KAPITEL 16

Doc Higgins, der am späten Vormittag des nächsten Tages zu einem seiner regelmäßigen Besuche vorbeikam, konnte trotz des erneuten Rückfalls nichts Außergewöhnliches bei Jess feststellen, außer daß sein Gesundheitszustand nach wie vor nicht zu den besten zählte. Aber das war schließlich nichts Neues. Zumindest hatte er sich aber auch nicht verschlechtert.

Trotzdem hatte Slim das unbestimmte Gefühl, daß den Arzt irgend etwas beschäftigte, vielleicht sogar bedrückte. Jedenfalls machte er auf ihn diesen Eindruck, als er sich nach seiner Visite verabschiedete.

Slim konnte diese quälende Ahnung nicht loswerden, daß Dan eigentlich noch mehr sagen wollte, als nur seine üblichen Ratschläge zu erteilen. Konkrete Auskünfte darüber, was denn nun werden würde, konnte – oder wollte – er nicht geben.

Auch die nächsten Tage verbrachte Jess meist damit, zu schlafen oder vor sich hin zu dösen. Slim vermied jedes weitere längere Gespräch, das sonst nur allzu leicht in ein Streitgespräch über schwerwiegende Dinge oder Probleme, manchmal auch nur über Nichtigkeiten hätte ausarten können.

Auch Mike durfte seinen Pflegevater, wenn überhaupt, nur ganz kurz besuchen, was für den Jungen anfangs nur schwer zu begreifen war, woran er sich jedoch wohl oder übel gewöhnen mußte. Zum Schluß zeigte er sogar ein gewisses Verständnis dafür.

Wider allen Erwartens erholte sich Jess von den schweren Anfällen relativ rasch, obwohl ihm der zeitweise furchtbare Husten wie auch die damit verbundenen heftigen Schmerzattacken wie dunkle Schatten einer düsteren Vergangenheit oder einer ebensolchen ungewissen Zukunft erhalten blieben. Wenn er wach war, versuchte er, möglichst nicht ins Grübeln über seine Lage und Zukunft zu geraten.

Daisy verwöhnte ihn derweil mit gutem Essen und einer unermüdlichen Fürsorge, die ihm oftmals sogar unangenehm zu werden drohte, da er normalerweise nicht sehr für derlei Sentimentalitäten, wie er sich auszudrücken pflegte, empfänglich war.

Jedenfalls festigte sich sein Zustand im Verlauf der folgenden Woche einigermaßen. Allerdings konnte sein schlimmes Aussehen kaum darüber hinweg täuschen, wie sehr ihm noch die Folgen der für ihn um ein Haar tödlichen Begegnung mit der Kugel dieses Heckenschützen zusetzten. Der inzwischen sechs Wochen währende Kampf gegen den ständig lauernden Tod hatte seine Kraftreserven aufgebraucht und oftmals seinen Lebenswillen gefährdet. Nur eine zähe Natur wie er konnte dies überhaupt überstehen. Ob er es letztendlich überlebte, wußte niemand.

Immerhin fand Mort Cory, der in der zweiten Wochenhälfte beschloß, sich auf der Sherman-Ranch selbst zum Mittagessen einzuladen, nachdem er am Morgen endlich die seit über vierzehn Tagen erwartete Nachricht seines Amtskollegen aus Como in Texas erhalten hatte, seinen langjährigen Bekannten aufrecht im Bett sitzend, an einen riesigen Kissenberg gelehnt, offensichtlich in bester – was oder sofern es die Umstände betraf – Verfassung.

Das Fenster des kleinen Zimmers stand sperrangelweit offen, und die milde, nach Garten duftende Herbstluft erfüllte den Raum. Schon vor Tagen hatte Slim das Bett näher ans Fenster gerückt, so daß Jess in der heilenden Sonne liegen konnte, die an diesem Tag mit ihren außergewöhnlich warmen Strahlen wenig daran erinnerte, daß es laut Kalender schon Mitte Oktober war.

Jess hatte das eine Bein hochgestellt und ein Buch gegen seinen Oberschenkel gelehnt. So in die Lektüre vertieft, achtete er nicht weiter darauf, daß jemand das Haus betrat. Mort blieb im Rahmen der offenen Tür stehen und schlug absichtlich laut mit dem Handrücken dagegen.

"Hallo, Jess!" meldete sich der Sheriff, höchst erfreut darüber, daß er ihn in besserer Verfassung antraf als neulich. "Darf ich hereinkommen oder störe ich?"

Jess blickte erstaunt auf, denn mit Sheriff Cory hatte er nicht gerechnet.

"Mort!" rief er erfreut über den Besuch. "Aber natürlich! Du störst überhaupt nicht! Komm rein und setz dich!"

Er klappte das Buch zu, legte es auf den Nachttisch und ergriff die ihm zum Gruß entgegengestreckte Rechte des Gesetzeshüters. Die Männer tauschten einen herzlichen Händedruck. Dabei stellte Mort mit einer gewissen Zufriedenheit fest, daß in Jess' Handschlag schon wieder wesentlich mehr Kraft lag als bei seinem letzten Besuch.

"Slim sagte mir, daß ich dich hier finde – beim Sonnenbaden."

"Ja, ich versuche, das Beste daraus zu machen."

"Das seh' ich." Mort grinste amüsiert. "So läßt es sich aushalten. Bevor ich's vergesse … Ich soll dir einen schönen Gruß und gute Genesungswünsche vom Bürgermeister, sämtlichen Mitgliedern des Gemeinderates und mindestens von der halben Stadt überbringen, allen voran Gary Morgan."

"Danke. Ich hätte nicht gedacht, daß sich so viele Leute für mein Befinden interessieren."

"Ob du es glaubst oder nicht, aber die Leute mögen dich wirklich."

"Ich bin mir da nach wie vor nicht so sicher. Ich gerate immer in Zweifel, ob sie tatsächlich mich mögen oder nur mein Schießeisen und die Tatsache, daß ich ihnen damit schon so manchen Ärger vom Hals geschafft habe. Ich habe noch nicht vergessen, wie sie damals mit ihrer Moral über mich herfielen, als ich hierherkam. Ich trage es ihnen zwar nicht nach, denn in gewisser Weise hatten sie recht – damals. Aber ich kann es auch nicht aus meinem Gedächtnis streichen."

"Ich weiß, Jess, aber das ist schon lange her. Seither sind viele Jahre vergangen und du hast sie und ihr abfälliges Gerede mehr als nur einmal beschämt, indem du ihnen zeigtest, daß du eben doch nicht der warst, für den sie dich hielten. Und heute bist du ein angesehener Bürger dieser Stadt. Alle, die dich damals verurteilen wollten, würden heute ihre Hand für dich ins Feuer legen. Glaube mir, sie meinen es wirklich ernst und sind aufrichtig besorgt um dich."

"Wenn du das sagst, will ich es gern glauben. – Sag mal, willst du dir nicht endlich einen Stuhl holen und dich setzen? Du machst mich mit deinem Herumgestehe ganz nervös."

"Daß dich so etwas nervös macht, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen."

Mort, der den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte, grinste verschmitzt und zog sich einen Stuhl heran. Jess beobachtete den Sheriff skeptisch dabei, wie er in seiner Westentasche herumfingerte und offensichtlich nach etwas Bestimmtem suchte.

"Hast du Nachricht aus Como?"

"Woher weißt du, daß ich nachgefragt habe?"

"Ich kenne dich, Mort. Ich weiß, daß du, nachdem ich dir sagte, daß es zwecklos wäre, erst recht neugierig geworden bist. Einem guten Sheriff wie dir bleibt gar nichts anderes übrig. Also, was ist?"

Mort fand endlich, wonach er suchte, und reichte Jess ein sorgfältig gefaltetes Stück Papier.

"Das Telegramm ist heute morgen gekommen. Die Leitung bis Amarillo war fast zwei Wochen lang gestört. Deshalb hat das so lange mit der Antwort gedauert. Zur gleichen Zeit kam noch ein dicker Brief mit der Post." Er stand auf und ging nach draußen, um an der Garderobe in seiner Jacke nach dem Umschlag zu wühlen. "Hier!" Er wedelte damit in der Luft, als er zurückkam, und warf ihn aufs Bett, ehe er sich wieder setzte.

Geschickt faltete Jess das Telegramm auseinander. Mittlerweile hatte er gut gelernt, nur mit einer Hand zu hantieren. Sein linker Arm war immer noch vollständig in einer festsitzenden Bandage ruhiggestellt, damit die zerschossenen Muskeln ordentlich heilen konnten. Auf jeden Fall wollte Doc Higgins kein Risiko eingehen und auf diese Art dem zerrissenen Gewebe die nötige Zeit verschaffen, zudem eine falsche Bewegung gereicht hätte, erneut innere Blutungen auszulösen. Folglich blieb Jess im Moment nichts anderes übrig, als die Geschicklichkeit seines rechten Armes und vor allem der dazugehörigen Hand und Finger zu trainieren.

Mit einer gewissen Oberflächlichkeit überflog er die wenigen Zeilen, die keine wesentlichen Informationen enthielten. Sie waren eigentlich nur eine kurze Erklärung für die Verspätung und eine Mitteilung, die einen ausführlichen Brief und weiteres Material ankündigte.

"Gezeichnet Floyd Brannigan, Sheriff von Como, Hopkins County, Texas", las Jess den Namen unter der Depesche laut vor.

"Ja, kennst du ihn?"

"Wenn es der gleiche Floyd Brannigan ist, auf jeden Fall. Er war damals Hilfssheriff, ein junger Bursche, in meinem Alter, vielleicht ein bißchen älter, höchstens zwei, drei Jahre. Ein tüchtiger Kerl! Wundert mich nicht, daß er es zum Sheriff gebracht hat. Er und sein damaliger Vorgesetzter, Sheriff – wie hieß er doch gleich?" Jess kratzte sich nachdenklich am Ohr. "Duncan? Ja, ich glaube, so hieß er – haben mich immer ordentlich behandelt, wenn ich gerade mal in ihrer Pension wohnen mußte. Die zwei sind eigentlich die einzigen Sternträger aus jener Zeit, die ich in guter Erinnerung habe. Möchte wissen, was aus Duncan geworden ist."

"Hat sich zur Ruhe gesetzt", erklärte Mort und deutete auf den dicken Umschlag. "Steht alles da drin. Brannigan hat einen mehrere Seiten langen Brief geschrieben. Scheint viel Zeit zu haben, oder er hat sich einfach nur gefreut, wieder mal was über einen alten Bekannten aus jungen Jahren zu erfahren. Jedenfalls scheint er sehr gewissenhaft recherchiert zu haben."

"Floyd war schon immer sehr gründlich. Er konnte einem mit seiner Pedanterie ganz schön auf die Nerven fallen. Trotzdem haben wir uns ganz gut verstanden, solange mich Duncan bei sich in Gewahrsam hatte. Ich will nicht sagen, daß wir Freunde waren – unmöglich für mich damals, einen Mann des Gesetzes zum Freund zu haben! –, aber trotzdem. Zumindest war er nicht übel, hatte einen guten Charakter. Duncan hielt mächtig viel von ihm."

"Von dir muß er auch viel gehalten haben, was Brannigan so schreibt."

"Das weiß ich nicht. Damals war ich mir jedenfalls nicht sicher. Ich weiß nur noch, daß es ihm jedesmal gegen den Strich ging, wenn er mich einlochen mußte. Einmal wollte er mich sogar zu seinem Deputy machen, weil er befürchtete, mich sonst eines Tages noch am Galgen zu sehen. Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht. Du kannst dir vorstellen, daß ich damals nicht im geringsten von diesem Vorschlag angetan war. Mit der nächsten Treibherde zog ich weiter nach Norden und habe eigentlich seitdem nichts mehr von Duncan oder Floyd gehört. Ehrlich gesagt, hatte ich dieses Kapitel abgeschlossen. Was schreibt er denn?"

"Das beste ist, du liest alles selbst, sonst vergesse ich vielleicht noch die Hälfte – wäre kein Wunder bei der Menge. Obwohl ich vorab gleich sagen muß, daß die Ausbeute nicht besonders überwältigend ist."

Jess fischte den Packen Papier aus dem Umschlag und sortierte sechs Blätter aus dem Bündel, eng und fein säuberlich in gleichmäßiger Handschrift beschrieben.

"Floyd wäre besser Reporter oder gleich Schriftsteller geworden anstatt Sheriff. Duncan hat immer seine Späße mit ihm gemacht wegen seiner mehr als umfangreichen Berichte."

"Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Zumindest schreibt er nicht langweilig. Klingt manchmal sogar recht amüsant."

"Aber was Brauchbares hat er nicht gefunden", bemerkte Jess, als er den Brief zu Ende gelesen hatte, und griff nach einem vergilbten Steckbrief. "Der hat diese alten Dinger tatsächlich alle aufgehoben. Duncan hatte schon diesen Tick. Er hatte Mappen voller alter Steckbriefe. Er hat sie gesammelt wie Antiquitäten."

"Vielleicht will Brannigan eines Tages die passenden Geschichten dazu schreiben", vermutete Mort, nicht halb so ernst, wie es der Grund des ganzen Schriftwechsels eigentlich forderte.

"Würde mich nicht wundern. Jedenfalls scheint es tatsächlich so zu sein, daß unser Gregory oder Hal Thorne nichts mit seinem Namensvetter zu tun hat."

"Ich weiß nicht, Jess. Sicher, Brannigan konnte dafür nicht den geringsten Beweis finden und bestätigt damit eigentlich deine Vermutung. Aber irgendwo, tief da drinnen", Mort deutete mit dem Daumen in seine Magengegend, "werd' ich dieses Gefühl einfach nicht los."

"Jetzt fängst du aber an zu phantasieren!"

"Schon möglich. Vielleicht ist es auch nur, daß ich es gerne so hätte, ich meine, daß die zwei irgendwie zusammengehören."

"Und was würde das ändern?"

Mort zuckte mit den Schultern und verzog ein wenig ratlos das Gesicht.

"Keine Ahnung. Wahrscheinlich nichts! Aber vielleicht fühlte ich mich dann wohler, wenn es endlich eine Erklärung für den Anschlag hier auf dich gäbe."

"Meinst du denn, dann ginge es mir gesundheitlich besser?" kam es abfällig aus den Kissen.

"Nein – nein, gewiß nicht! Aber wenn wir da einen Ansatzpunkt hätten, käme ich mir wahrscheinlich nicht ganz so hilflos vor. So weiß ich doch gar nicht, wo und wie ich die Sache anpacken kann, damit mit diesem Amoklauf endlich Schluß ist. Ich komme mir beinahe vor, als ob ich hinter einem Schatten herjage, der zu keiner Person gehört."

"Zu diesem Schatten gehört schon 'ne Person, nur eben nicht die, die du gern sehen würdest. Mort", Jess beugte sich zu ihm hinüber und schubste ihn aufmunternd an, "was dich bedrückt, ist einzig und allein die momentane Untätigkeit, zu der du gezwungen bist, außer du wolltest nur ziellos in der Gegend herumreiten, hinter einem Phantom her, in der Hoffnung, es durch einen glücklichen Zufall zu finden. Und weil du wegen deines bisherigen Mißerfolges ein schlechtes Gewissen hast."

"Hab' ich nicht!" widersprach Mort so heftig, daß er sich damit verriet. "Möchte wissen, weshalb!"

"Das kann ich dir sagen. Du hast es vor allem mir gegenüber. Weil du denkst, nein, weil du aus unerfindlichen Gründen der festen Überzeugung bist, dich dafür schämen zu müssen, mir als Freund nicht den Dienst erweisen zu können, den Kerl zu finden, der auf mich losgeballert hat. Mort, ich verlange nicht von dir, daß du dich meinetwegen von so einem Halsabschneider ständig zum Narren halten läßt. Das einzige, was ich verlange, ist, daß du deine Arbeit als Gesetzeshüter dieses Bezirkes machst. Und die hast du zur Genüge getan. Ich bin gewiß der letzte, der dir wegen deines bisherigen Mißerfolges in irgendeiner Weise einen Vorwurf macht. Das solltest du eigentlich wissen."

"Trotzdem, Jess …" Mort starrte ihn hilflos an. "Es ist nicht sehr befriedigend für mich."

"Wäre es denn befriedigender, sinnlos in der Gegend herumzureiten?"

"Vielleicht."

"Ach, komm, hör auf!" Jess winkte abfällig ab. "Das einzige, was das bringen würde, wären Blasen am Hintern, sonst nichts. Nach dem letzten Unwetter sind sämtliche Spuren verwischt. Die Reiterei hat erst wieder etwas Sinn, wenn die Kerle irgendwo auftauchen, daß du einen Anhaltspunkt hast."

"Hoffentlich ist dieser Anhaltspunkt dann aber nicht wieder 'ne Leiche oder ein fast totgeschossener Freund."

"Selbst wenn es so wäre, könntest du es nicht ändern."

"Ich müßte es verhindern, Jess, verhindern!"

"Mort, laß es gut sein!" Jess kam dieses Schuldgefühl, das den Sheriff quälte, nur allzu bekannt vor. Es schien das gleiche oder wenigstens ein ähnliches zu sein, das auch Slim beschäftigte. Nur war es bei diesem wesentlich ausgeprägter. "Wir kommen so nicht weiter."

"Und was machen wir jetzt?" fragte Mort deshalb ziemlich ratlos, in der Hoffnung, Jess hätte einen vernünftigen Vorschlag zu machen, der ihm zum Handeln verhalf.

"Keine Ahnung", enttäuschte ihn jedoch der Freund mit hochgezogener Schulter. Schließlich begann er etwas ziellos in dem Stapel Papier zu wühlen, der vor ihm auf der Bettdecke verstreut lag. "Woher soll ich das wissen. Du bist doch der Sheriff."

"Danke für die Feststellung." Mort verzog den Mund und legte die Stirn in Falten. "Wenigstens beruhigt es mich, daß du auch nicht schlauer bist als ich."

"Wieso sollte ich mehr wissen als du? Ausgerechnet ich! Alles, was ich über diese ganze Geschichte weiß, habe ich aus zweiter oder dritter Hand erfahren." Jess wollte ihn mit dieser Bemerkung nicht ganz vor den Kopf stoßen und setzte deshalb hinzu: "Mort, so wie ich die Sache sehe, können wir im Moment wirklich nichts anderes tun als abwarten. So schwer dir das auch fallen wird. Aber meiner Meinung nach ist es zur Zeit das einzig Vernünftige. Tu, was du für richtig hältst. Ich weiß, du bist ein viel zu guter Sheriff, um so schnell aufzugeben."

Mort erwiderte darauf nichts, sondern zog nur vielsagend die eine Braue hoch. Soviel stand fest: sie drehten sich im Kreis. Jedenfalls waren sie heute keinen Schritt weiter als bei seinem Besuch vor mehr als zwei Wochen, außer daß Jess' Genesung inzwischen einige beachtliche Fortschritte gemacht hatte und sie mittlerweile die amtliche Bestätigung hatten, daß die beiden Thornes nichts miteinander zu tun hatten. Aber das war auch schon alles.

Nachdem der Inhalt von Floyd Brannigans Nachricht in keiner Weise das hielt, was ihr Umfang versprach, hatte sich Mort wenigstens vom Besuch bei seinem jüngeren Freund etwas mehr versprochen. Jess hatte ihm so manches Mal einen Fingerzeig oder guten Ratschlag in einer verfahrenen Situation gegeben, was ihn oftmals überraschend zum Ziel und damit zum Erfolg führte. Aber daß er ausgerechnet in diesem Fall genauso ratlos war wie er selbst, konnte ihn überhaupt nicht befriedigen. Es blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als sich wohl oder übel damit abzufinden.

Während der nächsten Tage versuchte Jess, wenn es irgendwie möglich war, die vor allem während der Mittags- und frühen Nachmittagsstunden noch mehr als angenehm warme Sonne und außergewöhnlich milde Herbstluft am offenen Fenster zu genießen. So machte seine weitere Genesung gute Fortschritte. Jeden Tag fühlte er sich etwas kräftiger, obwohl ihm zwei überaus unangenehme Dinge erhalten blieben: der furchtbare Husten, der ihn in fast regelmäßigen Abständen wie aus heiterem Himmel überfiel, und die damit verbundenen verheerenden Schmerzen, die ihn wie Lawinen überrollten oder wie spitze Lanzen seine Brust durchbohrten und ihm manchmal sogar noch die Tränen in die Augen trieben.

Daran hatte sich bis jetzt nichts geändert. Nur die Abstände, in denen diese schrecklichen Anfälle auftraten, hatten sich etwas verlängert. Aber an ihrer Intensität konnte er keine Abschwächung feststellen.

Vielleicht, so versuchte er sich einzureden, empfand er sie auch nur subjektiv als gleichbleibend schlimm, weil sein übriger Zustand sich nun so merklich besserte, daß ihm der krasse Gegensatz zwischen den Zeiten, in denen er sich gut fühlte, und denen, in denen er kaum eine Besserung zu spüren glaubte, mehr auffiel. Wenn er allerdings seinen meist blutigen Auswurf sah, an dem sich bis jetzt nichts geändert hatte, begannen erneut rege Zweifel in ihm aufzulodern, ob und wie er am Ende überlebte.

Die Frage, ob er jemals ganz gesund wurde, sein gewohntes Leben führen und seine Arbeit verrichten konnte, die ständig seinen vollen körperlichen Einsatz forderte, beschäftigte, ja, quälte ihn. Vor allem die mögliche Antwort, die sich ihm aufzwang, belastete ihn, jagte ihm Angst ein, die nicht selten solch überwältigende Ausmaße annahm, daß er sie verdrängte, verdrängen mußte! Die Gefahr, daß sie zu einer krankhaften depressiven Psychose ausartete, wäre andernfalls nur allzu wahrscheinlich geworden.

Die Tatsache, daß er normalerweise ziemlich starke Nerven und einen gesunden Menschenverstand besaß, fest mit beiden Beinen auf der Erde, im Leben stand, ein stabiler, ausgeglichener Charakter war, sich und seine Umwelt überaus realistisch einschätzen konnte, half ihm in dieser schweren Zeit sicherlich, an diesen düsteren Visionen nicht zu scheitern. Er wäre sonst garantiert nicht der erste gewesen, der Gedanken in sich aufkommen ließ, sein leichtfertig als wertlos geworden bezeichnetes Leben wegzuwerfen und zu beenden.

Und dann war da noch Mike!

Selbst wenn alle guten Vorsätze, all diese positiven Umstände aus unerfindlichen Gründen versagt hätten – das intensive Verantwortungsgefühl für seinen Pflegesohn, die väterliche Zuneigung, die er ihm mit einer selbstverständlichen Ehrlichkeit seines Herzens entgegenbrachte, verliehen ihm genug Kraft, seinen Lebenswillen aufrecht zu halten und die nötige Energie aufzubringen, sich gegen seine körperliche Schwäche zu behaupten.

Für Mike spielte es keine Rolle, wie er überlebte. Für ihn zählte in erster Linie, daß er weiterhin für ihn da sein konnte. Seiner kindlichen Liebe tat es nicht den geringsten Abbruch, wenn sich sein Pflegevater in Zukunft nur noch weniger Kräfte verzehrender Arbeiten widmen könnte. Ja, Mike war es sogar egal, ob er überhaupt jemals wieder körperlich voll oder teilweise einsatzfähig wurde. Hauptsache, Jess blieb ihm als der sich um ihn sorgende Ersatz für einen unbekannten Vater, als großer Freund und älterer Bruder erhalten.

Was kümmerte es ihn, ob der Mann jemals in seinem Leben auch nur noch einen wilden Mustang bändigen und zu einem tadellosen Reit- und Arbeitspferd trainieren konnte! Die Gefahr, daß er sich bei solchen gefährlichen Arbeiten die Knochen oder gar das Genick brach, war sowieso viel zu groß. Oder wie schnell konnte eine Herde Rinder in Panik geraten und ihn zertrampeln oder ein durchgedrehter Jungstier mit seinen Hörnern aufspießen! Gefahren für schwere oder gar tödliche Unfälle gab es im normalen Ranchalltag genug. Ganz zu schweigen von seinen Abenteuern, die er im Dienste der Postgesellschaft schon erlebt hatte, wenn diese der Meinung war, auf seine Zuverlässigkeit und sichere Hand nicht verzichten zu können.

So betrachtet, bedeutete es also nicht unbedingt nur etwas Negatives, wenn er in Zukunft gezwungen war, sein Leben nicht mehr in der gewohnten Weise führen zu können. Früher oder später hätte er sowieso vor dieser Entscheidung gestanden, denn auch ein Bewegung und körperliche Arbeit gewöhnter Mann wie er wurde schließlich nicht jünger.

Trotz all dieser Erkenntnis und Einsicht kam er sich allerdings doch noch nicht alt genug vor, sein weiteres Leben mit Untätigkeit oder irgendwelchen körperlichen Einschränkungen zu verbringen. Daß ausgerechnet eine Gewehrkugel seine Vitalität derart beschnitt, hatte er zwar im stillen immer befürchtet, diese Möglichkeit jedoch konsequent verdrängt.

Wenn er sich einredete, daß es hätte noch schlimmer kommen können, erfüllte ihn dies zwar nicht unbedingt mit Trost, aber doch irgendwie mit einer gewissen Dankbarkeit dafür, daß er überhaupt noch in der Lage sein konnte, sich über all diese Nichtigkeiten – waren es tatsächlich nur Nichtigkeiten? – Gedanken zu machen.

Aber auch wenn der Umstand, eben diese schwere Verwundung, ihn vorübergehend oder sogar vielleicht für immer zu einer gewissen Untätigkeit zwang, gab es einen positiven Punkt an dieser unabänderlichen Tatsache: noch nie zuvor hatte er soviel Zeit für Mike, sich um seine Probleme und kindlichen Sorgen zu kümmern.

Zwar hatte auch bisher jede freie Minute seinem Schützling gegolten, aber viel zu oft waren diese Minuten knapp bemessen. Obwohl er sich gewiß keine Vorwürfe zu machen hatte, seine väterlichen Pflichten in irgendeiner Weise zu vernachlässigen, stellte sich bei ihm doch hin und wieder ein Hauch von schlechtem Gewissen ein, für den Jungen nicht alles zur richtigen Zeit tun zu können. Deshalb beschäftigte es ihn nicht gerade unerheblich, ob er Mike wirklich all das in genügendem Maße geben konnte, was der Junge seiner Meinung nach zu seiner Entwicklung brauchte, damit er zu einem charakterfesten Erwachsenen heranreifen konnte.

Das erste augenfällige Positivum, das man durchaus als Resultat aus dieser außergewöhnlichen Verfügbarkeit an Zeit ansehen konnte, war die Tatsache, daß sich Mikes schulische Leistungen wesentlich verbesserten, ohne daß der Junge deshalb vermehrt für den Unterricht lernte. Obwohl sonst Daisy Cooper, die für eine Frau dieser Zeit über eine enorme Allgemeinbildung verfügte, fleißig mit ihm übte, tat er sich unter ihrer Obhut oftmals schwer, den Lehrstoff in sich aufzunehmen und die Aufgaben zu lösen.

Bei Jess hatte er da keine Probleme. Er brauchte sich eine Sache nur ein- oder zweimal durchzulesen oder mit Jess darüber zu reden, und schon wußte er Bescheid. Das Gelernte konnte er jederzeit abrufen, ohne dafür besonders pauken zu müssen.

Dabei tat sich der Mann oft schwerer als er, weil ihm ganz einfach die nötigen Grundlagen fehlten, die er sich zuerst etwas mühsam aneignen mußte, um dem Jungen überhaupt eine Hilfe sein zu können. Auf diese Weise profitierten jedoch beide davon, und Daisy fragte sich im stillen, wer von den beiden wem etwas beibrachte.

Sie beobachtete die zwei mit einer gewissen Freude, wie sie miteinander lernten, und bedauerte es im Grunde, daß Jess mit seiner Intelligenz nie die Gelegenheit erhalten hatte, sich ein umfangreiches Wissen anzueignen, das über das normale Sammeln an Erfahrung hinausging, nur weil er von Kind an gezwungen war, sich mehr aufs nackte Überleben zu konzentrieren, anstatt regelmäßig eine Schule zu besuchen und eine gute Ausbildung zu genießen. Ganz sicher würde er dann heute seinen Lebensunterhalt mit etwas anderem bestreiten, das vor allen Dingen weniger gefährlich war als Rancharbeit oder gar die Aufträge, die er gelegentlich für die Postgesellschaft übernahm.

Um so mehr bewunderte sie sein unermüdliches Bestreben, seinem Pflegesohn eine bessere Grundlage für die Zukunft schaffen zu wollen. Sie konnte nur hoffen, daß Mikes unverkennbarer Lerneifer auch dann anhielt, nachdem Jess vollständig genesen war und für ihn wieder weniger Zeit hatte, weil er seiner täglichen Arbeit nachgehen mußte – wenn es überhaupt jemals wieder soweit kam.

Einige Tage später empfahl Doc Higgins bei seinem wöchentlichen Besuch seinem Patienten, mit leichten Bewegungsübungen seine völlig erschlafften Muskeln langsam zu trainieren und auch seinen strapazierten Kreislauf zu stärken, damit er, wenn er ihm demnächst erlauben wollte, es endlich mit Aufstehen zu versuchen, nicht gleich beim ersten Versuch eines Versuches zusammenklappte wie ein Taschenmesser.

Allerdings warnte er ihn eindringlich davor, nicht zu übertreiben, denn die Folgen hätten sonst nur das Gegenteil bewirkt und seine Genesung um Tage, vielleicht sogar um Wochen zurückwerfen können. Ein Übertreiben konnte sein geschwächter Körper keineswegs verkraften; jede falsche Bewegung verursachte ihm höllische Schmerzen, die ihn für Stunden außer Gefecht setzen konnte oder schlimmstenfalls hätte zur Folge haben können, daß seine Wunde, die zumindest äußerlich ganz gut verheilte, wieder aufbrach.

Daisy war anfangs eine große Hilfe, übte mit unendlicher Geduld mit ihm die einfachsten Bewegungen, brachte ihn mit energischer Gymnastik, unterstützt von gezielter Massage, so weit, daß er nach und nach seine Muskeln wieder beherrschen konnte und einiges seiner verlorenen Kraft wiedergewann. Während zu Beginn ihre Hilfe hauptsächlich darin bestand, ihn passiv zu bewegen, weil er nicht imstande war, die einfachsten Übungen aus eigener Kraft auszuführen, hatte sie nach einer weiteren Woche ihre liebe Not, ihm Einhalt zu gebieten, damit er sich nicht überanstrengte.

Das eifrige Training stärkte nicht nur seine Muskeln und seinen Kreislauf, sondern auch sein Selbstvertrauen und lenkte ihn vor allen Dingen von seiner Grübelei ab.

Bald konnte er sich ohne fremde Hilfe aufsetzen. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis er am meisten damit zu kämpfen hatte, der Versuchung zu widerstehen herauszufinden, ob er es schon schaffte, das Bett zu verlassen. Zum Glück wußte er, daß ihn seine Ungeduld teuer zu stehen kommen konnte. Deshalb wartete er damit, bis es ihm der Arzt erlaubte, so schwer ihm dieses Warten auch fiel.

Fast zwei Wochen später, nachdem Jess mit den Übungen begonnen hatte, mußte Doc Higgins notgedrungen zugeben, daß es besser war, wenn er seinem Patienten erlaubte, es vorsichtig mit dem Aufstehen zu probieren, ehe dieser selbst auf die Idee kam, es heimlich zu tun.

Mit Slims Hilfe schaffte er dann seine ersten unsicheren Schritte, ehe sich Daisy seiner annahm, ihm an einer windgeschützten Stelle im Garten einen bequemen Korbstuhl herrichtete, wo er in der Sonne sitzen und die frische Luft genießen konnte.

Es war einer der Tage, an denen Mike bis in den frühen Nachmittag hinein Unterricht hatte und deshalb erst relativ spät von der Schule nach Hause kam. Er ritt bei Slim vorbei, der neben dem Stall eines der Gespannpferde der Mittagskutsche verarztete, das es mit einem geschwollenen Vorderlauf gerade noch bis zur Station geschafft hatte und für mindestens zwei Wochen für den Postverkehr ausfiel.

Mike hielt sich bei dem Rancher kurz auf und ritt dann über den Hof zum Haus, wo er sein Pony vor der Veranda festband. Etwas nachlässig wickelte er den einen Zügel um den Halteholm – er wußte, daß sein Browny auch stehengeblieben wäre, wenn er den Riemen einfach nur auf den Boden baumeln ließ –, grapschte seine Schulbücher und stürmte ins Haus, direkt in die Küche, wo er sein Bücherbündel achtlos auf den Tisch warf. An der Pumpe wusch er sich als erstes die Hände. Mittlerweile hatte er sich dieses Ritual angewöhnt, daß es ihm in Fleisch und Blut übergegangen war und er es, ohne unter Beobachtung zu stehen, zelebrierte.

Erst beim Abtrocknen fiel ihm auf, daß Daisy gar nicht in der Küche war, wo er sie sonst antraf, wenn er heimkam, weil sie dann nämlich damit beschäftigt war, irgend etwas Eßbares auf den Tisch zu zaubern, selbst wenn es nur ein paar Sandwiches waren, die es immer gab, wenn er so spät erst nach Hause kam.

"Tante Daisy! Wo bist du denn?" rief er durchs Haus und kam zurück ins Wohnzimmer.

"Ich bin hier, mein Junge", kam es aus dem kleinen Raum, der bisher als Krankenzimmer diente und dessen Tür halb offenstand. "Herrje, ist es denn schon so spät!?"

Mike trat in den Rahmen der Tür, die er unsicher ganz aufdrückte. Mit leichtem Entsetzen stellte er fest, daß Daisy allein in dem Zimmer und das Bett leer war. Selbst die Matratze hatte sie nach draußen geräumt, um sie nach ausgiebigem Ausklopfen lüften zu lassen.

"Tante Daisy, wo … wo ist Jess?" stammelte der Junge eine Frage zusammen, vor Schreck ganz bleich im Gesicht, mit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund. Was ihm in zwei Sekunden alles durch den Kopf schoß, hätte er in zwei Stunden nicht erzählen können.

"Du kannst deinen Mund ruhig zumachen. Keine Angst, er ist nicht weggelaufen."

"Weggelaufen?" wiederholte Mike schluckend.

"Das sollte doch nur ein Scherz sein. Er ist hinten im Garten."

"Er ist … er ist … aber dann … dann …"

"Ja, genau." Daisy schüttelte amüsiert den Kopf. "Mike, du guckst wie eine Katze, die in den Rahmtopf gefallen ist."

"Jess … er … du meinst, er ist wirklich auf?"

"Na, sonst wäre er kaum in den Garten gekommen."

"Aber das ist … das ist ja … großartig!" jauchzte der Junge. Sein anfängliches Entsetzen, das allmählich in Erstaunen übergegangen war, äußerte sich jetzt nur noch in reiner Freude. "Da muß ich sofort zu ihm! Jippy!" tanzte er ausgelassen um die Frau wie ein Medizinmann um einen Totempfahl.

"Ich kann deine Freude zwar verstehen, aber deshalb solltest du doch etwas leiser sein, wenn du in den Garten gehst. Es kann nämlich sein, daß Jess eingeschlafen ist. Weißt du, es strengt ihn noch sehr an und er muß sich noch viel ausruhen, aber es geht ihm wirklich schon sehr, sehr viel besser. Nur, wenn er schläft, laß ihn und störe ihn nicht."

"Bestimmt nicht! Ich bin ganz leise", versprach Mike mit vor Glück strahlenden Augen in einem glühenden Gesicht, das heller zu leuchten schien als die milde Herbstsonne am wolkenlosen Himmel. Der Junge stürmte zur Hintertür, deren Knauf er vor lauter Schusseligkeit nicht halb so schnell drehen konnte, wie er gerne wollte. Schließlich riß er sie mit einem Ruck auf und stürzte hinaus. "Jess?" rief er mit verhaltener Stimme.

Dabei bemühte er sich, wie versprochen, leise zu sein. Suchend blickte er sich um. Schließlich entdeckte er seinen Pflegevater in einem mit Kissen weichgepolsterten Korbstuhl an der Hauswand in der wärmenden Nachmittagssonne, mit einer buntgewebten Navajodecke halb zugedeckt. Offensichtlich war er beim Zeitunglesen eingeschlafen. Jetzt machte er einen tiefen Atemzug, murmelte etwas vor sich hin, drehte den Kopf zur anderen Seite und schlief weiter.

Mike hatte schon befürchtet, er hätte ihn aufgeweckt. Erleichtert atmete er auf, als er sah, daß er ihn nicht gestört hatte. Irgendwie erfüllte es ihn mit unbeschreiblicher Zufriedenheit, ihn so ruhig schlafen zu sehen, sein entspanntes Gesicht, zwar immer noch entsetzlich hager und blaß, aber doch nicht mehr ganz so eingefallen und vor allem ohne jede Anzeichen von Schmerzen. Er war so glücklich darüber, daß er zum erstenmal seit langer Zeit eine wunderbare Zuversicht verspürte, die ihm als solche gar nicht recht bewußt wurde. Aber jetzt glaubte er ganz fest zu wissen, daß alles wieder gut wurde, egal, was auch geschah.

Noch eine Weile stand Mike, stumm und andächtig, in wunderbare Gedanken versunken, ehe er sich entschloß, den Schlafenden lieber allein zu lassen, um ihn nicht doch noch zu stören. Der Junge schlich zur hinteren Tür zurück und wollte gerade ins Haus huschen, als Jess leise nach ihm rief. Es klang noch etwas verschlafen und unsicher. Anscheinend war er sich im Halbschlaf nicht ganz sicher gewesen, ob er den Jungen tatsächlich gehört und seinen Schatten bemerkt, oder ob er es nur geträumt und sich eingebildet hatte, nicht mehr allein zu sein.

"Ich wollte dich nicht wecken", sagte Mike mit schuldbewußter Miene. "Bitte entschuldige!"

"Keine Sorge, mein Junge." Jess lächelte ihn warmherzig an. "Ich habe, glaube ich, gar nicht richtig geschlafen. Ich bin bloß etwas eingenickt. Bist du denn schon von der Schule zurück? Ist es schon wieder so spät?" fragte er noch im gleichen Atemzug erstaunt, da er offensichtlich keinerlei Gefühl für die Zeit hatte, obwohl er sich normalerweise sicher ohne Uhr zurechtfand und die Zeit minutengenau bestimmen konnte; aber seit seiner Verwundung hatte er dieses untrügliche Zeitgefühl fast völlig verloren. Wahrscheinlich würde es sich erst wieder einstellen, wenn der normale Alltag für ihn zurückkehrte.

Bald saß Mike bei ihm auf der Armlehne des Korbstuhls und plapperte ohne Pause, daß seine Worte wie das Plätschern eines Wasserfalls klangen. In seiner kindlichen Art erzählte er buchstäblich mit Händen und Füßen, als hätte er Jess schon Wochen nicht mehr gesehen und müßte ihm innerhalb von Minuten seine ganzen Erlebnisse während dieser Zeit anvertrauen. Jess hörte geduldig seinen ausgelassenen Schilderungen zu, die vor allem seine Schulerlebnisse und die Arbeit mit seinem Pony betrafen, worauf er besonders stolz zu sein schien.

"Du wirst staunen, wenn ich dir zeige, was ich Browny alles beigebracht habe!" rief Mike begeistert. "Weißt du, es macht richtig Spaß, so mit ihm zu arbeiten. Und ich habe das Gefühl, Browny macht es auch Spaß."

"Ein gutes Pferd ist immer gerne bereit, etwas zu lernen. Ich habe dir schon lange gesagt, daß du mit ihm richtig arbeiten sollst und nicht nur durch die Gegend galoppieren. Außerdem brauche ich mir jetzt wenigstens keine Sorgen mehr zu machen, er könnte dir nicht gehorchen. Manchmal hatte ich nämlich, ehrlich gesagt, den Eindruck, daß Browny mit dir macht, was er will, zwar nicht immer, aber, wie gesagt, manchmal."

"Na ja", gab Mike etwas kleinlaut zu und zog die Nase kraus, "aber wirklich nur manchmal. Hast du das wirklich gemerkt?"

"Schon seit Monaten. Ich habe nur noch nichts zu dir gesagt, weil ich weiß, daß du ein guter Reiter bist. Aber es hätte bestimmt nicht mehr lange gedauert, und Browny wäre allein von der Schule nach Hause gekommen, nachdem er dich irgendwo im Straßengraben abgesetzt hätte."

"Ich würde mit Browny gerne einmal springen, ich meine, ich würde es mit ihm gern einmal richtig üben. Ob das geht?"

"Warum nicht? Browny ist zwar in seinem Körperbau etwas leichter, aber er hat starke Sehnen und Knochen und guttrainierte Muskelpartien. Wenn er von sich aus willig springt, kannst du es ruhig probieren. Nur solltest du ihn dazu nicht zwingen. Im allgemeinen laufen Pferde lieber zehnmal um ein Hindernis herum, als daß sie freiwillig einmal darüber springen."

"Browny brauche ich dazu nicht zu zwingen."

"So?" fragte Jess lauernd.

Er wußte, daß Mike mit seinem Pferd schon einige Hindernisse genommen hatte. Zwar hatte er es ihm nicht verboten, aber es war ihm auch nicht ganz recht, vor allem, wenn sein Schützling ohne Aufsicht irgendwo unterwegs das Springvermögen seines Ponys testete. Jess kannte sein kindliches Ungestüm zur Genüge und befürchtete zu Recht, daß er die Gefährlichkeit eines Hindernisses im freien Gelände unterschätzte und sich durch seinen Übermut ein folgenschwerer Unfall ereignen konnte.

"Na ja, ein paarmal hab' ich es unterwegs schon probiert."

"Mike, du weißt, daß ich das nicht besonders gern sehe. Nicht nur Browny könnte sich verletzen, sondern du auch. Im Grunde habe ich ja nicht generell was dagegen, solange du es hier auf der Ranch tust. Aber unterwegs solltest du es wirklich auf Notfälle beschränken."

"Versprochen!" war Mike einverstanden. "Weißt du, Browny kann im Notfall sogar über einen Zaun springen", berichtete er, nachdem er jetzt sicher war, Jess nicht grundsätzlich bei diesem Vergnügen gegen sich zu haben.

"Hast du das etwa auch schon probiert?"

Diesmal war der Tadel deutlicher aus Jess' Frage zu hören, obwohl er sich bemühte, nicht ganz so ernst zu klingen, wie es seiner Meinung nach angebracht gewesen wäre. Er wollte dem Jungen die Beichte nicht gar so unangenehm machen und lieber aus freien Stücken erzählen lassen. Schließlich wußte der Junge zur Genüge, daß der Mann mit seinen Reitkapriolen nicht in allen Punkten einverstanden war. Jess fand es wenig sinnvoll, ihm dies ständig vorzuhalten. Wahrscheinlich hätte er nur damit bewirkt, daß Mike seinem gefährlichen Vergnügen in aller Heimlichkeit nachging. Dann war es doch besser, wenn sie offen darüber sprachen.

"Ja, aber das war wirklich ein ganz schlimmer Notfall." Mike wurde sehr ernst, daß es den Mann sogar verwunderte. "Da bin ich über den Schulzaun gesprungen."

"Über den Schulzaun?" Jetzt war Jess doch etwas verblüfft. "Wieso denn gerade über den?"

Endlich hatte Mike die passende Gelegenheit gefunden, von seiner wenig erfreulichen Eskapade zu erzählen, die er sich vor nun fast genau acht Wochen mit Miss Finch in der Schule geleistet hatte, als er vor ihr oder, besser gesagt, vor der angeordneten Strafe des Nachsitzens weggelaufen war. Daß er seinen Ungehorsam Jess noch nicht gebeichtet hatte, belastete ihn ungemein. Denn gerade vor ihm wollte er kein schlechtes Gewissen haben.

Daß er sich hinterher bei Miss Finch entschuldigt hatte, erfüllte Jess mit einigem Stolz, bewies es ihm doch, daß sein Schützling nicht wie ein ungezogener Lausebengel gehandelt, sondern wie ein zu Anstand erzogener Erwachsener reagiert hatte, den die damalige besondere Situation zu seinem Handeln zwang, wofür er jedoch im Regelfall keine Entschuldigung sah.

Jess hörte ihm aufmerksam zu und drückte ihn auf die unsicher gestellte Frage, ob er ihm jetzt deswegen böse sei, liebevoll an sich.

"He, Cowboy, deshalb brauchst du dir keine Sorgen zu machen", tröstete er ihn, weil er merkte, wie nötig er dies auf einmal hatte. "Ich finde zwar, daß das überhaupt nicht richtig war, was du da getan hast, aber offen gestanden, ich an deiner Stelle hätte genauso gehandelt."

"Wirklich?" fragte Mike, nicht ganz überzeugt, löste sich halb aus seiner Umarmung und sah ihn ungläubig an.

"Bestimmt!"

"Dann … dann wollen wir es vergessen?"

"Schon geschehen – wenn du versprichst, es nicht wieder zu tun", setzte Jess noch hinzu, um dem ganzen wenigstens einen Hauch von Mißbilligung zu verleihen.

"Versprochen!" gelobte Mike und schlug mit beiden Händen in die offene Rechte seines Pflegevaters ein.

Der Junge war sichtlich froh, dieses Geständnis hinter sich zu haben, denn die Sorge, Jess mit seinem Ungehorsam enttäuscht zu haben, hatte ihn über Gebühr geplagt. Allerdings hatte er sich die ganze Zeit nicht recht getraut, darüber zu sprechen, weil er befürchtete, Jess hätte genug eigene Sorgen. Aber jetzt, da es ihm ganz offensichtlich besser ging, mußte er sich ihm unbedingt anvertrauen.

Mike, richtiggehend erleichtert über den Ausgang dieses Gesprächs, war mit einem Schlag wieder ganz der unbeschwert plappernde Zehnjährige, der in Gegenwart seines einigermaßen genesenden Pflegevaters die furchtbaren Erlebnisse in der jüngsten Vergangenheit überwunden zu haben schien. Vergessen könnte er sie allerdings nicht.

"Kommst du nachher mit rüber zur Koppel und siehst mir zu, wenn ich mit Browny arbeite?"

"Heute noch nicht, Mike. Weißt du, ich muß mich erst langsam wieder an alles gewöhnen. Soviel Bewegung auf einmal macht mich noch ganz schön müde. Aber ich denke, daß ich dir in ein paar Tagen Gesellschaft leisten kann."

"Tut es noch weh?" wollte der Junge, wieder etwas ernster, wissen.

"Manchmal schon", gestand Jess, denn er sah keine Veranlassung, Mike zu belügen. "Vor allem, wenn ich nicht daran denke und mich zu sehr anstrenge."

"Ich wünschte, du hättest keine Schmerzen mehr."

"Mach dir keine Sorgen, mein Junge!" Jess drückte ihn an sich, wobei er versuchte, soviel Zuversicht in seine Worte zu legen, daß es auch noch für ihn reichte. "Ich denke, das Schlimmste ist vorbei. Wenn es ab und zu mal piekst, dann ist das nur meine eigene Schuld, weil ich vergesse, daß ich noch nicht wieder so kann, wie ich gerne möchte. Das braucht dich nicht weiter zu beunruhigen."

"Ich habe Angst, daß der Mann noch einmal zurückkommt."

"Warum sollte er?"

"Ich weiß nicht." Mike zog ratlos die Schultern hoch. "Vielleicht weiß er, daß du noch lebst, und will noch einmal probieren, dich zu töten."

"Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich weiß er sogar, daß er mich nicht getötet hat."

"Meinst du? Woher denn?"

"Vielleicht aus der Zeitung, oder es hat ihm jemand erzählt oder, wer weiß, woher. Vielleicht kann er es sich auch denken. Immerhin wußte er, daß er ziemlich daneben getroffen hat."

"Soweit war das gar nicht daneben!" hatte Mike das unwiderstehliche Bedürfnis, ihn korrigieren zu müssen. "Er hätte …" Geräuschvoll schluckte er. "Er hätte dich beinahe getötet."

"Trotzdem glaube ich nicht, daß er zurückkommt", lenkte Jess schnell ein, um ihm wenigstens etwas diese Angst zu nehmen. "Jedenfalls nicht meinetwegen! Er ist das erste Mal schließlich auch nicht meinetwegen gekommen. Daß das alles passiert ist mit mir, war nur ein unglücklicher Zufall, sonst nichts. Du brauchst bestimmt keine Angst zu haben, daß es sich wiederholt. Ganz bestimmt nicht!"

"Ich hab' erst keine Angst mehr, wenn der Sheriff ihn gefangen hat. Vorher nicht!"

"Na, dann kann ich nur hoffen, daß das bald ist; denn ich finde es nicht gut, wenn du dich so fürchtest. Ich wünschte, ich könnte dir dabei irgendwie helfen."

"Das ist schon in Ordnung!"

Damit wollte Mike ihm zeigen, daß er mit seiner Angst versuchte, irgendwie fertig zu werden und notgedrungen zu leben, wenn er sie nicht meistern konnte. Obwohl Jess nicht unbedingt der Meinung war, daß dies die richtige Lösung darstellte. Und in Ordnung fand er es schon gar nicht! Aber auch ihm fiel im Moment nichts ein, was seinen Schützling nachhaltig von seinen Sorgen befreit hätte, zudem er nicht noch gründlicher auf dieses Thema eingehen wollte; denn er befürchtete zu Recht, daß dies die Erinnerung an die vergangenen Wochen nur allzu intensiv belebt hätte. Darauf legte er nicht den geringsten Wert, nicht nur um Mikes, sondern um seiner selbst willen auch.

ENDE VON TEIL I

Fortsetzung folgt