Teil II

DIE SCHATTEN WERDEN DUNKLER

KAPITEL 17

An einem Morgen in der folgenden Woche, kurz vor Ankunft der Post aus Laramie, ertappte Slim seinen Partner, wie er, völlig in Gedanken versunken, am Verandaaufgang stand, fast genau an der Stelle, wo vor neun Wochen das Unglück geschah, die Rechte am Vordachpfosten, mit dem Daumennagel über einen der unscheinbaren Flecke kratzend. Dabei wanderte sein finsterer Blick über die Bretterbohlen zur Haustür, um sich gleich darauf an dem Fenster daneben festzufressen. Die untere Rahmenhälfte war halb nach oben geschoben. Dahinter bauschte sich die Gardine im leichten Luftzug. Der Vorhang war neu. Schon vor Wochen hatte Daisy Cooper den vom Mündungsfeuer versengten Stoff ausgetauscht.

Jess starrte wie abwesend in das Fenster, als wollte er mit Gewalt etwas in dem dahinter im Dunkeln liegenden Raum erkennen.

Eine schwere Hand schlug ihm kräftig auf den Rücken und ließ ihn beinahe erschrocken zusammenfahren. Es war Slim, der ihn vom Stall aus ungewollt beobachtete, nachdem er das fertige Gespann für die erwartete Kutsche bereitgestellt hatte.

"Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?" fragte er besorgt.

"Es … es ist nichts", erwiderte Jess leise; er war auffallend bleich, obwohl die von seinem schlechten Gesundheitszustand herrührende Blässe kaum zu übertreffen war.

"Kannst du dich an irgendwas erinnern?"

"Nein." Mit müden Augen schaute Jess halb auf und den Freund von der Seite her an. "Jedenfalls an nicht mehr als die ganze Zeit." Er schluckte. "Hier … hier war es, nicht wahr?"

Slim blickte sich flüchtig um, als prüfte er, ob es die richtige Stelle war. Dabei konnte er nicht verbergen, daß sich auch in ihm ein altvertrautes Unbehagen breitmachte.

"Ja", nickte er schwer. "Das heißt, du warst schon mehr auf der Treppe. Hier bist du dann … ich meine, hier … Jess, bitte! Ich möchte das jetzt nicht noch mal …", stieß Slim plötzlich hervor. Auch mit dem Freund an seiner Seite, der mittlerweile einigermaßen fest auf seinen eigenen zwei Beinen stehen konnte, wollte er die furchtbaren Augenblicke jetzt nicht noch einmal durchleben. "Verdammt, ich hab' das so oft sehen müssen, immer und immer wieder, weil ich es einfach nicht vergessen kann. Verlang jetzt bitte nicht von mir, daß ich …"

"Nein, natürlich nicht! Es … es tut mir leid, das … das wollte ich nicht. Aber als ich hier stand, ist es … Weißt du, es ist irgendwie über mich gekommen." Mit zitternder Hand fuhr sich Jess über sein hohlwangiges Gesicht. "Ich glaube, das ist die Langeweile."

Der Rancher beobachtete ihn skeptisch, wie er mit der Rechten vorsichtig über die Stelle rieb, wo unter dem festen Verband seine Wunde brannte wie Feuer und ein dumpfer Schmerz bis über die linke Schulter in seinen Arm strahlte. Sein wie versteinert wirkendes Gesicht verriet deutlich, daß diese ganze Geschichte für ihn weitaus lebendiger war und ihn mehr beschäftigte, als er zugeben wollte, nicht nur was sein physisches Trauma betraf.

"Hast du Schmerzen?" fragte Slim besorgt, weil er einfach nicht länger schweigend dabei zusehen konnte, wie er sich quälte.

"Nicht schlimm. – Mike sagte mir, er hätte Angst davor, daß der Kerl zurückkommt und es noch mal versucht."

"Und du? Hast du keine Angst?"

Es war dieser Tonfall, in dem nur sein Freund mit ihm reden durfte. Jess sah ihn beinahe verkniffen an. Dann wich er seinem fast herausfordernden Blick aus.

"Vielleicht … ich weiß es nicht."

"Aber ich weiß es." Slim legte ihm die Hand auf die gesunde Schulter. "Du hast genau die gleiche Angst wie der Junge. Wir alle haben sie. Oder denkst du, ich fürchte mich nicht davor, daß dieser Halsabschneider das zu beenden versucht, was ihm beim ersten Mal nicht gelungen ist? Und wenn es noch so unwahrscheinlich ist, daß der Kerl ein zweites Mal hier auftaucht, wird mir diese Angst niemand nehmen können. Ich habe keine Angst vor diesem Killer, sondern davor, daß ich so etwas noch einmal so tatenlos geschehen lassen muß. Von dieser Vorstellung krieg' ich Alpträume, das kannst du mir glauben!"

Dieses offene Geständnis schien bei Jess die innere Spannung zu lösen. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er über seine Stirn.

"Du hast recht", gab er dann zu. "Ja, ich habe Angst. Nicht meinetwegen, denn es ist schließlich nicht das erste Mal, daß es jemand auf mich abgesehen hat, zudem es tatsächlich unwahrscheinlich sein dürfte, daß unser Freund noch mal zurückkommt. Nein, in der Beziehung hab' ich nicht mehr oder weniger Angst als bisher auch. Mit dem Risiko, so ein Ding verpaßt zu bekommen, leb' ich schließlich schon fast mein ganzes Leben lang. Ich geb' mich auch keinerlei Illusionen hin, ich könnte einmal anders als eines gewaltsamen Todes sterben. Das ist bestimmt auch nicht das, was mich beschäftigt oder gar beunruhigt. Ich meine, sterben müssen wir alle einmal früher oder später. Ich war dem Tod schon so oft sehr nahe – warum sollte ich ihn dann fürchten? Wenn man ihm entgehen will, ist Angst nur hinderlich, ja, gefährlich. Nein, ich habe keine Angst, weder vor diesem Wahnsinnigen, noch daß er zurückkommen könnte und es noch mal probiert, und auch nicht vor irgend jemand anderem. Ich habe nur davor Angst, daß … daß Mike so etwas ein zweites Mal erleben muß, daß sich so etwas noch einmal vor seinen Augen abspielt oder vielleicht sogar etwas Schlimmeres."

"Ich weiß, was du meinst. So gesehen, fürchten wir beide dasselbe."

"Ja", nickte Jess und schien irgendwie erleichtert, sich mit seinen Sorgen dem Freund anvertraut zu haben.

Am nächsten Morgen war Daisy wie jeden Tag um diese Zeit in der Küche mit dem Abwasch vom Frühstücksgeschirr beschäftigt, während Slim sich für wenige ruhige Minuten in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, um ein paar Eintragungen in den Ranchbüchern vorzunehmen. Diese Arbeit hatte er in den letzten Wochen sträflich vernachlässigt, denn er wollte das erheblich kürzer werdende Tageslicht des vorangeschrittenen Jahres lieber draußen für wichtigere Dinge ausnützen. Irgendwann war er jedoch mit der Buchführung derart ins Hintertreffen geraten, daß er wenigstens die größeren Posten vermerken wollte, um sie dann an einem der folgenden Abende ordentlich zu verbuchen.

Da Jess für Buchführung tatsächlich zwei linke Hände zu haben schien, wenn er sich ansonsten auch über Gebühr für die Ranch einsetzte und mehr an körperlichem Einsatz und praktischer Arbeit leistete als Slim Sherman selbst, blieb diese lästige Arbeit ständig an dem Rancher hängen. Für Jess wäre es zwar keine Zumutung gewesen, die Führung der Bücher im Notfall zu übernehmen. Vielmehr wäre es für denjenigen eine Zumutung geworden, der sie hinterher prüfen mußte.

Die Revolverschüsse störten Slim mitten in der Addition einer längeren Zahlenkolonne. Die Detonationen folgten ziemlich kurz aufeinander, offensichtlich ganz in der Nähe. Slim ließ den Federhalter fallen, daß die Tinte herausspritzte und auf dem Journalbogen blaue Tupfer hinterließ. Für einen Augenblick stand in seinem Gesicht nacktes Entsetzen. Die Erinnerung an die Situation während des Überfalls vor so vielen Wochen schoß wie ein dunkler Pfeil durch sein Gehirn.

All diese Wochen war er auf der Hut gewesen, und doch hatte der Zufall eine ähnliche Lage geschaffen wie damals, als er sich hatte überrumpeln lassen. Sollte sich jetzt alles wiederholen? Vor allen Dingen, wo war Jess? fuhr ihm die Frage durch den Kopf, die die schrecklichsten Visionen als Antwort heraufbeschwor. Seit dem Frühstück hatte er ihn nicht mehr gesehen. Slim war kreidebleich und für Sekunden wie gelähmt. In dem schweren Ledersessel wirkte er wie zur Salzsäule erstarrt. Geräuschvoll schluckte er.

Die Schrecksekunde dauerte bei ihm allerdings nur einen Bruchteil dessen, wie sie ihm erschien – unendlich lang. Mit einer fahrigen Bewegung riß er die unterste Lade seines Schreibtisches auf, wo er seit Wochen die Waffe des Freundes verwahrte, der bis jetzt nichts dagegen hatte und auch kein sonderliches Interesse zeigte, sich um sein Eigentum zu kümmern. Der sechsschüssige Colt war verschwunden und mit ihm der Patronengurt.

Slim war sich nicht sicher, ob er darüber erleichtert sein sollte. Vielleicht hatte der Freund nur beides an sich genommen, um sich mit Schießübungen die Langeweile zu vertreiben. Vielleicht war auch Mike am Schreibtisch gewesen … Nein, das glaubte er nicht. So etwas würde der Junge nicht tun. Außerdem war er gar nicht hier, sondern in der Schule. Vielleicht war auch irgendwo draußen schon ein schlimmer Kampf im Gange, in den sein Partner verwickelt war, während er hier über Zahlen und anderen unwichtigen Dingen gebrütet hatte. Es mußten ja nicht unbedingt die Kerle von damals sein. Poststationen wurden schließlich immer wieder das Ziel von Überfällen. Obwohl seine erste Überlegung das Wahrscheinlichste war, füllte sich sein Kopf mit noch tausend anderen Möglichkeiten.

"Verdammt, Jess!" entfuhr es ihm, als er hastig aufsprang und aus dem Zimmer stürzte.

Im Wohnzimmer stolperte er beinahe über Daisy, die ihm in die Arme lief, das Gesicht so kalkig wie die Wände in der Küche.

"Slim?" brachte sie nur hervor, Frage und Hilferuf zugleich.

"Wo ist Jess?" wollte er nur wissen, während er seinen Revolvergurt vom Haken neben der Tür riß. Im Nu hatte er ihn um die Hüften geschlungen und die Schnalle geschlossen.

"Ich … ich weiß nicht. Ich glaube, er ist draußen."

"Haben Sie ihn nicht gesehen?" Während er sprach, zog er den Colt aus dem Holster und prüfte aus reiner Routine, ob die Kammern der Trommel gefüllt waren.

"N… nein. Seit dem Frühstück nicht mehr. Ich habe nicht auf ihn geachtet. Ich habe nur vorhin die Haustür gehört. Meinen Sie … Oh, Slim, es wird doch nicht …" Sie preßte ihre vom Spülwasser noch nassen Hände an die Wangen.

Das Schießen hatte für eine Weile aufgehört. Slim eilte zum Fenster und schob vorsichtig die Gardine beiseite. Draußen im Hof war nichts und niemand zu sehen.

"Können … können Sie etwas erkennen?"

"Nichts! Keine Menschenseele! Alles ruhig!" Mit seinem letzten Wort setzte die Knallerei wieder ein, ein Schuß nach dem anderen in fast regelmäßigen Abständen. "Das ist hinterm Haus. Hört sich an wie von einer einzigen Waffe. Würde mich nicht wundern, wenn Jess selber diese Ballerei veranstaltet. Trotzdem bleiben Sie hier, Daisy! Es kann auch jemand anders sein."

Slim öffnete die vordere Haustür und huschte hinaus. Daß Daisy ein "Seien Sie vorsichtig!" murmelte, hörte er schon nicht mehr.

Obwohl sich der Rancher mittlerweile ziemlich sicher war, daß es sich bei dem Schützen um seinen Freund handelte, der irgendwo hinter dem Haus sich die Zeit mit Zielübungen vertrieb, konnte er das ungute Gefühl nicht ganz leugnen, das sich in seinem Magen breitmachte, als er ums Haus schlich. Wer immer es aus welchem Grund war, der da schoß – er wollte sich nicht unangenehm überraschen lassen.

Endlich konnte sich seine Erleichterung in einem lauten Seufzer äußern, der so tief aus seinem Inneren zu kommen schien, daß er seinen ganzen Körper zum Beben brachte. Drüben am Zaun der leeren Koppel, die sich den Hügel hinter dem Haus hinaufzog, legte Jess kleine Steine auf die oberste Latte des Weidetors, um sie als Zielscheiben zu verwenden. Aufatmend ließ Slim seinen Sechsschüsser ins Holster gleiten und gab durch die Hintertür Entwarnung für Daisy Cooper.

"Alles in Ordnung, Daisy!" rief er ins Haus. "Es ist tatsächlich nur Jess."

"Gott sei Dank!" mußte sich auch Daisy mit einem lauten Aufseufzen von dem bangen Erwarten, was das nur alles zu bedeuten hatte, befreien.

"Wir sind an der hinteren Koppel", erklärte er, um sie nachdrücklich zu beruhigen.

Jess sah ihn kommen, störte sich aber nicht weiter an ihm, sondern maß seelenruhig den Abstand und fegte dann mit wohlgezielten, kurz aufeinanderfolgenden Schüssen die Steine von der Zaunlatte. Keine einzige der vier Kugeln verfehlte ihr Ziel. Nach dem vierten Schuß senkte er die Rechte mit dem schweren Revolver.

"Du hast einen vergessen!" rief Slim aus einiger Entfernung, und im nächsten Augenblick spaltete seine Kugel den fünften Stein in zwei kleinere Brocken, die auseinanderspritzten und durch die Luft wirbelten.

"Irrtum!" Jess' nächsten beiden Schüsse klangen fast wie einer, zerfetzten nacheinander die zwei Steinbrocken in tausend Splitter, noch ehe sie zu Boden gefallen waren. "Den hab' ich für dich aufgehoben."

"Das war nicht schlecht", mußte Slim anerkennend zugeben; anscheinend war sein Freund nicht die Spur aus der Übung gekommen. Auf der einen Seite beruhigte ihn diese Tatsache, auf der anderen Seite bewirkte es jedoch genau das Gegenteil: es beunruhigte ihn im höchsten Maße.

"Nja, aber es könnte besser sein", war Jess nicht ganz so mit sich zufrieden; den zweiten Brocken hätte er beinahe nicht mehr erwischt. "Es stört mich gewaltig, daß ich für den zweiten Schuß zuviel Zeit benötige, weil ich den Hammer mit dem Daumen spannen muß, anstatt mit der linken Hand zurückschlagen zu können."

"Bei deiner Treffsicherheit brauchst du doch keinen zweiten Schuß. Ich frage mich, wozu du überhaupt übst."

Jess wich seinem forschenden Blick aus. Statt dessen beschäftigte er sich auffallend mit seiner Waffe, öffnete die Trommel und ließ die leeren Hülsen zu Boden fallen. Dann steckte er den Colt in den Hosenbund und füllte die Kammern mit frischen Patronen aus dem Gurt. Er schien es mit einer gewissen Gelassenheit zu nehmen, daß er im Augenblick nur eine Hand zur Verfügung hatte.

Im stillen mußte Slim seine Geschicklichkeit bewundern, wie er dies so rasch mit nur einer Hand bewerkstelligte. Daß und wie er es fertiggebracht hatte, mit eben nur einer Hand den Patronengürtel umzuschnallen, verblüffte ihn schon gar nicht mehr. Sicher hatte er bereits nach kürzester Zeit den Dreh gefunden.

"Aus purer Langeweile", kam nach einer Weile die lapidare Antwort, unterstrichen vom absichtlich lauten Schließen der Trommel.

Eine flinke Handbewegung, fast etwas fahrig wirkend, bugsierte den Revolver ins Holster. Slim vermißte die gelassene Geschmeidigkeit, mit der Jess sonst das Schießeisen handhabte. Vielleicht rührte diese leichte Gereiztheit von seiner momentanen Behinderung oder einer unbewußten Unsicherheit. Daß sie jedoch nur in seiner Einbildung existierte, war ausgeschlossen.

"Du hast uns jedenfalls mit deinem Geballere ganz schön erschreckt. Daisy und ich dachten schon … Na ja, wir dachten, es wäre was passiert."

"'tschuldige, ich hätte wenigstens Daisy vorwarnen sollen. Ich hatte völlig vergessen … Ich hab' wirklich nicht soweit gedacht."

"Schon gut." Slim trat auf ihn zu und schlug ihm kräftig auf die Schulter. "Sie wird es überleben. Trotzdem kannst du mir nicht erzählen, daß du nur aus Langeweile die Patronen verschwendest. Seit ich dich kenne, hast du das noch nicht getan."

"Vielleicht will ich mir damit etwas beweisen."

"Das soll wohl 'n Witz sein! Das kannst du jemand anderem erzählen, aber nicht mir."

"Das ist mein voller Ernst."

"Ja, und ich bin mein Onkel aus Philadelphia."

"Ich wußte gar nicht, daß du einen Onkel in Philadelphia hast."

"Sowenig wie du dir was beweisen willst."

Die zwei Männer sahen sich durchdringend an. Schließlich wandte sich Jess kopfschüttelnd ab.

"Du hast recht", gab er dann zu. "Eigentlich weiß ich selbst nicht genau, warum ich das tue. Zuerst wollte ich wirklich nur wissen, wie sicher ich meine Hand beherrschen kann. Das war 'ne lange Zeit gewesen. Vergiß nicht, ich mußte sogar erst wieder laufen lernen. Tja, und dann …" Jess machte eine hilflose Geste. "Ach, verflucht, ich weiß es nicht!"

"Es ist deine Angst, nicht wahr?"

Jess blickte hastig auf, holte Luft, um etwas Scharfes darauf zu erwidern, diese Behauptung weit von sich zu weisen. Dann jedoch besann er sich.

"Schon möglich." Ratlos fuhr er sich durchs Haar und ließ die Hand schwer auf den dunklen Walnußholzkolben seiner Waffe fallen, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein; eine gedankenlose Bewegung, von der er annahm, daß sie ihn eines Tages das Leben kostete. "Glaub mir, wenn ich es wüßte, fühlte ich mich bedeutend wohler. Wahrscheinlich ist es doch die Langeweile, das nutzlose Herumlungern, die Ungewißheit, was wird. Es macht mich einfach wahnsinnig! Am schlimmsten ist diese furchtbare Ahnung, daß das Ganze noch nicht ausgestanden ist."

"Wie meinst du das?"

"Noch nicht einmal das kann ich erklären." Jess starrte wie abwesend den Koppelzaun entlang. "Tut mir leid, Slim", sagte er plötzlich und blickte den Freund mit soviel Melancholie in den dunklen Augen an, daß diesem ganz anders zumute wurde. "Ich fürchte, ich bin im Moment ein einziges Nervenbündel für dich, für Daisy – und auch für mich selbst. Verdammt, ich glaube, ich kann mich selbst nicht leiden."

Slim kam wieder auf ihn zu und legte tröstend die Hand auf seine Schulter.

"He, Partner, ich glaube, du machst dir viel zu viele Gedanken."

"Wirklich?" Es klang sehr abweisend.

"Sei unbesorgt, du bist ganz sicher kein Nervenbündel – mit Sicherheit nicht!" bekräftigte der Rancher und verstärkte den Druck seiner Hand auf seiner Schulter. "Und ob du es glaubst oder nicht – ich versteh' dich. Ich weiß, was in dir vorgeht." Sein ernstes Gesicht hellte sich etwas auf. "Aber zwing mich ja nicht, es dir zu erklären. Das kann ich sowenig wie du. Nur eines will ich nie wieder von dir hören: das Wort 'nutzlos' mit dem bitteren Beigeschmack in deiner Stimme. Ich glaube, sonst gibt es ein fürchterliches Donnerwetter!"

Jess verzog ein paarmal den Mund, ehe er den Freund endlich von der Seite her ansah, nicht mehr ganz so verschlossen wie bisher, fast sogar mit einem verschämten Grinsen.

"Jetzt machst du mich beinahe neugierig."

"Heute noch nicht!" ging Slim erleichtert darauf ein. "Denk an deine Verletzung!"

"Na schön, dann werd' ich noch ein wenig üben. Das kann ich wenigstens einigermaßen, ohne daß ich gleich 'ne saftige Quittung präsentiert bekomme. Ich fürchte nur, daß wir dann die Weide so schnell nicht mehr benutzen können, weil sich sonst das Vieh die Zähne an dem vielen Blei ausbeißen wird." Sein Humor schien nicht bissig, sondern trocken. Offensichtlich hatte er den Tiefpunkt seiner Laune fürs erste überwunden.

"Na ja, jedenfalls beruhigt es mich ungemein zu wissen, daß du dich im Notfall wieder selbst verteidigen kannst."

"Ja, sofern man mir Gelegenheit dazu gibt. Entschuldige, Slim, das sollte gewiß kein Vorwurf sein. Bei Gott nicht!"

"Obwohl er berechtigt wäre."

"Nein, das ist er nicht!" entschied Jess, ungehalten über seine eigene Bemerkung. "Fang bitte nicht mit der alten Leier über deine angebliche Schuld an. Darüber möchte ich mich nicht schon wieder mit dir streiten. Du weißt so gut wie ich, daß das weder das erste noch das letzte Mal war, daß mich einer als Zielscheibe benutzt hat. Das trifft auch auf die Tatsache zu, daß es ein Hinterhalt war –" Slim holte Luft, um etwas einzuwenden, kam jedoch nicht zu Wort. "– den du nicht hättest verhindern können." Jess, der das Gefühl hatte, ihm etwas grob die Meinung gesagt zu haben, legte ihm zur Versöhnung die Hand auf den Unterarm. "Weißt du, obwohl ich annehme, daß es im Ernstfall bei einem weiteren Hinterhalt nicht viel nützen wird, werde ich in Zukunft das Haus nicht mehr ohne meine Kanone verlassen. Ich hoffe, daß dich das wenigstens etwas beruhigt."

Slim hob den einen Mundwinkel. Für einen Moment schien er zu überlegen, wie er darauf reagieren sollte. Schließlich ergriff er die angebotene Friedenspfeife. Auch er hatte nicht die geringste Lust, über dieses leidige Thema von Schuld oder Versagen zu diskutieren, bei dem sie ewig auf der Stelle traten, sich höchstens sinnlos die Köpfe heißredeten und als Resultat sich regelmäßig die Laune verdarben.

"Worauf du dich verlassen kannst!" bekräftigte er. "Ich kann ja schließlich nicht überall gleichzeitig meine Augen haben."

Sie grinsten sich gegenseitig an.

Während Slim daraufhin zum Haus zurückkehrte, wo er endlich seine Addition beendete, sammelte Jess ein paar weitere Steine, um den Bleigehalt der brachliegenden Weide noch etwas zu erhöhen.

Fortsetzung folgt