KAPITEL 15

Die Begeisterung, mit der sich Mike auf dem Weg zur Schule befand, hielt sich trotz der Tatsache, daß es seinem Pflegevater leidlich besser ging, in engen Grenzen. Die Erinnerung an das schreckliche Erlebnis vor vier Wochen begleitete ihn wie sein eigener kleiner Schatten.

Obwohl es seinem Pflegevater zumindest an diesem Morgen etwas besser ging, wußte Mike, daß er noch sehr krank war, womöglich sogar noch so krank, daß nach wie vor Gefahr für sein Leben bestand. Wahrscheinlich wollte Jess ihm nur nicht zeigen, wie schlecht es ihm ging, damit er sich keine Sorgen machte.

Mittags auf dem Heimweg war ihm gerade recht, daß Browny ohne sein Zutun so munter war und ihn in flottem Galopp die Straße entlang trug. Endlich zu Hause, versorgte er sein Pony, sprach kurz mit Slim, der vor der Remise Geschirr ausbesserte, rannte über den Hof und stürmte ins Haus. Im Wohnzimmer war niemand. Der Eßtisch war halb gedeckt, und Mike hörte Daisy Cooper in der Küche wirtschaften.

"Mike, bist du das?" erscholl ihre Stimme von nebenan. "Wenn du deine Hände gewaschen hast, kannst du den Tisch fertig decken. Das Essen ist gleich gut."

"Ja, mach' ich."

Indes hatte Mike ganz andere Dinge im Sinn. Noch während er mit Daisy sprach, wollte er zur angelehnten Tür des Krankenzimmers schleichen, aber schon nach zwei Schritten wurde er sozusagen auf frischer Tat ertappt.

"Mike, das ist die falsche Richtung! Die Küche ist hier."

"Ich … ich wollte nur meine Bücher auf die Kommode legen."

"Du schwindelst ja!"

"Ich … ich wollte … nur ein bißchen … ehrlich, Tante Daisy!"

"Ein bißchen schwindeln gibt es nicht. Entweder man tut es, oder man tut es nicht."

"Bitte, entschuldige, das wollte ich nicht. Ich meine … weißt du, es war nur …" Verschämt verzog er das Gesicht. "Ich wollte meine Bücher auf die Kommode legen und bei Jess vorbeischauen. Ich wäre bestimmt ganz leise gewesen und nur an der Tür geblieben. Ich wollte ihn nur sehen. Ich hätte ihn ganz bestimmt nicht gestört. Ich habe Slim gefragt, ob … ob …"

"Slim hat dir bestimmt nicht erlaubt, jetzt zu ihm zu gehen, oder?"

"Er sagte, Jess würde schlafen und …" Mike starrte betreten auf seine Fußspitzen. "Nein, er hat es nicht erlaubt. Es … es tut mir leid …"

"Schon gut, mein Junge", lenkte sie ein, als sie sah, wie sehr ihn sein Ungehorsam quälte. "Ich weiß, daß du sehr große Sehnsucht hast, aber …"

"Jess geht es nicht gut, nicht wahr?" fiel er ihr ins Wort und hob dabei ruckartig den Kopf.

"Es geht ihm nicht schlechter als sonst auch. Er schläft nur. Du weißt, daß der Schlaf sehr wichtig für ihn ist und ihm beim Gesundwerden mehr hilft als jede Medizin. Es muß nicht gleich etwas Schlimmes passiert sein, nur weil du nicht zu Jess darfst. Du solltest nicht zuviel an dein eigenes Verlangen denken und mehr Rücksicht auf seine Bedürfnisse nehmen, wenigstens solange er noch so krank ist", versuchte sie ihm in ruhigem Ton zu erklären. "Und jetzt komm in die Küche und wasch deine Hände!"

Mike warf seine Bücher achtlos auf die Kommode und folgte ihr mißmutig, um zu tun, was ihm aufgetragen worden war. Während er bald darauf mit dem Tischdecken beschäftigt war, wollte Daisy vor dem Essen nach Jess sehen und einen Krug frisches Wasser ins Krankenzimmer bringen. Hastig legte Mike das Besteck auf den Tisch, schlich zur halboffenen Zimmertür, wo er sich mit der Schulter an den Rahmen lehnte und Daisy bei ihrer Arbeit beobachtete.

Mit traurigen Augen starrte er sehnsüchtig hinüber zum Krankenlager. Sein Wunsch, bei Jess zu sein, das Verlangen, seine Nähe zu spüren, war nahezu überwältigend. Zu gerne wäre er zu ihm ans Bett gegangen. Es kostete ihn eine große Überwindung, sich seinem Drang zu widersetzen und Abstand zu halten, zum Teil weil ihn sein schlechtes Gewissen plagte – schließlich hatte er keine Erlaubnis, das Zimmer zu betreten; und wenn Daisy ihn entdeckte, setzte es gewiß ein fürchterliches Donnerwetter –, zum Teil weil er Angst hatte, er könnte durch seinen Ungehorsam Jess mehr schaden, als er sich vorzustellen vermochte.

Der Mann schien tatsächlich zu schlafen. Trotzdem fand Mike, daß er kränker aussah, als er ihn vom Morgen in Erinnerung hatte. Ehe Daisy ihn entdeckte, huschte der Junge zurück zum Tisch, wo er sehr geschäftig tat.

"Jess geht es nicht sehr gut, nicht wahr?" empfing er sie, als sie aus dem Zimmer kam.

"Nein, Mike, er schläft."

"Es tut ihm weh. Es tut ihm ganz furchtbar weh!" behauptete er felsenfest. Mit seinen Wiederholungen wollte er die Unumstößlichkeit seiner kindlichen Meinung unterstreichen.

"Wer sagt denn das?"

"Ich sage es! Und ich weiß, daß es so ist."

"Das bildest du dir ein. Glaube mir, Jess hat im Moment wirklich keine Schmerzen."

"Ist er … ist er wieder bewußtlos?"

Daisy wollte ihn schon fragen, wieso er darauf käme, aber sie besann sich und versuchte, ihn mit einem Lächeln zu beruhigen.

"Nein, er schläft nur ganz tief und fest. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben."

Mike konnte dies nicht so recht glauben, obwohl er nichts weiter dazu sagte.

"Er sieht so schrecklich krank aus", murmelte er vor sich hin.

"Jess ist auch sehr krank. Es wird noch lange dauern, bis er wieder gesund ist. Damit wirst du dich wohl oder übel abfinden und besonders viel Geduld haben müssen."

"Ich werde es versuchen, aber ich glaube nicht, daß ich das schaffe. Es ist ganz komisch, Tante Daisy. Manchmal, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen, und dann wieder, ganz plötzlich, habe ich schreckliche Angst, Jess könnte … er würde … er müßte doch sterben."

"Nun, sterben müssen wir alle einmal, soviel ist sicher. Irgendwann … früher oder später."

"Aber doch jetzt noch nicht, oder?"

"Nein, erst wenn wir älter sind. Es ist wirklich noch viel zu früh, daß du dir übers Sterben Gedanken machen solltest."

"Aber Jess … er ist doch gar nicht alt, jedenfalls nicht alt genug. Er darf nicht sterben!"

"Niemand hat behauptet, daß er das sobald tun wird."

"Der Arzt hat es gesagt. Ich habe es gehört."

"Auch Ärzte irren sich manchmal. Sei doch froh, daß Doc Higgins nicht Recht behielt!"

"Das bin ich ja, aber trotzdem habe ich Angst."

"Was meinst du, wenn Jess wüßte, daß du dir so viele Sorgen machst!"

"Er weiß es ganz genau. Bestimmt, Tante Daisy! Er weiß es! Und ich weiß, daß er sich selbst auch welche macht, ganz große Sorgen! Ich wollte, daß er mir verspricht … er konnte mir nicht … Tante Daisy, er darf nicht sterben!" stieß er plötzlich hervor und drückte sich an sie. "Er muß wieder gesund werden! Ich … ich hab' ihn doch so furchtbar lieb! Ich … ich hatte noch nie jemanden so lieb. Warum tut das nur so weh, wenn man jemanden so lieb hat?"

"Manchmal zeigt erst der Schmerz, wie groß die Liebe ist, die man für einen Menschen empfindet", erklärte Daisy, ohne von dem Jungen zu erwarten, daß er sie verstand.

"Wie meinst du das?"

"Das erkläre ich dir, wenn du größer bist und es bis dahin noch nicht selbst herausgefunden hast." Sie lächelte ihn sinnend an. "Wir sollten dieses Thema jetzt besser beenden. Weißt du, es ist sogar manchmal für Erwachsene zu schwierig, darüber zu reden. Wir wissen auch nicht alles. Und jetzt komm in die Küche und hilf mir mit dem Essen, sonst gibt es heute mittag nur leere Teller zum Angucken", wollte sie ihn und auch sich selbst auf andere Gedanken bringen. "Wie war es überhaupt in der Schule? Du hast ja noch gar nichts erzählt. Hat sich Miss Finch gefreut, dich wiederzusehen? Bist du gut mit dem Unterrichtsstoff zurechtgekommen?"

Damit schaffte sie es tatsächlich, ihn vorübergehend auf andere Gedanken zu bringen. Wenn er auch nicht mit überschwenglicher Begeisterung von seinem ersten Schulbesuch nach fast vier Wochen berichtete, lenkte es ihn wenigstens von seinen Sorgen und Ängsten ab. Er erzählte auch von Danny Courtney, seinem liebsten Schulkameraden, und dessen Problemen, die er vor allem mit seinem ständig betrunkenen Vater hatte, der ihn oft grundlos verprügelte.

"Danny wollte unbedingt mit mir nach Hause kommen, aber ich habe ihm gesagt, daß das jetzt nicht geht. Solange Jess noch so krank ist, kann ich nicht … ich meine, da habe ich keine Zeit, mit Danny … weißt du, da kann ich mich nicht um ihn kümmern. Da möchte ich viel lieber … Kannst du das verstehen, Tante Daisy?"

"Sehr gut sogar. Ich finde es richtig, daß du ihn nicht mitgebracht hast – nicht jetzt. Slim möchte im Moment auch niemand Fremdes auf der Ranch haben, ich denke, noch nicht einmal Danny oder einen anderen deiner Schulkameraden. Außerdem ist es keine Lösung für Dannys Problem, wenn er ständig bei uns hier Zuflucht sucht, zumindest nicht auf Dauer."

"Weißt du, was er gesagt hat? Er sagte, er wünschte sich, seinem Vater wäre so etwas Schlimmes zugestoßen wie Jess. Kannst du das verstehen?"

"Ich weiß nicht genau, aber aus seiner Sicht vielleicht schon."

"Im Ernst?"

"Nun, Danny hat unter seinem Vater viel zu leiden. Er tut ihm oft weh, nicht nur, indem er ihn sinnlos schlägt, sondern auch da drinnen." Daisy tippte Mike an die Brust. "Dann wundert es mich nicht, daß Danny sich so etwas Schlimmes wünscht, obwohl es nicht recht ist."

"Es ist wirklich schade, daß nicht alles Väter so sind wie Jess."

"Manche benehmen sich wirklich nicht wie solche. Dannys Vater ist leider ein ganz schlimmer Ausnahmefall."

"Mir tut Danny leid. Ich glaube, bei ihm zu Hause ist es so schlimm wie in diesem Waisenhaus, in dem ich war. Es tut so weh, wenn man niemanden hat, den man liebhaben kann. Und noch viel schlimmer ist, wenn es niemanden gibt, der einen selbst auch ein bißchen liebhat."

Ein wenig war Daisy überrascht, daß Mike zu dieser Erkenntnis kam. Bei aller Verständigkeit, die er für sein Alter schon bewies, hatte sie nicht angenommen, daß er so genau erkannte, worauf es im Grunde bei einer menschlichen Beziehung ankam. Immerhin hatte er hier eine entscheidende Notwendigkeit erkannt, die selbst vielen Erwachsenen im Laufe eines langen Lebens nicht bewußt wurde.

"Weißt du, Tante Daisy, ich bin eigentlich ganz froh, daß ich keine Eltern habe, denn dann könnte ich doch gar nicht hier sein. Ich glaube ganz sicher, daß ich einen richtigen Vater nicht so liebhaben könnte wie Jess. Richtige Väter sind irgendwie anders."

"Nun, Mike, das liegt weniger daran, daß richtige Väter anders sind, sondern vielmehr an den Menschen selbst. Die sind verschieden. Und das ist auch ganz gut so. Stell dir vor, alle Menschen wären in ihrem Verhalten gleich. Das wäre doch entsetzlich langweilig."

"Hm", machte Mike nachdenklich und verzog das Gesicht. "Aber es wäre viel besser, wenn alle Menschen gut wären. Ich wünschte, das wäre so, dann würden sie sich gegenseitig auch nicht so weh tun wollen, so wie Mr. Courtney Danny immer wehtut oder … oder dieser Mann, der Jess … der ihm so furchtbar wehgetan hat."

"Das ist allerdings wahr", mußte Daisy ihm Recht geben; ihre Miene wurde dabei um einiges ernster. Schließlich hellte sich ihr Gesicht wieder auf. "Weißt du was, mein Junge? Mit dir kann man schon richtig wie mit einem Erwachsenen reden, wenn du dich manchmal auch wie ein störrischer Lausebengel benimmst."

Mike verzog das Gesicht, halb verlegen, halb spitzfindig.

"Das kommt bestimmt daher, weil ich erst ein noch ganz kleiner Erwachsener bin. Ich muß noch sooo viel wachsen!" erwiderte er schlagfertig mit einer weitausholenden Handbewegung.

Am Abend kostete es Daisy all ihre Überzeugungskraft, Mike endlich zum Schlafengehen zu bewegen, ohne vorher Jess noch einmal besuchen zu dürfen. Aber erst, nachdem er sie dazu überreden konnte, wenigstens von der Tür aus einen kurzen Blick zu wagen, machte er sich mehr oder weniger widerstandslos auf den Weg ins Bett.

Ehe sie selbst schlafen ging, wollte sie Slim fragen, ob er noch eine Tasse Kaffee oder sonst etwas möchte. In seinem Arbeitszimmer, wohin er sich nach dem Essen zurückgezogen hatte, fand sie ihn allerdings nicht. Der Raum war dunkel, der Schreibtisch aufgeräumt. Daraufhin vermutete sie ihn bei Jess, aber auch hier war er nicht. Im Krankenzimmer brannte nur die Lampe mit kleiner Flamme auf dem Nachttisch. Jess hatte sich im Schlaf halb aufgedeckt. Daisy kam zu ihm ans Bett, schob ihm das Kissen unter seinem linken Ellbogen zurecht und zog die Decke über seine Brust. Jess murmelte irgend etwas vor sich hin, wandte den Kopf zur anderen Seite und lag dann wieder still.

Daisy zog sich leise zurück, um seinen Schlaf nicht zu stören. Sie war erleichtert darüber, daß er sie nicht brauchte und nach den furchtbaren Hustenanfällen an diesem Morgen doch Ruhe gefunden hatte, wenn auch nur aufgrund einer gehörigen Menge Laudanum.

Wieder im Wohnzimmer, griff sie nach ihrem Schal, warf ihn sich um die Schultern und öffnete die Haustür, als sie Slim entdeckte. Er stand auf der Veranda, neben dem Vordachpfosten, mit beiden Händen auf das Geländer gestützt, und starrte hinaus in die Dunkelheit.

"Slim, was machen Sie denn hier draußen? Wollen Sie sich vielleicht eine Erkältung holen? Um im Hemd hier zu stehen, ist es etwas zu kühl."

"Ich werde mich schon nicht erkälten. Ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen."

"Nachdem Sie den ganzen Tag an der frischen Luft waren?" vergewisserte sie sich spitzfindig. Sie trat neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn so lange durchdringend an, bis er endlich seinen Blick von der finsteren Nacht auf sie wandte. "Slim, wenn Sie über irgend etwas reden möchten, höre ich Ihnen gern zu. Das wissen Sie."

"Wer sagt, daß ich das möchte?"

"Oh, niemand, absolut niemand! Es war … es war einfach nur so eine Idee von mir."

Sie lächelte ihn vielsagend an, löste sich von ihm und ließ sich auf der Bank neben der Haustür nieder. Von dort beobachtete sie ihn unauffällig. Bald merkte sie, wie er immer mehr ihre Anwesenheit vergaß. Sie ertappte ihn dabei, wie er anfing, über eine bestimmte Stelle am Vordachpfosten zu reiben. Es war die Stelle, wo er mehrmals vergeblich versucht hatte, die Blutspritzer zu entfernen. Nur einen Schritt von ihm entfernt hatte Jess gestanden, als ihn die Kugel traf und gegen das Geländer direkt vor ihm schleuderte. Slim bildete sich ein, die Erschütterung zu spüren, die der heftige Aufprall des Körpers seines Freundes verursachte, als er mit dem Rücken gegen den Balken krachte.

Daisy sah, wie sich Slims Hand auf dem Geländer verkrampfte, während sich seine Rechte fester um den Vordachpfosten klammerte. Die Frau konnte es nicht mehr länger mit ansehen, wie er sich quälte, obwohl sie spürte, daß er allein sein wollte und sie sehr wahrscheinlich störte. Sie trat auf ihn zu und legte ihm vorsichtig die flache Hand auf den Rücken.

"Slim!" sprach sie ihn mit verhaltener Stimme an, aber er wich vor ihrer Berührung zurück. "Slim, bitte! Lassen Sie sich doch helfen!"

"Mir kann keiner helfen. Dazu ist es zu spät. Daisy, dazu ist es genau vier Wochen zu spät. Es ist sogar zu spät, es zu versuchen."

"Es ist nie zu spät."

"Dafür schon!" Mit einem Ruck löste er sich vom Verandageländer und auch von ihr, drehte sich um und ließ sich schwer auf die Bank fallen, von der die Frau gerade aufgestanden war. "Entschuldigen Sie, Daisy! Ich wollte Sie nicht so anfahren."

"Ist schon gut." Das Licht, das aus dem Haus fiel, warf einen warmen Schein auf ihr Gesicht, daß sie ihm vorkam wie ein Engel, der ihm in seinem Jammertal erschienen war. "Darf ich mich zu Ihnen setzen, oder möchten Sie lieber, daß ich gehe?" fragte sie nun mit der Rücksicht einer einfühlsamen Frau.

"Nein, bleiben Sie nur! Es ist so angenehm, jemanden in der Nähe zu wissen, der einen versteht. Manchmal denke ich, daß Sie uns direkt der Himmel geschickt hat. Ohne Sie …"

"Slim", unterbrach sie ihn, "Sie sitzen doch bestimmt nicht hier, um mir Komplimente zu machen. Das paßt im Moment nicht zu Ihren Augen. Die sind viel zu ernst für so etwas." Sie setzte sich zu ihm, sah ihn forschend von der Seite her an, ehe sie, so wie er, auf den dunklen Hof starrte. "Wenn Sie darüber reden möchten, höre ich Ihnen gern zu", wiederholte sie fast wortwörtlich nach einer Weile, in der sie schweigend nebeneinandersaßen.

"Es gibt nicht viel zu sagen."

"Sie können es nicht vergessen, nicht wahr?" stieß sie ohne weitere Umschweife auf den Kern der Sache, die ihn beschäftigte.

"Vergessen?" wiederholte er verächtlich. "Wie könnte ich? Mein ganzes Leben lang werde ich das nicht vergessen! Aber das ist es nicht allein, was mich nicht los läßt. Das ist sogar von allem noch das kleinere Übel."

"Ich weiß. Nicht das Geschehen selbst quält Sie, sondern etwas anderes."

Sie wollte nicht so deutlich sagen, woran sie dabei dachte. Vielmehr wollte sie es ihm selbst überlassen, ob er sich ihr anvertrauen wollte oder nicht.

"Ganz recht!" Slim knetete seine Hände wie ein ungezogener Schuljunge, der seinen Ungehorsam beichten sollte. "Es ist diese Schuld, die auf mir lastet, die mich bald erdrückt. Diese verdammte Schuld, die keiner außer mir sehen will, die mir keiner nehmen kann, die mich hartnäckiger verfolgt als mein eigener Schatten. Und je mehr Sie oder Jess oder sonst jemand versucht, mir diese Schuld auszureden, desto deutlicher spür' ich sie. Dieses Gefühl ist so groß, so übermächtig, daß ich mir schon oft gewünscht habe, eines morgens einfach aufzuwachen und mich an nichts erinnern zu können. Können Sie das verstehen?"

"Ich glaube schon." Daisy atmete tief auf und zog den Schal fester um ihre Schultern. Ihr Frösteln hing jedoch weniger mit der kühlen Nachtluft zusammen als mit dem unangenehmen Thema ihrer Unterhaltung. "Trotzdem hat es wenig Sinn, sich deshalb so zu quälen. Sie helfen damit niemandem, weder sich selbst noch den Menschen, die Ihnen etwas bedeuten. Diese Schuld, Slim, die Sie sich da immer und immer wieder einreden wollen, existiert einfach nicht. Und wenn Jess sogar selbst …"

"Daisy, gerade weil er selbst sie nicht sehen will, weiß ich, daß sie da ist. Ich habe mich mindestens schon ein dutzendmal gefragt, was geschehen wäre, wenn Jess im Haus und ich hier draußen gewesen wäre; ob es nicht doch irgendeine Möglichkeit gegeben hat, das zu verhindern. Und jedesmal werde ich diesen furchtbaren Gedanken nicht los, daß es doch einen Weg gegeben hätte. Ich weiß nicht, welchen … irgendeinen halt! Ich denke mir ständig andere Varianten aus, aber egal, wie ich's auch anstelle … Wenn Jess im Haus und ich hier draußen gewesen wäre – Daisy, dann weiß ich eines todsicher: ich würde jetzt nicht da drinnen liegen und mit dem Tod kämpfen. Auch wenn von mir aus mehrere Schüsse gefallen wären, mich hätte keine dieser Kugeln getroffen und Sie auch nicht. Jess hätte das verhindert. Ich weiß nicht, wie, aber er hätte es nicht so tatenlos geschehen lassen. Er nicht! Und wenn er sämtliche Kugeln selbst gefangen hätte, aber er hätte dafür gesorgt, daß die Menschen, die ihm etwas bedeuten, mit heiler Haut davon gekommen wären."

"Slim, er hätte auch nichts tun können. Selbst wenn er … wenn Sie mich mit Ihrem Körper geschützt hätten, war da immer noch der Mann am Fenster. Dieser war viel zu weit weg von Ihnen. Wie hätten Sie den erreichen wollen? Vergessen Sie nicht, er hatte die ganze Zeit den Finger am Abzug und Jess direkt im Visier. Selbst wenn Sie den anderen mit etwas Glück überrumpelt hätten, wie hätten Sie verhindern wollen, daß der am Fenster das tut, was er letztendlich auch getan hat? Sie haben doch selbst gesehen, was das für ein Mensch war."

"Gerade deshalb! Ich habe die ganze Zeit gehofft, er würde nicht wirklich schießen, obwohl mein Instinkt mir sagte, daß er es tun wird. Killer wie die sind nicht mit schönen Worten aufzuhalten. Trotzdem habe ich so lange gewartet, bis es zu spät war. Anstatt zu handeln, habe ich überlegt, ob ich etwas tun kann und soll oder nicht. Mit dieser Unentschlossenheit habe ich Jess um ein Haar in die Hölle geschickt."

"Das ist doch Unsinn!"

"Daisy, ich weiß nur eines! In der Zeit, die ich sinnlos mit Überlegen beschäftigt war, hätte Jess gehandelt, richtig gehandelt. Er hätte alles riskiert, um das zu verhindern, und diese entscheidenden Minuten nicht unnütz vergeudet."

"Das bezweifle ich."

"Stellen Sie sich vor, ich hätte ihn nur ein paar Sekunden früher gewarnt! Der Lauf dieser Winchester war dermaßen verzogen, das Visier völlig dejustiert, daß Jess die Kugel schlimmstenfalls in der Schulter erwischt hätte, wenn er nur ein paar Schritte weiter entfernt gewesen wäre. Vielleicht hätte sie ihn sogar nicht einmal getroffen, ja, noch nicht einmal gestreift. So wie Dan mir den Schußkanal beschrieben hat, möchte ich das sogar fast annehmen. Bei der Zielungenauigkeit hätte ihn der Schuß bei einer unwesentlich größeren Entfernung weit verfehlen müssen. Nur ein paar Schritte, Daisy! Nur ein paar Schritte und Jess wäre mit heiler Haut davongekommen!"

"Aber Sie konnten doch nicht wissen, daß das Gewehr nicht in Ordnung war."

"Nein, aber ich weiß es jetzt. Das ist ja das Schlimme!"

"Aber zu diesem Zeitpunkt nicht. Das allein ist doch entscheidend. Deshalb kann Ihnen niemand einen Vorwurf machen, daß Sie nicht anders gehandelt haben. Und was noch viel wichtiger ist … Sie selbst können sich auch keine falsche Entscheidung vorwerfen. So wie Sie reagiert haben, war es aus der damaligen Sicht absolut richtig. Keiner, der soviel Verantwortungsgefühl besitzt wie Sie, hätte anders gehandelt, allen voran Jess. Ich bin sicher, daß, wenn es umgekehrt gekommen wäre, er jetzt genau an dieser Stelle sitzen und mir genau dasselbe sagen würde wie Sie. Glauben Sie mir!"

"Ist doch nicht zu fassen!" Slim schüttelte den Kopf und rang die Hände. "Jeder erzählt mir hier dasselbe! Jeder versucht mich von demselben Ammenmärchen zu überzeugen, jeder, einschließlich Jess! Wenn ich ehrlich bin, ist er sogar der Schlimmste von allen. Ich darf deshalb schon gar nicht mehr mit ihm darüber reden, weil er sich dann jedesmal fürchterlich aufregt – mehr aufregt, als er verkraften kann."

"Wundert Sie das?"

"Ich …" Slim hielt plötzlich inne. Für einen Moment starrte er die Frau neben sich wie entgeistert an, ehe er sich besann und tief aufatmete. "Ach, Daisy, ich weiß es nicht." Er wandte sich ab, beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und begann sich die Hände zu reiben. "Ich weiß überhaupt nicht mehr, was richtig ist und was nicht. Und manchmal wünschte ich, mir ginge es wie Jess, der sich an nichts erinnern kann. Obwohl ich hin und wieder das Gefühl nicht los werde, daß er mehr weiß, als er zugibt."

"Das ist bestimmt nicht Ihr Ernst. Jess hat doch keinen Grund, Ihnen und uns allen in der Beziehung etwas vorzumachen."

"Nein, aber vielleicht sich selbst. Vielleicht will er sich absichtlich an nichts erinnern. Vielleicht ist das einfacher für ihn."

"Das glaube ich nicht. Vergessen Sie nicht, Jess hatte einen schweren Schock, einmal durch die unerwartet heftigen Schmerzen, zum anderen durch den plötzlichen hohen Blutverlust. Bei einem solch schweren Trauma ist eine derartige Gedächtnislücke nichts Ungewöhnliches."

"Vielleicht fällt es ihm durch diesen Schock nur leichter, die Erinnerung zu verdrängen."

"Nein, Slim!" entschied Daisy sehr energisch. "Nicht Jess! Glauben Sie mir, er weiß wirklich nichts! Auch wenn es manchmal den Anschein hat, er wüßte darüber mehr, als er zugibt, dann nur, weil er sich das Ganze selbst sehr lebhaft nach Ihrer Schilderung vorstellen kann. Es wurde schließlich nicht das erste Mal auf ihn geschossen. Es ist nur das erste Mal, daß er einen solch tiefen Schock erlitten hat. Und dann dürfen Sie nicht vergessen, Jess war zwei Wochen so gut wie ohne Besinnung, lag in einem entsetzlichen Fieberdelirium, stand mehr als einmal kurz vor dem völligen Zusammenbruch sämtlicher Lebensfunktionen und hätte beinahe einen tödlichen Kollaps erlitten. Daß er kaum einen Geschmack hat, ist nur eines der deutlichen Zeichen, wie nahe er dem Ende war. Dieser Sinn ist einer der ersten, die bei eintretendem Tod erlöschen. Ist es da ein Wunder, daß sein Gehirn – bewußt oder unbewußt – mit einer Art Amnesie reagiert? Dieser auf das Geschehen beschränkte Gedächtnisverlust ist auf keinen Fall von ihm wissentlich beabsichtigt oder herbeigeführt."

"Sie sehen das von einem rein medizinischen Standpunkt. Es klingt jedenfalls sehr wissenschaftlich. Sie wissen über solche Fälle anscheinend noch besser Bescheid, als ich bisher angenommen habe."

"Während des Krieges hatte ich leider genug Gelegenheit, Erfahrung zu sammeln. Daß ich diese Erfahrung auf solche Weise in den letzten Wochen auffrischen mußte, ist gewiß keine Bereicherung für mich. Und dann … mein Standpunkt ist nicht rein medizinisch. Dafür verbindet auch mich zuviel mit Jess. Im Grunde bin ich sogar froh über seine Gedächtnislücke. Auf diese Weise bleibt ihm wenigstens die Erinnerung an dieses furchtbare Geschehen erspart. Auch Sie sollten darüber froh sein, anstatt sich Gedanken zu machen, ob er nun tatsächlich nichts weiß oder uns nur etwas vorspielt in der Beziehung."

"Natürlich bin ich das! Trotzdem … ob Jess nun etwas weiß oder nicht, entbindet mich das nicht von meiner Schuld. Das eine hat schließlich nichts mit dem anderen zu tun. Die Sache wird dadurch nicht leichter für mich."

Daisy atmete tief auf. Darauf konnte – wollte sie nichts mehr erwidern. Sie hätten sich nur weiter im Kreis gedreht. Selbst wenn das Gespräch noch bis zum Morgen dauern sollte, würden sie keinen noch so kleinen Schritt weiterkommen. Das wußte sie.

Sie beobachtete den Mann neben sich, wie er gedankenverloren über seine Brusttasche strich. Daisy wußte, daß er das verhängnisvolle Geschoß ständig bei sich trug, als wollte er sicher sein, auf keinen Fall irgendein Detail des schrecklichen Vorfalls zu vergessen.

"Slim, Sie sollten diese Kugel endlich wegwerfen", konnte sie plötzlich nicht mehr länger schweigen.

"Kommt nicht in Frage!" entschied er energisch. Ihre Blicke trafen sich. In Slims Augen stand ein einziges seelisches Chaos. "Jedenfalls nicht, solange Jess da drinnen liegt und mit dem Tode ringt. Ich möchte nicht eine Sekunde vergessen, wem …"

"… wem er das zu verdanken hat?" fiel sie ihm ins Wort.

"Sie haben es erfaßt!"

"Nun, ich nehme an, Sie denken dabei nicht an diesen Hal."

"Sie vermuten genau richtig!"

"Warum hören Sie nicht endlich auf mit diesem unsinnigen Gerede? Sie widersprechen sich selbst am laufenden Band."

"Tu' ich das? Tu' ich das wirklich?" antwortete er ziemlich gereizt mit einer Gegenfrage.

"Das wissen Sie selbst am besten. Was wollen Sie denn nun? Sich erinnern oder vergessen?"

"Beides, Daisy, beides!"

"Das geht nicht, das wissen Sie."

"Eben, deshalb macht es mir ja so zu schaffen. Ich komme mir vor wie ein Pferd, dessen Reiter mit den Zügeln etwas anderes durchsetzen will als mit den Beinen, wie eine unter Dampf stehende Lokomotive, die fahren soll, deren Bremsen aber nicht gelöst sind. Ich wundre mich über Jess' Unentschlossenheit, wenn er über sich und seine Aussichten für die Zukunft redet. Dabei geht es mir genauso, allerdings, wenn ich an die Vergangenheit denke."

"Vielleicht sollten Sie sich meinen Rat zu Herzen nehmen und in erster Linie an die Gegenwart denken. Das gleiche gilt auch für Jess."

"Das eine hängt doch mit dem anderen zusammen."

"Sicher, allerdings sollte man sich hauptsächlich auf das Augenblickliche konzentrieren, dabei jedoch nicht völlig den Blick verlieren für das, was hinter einem liegt oder noch vor einem liegen könnte. Aber der Schwerpunkt sollte auf dem Jetzt liegen. Das Leben findet jetzt statt, nicht irgendwann!"

Slim musterte sie mit einem schiefen Seitenblick.

"Warum müssen Sie eigentlich immer nur recht haben?"

"Ich weiß nicht, ob ich das habe." Daisy zog die Schultern hoch und band ihren Schal fester. "Ich versuche die Dinge nur zu sehen, wie sie sind."

"Ich wußte jedenfalls nicht, daß Sie so eine ausgeprägte philosophische Ader haben", stellte er ein wenig verwundert fest.

"Das ist doch Unsinn!" entschied die Frau energisch mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Ich habe nur einen gesunden Menschenverstand. Das ist alles. Das heißt, ich hoffe, daß ich den habe. Manchmal bin ich mir da selbst nicht so sicher."

"Das können Sie aber sein!" Slim schlang seinen Arm um ihre zierlichen Schultern und drückte sie herzlich an sich. Irgendwie schien es Daisy tatsächlich geschafft zu haben, ihn etwas aus seinen Grübeleien zu reißen, zumindest vorübergehend. "Ich danke Ihnen."

"Wofür?"

"Für alles, insbesondere wieder einmal für Ihre Geduld, die Sie heute abend mit mir hatten."

"Dabei bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich Ihnen helfen konnte."

"Das ist relativ. Aber Sie hatten recht. Manchmal ist es gut, wenn man einfach nur über etwas redet. Probleme löst man damit zwar nicht unbedingt, aber trotzdem tut es gut, sich hin und wieder auszuweinen."

Fast gelang es ihm, sie mit seinen Äußerungen verlegen zu machen. Schließlich schüttelte sie den Kopf und sah ihn mit einer Mischung aus Fürsorge und Vorwurf von der Seite her an.

"Slim, wissen Sie eigentlich, wie spät es schon ist?" wollte sie nun doch ihre Unterhaltung mit ihm beenden, ehe sie abermals in tiefgründige Bemerkungen ausartete, die ihn womöglich genau dahin zurückgebracht hätten, von wo er versucht hatte zu fliehen.

"Ich fürchte, spät genug." Er lächelte sie schuldbewußt an und nahm den Arm von ihren Schultern. "Entschuldigen Sie, Daisy, ich wollte Sie nicht so lange aufhalten."

"Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen!" Sie stand auf, blieb aber noch bei ihm stehen. "Ich bin froh, daß wir miteinander geredet haben." Sie legte ihm die Hand auf die Schulter wie eine Mutter, die stolz war auf ihren Sohn. "Trotzdem sollten Sie jetzt zu Bett gehen. Sie sehen sehr müde aus."

"Ich komme gleich."

"Gute Nacht, Slim, und grübeln Sie heute nacht nicht mehr soviel."

"Ich werde mich bemühen."

Sie durchschaute auffallend schnell die vorgetäuschte oberflächliche Arglosigkeit seines Lächelns. Allzu deutlich verriet es ihr, daß seine Ruhe nur eine dünne Fassade darstellte, hinter der sich das wahre Chaos seiner Gemütsverfassung verbarg. Der melancholische Ausdruck seiner Augen erinnerte sie an Jess, der ihr mit genau der gleichen Melancholie seines Blickes jedesmal ungewollt zeigte, daß er ihr nur etwas vormachte und in Wirklichkeit etwas ganz anderes dachte, als seine Worte sagten.

Mit Erstaunen erkannte Daisy wieder einmal, wie sehr sich diese beiden Männer ähnelten, wieviel Gemeinsames sie verband, obwohl sie in anderer Weise grundverschieden waren.

Fortsetzung folgt