmt nicht zu denen, die jeden Sonntag in die Kirche rennen, nur damit sie sich hinterher vielleicht besser fühlen. Aber soviel wie in den letzten vier Wochen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gebetet. Ich glaube, wenn einem nahestehenden Menschen so etwas Furchtbares widerfährt, verliert man seinen Glauben entweder völlig, oder man findet ihn wieder."

"Ich würde Jess ganz gerne mal besuchen. Meinst du, ich kann zu ihm?"

"Sicher! Er freut sich über jede Abwechslung. Ich glaube nicht, daß er schläft. Vorhin war er jedenfalls wach. Nach dem Hustenanfall war er zwar ziemlich fertig, aber das hing wohl in erster Linie mit den Schmerzen zusammen, die ihn dabei wie jedes Mal fast zum Wahnsinn treiben. Geh nur rein! Daisy ist im Haus. Von ihr kriegst du sicherlich einen Kaffee. Ich komme gleich nach. Ich muß nur noch die Gespanne fertigmachen."

"Wie offen kann ich Jess gegenüber sein?" vergewisserte sich der Sheriff, der unter keinen Umständen etwas Falsches sagen wollte. "Ich meine in bezug auf ihn selbst und Mike."

"Er weiß alles. Versuch ja nicht, ihn zu belügen! Du kennst ihn ja! Er hat ein unheimliches Gespür für die Wahrheit. Ich habe lange probiert, sie ihm vorzuenthalten, bis er mir klipp und klar auf den Kopf zusagte, was los ist. Trotzdem bemüh dich, nicht zu sehr ins Detail zu gehen. Über manches regt er sich mehr auf, als für ihn gut ist. Oder er fängt an zu grübeln. Aber das scheint in seiner Lage ganz verständlich zu sein."

"Ich werde aufpassen", versprach Mort, holte sein Pferd und führte es am Zügel hinter sich her bis zum Ranchhaus. Dort band er es am Halteholm an.

Mit absichtlich lauten Schritten betrat er die Veranda, daß Daisy ihn sofort hörte. Sie öffnete schon die Tür, noch ehe er dazu kam zu klopfen.

"Guten Morgen, Sheriff Cory!" begrüßte sie ihn in ihrer warmherzigen Art und ließ ihn herein.

"Einen wunderschönen guten Morgen, Mrs. Daisy!" erwiderte er ebenso freundlich, nahm den Hut ab und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Anscheinend war er froh, endlich wieder mit einer Frau wie ihr sprechen zu können.

"Sie waren ja schon fast eine Ewigkeit nicht mehr hier. Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade frischen gekocht."

"Ja, sehr gern. Slim sagte schon, daß ich von Ihnen bestimmt einen kriegen kann."

Daisy eilte in die Küche, um gleich darauf mit einem vollen Tablett zurückzukehren. Sie schenkte ein und reichte Mort die Tasse.

"Wollen Sie sich nicht setzen? Ich hoffe, Sie haben es nicht so eilig wie neulich."

"Danke." Mort ließ sich bei ihr am Tisch nieder. "Heute habe ich Gott sei Dank etwas mehr Zeit."

"Waren Sie die ganze Zeit unterwegs?"

"Bis gestern abend, kurz vor Mitternacht."

"War Ihre Suche denn wenigstens erfolgreich?"

"Leider nicht. Ich habe es gerade zu Slim gesagt. Wir haben zwar jede Menge Spuren gefunden, aber ansonsten nichts von Bedeutung." Mort trank von seinem Kaffee. "Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich diese Kerle während der ganzen Zeit verflucht habe, obwohl ich weiß, daß das niemandem etwas nützt."

"Slim hat mir erzählt, was diese Männer noch alles angestellt haben. Was sind das nur für Menschen?"

"Tja, Mrs. Daisy, manchmal frage ich mich, ob das überhaupt Menschen sind. Ich glaube, wenn die endlich einer zur Strecke bringt, wird denen keiner eine Träne nachweinen." Der Sheriff spülte seinen Groll mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter. "Trotzdem erscheint mir selbst im nachhinein alles nur halb so schlimm wie das, was sie Jess angetan haben; denn er zählt schließlich zu meinen besten Freunden. Seinetwegen bin ich eigentlich auch hier." Er leerte seine Tasse und hob abweisend die Hand, als Daisy nachschenken wollte. "Ich wollte ihm gern guten Tag sagen und sehen, wie es ihm geht."

Da drang auch schon eine sehr vertraute Stimme aus dem Krankenzimmer.

"Mort, bist du das?"

"Und ich dachte, er würde schlafen", meinte Daisy fast ein wenig vorwurfsvoll. "Bleiben Sie bitte nicht zu lange! Vorhin war er wieder in etwas schlechterer Verfassung. Sie wissen ja, Jess weiß in manchen Dingen einfach nicht, wann er genug hat."

"Keine Sorge, ich werde es kurz machen. Ich will ihm eigentlich nur guten Tag sagen."

"Wenn Sie es schaffen, Jess davon zu überzeugen, daß das genug für heute ist, müssen Sie mir nachher unbedingt verraten, wie Sie das angestellt haben."

"Mort?" kam es wieder aus dem Krankenzimmer, diesmal etwas lauter.

Cory ging zur angelehnten Tür des kleinen Raumes und klopfte an den Rahmen. Zuerst streckte er nur den Kopf ins Zimmer. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht.

"Bin ich hier richtig bei einem gewissen Jess Harper?"

"Nein, vor dir liegt nur das, was von ihm übrig ist", brummte Jess. Der Sheriff trat ein, kam ans Bett und tauschte mit ihm einen freundschaftlichen Händedruck. "Nimm dir den Stuhl und setz dich!"

Jess machte eine einladende Handbewegung, worauf sein Besuch den Stuhl heranzog und sich schwerfällig niederließ. Von den vielen Tagen im Sattel war er völlig steif und verspannt.

"Ich wollte schon immer mal 'ne lebendige Zielscheibe aus der Nähe begutachten. Daß sie ausgerechnet so aussieht wie du, hätte nicht zu sein brauchen. Daß du aber auch immer wieder mal einem Stück Blei im Wege stehen mußt! Kannst es einfach nicht lassen, was?" grinste Mort fast ein wenig verlegen.

"Du weißt doch, daß ich gern Kugelfang spiele. Diesmal konnte ich nicht genug kriegen."

"Jetzt mal Spaß beiseite! Wie geht es dir?"

"Na ja, wie es einem halt geht mit so einem Loch im Fell."

"Du siehst ganz schön mitgenommen aus."

"Unsinn! Ich verstell' mich nur, damit Daisy mich verwöhnt. In Wirklichkeit könnte ich glatt aus dem Bett springen!"

Jess keuchte. Obwohl er sich alle Mühe gab, vor Mort seine Schmerzen zu verbergen, gelang es ihm nicht, dem langjährigen Bekannten etwas vorzumachen.

"Du hast schlimme Schmerzen, nicht wahr?"

"Ich will ganz ehrlich sein, Mort – ja! Manchmal denke ich sogar, daß es überhaupt nicht mehr anders wird. Aber, bitte, das brauchst du Daisy nicht zu sagen. Reden wir lieber von etwas anderem, damit ich nicht ständig daran erinnert werde. Warst du die ganze Zeit unterwegs?" wollte Jess prompt wissen.

Vorläufig hatte er jedenfalls genug davon, von sich und seinem miserablen Zustand zu reden, der sich in den letzten zwei, drei Stunden tatsächlich etwas verschlechtert hatte, zumindest was die Schmerzen und seinen Hustenreiz betraf. Ein paarmal war er sogar nahe dabei, Laudanum zu verlangen, aber er wollte versuchen, so lange wie möglich ohne das Schmerzmittel auszukommen. Wenn es jedoch mit den brennenden und stechenden Schmerzen in seiner Brust so weiterging oder gar schlimmer wurde, könnte er es ohne Laudanum nicht mehr aushalten, wollte er nicht das ganze Haus zusammenschreien.

"Ja, bis gestern abend."

"Und? Hast du was gefunden?"

"Nicht viel. Die Kerle haben uns die ganze Zeit zum Narren gehalten. Manchmal sind wir einer auffälligen Spur gefolgt, die aber bald ins Wasser führte. Oder sie verlor sich in felsigem Gelände. Vielleicht hätten wir sie aufgestöbert, wenn du dabei gewesen wärst. Du bist ein wesentlich besserer Fährtenleser als ich und erst recht als meine Männer."

"Glaub mir, ich wäre bestimmt mitgekommen, vor allem, nachdem mir Slim erzählte, was sie sonst noch alles angestellt haben. Warum mußten diese Kerle nur den alten Bud Franklin umlegen? Und dann das Mädchen aus Medicine Bow! Was ist eigentlich mit der Kleinen? Konntest du schon was Neues erfahren?"

"Typisch Jess Harper! Machst dir mehr Gedanken über andere als über dich selbst."

"Das täuscht. Weißt du, wenn ich mir über andere Gedanken machen kann, komme ich nicht dazu, über mich selbst nachzugrübeln." Als Jess keuchte, sah Mort deutlich, wie sich seine Finger in den Verband gruben. "Was ist also mit dem Mädchen?" wiederholte er; es war schon beinahe ein Stöhnen.

"Der scheint es wieder ganz gut zu gehen. Jedenfalls hat mir das der Sheriff aus Medicine Bow telegrafiert. Ich schätze, das sah im ersten Augenblick schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war. Die Kleine wird bald wieder herumspringen. Auf jeden Fall hatte sie mehr Glück als Bud oder der Kassierer der Bank. Ganz zu schweigen von dir!"

"Wir wollten doch nicht mehr von mir sprechen", lenkte Jess mit rauher Stimme ab.

"Ich weiß. Aber wenn ich so unmittelbar vor Augen habe, was dieser schießwütige Verrückte mit dir angestellt hat, muß ich zwangsläufig immer wieder davon anfangen. Jess, ich will dir offen gestehen, daß du mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hast, als ich dich vor drei Wochen so reglos, wie tot habe daliegen sehen. Wenn ich von Slim nicht gewußt hätte, daß du noch lebst, hätte ich glatt angenommen, man hätte dich schon für die Beerdigung aufgebahrt. Für mich als dein Freund war es jedenfalls ein furchtbarer Anblick, ein richtiger Schock! Du siehst zwar heute auch nicht gerade aus wie das blühende Leben, aber immerhin. Glaube mir, es war wahrscheinlich ganz gut, daß wir die drei Kerle nicht gefunden haben. Ich fürchte fast, bei dem Amokschützen Hal hätte ich vergessen, daß ich einen Stern trage."

"Mach meinetwegen bloß keinen Unsinn! Die Sache ist es nicht wert, daß du deswegen deinen Posten riskierst."

"Die Sache bestimmt nicht, aber du auf alle Fälle!"

"Mort, das hätte mir genausogut auch bei einer anderen Gelegenheit passieren können."

"Ist es aber nicht!"

"Worin soll da der Unterschied liegen?"

"Jess, für mich gibt es da einen Unterschied, sogar einen sehr gewaltigen!"

"Das redest du dir ein! Sieh mal, du weißt ganz genau, mit welchem Ruf ich damals hierhergekommen bin und der auch heute noch an mir klebt wie 'ne Schmeißfliege am Dreck. Meine eigene Einstellung hat sich zwar im Laufe der Zeit geändert, aber für die Leute bin ich immer noch einer, der flink mit dem Schießeisen umgehen kann. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob ich mich dabei für oder gegen das Gesetz stelle. Feinde hatte ich deshalb schon von jeher und werde sie auch mein Leben lang haben. Bisher hatte ich immer nur sehr großes Glück. Das ist aber keine Garantie, daß das auch einmal vorbei sein kann. Irgendwann wäre sowieso einer gekommen, der schneller ist oder die besseren Nerven hat. Mit so etwas rechne ich, seit ich zum erstenmal eine Waffe in die Hand genommen habe. Daß es mich diesmal so schwer erwischt hat, ist mein Pech. Das Schlimme für mich ist nicht, daß ich hier liegen muß oder vielleicht nicht mehr gesund werde, sondern daß Mike gesehen hat, wie es passierte. Wenn ich das hätte verhindern können, würde ich gern noch viel Schlimmeres auf mich nehmen als diese verdammten Schmerzen oder die Ungewißheit über eine Zukunft, von der ich nicht weiß, was sie mir bringen wird, ob sie für mich überhaupt existiert."

Das lange Sprechen hatte Jess sehr angestrengt. Seine Stimme war immer heiserer geworden. Jetzt keuchte er sogar einige Male.

"Wenn ich gewußt hätte, wie sehr es dich aufregt, hätte ich gar nicht davon angefangen."

"Es ist nicht deine Schuld!" Jess biß sich auf die Unterlippe. Einen Augenblick hielt er die Luft an, schloß die Augen. Mit ganzer Kraft kämpfte er gegen die Flut von Schmerzen, die ihn plötzlich überrollten wie eine Lawine. "Manchmal … manchmal muß ich mir gewisse Dinge von der Leber reden. Verdammt! Ich werd' gleich verrückt!" stieß er hervor.

"Ich werde besser Mrs. Daisy oder Slim holen."

Mort wollte schon aufstehen, aber Jess hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück.

"Nein! Nicht! Laß sie!"

"Kann ich dir dann irgendwie helfen?"

Ein kaum merkliches Nicken war die Antwort.

"Auf dem Nachttisch … die braune Flasche … das … das ist Laudanum", stöhnte Jess, daß Mort ihn kaum verstehen konnte. In seinen Augen standen Tränen. So sehr quälten ihn die Schmerzen. "Ein … ein paar Tropfen auf … auf ein halbes Glas Wasser … Beeil dich!"

Der Sheriff griff wortlos nach der Karaffe mit dem Wasser, füllte das Glas bis zur Hälfte und träufelte einige Tropfen aus der braunen Arzneiflasche hinein.

"Ich hoffe, daß es genug ist", sagte er tonlos und ließ ihn trinken.

Jetzt wartete Jess mit zusammengepreßten Lippen, daß die Wirkung einsetzte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis er wieder Luft bekam, ohne daß es in seiner Brust brannte wie die Hölle.

"Entschuldige, Mort, daß du das mitgekriegt hast", keuchte er nach einer Weile, nachdem die Schmerzen sich endlich in erträglichem Rahmen hielten. "Aber ich konnte einfach nicht mehr. Um ein Haar hätte ich so laut geschrien, daß man es bis nach Laramie gehört hätte. Es tut mir wirklich leid."

Anscheinend war es ihm hinterher peinlich, daß er vor den Augen des Sheriffs seine Schwäche nicht ohne fremde Hilfe unter Kontrolle bringen konnte. Seit Stunden versuchte er, der schlimmer werdenden Schmerzen Herr zu werden, sie zu ignorieren, ohne Laudanum niederzukämpfen. Aber plötzlich überschritten sie selbst für ihn die Grenze des Zumutbaren. Jetzt, nachdem das Laudanum wirkte, das ihn zunehmend teilnahmslos machte, glimmte nur noch eine Glut unter seinem Verband.

"Du brauchst dich doch deshalb nicht zu entschuldigen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß das nicht gerade ein Sonntagsspaziergang für dich ist. Ich an deiner Stelle könnte das nicht so ruhig ertragen. Wahrscheinlich würde ich ständig schreien wie am Spieß."

"Wir sollten besser wieder von was anderem reden, sonst passiert trotz dieses Teufelszeugs ein Unglück. Sag mal, diese drei Kerle", fing Jess dann tatsächlich von etwas anderem an, um seine eigene Aufmerksamkeit von sich selbst zu lenken, "wo hast du denn ihre Spuren verloren? Haben die wenigstens endlich unser Territorium verlassen?"

Mort wunderte sich, wie schnell er das Thema wechselte. Anscheinend lag ihm wirklich nichts mehr daran, sich über seinen verheerenden Gesundheitszustand zu unterhalten. Ihm zuliebe bemühte sich der Sheriff, diesen so gut wie zu übersehen.

"Schön wär's!" sagte er unzufrieden. "Die letzte Meldung kommt aus Twin Forks, wo sie das Postbüro überfallen haben."

"Twin Forks?" überlegte Jess mit zusammengezogenen Brauen. "Das ist aber nicht sehr weit von hier."

"Nein, jedenfalls nicht so weit, wie ich es mir wünsche."

"Sieht fast so aus, als kämen sie zurück."

"Hoffentlich nicht! Mir reicht, was sie hier angestellt haben."

"Auf jeden Fall haben sie einen weiten Bogen nach Südwesten geschlagen. Ich hätte angenommen, die Burschen sind schlauer und verdrücken sich nach Norden durch Montana bis über die kanadische Grenze."

"Wenn die weiterhin so in Bewegung bleiben wie bisher, sind sie hier genauso sicher. Die Feuerstellen, die wir ab und zu fanden, waren garantiert von den Kerlen, aber allesamt schon mehrere Tage alt."

"Slim hat mir erzählt, daß Steckbriefe im Umlauf sind. Konnten die denn nicht helfen, die Suche voranzutreiben?"

"Bis jetzt nicht. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Jedenfalls hat es keinen Sinn, weiter in der Gegend umherzureiten und einem Phantom nachzujagen. Auf der anderen Seite habe ich allerdings ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich jetzt in mein Büro hocke und nur abwarte, bis wieder etwas passiert oder mir die Kerle durch Zufall irgendwann mal über den Weg laufen. Ich fürchte jedoch, es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Nur, irgendwie fühle ich mich für alles, was noch geschieht, verantwortlich."

"Das ist doch Unsinn!" Jess sah ihn ärgerlich an. "Du redest schon fast genauso wie Slim. Der will sich auch an allem die Schuld geben. Kein Mensch kann etwas dafür, daß das so ausgekochte Halunken sind. Für das, was sie anstellen, sind letztendlich sie selbst verantwortlich und sonst niemand."

"Wenn das so einfach wäre! Vergiß nicht, ich bin das Gesetz in diesem Bezirk, zumindest habe ich die Verantwortung dafür, daß es eingehalten wird, daß die Menschen hier in Frieden leben können und nicht Angst haben müssen, auf offener Straße oder gar vor der eigenen Haustür über den Haufen geschossen zu werden."

"Deine Anspielung auf das, was hier passiert ist, überhör' ich lieber, sonst rege ich mich bloß wieder auf. Du kannst doch nicht überall gleichzeitig sein."

"Das verlangt man aber von jemandem, der den Stern trägt."

"Das redest du dir ein!"

"Du brauchst gerade was zu sagen! Du bist doch jedesmal bei den ersten, die den Kopf für andere hinhalten, auch ohne daß man dir so einen Blechstern ansteckt."

"Wir reden hier nicht von mir!" wich Jess aus. "Das wollten wir doch lassen."

"Typisch Jess Harper! Sobald die Sprache auf ihn selbst kommt, will er davon nichts mehr wissen."

"Mort, du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen! Es wundert mich allerdings, wieso diese Kerle trotz der Steckbriefe überall auftauchen können, ohne rechtzeitig erkannt zu werden."

"Du kennst doch die Sache mit den Steckbriefen. Die Leute lesen sie zwar und würden auch gern die ausgeschriebene Belohnung kassieren, aber das ist auch schon alles. Solange sie nicht selbst betroffen sind, hält sich das Interesse in sehr engen Grenzen. Apropos Steckbriefe! Ich hatte meinen Deputy beauftragt, während meiner Abwesenheit ein paar Telegramme zu verschicken, ob die zwei der drei Kerle vielleicht doch irgendwo bekannt sind."

"Und?"

"Man kennt sie tatsächlich, und zwar in den Dakotas, vor allem im nördlichen. Jedenfalls sind dort Steckbriefe im Umlauf, auf die die Beschreibung paßt. Auch die Vorgehensweise ist dort bekannt. Auftauchen, kassieren, spurlos verschwinden, dabei manchmal wild um sich schießen. Den einen kennt man unter dem Namen Ronald McPherson, genannt Ron, den anderen als Gregory Thorne. Dabei handelt es sich eindeutig um unseren Freund Hal. Er gilt als besonders gefährlich, weil unberechenbar. Aber das ist uns ja leider zur Genüge bekannt."

Ein wenig ungläubig blickte Jess auf. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß bei dem Namen des einen etwas nicht stimmen konnte.

"Wie paßt denn Hal zu Gregory?"

"Frag mich nicht! Wahrscheinlich ist der eine so falsch wie der andere. Wer weiß, vielleicht weiß der Kerl selbst nicht genau, wie er heißt. Von mir aus kann er sich Ulysses Grant oder George Washington nennen, deshalb bleibt er trotzdem ein notorischer Killer."

"McPherson und Thorne", murmelte Jess nachdenklich vor sich hin.

"Ja – kennst du einen von ihnen?" Mort sah fast ein wenig hoffnungsvoll auf.

"Ich kannte mal einen Thorne, Adam Thorne, ein ziemlich billiger Revolvermann. Aber das ist mindestens schon neun, eher sogar zehn Jahre her. Unten in Como, Texas, sind wir uns mal begegnet. Er wollte sich unbedingt mit mir schießen. Eines morgens fand man ihn mit einer Kugel im Rücken. Einige seiner Gönner wollten mir das in die Schuhe schieben. Ich schwör' dir, ich war es nicht! Der Meinung war übrigens auch der Sheriff aus Como. Ich saß zu der Zeit nämlich für ein paar Tage bei ihm im Gefängnis wegen einer Prügelei, weil ich die Strafe nicht zahlen konnte. Ich weiß bis heute nicht, wer diesen Thorne ins Jenseits befördert hat. Ehrlich gesagt, es hat mich auch nie interessiert."

"Vielleicht ist unser Hal – ich bleib' mal bei dem Namen – mit diesem Thorne verwandt."

"Nein, Mort, das glaube ich nicht. Soweit ich weiß, hatte Adam Thorne keine Angehörigen. Außerdem meinte Slim, daß weder dieser Hal noch sein Kumpan mich kannte. Die Namensgleichheit wird purer Zufall sein."

"Ich werde der Sache auf jeden Fall nachgehen."

"Das ist reine Zeitverschwendung! Mort, ich habe die Steckbriefe gesehen. Zwischen diesem Hal und dem Adam Thorne, den ich kannte, besteht nicht die geringste verwandtschaftliche Ähnlichkeit. Die haben nichts miteinander zu tun."

"Konntest du den Kerl nicht erkennen, als er abdrückte?"

"Ich kann mich an nichts erinnern, noch nicht einmal an das Mündungsfeuer, was ja angeblich das letzte sein soll, das man in solchen Situationen sieht. Wenn Slim es mir nicht erzählt hätte, wüßte ich überhaupt nicht, was geschehen ist. Die Gesichter der beiden kenne ich nur von den Steckbriefen. Der dritte im Bunde ist ja wohl erst später zu den Kerlen gestoßen oder vielmehr, die zwei haben sich mit ihm hier getroffen."

"Ja, Alexander Owen. Vor etwa einem Jahr hat man ihn in Leavenworth eingebunkert. Man hätte ihn besser aufgehängt. Meiner Meinung nach reicht sein Strafregister mindestens zehnmal für den Strick, aber der Richter war damals anderer Ansicht. Bei seinem Ausbruch hat er übrigens einen Wärter getötet, den er zunächst als Geisel nahm. Als er keine Verwendung mehr für ihn hatte, jagte er ihm eine Kugel in den Bauch und ließ ihn einfach im wahrsten Sinne des Wortes verrecken. Diesmal ist der Kerl auf jeden Fall reif für den Galgen."

"Owen soll sich doch auch überwiegend in den Dakotas herumgetrieben haben. So steht's jedenfalls in der 'Laramie Chronicle'. Gary hat die Geschichte bis ins Detail ausgegraben."

"Ja, es ist anzunehmen, daß sich die drei von früherer gemeinsamer Arbeit her kennen. Nachdem sie damals die Dakotas in Angst und Schrecken versetzten, sind diesmal wir an der Reihe. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als sie endlich vor die Flinte zu kriegen. Zum erstenmal wünsche ich mir, daß mir jemand Anlaß gibt, von der Waffe Gebrauch zu machen, sogar auf die Gefahr hin, daß ich dabei den kürzeren ziehe."

"Ich sag' es dir noch einmal, Mort! Mach keinen Unsinn!"

"Da ich das allein zu verantworten habe, kannst du es auch getrost mir allein überlassen."

Plötzlich stockte Jess der Atem. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer steinernen Grimasse. Er wandte den Kopf zur anderen Seite, biß ins Kissen, damit er nicht aufschrie. Seine Rechte verkrampfte sich auf seiner Brust.

"Um Gottes willen, was ist denn?" fragte Mort besorgt.

Jess konnte nicht antworten. Als er husten mußte, gruben sich seine Finger tiefer in den Verband. Schließlich keuchte er nur noch, rang verzweifelt nach Atem. Endlich ließen die Schmerzen etwas nach, daß er wenigstens einigermaßen Luft bekam. Langsam drehte er den Kopf zu Mort. Dieser erschrak über sein verheerendes Aussehen, die geröteten Augen, die fahle Hautfarbe, die in dem schmerzverbissenen Gesicht intensiver wirkte.

"Es ist wohl doch besser, wenn ich Slim hole. Der kann dir vielleicht eher helfen als ich. Du siehst ja furchtbar aus. Wir werden ein andermal weiterreden. – Ich werde dir Slim schicken."

Diesmal schaffte es Jess nicht, ihn aufzuhalten. Mort nickte ihm noch zuversichtlich zu und beeilte sich dann, daß er Hilfe für ihn holte, denn Jess kämpfte anscheinend gegen einen aufkommenden Hustenanfall.

Als der Sheriff das Zimmer verließ, betrat gerade Slim Sherman das Haus.

"Gott sei Dank, daß du kommst!" rief er dem Rancher entgegen. "Ich glaube, Jess braucht dich."

"Was ist mit ihm?"

"Er hat ziemlich starke Schmerzen. Ich sollte ihm Laudanum geben. Es waren vielleicht zehn Tropfen auf ein halbes Glas Wasser. Ich fürchte, es war nicht genug. Er hat immer noch heftige Schmerzen, kriegt kaum Luft, muß ständig husten und keuchen. Es geht ihm anscheinend nicht besonders."

"Das ist schon das zweite Mal heute morgen", sagte Slim im Vorbeigehen.

Dann ließ er den Sheriff einfach stehen. Im Krankenzimmer kam er gerade recht, um Jess bei einem furchtbaren Hustenanfall zu helfen, bei dem er ohne fremde Hilfe erstickt wäre. In das vorgehaltene Handtuch erbrach er einen mit rostigbraunem Blut vermischten Auswurf, mußte sich sogar übergeben. Anschließend lehnte er völlig erschöpft gegen Slims Oberkörper, hielt die Augen geschlossen, röchelte mühsam nach Atem. Immer wieder zuckte er in den Armen des Freundes zusammen, wenn die Schmerzen schlimmer wurden und ihm das Atmen fast unmöglich machten. Sein schwerer Kopf hing nach vorn gebeugt auf seiner Brust. Im Augenblick fehlte ihm die Kraft, ihn zu heben. Außerdem fürchtete er, daß selbst schon diese Bewegung eine erneute Flut von Schmerzen auslöste.

Slim faßte ihm an die Stirn und legte seinen Kopf zurück an seine Schulter, wischte ihm Blut und Erbrochenes aus dem Gesicht, ließ ihm viel Zeit, sich von der Anstrengung zu erholen.

"Slim?" fragte Jess leise, wie um sich zu vergewissern, ob der Freund noch in seiner Nähe war.

"Sprich jetzt nicht! Es gibt nichts zu sagen. Jetzt nicht, Jess! Bitte! Du brauchst deine Kraft für andere Dinge. Beruhige dich erst einmal, sonst wird es nur noch schlimmer."

"Es tut so weh!" stöhnte Jess, die Finger seiner Rechten tiefer in seinen Verband grabend.

"Soll ich dir noch von dem Laudanum geben?"

Jess nickte kaum merklich. Gleich darauf drückte er sich fester an den Freund, als wollte er vor einer Last zurückweichen, die ihn langsam zermalmte.

Vorsichtig, damit er sich auf keinen Fall verschluckte, flößte ihm Slim von dem Beruhigungsmittel ein. Nach ein paar Minuten wirkte es. Endlich entspannte sich Jess' Körper. Seine Atemzüge wurden ruhiger und gleichmäßiger. Bald befand er sich in einem Zustand zwischen apathischem Wachen und Halbschlaf, in dem er die Schmerzen kaum noch wahrnahm.

"Bist du … noch da?"

Unsicher tastete seine Hand ins Leere. Slim ergriff sie mit freundschaftlichem Druck.

"Keine Angst, ich bin hier. Es ist alles in Ordnung", versicherte er. Zur Bestätigung verstärkte er den Druck seiner Rechten. "Bleib ganz ruhig. Soll ich dich zurücklegen oder möchtest du lieber noch einen Moment so bleiben?"

"Bitte nicht bewegen!" bat Jess, undeutlich zu verstehen. "Sonst fangen die Schmerzen wieder an." Abermals keuchte er. "Warum … warum hört das nicht auf? Ich dachte, ich hätte das endlich … hinter mir. Aber es … es kommt immer wieder."

"Mach dir darüber jetzt nicht so viele Gedanken! Versuch lieber, zu schlafen." Slim strich ihm die schweißverklebten Haare aus der Stirn. "Danach fühlst du dich bestimmt besser. Vielleicht hast du dir einfach zuviel zugemutet. Vergiß nicht, du bist noch sehr krank."

Jess wollte tief durchatmen, hielt jedoch sofort die Luft an, als das Stechen in seiner Brust stärker wurde.

"Wenn ich nur richtig atmen könnte und endlich diese Schmerzen aufhörten! Und dieser furchtbare Husten! Ich glaube, der … bringt mich bald um."

"Du mußt dir einfach mehr Zeit geben."

"Das ist es nicht! Die Zeit … sie läuft mir weg. Ich … ich habe keine mehr."

"Wenn du dir das auch noch ständig einredest … Komm, hör jetzt auf damit! Schlaf lieber!"

Es dauerte wirklich nicht mehr lange, bis Jess die Augen zufielen. Bald schlief er ruhig und so fest, daß er nicht merkte, wie Slim ihn behutsam auf den Kissenberg bettete. Ehe er die Decke über seine Brust zog und sorgfältig glättete, vergewisserte sich der Rancher, ob sich kein Blut auf seinem Verband zeigte, weil vielleicht die Wunde erneut aufgebrochen war. Seine Sorge war zum Glück unbegründet.

Da er im Moment nichts weiter für ihn tun konnte, verließ Slim schweren Herzens das Krankenzimmer. Im Wohnraum saß Mort Cory bei Daisy am Tisch.

"Slim, was ist mit Jess?" wollte Daisy wissen, die sich als erste getraute, etwas zu sagen. "Wir haben gehört …" Sie sah das zerknüllte, mit Blut und Erbrochenem verschmierte Handtuch in seiner Rechten. "Hatte er wieder einen Anfall?"

Slim nickte wortlos, stampfte in die Küche, öffnete geräuschvoll die Herdklappe und warf mit einer fahrigen Bewegung das ruinierte Handtuch in die Glut, in der er anschließend mit dem Schürhaken herumstocherte, daß die Funken flogen. Wütend schlug er die Klappe zu. Einen Augenblick lang stützte er sich mit beiden Händen auf die Handtuchstange am Herd, schloß die Augen und hielt die Luft an. Fast schien es, als betete er stumm vor sich hin oder kämpfte darum, die Fassung nicht zu verlieren. Schließlich warf er mit einem Ruck den Kopf in den Nacken, um an die Decke zu starren.

"Was hat Jess nur getan? Sag mir, was hat er getan, daß du ihn nicht in Ruhe lassen kannst. Es gibt so viele schlechte Menschen auf dieser Welt, aber ihn mußt du dir aussuchen! Warum ausgerechnet er?" Seine bebende Stimme wurde ruhiger. "Bitte!" flehte er. "Laß ihn endlich zufrieden! Mein Gott, laß ihn!"

Sekunden verharrte Slim noch in einem stummen Gebet, ehe er sich allmählich wieder fing. Wie über seine eigene Schwäche betroffen, fuhr er erschreckt zusammen. Mit beiden Händen wischte er sich über Gesicht und Augen, brauchte einen Moment, um zu sich selbst zu finden. Sogar seine Schritte wirkten etwas unsicher, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Darum bemüht, sich nichts von seinem Gefühlsausbruch anmerken zu lassen, setzte er sich zu den anderen an den Tisch.

"Bitte, entschuldigt, daß ich mich so gehen ließ, aber ich konnte nicht mehr! Auf einmal gingen die Nerven mit mir durch. Es war einfach zuviel!" Slim blickte langsam auf. "Das war heute der zweite Anfall innerhalb von nicht einmal drei Stunden. Ich fürchte, wenn es zu einem dritten kommt, wird er ihn nicht überleben. – Gibt es eigentlich sonst noch was Neues, Mort?" wollte er dann wissen, um sich selbst abzulenken, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß eventuelle Neuigkeiten von Seiten des Sheriffs wesentlich dazu beitrugen.

Mort Cory erzählte daraufhin von dem, was er mittlerweile alles in Erfahrung bringen konnte, worüber er auch mit Jess gesprochen hatte.

"Sheriff, könnte denn nicht dieser Gregory oder Hal Thorne irgend etwas mit dem Thorne zu tun haben, den Jess damals kannte?" vermutete Daisy, während sie die Tassen füllte.

"Jess meint, nein, aber ich bin mir nicht so sicher. Auf jeden Fall werde ich der Sache nachgehen."

"Dann gäbe es wenigstens einen Grund dafür, daß dieser Hal auf Jess geschossen hat."

"Ja, Mrs. Daisy. Allerdings ist dieser Hal auch in den Dakotas dafür bekannt, daß er keinen gravierenden Anlaß benötigt, um auf Leute zu schießen. Das ist ein zwanghafter Killer. Der schießt auf alles, was sich bewegt und irgendwie nach einem Menschen aussieht. Insofern könnte Jess recht haben, daß die Namensgleichheit reiner Zufall ist. Aber, wie gesagt, das werde ich überprüfen, sofern dies überhaupt möglich ist."

"Na ja, jedenfalls scheinen die drei Kerle allesamt vom gleichen Schlag zu sein", bemerkte Slim mürrisch. "Nach dem, was dieser Owen mit dem Wärter aus Leavenworth angestellt hat, wundert mich gar nichts mehr."

"Ja, der Mann war verheiratet und hinterläßt zwei kleine Kinder."

"Wie furchtbar!"

"Schon, Mrs. Daisy, aber in meinen Augen nicht furchtbarer als das, was dieser Hal hier angerichtet hat. Dafür könnte ich mich vergessen!"

"Als du das letzte Mal hier warst, wolltest du mir dieses Vergessen noch ausreden. Erinnerst du dich?"

"Das weiß ich noch sehr genau. Aber damals wußte ich nicht, was ich heute weiß. Was ich heute hinter dieser Tür –" Mort deutete mit Nachdruck auf die angelehnte Tür zum Krankenzimmer. "– aus nächster Nähe sehen und erleben mußte, hat mir für alle Zeiten gereicht. Danach gestehe ich mir das Recht zu, genauso Partei zu ergreifen wie jeder andere, der Jess als Mensch und Freund zu schätzen weiß. Daran wird mich weder das Gesetz noch mein Eid, den ich darauf geleistet habe, und noch viel weniger diese Blechmarke hier hindern." Sein ausgestreckter Daumen richtete sich wie ein gebieterisches Signal auf den Stern an seiner Brust. "Ich habe zwar nicht dieses brüderliche Verhältnis zu Jess wie du, aber er ist mein Freund. Und einen Freund wie ihn läßt man nicht ungestraft über den Haufen schießen. Warum soll ich da anders denken als du?"

"Weil es bei mir etwas anderes ist. Jess ist wie ein Stück von mir selbst, ein Teil meines Lebens, ein Bruder für mich. Seit vielen Jahren teile ich mit ihm alles, was ich ohne ihn schon längst verloren hätte, einschließlich meines Lebens. Wie oft hat er das seine riskiert, um meines zu retten, hat seine Knochen aufs Spiel gesetzt, beinahe seine Gesundheit ruiniert, hat Tag und Nacht geschuftet, nur um diese Ranch in Schwung zu halten. Weißt du noch, wie es damals aussah, ehe Jess nach diesem Viehtreck hier hängenblieb?" Offensichtlich hatte Slim das unwiderstehliche Bedürfnis, Resümee zu ziehen. "Auf der Ranch gab es keinen Yard Zaun, der nicht niedergerissen gewesen wäre. Das Vieh war überall in den Canyons und Bergen verstreut. Die Pferdezucht existierte nicht mehr. Das Haus war eine einzige Bruchbude. Durch das Dach regnete es, und durch die Ritzen in der Wand pfiff der Wind. Schuppen und Stall waren halb verfallen, die Brunnen versandet. Diese Ranch war so gut wie nichts mehr wert, weil ich anderes im Hirn hatte und mir die Arbeit so über den Kopf gewachsen war, daß ich kein Interesse mehr an diesem Stück Land hatte. Hätte mein Vater gewußt, was ich innerhalb kürzester Zeit aus seinem Lebenswerk gemacht hatte, hätte er sich im Grab rumgedreht – nicht nur einmal, sondern hundertmal! Ich habe damals bloß nicht an diesen Grundstückshai verkauft, weil ich zu stolz war zuzugeben, daß ich versagt hatte. Und dann tauchte Jess in der Stadt auf, lief mir mitten in diesem Chaos über den Weg, genauso heruntergekommen wie ich, vielleicht sogar noch etwas mehr. Ein rauhbeiniger, ungehobelter Kerl mit dem Ruf eines heißblütigen Texaners, dessen Schießeisen so locker im Holster steckte, daß es beinahe von alleine los ging. Aber er brachte noch etwas anderes mit, und das war Erfahrung. Die hatte ich nicht. Ich war immer der Meinung, eine Ranch führt sich von allein, machte es mir wohl allzu einfach. Ich weiß bis heute nicht, was Jess damals veranlaßte, hier zu bleiben, zudem man ihn anfangs nicht gerade freundlich behandelte. Für die Leute war er nur einer dieser schießwütigen Halbstarken, die die Zeit nach dem Krieg hervorbrachte, einer mit zweifelhaftem Ruf und krimineller Vergangenheit, mit dem man lieber nichts zu tun haben wollte, ein konföderierter Rebell, der sich im Norden ins gemachte Nest hocken wollte. Nur, hier gab es kein Nest, und Jess' Vergangenheit war nicht halb so kriminell wie die gewisser ehrbarer Bürger und er selbst nicht halb so schlecht wie sein Ruf, geschweige denn, wie die Vorurteile der Leute, die ihn lange Zeit in ihrer biederen Gesellschaft nicht dulden wollten. Komischerweise hat das Jess schon immer weniger gestört als mich. Was ihn letztendlich hier gehalten hat, weiß er wahrscheinlich genausowenig wie ich. Vielleicht war es das Abenteuer, die Herausforderung des Ungewissen, die Gefahr, beim Sichselbstbeweisen draufzugehen. Ich weiß es nicht. Als er hier anfing, konnte ich ihm noch nicht einmal seinen Lohn zahlen. Trotzdem hat er gegen diese Landgeier härter gekämpft als ich. Weil ich ihm den Lohn schuldig bleiben mußte, bot ich ihm die Partnerschaft an. Damals dachte ich, er würde mich auf der Stelle erschießen. Statt dessen sagte er zu. Er sagte einfach nur, warum nicht. Zuerst dachte ich, es wäre reine Dummheit von einem, der keine Ahnung hat. Aber dann mußte ich erkennen, daß Jess besser wußte, was in diesem Stück Land steckte als ich. Plötzlich standen wieder gesunde Rinder auf den eingezäunten Weiden, um unsere Pferde begannen sich die Züchter zu reißen. Sogar mir fing die Arbeit wieder an, Spaß zu machen. Alles, was du heute hier siehst, einschließlich der Tatsache, daß uns die Hypotheken nicht schon längst aufgefressen haben, ist einzig und allein Jess' Verdienst. Ich schulde ihm mehr, als ich je wieder gutmachen kann."

"Du hast ihm immerhin ein Zuhause gegeben."

"Nein, Mort, dieses Zuhause hat er sich selbst geschaffen. Wir haben es uns gemeinsam erarbeitet, aber ohne ihn gäbe es dieses Zuhause nicht. Jess bedeutet mir mehr als irgend jemand sonst auf dieser Welt, ich glaube, sogar mehr, als mir ein Bruder bedeuten könnte, wenn ich einen hätte. Ich kann es nicht richtig erklären, was uns verbindet. Ich weiß nur, es hat weder etwas mit Dankbarkeit noch Schuldgefühlen oder dergleichen zu tun. Jess behauptet immer, er verdanke mir, daß er seine Achtung vor Gesetz und Ordnung, vor der Menschheit und deren Gesellschaft wiedergefunden hätte. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber ich verdanke ihm, daß ich wieder Respekt vor mir selbst haben kann. Es ist etwas, das tief hier drinnen sitzt." Slim deutete mit dem Daumen auf die Stelle, wo sein Herz schlug. "Wir sind im Grunde völlig verschieden und doch so ähnlich. Wir können uns stundenlang über irgend etwas streiten, aber uns auch genauso selbst über Kleinigkeiten gemeinsam freuen. Wenn einer von uns in Gefahr ist, kann es der andere oftmals spüren, auch wenn er -zig Meilen entfernt ist. Wenn Jess wie jetzt Schmerzen erdulden muß, leide ich mit ihm. Er ist der einzige Mensch, für den … Mort, seinetwegen könnte ich jemanden töten, ohne hinterher die geringsten Gewissensbisse zu bekommen oder mir Gedanken über mögliche Konsequenzen zu machen. Für Jess ginge ich ohne Wenn und Aber durch den finstersten Teil der Hölle."

"Denkst du, ich nicht?"

"Das würde ich nie anzweifeln. Aber du trägst noch andere Verantwortung. Du hast eine Verpflichtung gegenüber vielen Menschen, die ihr Vertrauen in dich setzen. Diese Menschen kannst – darfst du wegen eines einzigen nicht enttäuschen, nur weil dieser eine ein besonders guter Freund von dir ist."

"Keiner kann von mir verlangen, daß ich in diesem speziellen Fall nur meine Pflicht tue."

"Tu, was du für richtig hältst. Aber ich weiß, daß du ein viel zu guter Sheriff bist, als daß du im entscheidenden Augenblick die Nerven verlierst."

Als sich Mort bald darauf verabschiedete, verließ Slim mit ihm das Haus.

"Die Kutsche aus dem Westen wird gleich kommen", sagte er im Hinausgehen.

"Slim!" Der Sheriff band sein Pferd los, behielt die Zügel noch unschlüssig in der Hand. "Ich wollte es vor Mrs. Daisy nicht sagen, aber weiß Jess wirklich, wie es um ihn steht?"

"Glaube mir, keiner weiß so gut wie er selbst, was mit ihm los ist, wahrscheinlich noch nicht einmal der Arzt."

"Ich fürchte fast, er …" Mort brach ab.

"Wir fürchten alle dasselbe, allen voran Jess selbst. Nicht seinetwegen, sondern wegen Mike. Für den Jungen wird er jedoch kämpfen, mehr als für sich selbst. Nur deshalb ist er noch am Leben. Davon ist sogar der Arzt überzeugt. Ich hoffe, daß Jess' Liebe zu Mike stärker ist als seine körperliche Schwäche, sonst werden wir uns doch bald Gedanken über seine Beerdigung machen müssen."

"Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er es schafft." Mort stieg etwas schwerfällig in den Sattel. "Sag ihm viele Grüße von mir und wünsche ihm gute Besserung. Sobald ich kann, werde ich ihn wieder besuchen. Vielleicht, das heißt, hoffentlich geht es ihm bis dahin besser."

"Ich werd's ihm ausrichten."

Mort hob die Hand zum Abschied, ehe er vom Hof ritt. Slim schaute ihm nach. Dann ging er hinüber zur Koppel, um das Gespann für die erste Mittagskutsche zu richten.

Fortsetzung folgt