KAPITEL 18

Zu Beginn der kommenden Woche hatte es Jess endlich geschafft, seinen Partner zu überreden, den Zaun auf der nördlichen Weide in Ordnung zu bringen. Hinterher wußte er zwar kaum, wie er das fertiggebracht hatte, aber als er damit drohte, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, ließ sich Slim doch davon überzeugen, wie ernst es ihm war.

Jess bat ihn nur, einen ausreichenden Vorrat an Feuerholz zu hacken, damit sie wenigstens für eine Woche versorgt waren. Ansonsten wollte er die wichtigsten anfallenden Arbeiten zusammen mit Mike, so gut es ging, verrichten, ohne sich dabei zu sehr zu verausgaben, vorausgesetzt, sie waren überhaupt mit einer gesunden Hand zu erledigen.

Für die Instandsetzungsarbeiten am Nordzaun benötigte Slim tatsächlich zehn Tage, obwohl selbst diese Zeit gerade für die dringendsten Reparaturen reichte. Er mußte seinem Partner recht geben: der Zaun befand sich teilweise in katastrophalem Zustand, das war einfach nicht zu leugnen. Sobald im Frühjahr die Schneeschmelze vorbei war, mußten die übrigen Pfähle ausgetauscht werden. Damit wären sie gewiß zu zweit für mehrere Wochen vollauf beschäftigt. Ihm graute jetzt schon davor.

Als Slim zur Ranch zurückkehrte, war er allerdings wenig erfreut über ein weiteres lahmendes Pferd, das vom Gespann der nächsten Frühkutsche ausgetauscht werden mußte.

"Das ist schon das zweite innerhalb von zwei Wochen", brummte er unzufrieden und betastete die geschwollenen Sehnen am Vorderlauf des Tieres.

"Ja, und bei dem hier ist auch das Sprunggelenk heiß", stellte Jess nicht weniger unwirsch fest.

"Möchte wissen, woran das liegt."

"Wahrscheinlich am Beschlag."

Sie kontollierten die Hufe des Pferdes, worauf sich Jess' Vermutung bestätigte.

"Das Eisen ist schlecht geschmiedet. Hat wohl ein Anfänger angepaßt", stellte Slim fest.

"Nicht nur das. Hast du den inneren Stollen gesehen? Der ist viel zu hoch. Kein Wunder, daß das heiße Sehnen gibt. Eines steht fest, Pierce aus Laramie hat das Pferd nicht beschlagen. So 'ne Stümperei liefert der nicht als Arbeit ab."

"Wir sollten den Kutscher mal fragen, ob er was weiß. Auf jeden Fall muß das so schnell wie möglich aufhören, sonst können wir hier bald 'nen eigenen Tierarzt beschäftigen und 'nen extra Hufschmied einstellen."

"Ja, trotzdem sollten wir dem Gaul ein paar ordentliche Schuhe verpassen. Schließlich kann er nichts dafür."

Da Jess beim Beschlagen keine große Hilfe sein konnte und selbst beim Bedienen des Blasebalgs aufpassen mußte, daß ihn keine falsche Bewegung außer Gefecht setzte, nahm diese Arbeit viel Zeit in Anspruch. Mike kam bereits von der Schule nach Hause, als Slim gerade das vierte Eisen festnagelte. Er feilte noch die Hufränder glatt, dann nahm sich Jess des Vierbeiners an, führte ihn ein paarmal vorsichtig im Hof umher, um ihn an die neuen Eisen zu gewöhnen und genau beurteilen zu können, wie das Tier die verletzten Gelenke schonte.

"Ich glaube, das war genau das Richtige!" Er kam zum Stall zurück. "Ich werde die Gelenke erst einmal nur gut einreiben. Vielleicht können wir uns dann die Bandagen sparen."

"Aber denke dabei bitte nicht nur an das Pferd", erinnerte der Rancher, weil er der Meinung war, er könnte den Freund nicht oft genug ermahnen.

"Keine Angst, ich pass' schon auf", tönte es aus dem Stall, nicht ganz so gleichmütig, wie Slim erwartet hatte, daß er beifällig die eine Braue hochzog.

Zwei Tage später rollte die Frühkutsche mit erheblicher Verspätung in den Hof der Sherman-Ranch. Der Grund für diese Unpünktlichkeit war ein weiteres lahmendes Pferd.

Slim platzte beinahe der Kragen. Vom Kutscher erfuhr er, daß man auf der etwa fünfzig Meilen entfernten Milford-Station dazu übergegangen war, Pferde selbst zu beschlagen, um das Geld für den Hufschmied zu sparen und sich mit den Schmiedearbeiten ein – wenn auch kaum rentables – Zubrot zu verdienen.

"Soweit ich weiß, hat das Kellington befürwortet", erklärte der Kutscher, der auch nicht besonders glücklich über diese Neuerung zu sein schien. "Ich hatte ja schon auf der Dohannan-Farm den Verdacht, daß mit dem Gaul was nicht stimmt, aber Dohannan meinte, er sei in Ordnung. Ich kann ihm keinen großen Vorwurf machen bei seinem bißchen Pferdeverstand."

"Und wir haben die Arbeit und den Ärger damit!" schimpfte Slim, nicht ganz zu Unrecht.

"Na ja, Slim, im Grunde ist es auch nicht Milfords Schuld. Du weißt, der Mann tut sein Bestes. Und er hat's wirklich nicht leicht da draußen, wo sich die Wölfe gute Nacht sagen. Er versteht's halt nicht besser."

"Nja, wahrscheinlich weiß er gar nicht, was er da für einen Pfusch abliefert. Auf jeden Fall kann es so nicht weitergehen. Wir haben hier schließlich noch andere Arbeit, als uns ständig um diese lahmenden Zottelschwänze zu kümmern."

"Sag das nicht mir." Der Kutscher hob resigniert die Schultern, ehe er wieder auf den Bock kletterte. "Ich hab' versucht, sowohl mit Milford als auch mit Kellington zu reden. Der eine behauptet, ich verstünde nichts von Schmiedearbeiten, der andere riet mir, mich nur um die Einhaltung des Fahrplans zu kümmern. Was soll ich da machen?"

"Typisch Kellington! Vielleicht solltest du heute nicht versuchen, die Verspätung aufzuholen."

"Keine schlechte Idee."

Der Kutscher knallte als Bekräftigung mit der Peitsche, und das schwere Gefährt rollte Richtung Laramie in die diesige Morgenluft.

"Und, was hat Lew gesagt?" wollte Jess wissen, der sich vorm Stall bereits an dem lahmenden Pferd zu schaffen machte, als sein Freund mit finsterer Miene auf ihn zukam.

"Die Pferde wurden wahrscheinlich auf der Milford-Station beschlagen."

"Beschäftigt Milford denn jetzt seinen eigenen Hufschmied? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich das lohnt."

"Tut es garantiert nicht, deshalb macht er's ja selbst."

"Milford und Pferde beschlagen? Nichts gegen Milford! Das ist bei Gott ein tüchtiger Kerl, aber von Schmiedehammer und Amboß sollte er besser die Finger lassen."

"Genau das hat ihm Lew auch gesagt."

"Und?"

"Milford behauptete, Lew verstünde nichts davon."

"Und Kellington? Weiß der davon?"

"Der hat Lew geraten, sich um seinen Fahrplan zu kümmern."

"Es ist wirklich verflucht schade, daß ich mich mit dem da herumplagen muß!" japste Jess, weil er sich fast nicht mehr beherrschen konnte, während er mit dem Daumen auf seine Brust deutete. "Ich würde zu gerne mal aus Leibeskräften lachen."

"Ich finde das überhaupt nicht zum Lachen!" schimpfte Slim, was sich jedoch nicht auf den bitteren Sarkasmus des Freundes bezog, sondern auf die Tatsache, daß sich offensichtlich keiner außer ihnen Gedanken um dieses Problem machte. "Heute mittag werd' ich in die Stadt fahren und Kellington selbst die Meinung blasen. So kann es jedenfalls nicht weitergehen."

Allerdings kam Slim heute nicht mehr zum Vorbringen seiner Beschwerde, denn schon als Mike von der Schule heimkehrte, begann es zu regnen. Bald schüttete es dermaßen, daß der Rancher die Fahrt in die Stadt lieber auf einen späteren Zeitpunkt verschob.

Der Wetterumschwung bereitete Jess erhebliche Probleme, was sich vor allem in einem verstärkten Hustenreiz und beginnender Atemnot äußerte. Für den Rest des Tages blieb er im Haus. Daß ihm dies heute nicht schwerfiel, hing nicht nur an dem strömenden Regen, der den ganzen Nachmittag über wie Sturzbäche aus einem bleiernen Himmel rauschte, sondern zum guten Teil an seiner Einsicht, sich nach den allzu deutlichen Warnsignalen seines schnell vor Erschöpfung rebellierenden Körpers zu richten, der sich an diesem verregneten Nachmittag besonders vernachlässigt zu fühlen schien. So kam es, daß sich Jess gleich nach dem Abendessen in sein Zimmer zurückzog, obwohl ihn Mike gerne noch ein wenig für sich in Anspruch genommen hätte.

In der Nacht hörte es auf zu regnen. Später klarte es sogar teilweise auf, daß ein wäßriger Vollmond ein fades, kaltes Licht verbreitete, das im Wohnhaus der Sherman-Ranch geisterhafte Schatten warf, wo es durch die Fenster fiel, an denen die Läden nicht geschlossen waren.

Irgendwann schreckte Slim plötzlich auf, ohne genau zu wissen, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Gebannt lauschte er in die Dunkelheit. Rasch über die Mondscheibe ziehende Wolkenfetzen ließen die tiefen Schatten in seinem Zimmer wie Dämonen auf und ab tanzen.

Es war alles ruhig. Slim schüttelte schlaftrunken den Kopf und drehte sich brummend auf die andere Seite, wobei er die Decke bis beinahe über die Ohren zog. Gerade wollte ihn ein wohliger Schlaf in sein Schattenreich entführen, als er abermals hochschreckte. Für einen Moment saß er aufrecht im Bett, horchte angestrengt. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß im Haus etwas nicht stimmte.

Da er nicht wußte, ob er sich das alles nur einbildete, wollte er lieber nachsehen. Er warf die Decke von sich und schlüpfte in seine Hosen. Das Mondlicht spendete soviel Helligkeit, um sich zurechtzufinden. Aus der Nachttischschublade fingerte er einen Revolver. Er hatte hier oben immer eine Waffe versteckt, weil er den Patronengurt mit seinem Sechsschüsser meist unten in der Diele vergaß. Eine leichtsinnige Angewohnheit, wie er schon oft gedacht hatte, die ihm heute nacht jedoch besonders fahrlässig erschien.

Draußen auf dem Gang blieb er stehen, um abermals zu lauschen. Jetzt war er ganz sicher, daß sich im Erdgeschoß jemand oder etwas herumtrieb. Vielleicht waren es nur ein paar Mäuse oder Ratten, die durch die Ritze der Falltür aus dem Keller gekrochen waren, um sich in der Küche an den Resten vom Abendbrot gütlich zu tun, obwohl das nicht mehr vorgekommen war, seit Daisy ein schweres Stück Sisalteppich über die Klappe gebreitet hatte.

Genausogut konnte es sich um einen oder mehrere Einbrecher handeln, die da unten im dürftigen Mondlicht nach etwas suchten, was auch nur im entferntesten nach wertvoll genug aussah, um auf einem nächtlichen Raubzug als Beute zu dienen. Oder ein Tier hatte sich ins Haus verirrt, weil die Hintertür nicht verschlossen war, und wütete nun im Schlaraffenland der Küche. Wenn er sich die Zeit genommen hätte, wären Slim gewiß noch ein Dutzend weitere Möglichkeiten eingefallen.

Der Rancher blickte den Flur entlang, ob hinter einer der Türen Licht durch den Bodenspalt fiel. Die übrigen Bewohner schienen jedoch nichts gemerkt zu haben. Auch hinter der Tür des Schlafzimmers seines Freundes war es dunkel. Jess, der normalerweise einen sehr leichten Schlaf hatte und eine Gefahr noch früher erkannte als er, war seit seiner Verwundung in dieser Beziehung allerdings keine zuverlässige Hilfe mehr, denn oftmals schlief er so fest, daß Slim sogar dachte, er hätte Laudanum geschluckt.

Slim wollte den Freund nicht stören, vor allem, weil er sich am Vortag nicht besonders wohl gefühlt hatte. Nachher waren es tatsächlich nur ein paar hungrige Mäuse, derentwegen er ihn geweckt hätte. Das wollte er gewiß nicht.

Vom oberen Treppenabsatz entdeckte er, daß die Küchentür nur angelehnt war. Der schwache Schein einer mit kleiner Flamme brennenden Petroleumlampe fiel durch den schmalen Spalt. Mäuse oder Ratten trieben sich gewiß nicht in der Küche herum. Soviel stand fest.

Von da an hatte Slim zwar einen bestimmten Verdacht; dennoch wollte er vorsichtig sein. Lautlos schlich er die Treppe hinunter. Mit dem Lauf des vorgehaltenen Revolvers drückte er langsam die Küchentür auf, die sich geräuschlos in den Angeln bewegte.

"Das hätte ich mir ja denken können!" entfuhr es ihm, als er Jess am Spülbecken entdeckte, wo er sich frischgepumptes Wasser übers Gesicht laufen ließ.

Bei Slims Worten zuckte er zusammen wie jemand, der sich bei irgend etwas ertappt fühlte. Mit der Hand wischte er sich das Wasser aus den Augen. Dann wandte er sich halb um, wobei er sich auf den Spülenrand stützte und emsig bemüht war, seine Schwäche zu verbergen.

"Willst du mich mit dem Ding erschießen?" fragte er, auffällige Arglosigkeit schlecht spielend.

"Was?" reagierte Slim ein wenig verwirrt. Ihm war anscheinend gar nicht recht bewußt, daß er in der Rechten die Waffe hielt, deren Lauf halb auf den Freund gerichtet war. "Unsinn!" Ärgerlich über seine Fahrlässigkeit, steckte er den Revolver in den Hosenbund. "Ich dachte, irgend so ein Herumtreiber wäre hier eingebrochen. Sag mal, was in drei Teufels Namen machst du denn hier unten, halb nackt? Du willst dir anscheinend mit Gewalt den Tod holen."

"Es ist … wohl eher umgekehrt und er holt mich."

"Verdammt, was ist denn los mit dir?" Slim kam mit energischen Schritten auf ihn zu und griff ihm an die Schulter. "Ist dir nicht gut? Meine Güte, du siehst ja schlimm aus!" Nicht fähig zu antworten, beugte sich Jess stöhnend nach vorn, als krümmte er sich unter einer erdrückenden Last. "Himmel, du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten." Der Rancher packte ihn fest um die Schultern und geleitete ihn zu einem Stuhl am Küchentisch. "Setz dich erst mal hin!" Er holte ihm ein Glas Wasser. "Hier, trink!"

Jess gehorchte kommentarlos. Dann stützte er sich mit dem Ellbogen auf die Tischplatte, um seine Faust, den Unterarm als verstärkenden Hebel benutzend, gegen seine schmerzende Brust zu drücken.

"Verdammt, tut das weh!" Es klang wie das Wimmern eines getretenen Hundes. "'tschuldige!" stieß er mühsam hervor. "Ist bestimmt gleich vorbei."

"Kann ich dir irgendwie helfen?"

Jess schüttelte kaum merklich den Kopf.

"Nein!" keuchte er. "Ist … ist wie ein Krampf." Erschöpft blickte er endlich auf. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. "Es … es geht schon wieder."

Slim beobachtete ihn skeptisch, wie er sich mit zitternder Hand übers Gesicht wischte. Er sah katastrophal aus. Genauso fühlte er sich auch.

"Was war denn nur?" versuchte Slim mit teilnehmender Behutsamkeit zu erfahren.

"Ich … ich bin wachgeworden." Jess schluckte schwer. Ihm war hundeelend. "Hab' auf einmal keine Luft mehr gekriegt. Ich weiß nicht, was los war. Ich weiß nur, ich dachte, ich müßte ersticken. Und dann diese unerträglichen Schmerzen! Jedesmal, wenn ich denke, ich hätte das endlich hinter mir, geht dieses Theater von vorne los!"

"Aber warum bist du dann bloß hier heruntergekommen?"

"Ich weiß es auch nicht." Ein wenig ratlos blickte Jess zu ihm auf. "Mir war furchtbar schwindlig, nein, eher schlecht", korrigierte er sich selbst. "Mein Gott, war mir schlecht! Ich … ich dachte, ich müßte mich übergeben."

"Hast du?"

"Nein, aber viel fehlte nicht mehr. Wahrscheinlich … wahrscheinlich hat das die frische Luft verhindert. Hat jedenfalls gutgetan."

"Willst du damit sagen, daß du so draußen warst?"

"Nur an der Tür."

"Du mußt verrückt geworden sein!" entfuhr es Slim. "Sag mal, willst du … Allmächtiger, du willst dich anscheinend tatsächlich umbringen! Nimm dafür lieber deine Kanone!" riet er ziemlich aufgebracht. "Dich darf man wirklich keinen Moment aus den Augen lassen!"

"Was regst du dich so auf? Glaub mir, wenn ich das vorhätte, was du da faselst, könnte ich schon längst nicht mehr hier sitzen und mir deine Predigten anhören. Sollte ich vielleicht Daisys Küche vollreihern? Jetzt krieg dich wieder! Du guckst ja … Himmel, ich werd's schon überleben! Ich … ich werd' mich zumindest anstrengen", setzte er etwas kleinlaut hinzu, daß es sich wie ein nicht unerheblicher Zweifel an seinen eigenen Worten anhörte.

"Natürlich!" lenkte Slim ein, nur damit er zufrieden war; er wollte ihn bei seiner schlechten Verfassung heute nacht nicht gedankenlos reizen. "Aber wenn du so hier herumläufst, muß man das schließlich von dir denken."

Jess fuhr sich müde über Gesicht und Nacken.

"Ich glaube, wir sollten besser wieder nach oben gehen, ehe noch das ganze Haus wach wird. Ich möchte Daisy jetzt nicht begegnen und Mike erst recht nicht."

Jetzt war Slim wieder ganz der besorgte, verständnisvolle Kamerad, der ihm beim Aufstehen half. Aus eigener Kraft hätte er es kaum vermocht. Jess biß die Zähne zusammen. Mit einiger Anstrengung drückte er die Knie durch und zog sich an der Seite des Freundes hoch. Dabei kämpfte er eisern gegen den aufkommenden Schwindel und das Stechen, das sich zuerst spitz zwischen seine Rippen, dann dumpf in seine Brust bohrte, von wo aus es sich in seinem ganzen Oberkörper ausbreitete wie eine Feuersbrunst.

Irgendwie brachte es Slim fertig, ihn ins Bett zu schaffen ohne weiteren Zwischenfall. Während Jess sich stöhnend zurücklegte, ratschte Slim ein Streichholz an und machte Licht.

"Ich scheine tatsächlich das Wetter nicht zu vertragen", keuchte Jess und mußte sich auf dem Ellbogen hochstützen. "Sobald ich mich hinlege, ist mir zwar nicht mehr schwindlig; dafür habe ich das Gefühl zu ersticken."

"Warte, ich hole dir ein paar Kissen. Vielleicht geht es dann besser." Der Rancher öffnete die Verbindungstür zu seinem Zimmer, um gleich darauf mit zwei Kissen zurückzukommen, die er dem Freund unter den Rücken schob, daß er mit dem Oberkörper etwas höher lag.

"Danke."

"He, Partner, wenn du so aussiehst, brütest du meistens etwas Unangenehmes aus", stellte Slim, beunruhigt über seinen leeren Blick, fest.

"Ich hab' nur etwas überlegt. Gerade nach dem, was heute nacht wieder war … Weißt du, ich frage mich, ob das alles überhaupt noch einen Sinn hat."

"Wie meinst du das?"

"Ich habe einfach das Gefühl … Slim, mit mir stimmt etwas nicht." Jess sah mit einem seltsamen Blick zu ihm auf. Die abgrundtiefe Melancholie in seinen Augen jagte Slim eine Gänsehaut über den Rücken, die ihn selbst an einem sonnigen Hochsommertag zum Erschaudern gebracht hätte. "Ich meine, da drinnen." Er legte die Rechte auf seine Brust. "Verstehst du?"

"Ich glaube, jetzt phantasierst du."

"Ich war selten so klar im Kopf."

"Und was soll da deiner Meinung nach nicht stimmen?"

"Ich weiß es nicht, irgendwas halt. Ich bin schließlich kein Arzt. Jedenfalls ist es nicht normal, daß mich ständig dieser Husten überfällt, bei dem ich fast regelmäßig Blut spucke, Schmerzen zum Wahnsinnigwerden habe oder plötzlich keine Luft mehr kriege. Ich will gar nicht wissen, was sonst alles auf mich wartet. Daß ich immer noch aussehe wie ein schwindsüchtiger Tagedieb, ist dabei das allerharmloseste Übel. Das tut wenigstens nicht weh. Ich sage dir, da drinnen ist etwas nicht in Ordnung. Egal, was es ist, es wird mich über kurz oder lang umbringen. Soviel steht fest!"

"Das bildest du dir ein. Vergiß nicht, du selbst gehst nicht gerade zimperlich mit dir um. Bei so einer schweren Verwundung … Jess, jeder andere an deiner Stelle – sofern er das überhaupt überlebt hätte – würde noch im Bett liegen und nicht einmal ans Aufstehen denken. Und du willst schon wieder volle Arbeit leisten. Dabei bist du mit dir selbst unzufrieden, weil du einfach halt nicht so kannst wie normalerweise. Ich weiß zwar nicht, ob dich das tröstet oder dir hilft, aber offen gestanden, ich an deiner Stelle könnte das nicht."

"Du hast recht, es ist kein Trost und auch keine Hilfe. Wahrscheinlich gibt es überhaupt nichts mehr, was mir hilft."

"Tu und denk von mir aus, was du willst, aber gib dich um Himmels willen nicht selber auf! Nicht jetzt, nachdem du so lange gekämpft hast."

"Du glaubst gar nicht, wie schwer das manchmal fällt." Jess rieb sich über die brennenden Augen. "Ich fürchte, dieses Problem werden wir heute nacht nicht mehr lösen. Tut mir leid, daß ich überhaupt davon angefangen habe."

"Ich werde dir einen Krug frisches Wasser holen, falls du heute nacht noch einmal Durst kriegst."

"Laß doch!"

"Kommt nicht in Frage! Denkst du, ich will dich da unten ein zweites Mal überraschen? Stell dir vor, das nächste Mal erkenn' ich dich nicht gleich und schieß' aus Versehen auf dich. Das fehlte wirklich gerade noch."

"Vielleicht würde das mit einem Schlag alle Probleme lösen", murmelte Jess vor sich hin, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

In der Küche füllte Slim eine Karaffe mit Wasser, löschte das Licht und kam wieder nach oben. Diesmal schloß er die Zimmertür hinter sich.

Keiner der beiden Freunde ahnte, daß Daisy Cooper Teile ihres Gesprächs mitgehört hatte. Sie war wachgeworden und aufgestanden, um nachzusehen, was los war oder ob sie helfen konnte. Auf dem Gang hatte sie die offene Tür zu Jess' Zimmer gesehen und daß drinnen Licht brannte.

Gerade als sie fragen wollte, ob sie gebraucht wurde, hörte sie Jess von seiner finsteren Ahnung reden. Sie wollte bestimmt nicht lauschen, denn Heimlichkeiten hatte es in diesem Haus noch nicht gegeben, solange sie sich erinnerte. Aber der schwermütige Tonfall, der in seiner sonst sonoren Stimme wie eine schlecht gestimmte Saite mitschwang und der überdeutlich seine Resignation dokumentierte, lähmte sie, daß sie wie unter Zwang eine Weile auf dem dunklen Flur verharren mußte und notgedrungen seine ernsten Worte hörte.

Sie berührten sie so tief, daß sie es nicht mehr übers Herz brachte, sich bemerkbar zu machen. Stillschweigend zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

Lange Zeit konnte sie nicht mehr einschlafen, starrte traurig an die dunkle Decke über sich. Dabei füllten sich ihre Augen allmählich mit Tränen.

Am nächsten Morgen, als Daisy mit Slim allein war – Mike war bereits auf dem Weg zur Schule, und Jess schlief noch nach der für ihn so anstrengenden Nacht –, stellte die Frau den Rancher ohne Umschweife zur Rede.

"Slim, was war denn heute nacht?"

"Was soll schon gewesen sein?" wich er aus; er hatte eigentlich nicht die geringste Lust, ihr von dem Zwischenfall zu erzählen, weil er sie nicht beunruhigen wollte.

Daisy blieb jedoch hartnäckig.

"Versuchen Sie nicht, mir etwas zu verheimlichen! Ich bin wachgeworden, habe in Jess' Zimmer Licht gesehen und Stimmen gehört. Es ging ihm nicht gut, nicht wahr?"

"Vor Ihnen kann man tatsächlich nichts verbergen."

Slim gab es auf. Er hätte es wissen müssen. Dieser Frau war einfach nichts vorzumachen. Im Grunde war er sogar froh, daß sie ihm Gelegenheit bot, darüber zu sprechen.

"Hatte er wieder einen Hustenanfall?"

"Nein, es war ihm nur schwindlig und furchtbar schlecht. Anscheinend hat sein Kreislauf verrückt gespielt. Wahrscheinlich verträgt er den plötzlichen Wetterumschwung nicht."

"Das kann schon sein", nickte die Frau, obwohl sie genauso wie er eher den Verdacht hatte, daß der eigentliche Grund nur nebensächlich mit dem naßkalten Wetter zusammenhing. "Slim, ich habe … gehört, was er gesagt hat."

"Was gesagt hat?" vergewisserte er sich vorsichtshalber, ehe er ihr etwas erzählte, was nicht unbedingt notwendig gewesen wäre.

"Über sich und seine Ahnung, daß etwas nicht mit ihm in Ordnung ist."

"Jetzt fangen Sie auch noch davon an!"

"Slim, ich fürchte, er hat recht."

Der Mann starrte sie an wie jemand, der nicht genau wußte, wen er vor sich hatte. In den wenigen schweigsamen Sekunden, die jetzt folgten, versuchte er, über diese Bemerkung und seine eigenen Gedanken, die er konsequent verdrängen wollte, ins klare zu kommen. Daisy erwiderte unverwandt seinen Blick, bis er die Augen niederschlug, um sie gleich darauf mit einem gewissen Wehmut wieder anzusehen. Es hatte keinen Sinn, ihr etwas vorzutäuschen, was sie längst durchschaut hatte.

"Gesetzt den Fall, es wäre so – was dann?"

Jetzt wich sie seinem Blick aus. Sie streifte die Zeit, in der sie zusammen mit ihrem Mann im Lazarett gearbeitet hatte, mit einem flüchtigen Gedanken. Weit mehr als zehn Jahre waren seit Ende des Krieges vergangen, aber die Erinnerung an das Leid und Elend der Verwundeten war noch so lebendig, daß sie die entsetzlichen Bilder fast genauso deutlich vor sich sah wie jene, die sich ihr erst vor kurzem hier auf dieser Ranch boten. Wenn es tatsächlich stimmte, was die Erfahrung sie gelehrt hatte, konnte es für den Mann, den sie inzwischen lieben gelernt hatte wie einen eigenen Sohn, keine Zukunft geben.

"Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Es ist wie eine Ahnung, die ich nicht beschreiben kann, verstehen Sie?"

"Sie reden schon wie Jess", stellte er unzufrieden fest.

"Ich weiß. Und nicht nur wie er, sondern auch wie Sie. Vielleicht machen wir uns nur alle gegenseitig verrückt. Wer weiß! Vielleicht lachen wir in ein paar Wochen oder Monaten nur darüber, daß wir uns so kindisch benommen haben. Oder aber wir stehen bis dahin …"

"… vor seinem Grab", vollendete er ziemlich geradeheraus den angefangenen Satz. "Das wollten Sie doch sagen!"

"Ich weiß nur eines: bei allem, was auch geschieht, dürfen wir die Hoffnung nicht verlieren. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir zwar, daß das zwecklos ist. Aber irgendein Gefühl, das ich nicht erklären kann … Slim, ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Gott ihm erst einen Schutzengel schickt, nur um ihn hinterher seinem Schicksal zu überlassen."

"Gerade eben haben Sie aber etwas ganz anderes gesagt."

"Ja", nickte sie ernst. "Das vorhin war mein Verstand. Eben haben Sie mein Herz gehört. Glaube und Hoffnung können nur aus dem Herzen kommen, niemals aus dem Verstand. Den brauchen wir, um Realitäten zu erkennen. Für eine Lösung müssen wir beides bewegen."

"Ach, Daisy, das will ich Ihnen gerne glauben. Trotzdem habe ich bei der Sache ein ungutes Gefühl", gab er nun doch ehrlich zu, denn es hatte wenig Sinn, auf Dauer so auffällig gegen seine Überzeugung zu reden; Daisy hätte ihm das auf keinen Fall abgenommen.

"Das haben wir alle", erinnerte sie mit einem tiefen Seufzen.

"Lassen Sie sich bitte nichts anmerken. Ich bin sicher, daß es ihn nur noch mehr belasten würde, wenn er wüßte, was Sie heute nacht … Ich meine … Sie verstehen schon."

"Machen Sie sich darüber keine Gedanken."

Besonders begeistert war Slim heute nicht mehr von seinem Vorhaben, in die Stadt zu fahren, um Arthur Kellington, dem Leiter der hiesigen Zweigstelle der Postgesellschaft, die Meinung zu sagen wegen der unordentlichen Schmiedearbeiten und der daraus resultierenden Ausfälle bei den Gespannpferden. Das hatte weniger mit dem eigentlichen Anlaß zu tun als vielmehr mit dem Vorfall letzter Nacht. Als nach dem Mittagessen Mike jedoch versprach, streng auf seinen Pflegevater aufzupassen und Daisy sich als tatkräftige Unterstützung anschloß, ließ sich Slim endlich dazu überreden anzuspannen.

Zum erstenmal seit Wochen ließ er sich wieder in der Stadt blicken. Zuerst gab er in Burkes Kolonialwarengeschäft Daisys Einkaufsliste ab. Am Ende seiner Runde lag ein kurzer Besuch bei der Bank, der der erfreulichste des gesamten Nachmittags war.

Die Ranch war endlich schuldenfrei. In diesem Jahr hatten sie sogar einen beträchtlichen Überschuß erwirtschaftet. Mit Jess hatte er abgesprochen, einen Teil ihres Gewinns im Frühjahr in den Bau eines neuen Schuppens zu stecken und bei nächstbester Gelegenheit ein ordentliches Stück Land dazuzukaufen, damit sie ihre Herde vergrößern konnten. Darüber hinaus blieb eine stolze Summe als Privateinnahme für jeden von ihnen übrig. Nach acht Jahren harter gemeinsamer Arbeit hatten sie aus dem völlig heruntergewirtschafteten, hoch verschuldeten Anwesen eine grundsolide Existenz geschaffen.

Bei aller Freude darüber beschlich Slim beim Verlassen des Bankgebäudes plötzlich eine schreckliche Ungewißheit, ob Jess überhaupt Zeit und Gelegenheit bekam, die Früchte dieser harten Arbeit zu ernten. Jedenfalls hätte er selbst sofort alles verpfändet oder sogar ohne Gegenleistung darauf verzichtet, wenn er damit dem Freund hätte in irgendeiner Weise helfen können. Lieber wollte er mit ihm zusammen noch einmal von vorn anfangen und weitere acht Jahre schuften, als daß er ihn oder seine Gesundheit dem Schicksal preisgegeben hätte. Slim befürchtete allerdings, daß dieses Problem so leicht nicht zu lösen war. Gewiß hätte er darüber länger und intensiver nachgegrübelt, aber der Weg zur Poststelle, wo sich Arthur Kellington in einem Nebenraum ein feudales Büro eingerichtet hatte, war zum Glück nicht weit.

Slim betrat den Schalterraum, in dem ein Angestellter Postsäcke verschnürte und kontrollierte, ob all die verschieden großen Päckchen und Pakete den Verpackungsvorschriften der Gesellschaft entsprachen. Slim grüßte zwar freundlich, ließ aber an seinem Tonfall erkennen, daß er an keinem weiteren Gespräch interessiert war.

"Ist Mr. Kellington in seinem Büro?"

"Er ist da. Er wird sich freuen, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen."

Slim nickte nur, klopfte und wartete ein "Herein!" gar nicht erst ab, sondern trat sofort in das angrenzende Büro, das auf ihn durch seine Überladenheit an Plüschmöbeln und sonstigen Pseudokostbarkeiten wenig einladend wirkte. Aber Kellington schien sich in diesem "Panoptikum", wie Jess dieses ungemütliche Geschäftszimmer zu nennen pflegte, wohlzufühlen.

Arthur Kellington – ein Mann um die Fünfundvierzig, groß, hager und strohblond, mit seinen weichen Gesichtszügen und den wasserhellen Augen mehr wie ein in die Höhe geschossener Jüngling wirkend als ein fähiger Geschäftsmann, der er jedoch wider allen Erwartens war – thronte hinter seinem Schreibtisch, auf dem so viele Bilderrahmen mit Miniaturen seiner Familie, Figürchen und anderer Firlefanz aufgebaut war, daß sich Slim wunderte, wieso auf der Mahagonietischplatte überhaupt noch Platz zum Arbeiten war.

Als der Mann von den Unterlagen aufblickte und den Besucher erkannte, fing er an, genauso zu strahlen wie der blankgeputzte Messingfuß seiner Schreibtischlampe.

"Slim!" rief er erfreut, sprang wie eine Uhrenfeder aus seinem hochlehnigen Ledersessel und streckte dem Mann vor dem Schreibtisch seine gepflegte Hand entgegen. "Das ist aber eine Überraschung! Sie haben sich ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr hier blicken lassen! Nehmen Sie doch Platz und stehen Sie nicht herum wie ein Fremder!"

Nach einem ausgiebigen Händeschütteln, bei dem Slim Mühe hatte, mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen zu bleiben, ließ er sich etwas umständlich auf dem für seine Begriffe zu weich gepolsterten Besucherstuhl nieder, jeden Augenblick damit rechnend, daß das verspielt dekorierte Möbelstück seinem Gewicht nicht standhielt. Kellington bot ihm der Höflichkeit wegen eine Zigarre an, obwohl er genau wußte, daß sich Slim aus dem Kraut nichts machte und, wie erwartet, dankend ablehnte.

"Aber einen Brandy trinken Sie mit mir?"

Das konnte der Rancher nicht abschlagen, eben der Höflichkeit wegen, und nachdem das allgemeine Begrüßungszeremoniell überstanden war, wollte Slim gleich zur Sache kommen, um sich durch die überschwengliche Freundlichkeit nicht weiter einlullen zu lassen. Er sah es sowieso als Fehler an, bis heute mit seinem Besuch gewartet zu haben, denn wenn er eine Beschwerde oder ein Anliegen nicht sofort an den Mann bringen konnte, verlor sein Auftreten rasch an der gewünschten energischen Heftigkeit, zudem er in diesem Fall nichts Grundsätzliches gegen seinen Gesprächspartner hatte, vorausgesetzt, der Kontakt spielte sich zwanglos auf einer mehr oder weniger oberflächlichen Ebene ab.

Früher hatte er etwas mehr Respekt vor diesem jungenhaften Schreibtischtäter, repräsentierte er immerhin eine angesehene Firma, auf deren Konzession das wirtschaftliche Fortkommen der Ranch zum Teil in beträchtlichem Maße angewiesen war. Heute stellte diese Geschäftsbeziehung keine lebensnotwendige Grundlage mehr dar. Sie bildete vielmehr eine lukrative Nebenbeschäftigung, manchmal allerdings mit mehr Arbeit und Ärger verbunden, als die Sache abwarf, daß sich Slim wieder einmal, genau in diesem Augenblick, vornahm, bei passender Gelegenheit mit Jess über diese Sache zu sprechen.

Schließlich war es gerade sein Partner, von dem diese Gesellschaft am meisten profitierte, wenn er ihre Kutschen begleitete und dabei nicht selten Kopf und Kragen riskierte, ohne im entferntesten den angemessenen Lohn oder wenigstens Dank dafür zu erhalten. Nicht nur, daß diese Fahrten oftmals riskant waren, vor allem, wenn es sich dabei um den Transport von Bank- oder Lohngeldern sowie diverser anderer Kostbarkeiten handelte, sondern auch, daß Jess dann jedesmal für mehrere Tage für die normale Rancharbeit ausfiel, und das häufig im Sommer, wenn der Weidebetrieb seinen vollen Einsatz forderte. Je mehr sich Slim die Sache mit der Konzession und der damit verbundenen Gefälligkeiten, sei es aus Verantwortungsgefühl oder Gutmütigkeit von seiten seines Freundes, überlegte, desto mehr wuchs sein Entschluß, die Angelegenheit in einer geeigneten Minute mit Jess ernsthaft zu bereden.

Aber heute war er nicht gekommen, um dieses leidige Thema zu debattieren, sondern um sich über lahmende Pferde und miserable Schmiedearbeiten zu beklagen. Ehe Slim jedoch seine Beschwerde vorbringen konnte, fing Kellington von etwas ganz anderem an.

"Was da mit Jess passierte, ist ja eine ganz furchtbare Geschichte! Als ich davon in der Zeitung las, war ich wie vom Schlag getroffen. Hat sich das tatsächlich alles so abgespielt?"

Über dieses Thema wollte sich Slim eigentlich am wenigsten unterhalten, weder mit Arthur Kellington noch mit sonst jemandem. Aber anscheinend war die halbe Stadt neugierig darauf, die Sache endlich aus erster Hand zu erfahren. Eines mußte Slim jedoch zugeben: bei den wenigsten handelte es sich dabei um reine Neugierde. Vielmehr konnte er echtes Interesse, ja, Anteilnahme aus den Fragen nach Jess' Befinden deutlich heraushören. Allem Anschein nach war es ihnen nicht ganz so gleichgültig, was aus ihm wurde, wie er zunächst angenommen hatte. Mittlerweile schätzten sie offensichtlich doch mehr ihn selbst als Mitglied ihrer Gemeinde und nicht nur die Tatsache, daß er mit der Waffe schneller und besser umgehen konnte und sie deshalb den entsprechenden Respekt vor ihm hatten.

Allerdings hatte Jess nie Wert darauf gelegt, diese Fähigkeit besonders zu betonen. Wenn er für sie oder das Wohl der Stadt seinen Hals riskierte, dann tat er es niemals, um zu demonstrieren, welch ein toller Kerl er war, sondern weil ihm sein Verantwortungsgefühl keine andere Wahl ließ. Jess war der Meinung, daß jeder das zu tun hatte, wozu er fähig war. Von Leuten wie zum Beispiel Arthur Kellington würde er nie verlangen, daß er sich um die Sicherheit einer wertvollen Fracht selbst kümmern sollte. Dieses Unterfangen mußte zwangsläufig im Ernstfall schiefgehen, denn Kellington wußte mit einem Gewehr nicht mehr anzufangen, als es zu Dekorationszwecken an die Wand zu hängen. Hingegen hätte die Gesellschaft nach kürzester Zeit Konkurs anmelden müssen, wenn Jess sich an den Büchern mit Buchhaltung versucht hätte. Ein totales Chaos wäre die Folge gewesen, in das kein Revisor je wieder Ordnung hätte bringen können.

Grundsätzlich war Slim zwar der gleichen Meinung, hatte jedoch gerade im Fall Arthur Kellingtons den Verdacht, daß dieser das Verantwortungsbewußtsein Jess Harpers schamlos auszunutzen wußte, indem er aus Kostengründen den regulären Begleitfahrer einsparte, in der Hoffnung, Jess nähme von sich aus die Sache in die Hand, weil dieser es sich nie verziehen hätte, wenn einem befreundeten Kutscher unterwegs etwas zugestoßen wäre. Trotzdem mußte Slim zugeben, daß in Kellingtons lebhafter Reaktion nicht das Geschäftliche dominierte, sondern auch bei ihm eine ernsthafte Anteilnahme an Jess' Person und nicht an ihm als Wirtschaftlichkeitsfaktor im Vordergrund stand. Das wiederum verwirrte ihn mehr, als er im ersten Moment bewußt registrierte, so daß er überraschend bereitwillig auf das Thema einging.

"Gary Morgan hat die Sache ziemlich realistisch dargestellt. Jedenfalls hat er nicht der Sensation wegen übertrieben."

"Wie geht es ihm denn?"

"Gott sei Dank besser, aber es wird eine ganze Weile dauern, ehe er wieder der alte ist."

"Ich wollte das lange Zeit nicht glauben. Ich dachte, es müßte eine Verwechslung vorliegen, bis ich durch Zufall Gary Morgan traf, nachdem er die Steckbriefe gedruckt hatte. Selbst als der mir erzählte, in welch furchtbarem Zustand er Jess gesehen hat, dachte ich, das alles wäre Garys journalistischer Theatralik entsprungen. Ich redete mir einfach ein, daß er übertrieb."

"Ich weiß zwar nicht, wie er es Ihnen schilderte, aber egal wie, er hat bestimmt nicht übertrieben."

"Dann hat es Jess also tatsächlich so schwer erwischt?"

Slim nickte ernst und starrte an Kellington vorbei ins Leere; er mußte an letzte Nacht denken.

"Ja", sagte er geistesabwesend, "es ist ein Wunder, daß er noch lebt."

"Dann bin ich doppelt froh, daß er es so gut überstanden hat!"

"Nun, ich fürchte, überstanden hat er es noch nicht. Zwar muß er nicht mehr liegen, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß …" Slim ließ den Satz unvollendet.

"Das hört sich ganz so an, als ob Sie sich berechtigte Sorgen machten."

"Das hört sich nicht nur so an." Slim wich seinem forschenden Blick aus, indem er auf die Schreibtischplatte starrte. "Ich wünschte, es wäre anders, aber Tatsache ist, daß diese schwere Verwundung unübersehbare Spuren hinterlassen und seine Gesundheit gewaltig angeschlagen hat. Er ist trotz allem noch sehr krank, und ich habe wirklich verdammt allen Grund, mir Sorgen zu machen."

"Daß es so ernst ist, tut mir ehrlich leid", gab Kellington ohne Polemik zu. "Sie wissen, ich mag Jess sehr, nicht nur weil er für die Firma schon soviel geleistet hat. Er ist ein feiner Kerl, dessen Aufrichtigkeit und bedingungslose Loyalität ich über alles schätze. Zugegeben, auch ich hatte – wie die meisten hier in der Stadt – zu Beginn unserer Bekanntschaft meine Bedenken, einem Mann mit seinem Ruf und seiner Vergangenheit über den Weg zu trauen; aber es ist schon sehr, sehr lange her, seit ich mich eines Besseren belehren lassen mußte. Es gibt nicht viele Menschen, für die ich bedenkenlos meine Hand ins Feuer legen würde, aber für Jess würde ich es tun. Und er hat es verdammt noch mal verdient, daß er so schnell wie möglich gesund wird." Jetzt hatte er sich richtiggehend in seine Rede hineingesteigert. "Und deshalb sollte der Sheriff endlich zusehen, daß er diese Strauchdiebe zur Strecke bringt! Da wird ein Mann wie Jess Harper vor der eigenen Haustür fast umgebracht, und diejenigen, denen er das zu verdanken hat, laufen immer noch frei herum!"

Er schlug mit der Faust heftig auf die Tischplatte, daß ein paar Bilderrahmen hochhüpften. Offensichtlich bildete er sich ein, als Mitglied des Gemeinderates vor versammeltem Stadtparlament eine zündende Rede zu schwingen.

Slim zog etwas überrascht die eine Braue hoch. Soviel inbrünstigen Enthusiasmus hätte er Kellington nicht zugetraut, schon gar nicht wegen dieser Geschichte. Daß er bei den Gemeinderatssitzungen heiße Debatten führen und auch ausfallend werden konnte, was im krassen Gegensatz zu seiner sonst so gepflegten Art stand, war ihm bekannt; aber daß er wegen des Zwischenfalls auf der Ranch sich derart in Rage redete, wobei er sogar direkt oder indirekt Sheriff Cory und dessen Fähigkeiten, seine Arbeit gewissenhaft auszuführen, anzweifelte, verschlug ihm beinahe die Sprache. Bei allem Respekt für Kellingtons übereifrige Anteilnahme an der Sache – Mort Cory und sein polizeilicher Einsatzwille waren für ihn über jeden Zweifel erhaben.

"Sie können dem Sheriff keinen Vorwurf machen, Art", meinte er deshalb widersprechen zu müssen. "Er hat bestimmt getan, was er tun konnte, um die Kerle zu finden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihn in irgendeiner Weise eine Schuld trifft, weil die drei immer noch auf freiem Fuß sind. Nicht Mort Cory!"

Kellington hob abweisend beide Hände.

"Bei Gott!" rief er. "Ich wollte unserem Sheriff keinesfalls zu nahe treten. Im Gegenteil! Unsere Gemeinde kann froh sein, einen wie ihn zu haben."

"Das meine ich auch!"

"Ich frage mich nur allen Ernstes, wohin diese ständig wachsende Bereitschaft zur Kriminalität, diese Verrohung, dieser immer größer werdende Mangel an Gewissensskrupel noch führen soll. Ein Menschenleben scheint in diesem Land nichts mehr wert zu sein. Jetzt geht es sogar schon so weit, daß ehrbare Bürger direkt vor der eigenen Haustür aus dem Hinterhalt völlig grundlos über den Haufen geschossen werden. So kann das doch nicht weitergehen! Man kann sich ja bald nicht mehr aus dem Haus trauen."

"Ich glaube, ganz so schlimm ist es nicht. Dafür hat zumindest in unserem Bezirk hier Mort Cory gesorgt. Diese drei Halsabschneider sind leider eine extreme Ausnahme. Aber ich bin sicher, das heißt, ich hoffe es, daß auch die irgendwann über ihre eigene Dreistigkeit stolpern."

"Das kann man wirklich nur hoffen. Es beunruhigt mich nämlich im höchsten Maße, nein, ich habe sogar richtige Angst, wenn ich mir vorstelle, daß die sogar einen Mann wie Jess Harper zu Fall bringen konnten. Was muß dann erst unsereins erwarten?"

"In diesem Fall hatte Jess auch keine größere Chance als Sie oder irgend jemand anders."

"Ja, aber wie soll man sich dann gegen solch ein Gesindel schützen?"

"Das ist eine gute Frage." Slim dachte unwillkürlich an die Sinnlosigkeit des Überfalls auf der Ranch, dem ausgerechnet sein bester Freund zum Opfer fallen mußte. "Wahrscheinlich gibt es dafür kein Patentrezept. Das beste ist, den dreien nicht zu begegnen. Und wenn doch, dann möglichst keinen Widerstand, noch nicht einmal Widerrede leisten. Aber auch das ist offenbar keine Garantie dafür, daß man die Begegnung mit heiler Haut übersteht."

"Was mit Jess passierte, ist doch der beste Beweis, daß das keine Garantie ist, so wie ich die Sache der 'Laramie Chronicle' entnommen habe."

"Das ist richtig. Er wußte überhaupt nicht, daß die Kerle da und im Haus waren. Er kannte sie nicht einmal, genausowenig wie sie ihn."

Kellington schüttelte fassungslos den Kopf. Er wirkte regelrecht aufgewühlt von dieser Tatsache.

"Soll man da vielleicht keine Angst kriegen, wenn man sich das vorstellt?"

"Ich muß offen gestehen, daß auch ich den dreien nicht unbedingt ein zweites Mal begegnen möchte. Und was Jess betrifft … Nun, ich kann mich nicht erinnern, daß er jemals vor etwas oder jemandem gekniffen hätte – er auf jeden Fall noch weniger als ich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er einen gesteigerten Wert darauf legt, die Bekanntschaft mit diesen drei Halunken in irgendeiner Weise zu vertiefen. Ich glaube zwar nicht, daß Sie das besonders beruhigen wird, aber vielleicht tröstet es Sie."

"Sie haben recht, es beruhigt mich ganz und gar nicht." Der gepflegte Geschäftsmann auf der anderen Seite des Schreibtisches wirkte regelrecht desillusioniert. "Ganz im Gegenteil sogar! Es beunruhigt mich nur noch mehr." Kellington griff nach der Brandyflasche. "Trinken Sie auf diesen Schreck hin noch einen mit mir?"

"Danke, nein, der eine reicht mir", lehnte Slim höflich ab.

"Ich brauche noch einen!" Der Brandy gluckerte im Glas.

"Wissen Sie, Art, bei aller Besorgnis, die Sie offensichtlich wegen der drei Kerle haben, wundert mich eines: wieso lassen Sie die Kutschen nicht begleiten, wenigstens so lange, bis die akute Gefahr vorüber ist?"

"Das ist eine berechtigte Frage." Kellington nippte an seinem Glas. "Die Antwort ist: aus mehreren Gründen. Erstens ist das eine Frage der Kosten, das will ich gar nicht abstreiten. Das Unternehmen muß schließlich rentabel bleiben. Der zunehmende Eisenbahnverkehr und auch kleine Fuhrunternehmer sind eine ständig wachsende Konkurrenz. Wenn die Preise bezahlbar und wettbewerbsfähig bleiben sollen, kann ich das Geld nicht mit beiden Händen hinauswerfen, indem ich auf jede Kutsche einen Begleitfahrer setze. Punkt zwei ist schlicht und ergreifend ein akuter Personalmangel an wirklich fähigen Kräften, die sich nicht gleich bei der geringsten Unregelmäßigkeit in die Hosen machen und auch dann noch die Nerven behalten, wenn es tatsächlich einmal hart auf hart geht. Was nützt der bestbezahlte Wächter, wenn er eine Situation oder gar seine eigene Courage falsch einschätzt und damit nur erreicht, daß er Passagiere und Fracht mehr gefährdet als nützt? Von diesen Möchtegernhelden habe ich erst kürzlich ein halbes Dutzend rausgeschmissen. Erst vor drei Wochen hätte die Nummer Sechs von ihnen beinahe einen Weidereiter der McIntire-Ranch erschossen, nur weil der zufälligerweise denselben Weg hatte und ein Stück hinter der Kutsche herritt. Der Mann hatte noch nicht einmal eine Waffe bei sich, war an seinem freien Tag auf dem Weg zu seinem Mädchen. Daß ihm nichts passiert ist, verdankt er dem Zufall und der Tatsache, daß der Begleitfahrer nur in seinen eigenen Schilderungen der hervorragende Schütze war, für den er von der Gesellschaft gehalten und auch bezahlt wurde."

"Ich habe davon gehört", warf Slim ein. Einer der Kutscher hatte davon berichtet.

"So etwas ist doch ein Armutszeugnis!"

"Das haben Sie gesagt. Aber ein Renommee ist es wirklich nicht."

"Tja, und von den übriggebliebenen Wachen fallen ständig welche wegen Krankheit oder sonstiger Verhinderungen aus, wobei ich mich frage, ob die Hälfte dieser Ausfälle nicht vielleicht nur Ausreden sind. Drittens", fuhr Kellington mit der Aufzählung fort, wobei sich Slim allen Ernstes fragte, weshalb er sich vor ihm so ausführlich zu rechtfertigen suchte, "ist ein Begleitfahrer immer ein Hinweis für einen Straßenräuber, daß es garantiert etwas zu holen gibt. Wahrscheinlich würde die Verlustquote sprunghaft in die Höhe schnellen, denn auffälliger kann man doch gar nicht zeigen, daß sich ein Überfall lohnt. Bei der mangelnden Einsatzfreudigkeit der Männer sind unsere Kutschen sicherer, wenn sie nicht bewacht werden. Den meisten der Fahrer traue ich eher zu, daß sie eine gefährliche Situation allein besser meistern können, als wenn sie sich auf die Hilfe eines Wächters verlassen, der das Straßengesindel anzieht wie rohes Fleisch die Fliegen und im Ernstfall vielleicht nicht einmal zum Schutz taugt. Das führte viertens nur zu einem schlechten Ruf der Gesellschaft, der man nachsagen würde, sie hätte Angst vor Überfällen und könnte sie anders nicht in den Griff kriegen, was fünftens mit Sicherheit zu einer Erhöhung der Versicherung führte, die auch so schon teuer genug ist."

"Stellt die Versicherung denn nicht sogar regulären Schutz zur Bedingung?"

"Nur, wenn es erforderlich ist. Und das ist es weder nach meiner Meinung noch nach der ihrer Gutachter. Nun denn, Sie sehen, Slim, daß es viel effizienter ist, die Kutschen im Regelfall nicht begleiten zu lassen. Zu guter letzt würde dies nur zu einer Verunsicherung der Fahrgäste führen, die schon von vorn herein Angst hätten, die Strecken wären gefährlich. Verunsicherte und somit unzufriedene Passagiere könnten unserem Ruf und unserer Rentabilität mehr schaden, als wir verkraften können. Ebenso ginge das Frachtgeschäft zurück. Nur von der Beförderung der Postsäcke allein könnte diese Gesellschaft jedenfalls nicht existieren."

"Möglich, daß Sie recht haben, Art, vom wirtschaftlichen Faktor her gesehen, bestimmt sogar", mußte Slim zugeben; über einen anderen Faktor wollte er sich mit Kellington nicht streiten. Sie wären nie auf einen gemeinsamen Nenner gekommen.

"Für mich gibt es als Geschäftsmann keinen anderen, jedenfalls nicht, so lange diese Gesellschaft profitabel bleiben soll. Glauben Sie mir, Slim, ich habe bestimmt oft ein ungutes Gefühl bei der Sache, aber schließlich muß ich zusehen, daß der Laden läuft. Da muß ich versuchen, sowohl meinen Vorgesetzten als auch meinen Kunden gerecht zu werden. Das ist nicht immer leicht – bestimmt nicht!"

"Das können Sie besser beurteilen als ich. Ich bin schließlich Rancher und kein Transportunternehmer. Genau das bringt mich auf den Punkt, weshalb ich eigentlich gekommen bin."

"Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?" wollte Kellington, nichts Gutes ahnend, wissen und beugte sich erwartungsvoll vor.

"Noch halten sie sich in Grenzen."

Slim ließ eine Hand in seiner Jackentasche verschwinden, von wo sie eines der Hufeisen zu Tage förderte, das auf der Milford-Station geschmiedet worden war. Mit einer demonstrativen Geste pflanzte er das Eisen auf Kellingtons Schreibunterlage, wo es völlig fehl am Platze wirkte zwischen all den silbernen Bilderrahmen und glänzenden Messingutensilien.

"Was ist das?" fragte Kellington erstaunt.

"Ein Hufeisen."

"Das sehe ich auch. Ich nehme allerdings nicht an, daß das Ding nur als Glücksbringer gedacht ist."

"Nein, als Beweisstück – sozusagen."

"Beweisstück? Wofür?"

"Das Eisen ist eines derjenigen, die auf der Milford-Station geschmiedet wurden."

"Und? Ist etwas nicht in Ordnung damit?" Kellington drehte es hin und her. "Ich kann daran nichts Auffälliges feststellen, außer daß es relativ neu zu sein scheint. Was ist so ungewöhnlich daran?"

Slim verzog den Mund zu einem mitleidigen Grinsen. Daß sein Gesprächspartner den Gegenstand immerhin als Hufeisen erkannt hatte, war schon etwas recht Positives.

"Der eine Stollen ist zu hoch. Außerdem war es schlecht angepaßt."

"Und?"

"Das Resultat dieser Schlamperei sind bis jetzt drei lahmende Pferde, die wir auf der Ranch zu versorgen haben."

"Macht das denn soviel aus? Ich kenne mich da nicht aus."

Slim erklärte seinem Gesprächspartner ausführlich, was es mit dem fehlerhaften Hufeisen auf sich hatte und wie Pferdebeine darauf reagierten. Kellington war ein überraschend guter Schüler, der schnell begriff, worauf es ankam, daß sich Slim sogar darüber wunderte. Daß er ihn so leicht überzeugen konnte, hatte er wirklich nicht gedacht. Wenn er das zu Hause erzählte, glaubte ihm kein Mensch. Vielleicht hatte er bei ihm auch nur einen extra Stein im Brett, weil er ihm so geduldig zugehört hatte. Letztendlich war es egal, aus welchem Grund er sich so schnell belehren ließ. Hauptsache, er tat es.

Das sich anschließende Gespräch war wirklich nur noch belangloses Gerede, bis Slim endlich meinte, er müßte jetzt gehen. Daß er Kellington schon viel zuviel Zeit geopfert hatte, behielt er selbstverständlich für sich. Sie erhoben sich, und Kellington begleitete seinen Gast zur Tür.

"Na ja, jetzt, da Jess schon wieder auf ist, hoffe ich, daß ich bald wieder mit ihm rechnen kann", meinte er wie beiläufig, bevor er seinem Besucher die Tür öffnete.

"Wie meinen Sie das?" fragte Slim lauernd und ahnte fast, was jetzt zum Abschluß noch kommen mußte.

"Na ja", machte der gepflegte Mann in dem perfekt sitzenden Maßanzug abermals, "in vier oder fünf Wochen soll ein wichtiger Banktransport stattfinden. Sie haben hoffentlich nicht vergessen, was ich Ihnen über die Männer, die als Wachen bezahlt werden, erzählte. Direktor Majors hat mich deshalb angesprochen. Auch er sähe es am liebsten, wenn ich Jess für diese Aufgabe gewinnen könnte. Außer Ihnen selbst ist er der zuverlässigste Mann für diesen Job und obendrein derjenige mit den besten Nerven und der sichersten Hand. Majors traut jedenfalls keinem anderen über den Weg. Es steht ein Haufen Geld auf dem Spiel. Offiziell weiß noch niemand davon. Ich bitte Sie deshalb, zu niemandem ein Wort zu sagen."

"Keine Frage", nickte Slim, was sich jedoch nur auf sein Stillschweigen bezog. "Was die Meinung Majors' über Jess betrifft … Daß ich keinen zuverlässigeren Menschen wie ihn kenne, brauche ich vor Ihnen nicht extra zu betonen. Nur fürchte ich, daß er so schnell noch nicht wieder so weit einsatzfähig ist, um Ihre und Majors' Bitte erfüllen zu können. Es wird garantiert noch länger als vier, fünf Wochen dauern, ehe er an so etwas überhaupt nur denken kann. Gesund oder gar in irgendeiner Weise belastbar ist er in vier, fünf Wochen hundertprozentig nicht. Wer weiß, ob er es in vier, fünf Monaten sein wird."

"Daß es ihn so schwer erwischt haben soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen."

"Es ist aber so, glauben Sie mir!"

"Und was ist mit Ihnen selbst?"

"Tut mir leid, Art! Solange Jess für jegliche Art von Arbeit auf der Ranch ausfällt, können Sie nicht von mir verlangen, so etwas zu akzeptieren. Es reicht so kaum für das Nötigste. Ich kann die Ranch unmöglich solange im Stich lassen."

"Doch nur für ein paar Tage."

"Nicht für einen einzigen!" betonte Slim. "Reden Sie doch mal mit Mort Cory."

"Das brauche ich gar nicht zu versuchen. Der hat für so etwas keine Leute. Außerdem fällt es nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Wer weiß, vielleicht ist Jess bis dahin …"

"Vergessen Sie's, Art!"

"Vielleicht sollte ich ihn selbst fragen."

"Ich bitte Sie, tun Sie es nicht! Er hat im Augenblick genug eigene Probleme, die ihm zu schaffen machen, und keinesfalls die Kraft, sich zusätzlich um die Ihren zu kümmern. Belasten Sie ihn deshalb damit nicht auch noch. Er kann seine eigenen kaum bewältigen."

Slims Stimme klang so ernst, daß Kellington sich nicht getraute, genauer nach diesen Problemen zu fragen. Wenn sich der Rancher jedoch so schützend vor seinen Freund stellte, hatte dies sicherlich einen Grund, in den er sich besser nicht zu vertiefen suchte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Tatsache so zu akzeptieren, wie Slim sie ihm unmißverständlich unterbreitet hatte.

Wieder auf der Straße, mußte Slim kräftig durchatmen, um seine Lungen mit frischer Luft zu füllen. Der eigenartige Geruch von Kellingtons Panoptikum, der kalte Zigarrenrauch und sein aufdringliches Rasierwasser hatten einen unangenehmen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen, obwohl, und das mußte Slim zugeben, der Brandy vorzüglich gewesen war.

Nicht zuletzt konnte er über den Verlauf des Gesprächs durchaus zufrieden sein. Blieb nur zu hoffen, daß der Mißstand auf der Milford-Station, was die unzulänglichen Schmiedearbeiten betraf, so schnell wie möglich abgestellt wurde. Dann könnte er sich über mangelnden Erfolg, den diese Unterhaltung nach sich zog, nicht beschweren.

Auf seinem Weg zu Mort Corys Büro lief er unbeabsichtigt Doktor Dan Higgins in die Arme, der auf dem Rückweg von ein paar Hausbesuchen in der Stadt war. Slim hatte zwar nicht die Absicht gehabt, den Arzt an diesem Nachmittag aufzusuchen, aber jetzt, da er ihn getroffen hatte, wollte er doch mit ihm reden.

"Gut, daß ich dich treffe, Dan."

"Wieso, was gibt's? Willst du kurz mit in meine Praxis kommen?"

"Nicht nötig, denke ich."

"Dann gehen wir ein Stück. Was kann ich also für dich tun?"

"Nicht für mich, Dan, aber ich mache mir ernsthafte Sorgen." Während sie langsam nebeneinanderher schlenderten in Richtung Doc Higgins' Haus, erzählte Slim von dem Vorfall in der vergangenen Nacht. "Dan, irgend etwas stimmt nicht mit ihm", sagte er abschließend. "Das Gefühl habe ich schon die ganze Zeit und Jess selbst auch."

"Tja", Dan kratzte sich nachdenklich am Ohr – eine Verlegenheitsgeste, "ich fürchte, du hast recht."

"Wie meinst du das?"

"Ich hatte von Anfang an den Verdacht, aber ich war mir nicht ganz sicher. Deshalb wollte ich auch noch nicht darüber reden."

"Worüber, verdammt noch mal?"

Das, was Higgins ihm in den nächsten paar Minuten mit wenigen, verständlichen Sätzen versuchte über Jess' wahren Gesundheitszustand und seine Genesungschancen zu erklären, gab Slim endlich die Gewißheit, daß er mit seinen Vermutungen recht hatte. Am Ende wünschte er sich sogar, der Arzt wäre nicht so offen gewesen.

"Aber du mußt ihm doch irgendwie helfen können. Du bist sein Arzt – und ein verdammt guter sogar! Du kannst mir nicht erzählen, daß du …"

"Glaube mir", fiel Higgins ihm ins Wort, "ich kann wirklich nichts mehr für ihn tun."

"Willst du mir vielleicht damit sagen …"

"Muß ich dir das etwa vorbuchstabieren?"

"Nein!" stieß Slim nach einer Weile mühsam hervor. "Himmel, nein!" wiederholte er, blieb am Gartentor vor Higgins' Haus stehen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht; es war so weiß wie der Gatterzaun, vor dem sie jetzt standen.

"Möchtest du nicht doch lieber mit reinkommen?"

Slim hob abweisend die Hand, ohne ihn dabei anzusehen.

"Nein, danke." Endlich blickte er wieder auf. Seine Augen sprachen Bände. "Wie … wie lange noch?" würgte er kaum verständlich hervor.

"Schwer zu sagen", erwiderte der Arzt mit belegter Stimme und ratlos hochgezogenen Schultern. "Das hängt von vielen Faktoren ab. Auf jeden Fall wird er sehr wahrscheinlich … den Winter nicht überleben; wenn er hierbleibt, sogar keinesfalls."

"Wenn er hierbleibt? Was soll das heißen, wenn er hierbleibt? Dann gibt es also doch Hoffnung!"

"Nur ein vager Hauch von Hoffnung", korrigierte Dan. "Vielleicht würde es ihm etwas helfen, wenn er in ein anderes Klima käme, obwohl das wahrscheinlich auch nichts änderte. Das würde möglicherweise nur eine vorübergehende Besserung bringen und die Quälerei unnötig verlängern."

"Aber es könnte ihn auch retten, wenn ich das richtig verstanden habe."

"Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, daß er hier keine Chance hat. Du merkst ja selbst, wie sich sein Zustand ständig verschlechtert, um so mehr, seit das Wetter umgeschlagen ist. Diese Nässe hier ist Gift für ihn. Auf der anderen Seite weiß die Medizin noch viel zu wenig über solche Fälle, als daß ich sagen könnte, ein Klimawechsel könnte Erfolg bringen. Ich habe einen Studienfreund, der sich auf Lungenkrankheiten spezialisiert hat. Er hat viele Jahre an der Ostküste praktiziert, war sogar einige Jahre drüben in Europa, hat überall Erfahrungen gesammelt und ist seit langem Professor. Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, konnte ihn aber vor kurzem in Colorado Springs ausfindig machen."

"Colorado Springs?" In Slim begann Hoffnung aufzublühen. Für seinen Freund hätte er sich an einen weitaus dünneren Strohhalm geklammert. "Soweit ist das doch gar nicht. Du mußt ihm schreiben!"

"Schon geschehen. Um ehrlich zu sein, stehe ich schon seit Wochen in Verbindung mit ihm wegen Jess. Er ist meiner Meinung. Das heißt, er vermutet dasselbe wie ich, ist sich jedoch ebenfalls nicht über eine mögliche Lösung sicher. Ich erwarte eigentlich täglich Nachricht von ihm auf mein letztes Schreiben. Vielleicht steht da etwas Konkretes drin."

"Meinst du, es machte einen Sinn, wenn Jess einmal nach Colorado Springs fährt?"

"Möglich, das hängt davon ab, was ich als Antwort bekomme. Jonathan Tyler ist jedenfalls der Beste auf seinem Gebiet, der Beste, den ich kenne. Wenn es jemanden gibt, der Jess irgendwie helfen kann, dann ist nur er das. In seinem Fall kommt Jon gleich nach dem lieben Gott. Soviel steht fest."

"Warum hast du davon nie was erwähnt?"

"Was hätte ich denn deiner Meinung nach sagen sollen? Daß ich am Ende meiner Weisheit bin? Daß es vielleicht jemanden gibt, der auch nicht mehr weiß als ich, der auch nichts für Jess tun kann? Ob das Ganze Sinn macht, werde ich erst noch erfahren. Ich hoffe es zwar, aber genausogut kann ich auch hoffen, daß dieses Jahr der Winter ausfällt, nur um … für Jess ein paar Wochen oder Monate mehr herauszuschinden. Ich bin Arzt, ich muß mich an die Gegebenheiten halten, darf keine Luftschlösser bauen. So etwas überlass' ich lieber einem Seelsorger, der bei jeder Predigt ein anderes hinstellt."

"Reg dich nicht auf!" versuchte Slim, den vor lauter Hilflosigkeit aufgebrachten Mann zu beruhigen. "Es war nicht so gemeint. Ich mache dir bei Gott keinen Vorwurf. Das hast du nach allem, was du getan hast, gewiß nicht verdient, egal, wie die Sache endet. Ich kann nur hoffen, daß dein Studienfreund einen Ausweg kennt."

"Ja", atmete Dan auf; es klang weniger zuversichtlich, als er zeigen wollte.

"Du mußt unbedingt mit Jess darüber reden. Letzte Nacht hat er wieder etwas von seiner Todesahnung angedeutet. Er kann einen damit richtig erschrecken. Dabei frage ich mich, ob es wirklich nur eine Ahnung ist, oder ob er tatsächlich etwas weiß. Wenn er jedenfalls so redet, macht er mir regelrecht Angst."

"Wahrscheinlich weiß er mehr als wir alle, weil er unbewußt das Richtige vermutet. Sobald die Antwort da ist und ich mir selbst ein klares Bild machen kann, werde ich mit ihm reden."

"Hoffentlich ist das bald. Ich fürchte nämlich, er hat nicht mehr viel Zeit. Und das Schlimme ist, er scheint das zu wissen."

"Trotzdem, Slim, möchte ich, daß du ihm vorläufig nichts von unserem Gespräch sagst."

"Weißt du auch, was du da von mir verlangst? Er ist mein bester Freund! Er ist wie ein Bruder für mich! Ich kann ihn doch nicht belügen!"

"Das verlangt niemand von dir. Das beste ist, du sagst ihm gar nichts."

"Du kennst ihn doch und weißt genau, daß er ein untrügliches Gespür für die Wahrheit hat. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, daß er mir auf den Kopf zusagt, was Sache ist."

"Dann sag ihm, er soll am besten mit mir selbst darüber reden. Solange sich Tyler dazu nicht geäußert hat, möchte ich nicht, daß Jess mit Halbwahrheiten belastet wird. Ich möchte ihm nicht mehr zumuten, als unbedingt erforderlich ist. Daß er sich mit falschen Hoffnungen quält, muß nicht sein."

"Du hast vielleicht Nerven! Denkst du vielleicht, diese Ungewißheit belastet ihn weniger? Über das, was dieses Katz-und-Maus-Spiel für mich selber ist, will ich gar nicht reden. Ein Sonntagsspaziergang jedenfalls nicht! Wenn du ihm nicht bald reinen Wein einschenkst, wird er es von mir erfahren. Ich werde schweigen, solange es geht, das verspreche ich dir. Aber, wie gesagt, ich werde Jess nicht belügen. Für solche Spielchen bedeutet er mir zuviel."

"Ich weiß", nickte Dan schwer. "Bei meinem nächsten Besuch werde ich mit ihm reden, egal, ob bis dahin Tylers Antwort schon da ist oder nicht. Es wird mir hoffentlich das Richtige einfallen. Du brauchst ihm ja bis dahin nicht zu sagen, daß du mich getroffen hast."

"Was mir bestimmt schwerfallen wird. Aber wenn er mich fragt …"

"Ja, ich weiß, du wirst ihn nicht belügen", vollendete der Arzt etwas unwirsch den Satz. "Tut mir leid, daß ich dir wegen Jess nichts anderes sagen kann."

"Schon gut, du kannst schließlich nichts dafür. Egal, wie die Sache enden wird, ich weiß, du hast alles Menschenmögliche für ihn getan. Ich kann mich nur nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß nach allem, was hinter uns liegt, seine Tage nun doch gezählt sein sollen. Herrgott noch mal! Das kann ich wirklich nicht! Damit will ich mich nicht abfinden! Ich habe keine Lust, ihn weder in diesem Winter zu begraben noch im nächsten! Hast du das verstanden?"

"Sehr gut sogar, aber sag das nicht mir, sondern dem da oben!" Dan deutete mit dem Daumen Richtung Himmel. "Der trifft hier die Entscheidungen, nicht ich."

"Ja", preßte Slim zwischen den Zähnen hervor. "Jedenfalls danke ich dir, daß du so offen warst. Jetzt weiß ich wenigstens einigermaßen, woran ich bin und was uns allen noch bevorsteht. Ich schätze, das wird der bitterste Winter meines Lebens, und ich wünsche mir von Herzen, daß es für Jess nicht der letzte sein wird."

Dan konnte und wollte dazu nicht mehr viel sagen. Seiner Meinung nach hatte er sowieso schon mehr geredet, als er beabsichtigt hatte. Eines stand jedenfalls fest: Jess Harper würde ihm als sein Patient noch manch schlaflose Nacht bescheren, denn je mehr sich bei diesem Symptome des unrettbar Verlorenen häuften, desto schmerzvoller war es für Dan Higgins als sein Arzt, daß er nichts weiter für ihn zu tun vermochte, als zu warten und hilflos dabei zuzusehen, wie er trotz allen verbissenen Widerstandes am Ende verlieren mußte – eine traurige Erkenntnis.

Nach dieser nicht gerade Hoffnung verheißenden Unterhaltung verspürte Slim nicht mehr die geringste Lust, Mort Cory einen Besuch abzustatten. Schließlich fand er sich aber doch auf dem Weg zu dessen Büro, nachdem er sich von Doc Higgins in übelster Stimmung verabschiedet hatte. Vom Sheriff erfuhr er noch ein paar Einzelheiten zu dem bevorstehenden Geldtransport, unter anderem auch, daß dieser bereits ein offenes Geheimnis und deshalb unterwegs mit einem Überfall zu rechnen war. Daraufhin war Slim erst recht froh, daß Jess den Transport nicht begleiten konnte.

Schließlich hatte der Rancher das Bedürfnis, Mort über das wenig erfreuliche Gespräch mit Dan Higgins zu informieren, worüber der langjährige Bekannte ebenso betroffen war wie er selbst. Slim half es sogar, den ersten Schock soweit zu überwinden, daß zu Hause sicherlich nicht so schnell auffiel, was ihn belastete. Zumindest hoffte er dies.

Eine halbe Stunde später war Slim auf dem Weg nach Hause. Unterwegs bemühte er sich ernsthaft, sich nicht von düsteren Grübeleien über das Gespräch mit dem Arzt übermannen zu lassen. Mit Gewalt versuchte er, sich mit den angenehmen Dingen, die ausnahmsweise die finanzielle Lage der Ranch betrafen, zu beschäftigen und den Plänen, die nun endlich in greifbare Nähe gerückt schienen.

Wenn sie tatsächlich den Landbesitz und später auch die Herde vergrößern wollten, müßten sie zumindest über Sommer noch eine feste Hilfe einstellen, denn dann wäre die Arbeit zu zweit allein auf Dauer nicht mehr zu bewältigen, selbst wenn sie die Konzession für das Depot abgaben. Bisher waren sie gerade so zurechtgekommen und hatten nur zeitweise jemanden anheuern müssen.

Auf der anderen Seite konnte es natürlich passieren, daß diese Pläne erst einmal zunichte gemacht wurden, falls Jess noch für längere Zeit ausfiel. Das lukrative Geschäft mit guttrainierten Arbeitspferden käme gewaltig ins Stocken, so daß eine sehr wichtige Einnahmequelle auf unbestimmte Dauer nicht zur Verfügung stünde. Dann konnten sie um ein solides finanzielles Polster froh sein. Hinzu käme noch, daß die ausfallende Arbeitskraft des Partners nicht so einfach zu ersetzen war. Jess war schließlich kein Saisonarbeiter, sondern Teilhaber der Ranch, der ohne Wenn und Aber ständig bereit war, seinen vollen Einsatz zu leisten, mühelos zwei Helfer ersetzte und das Wort Feierabend selten so richtig ernst nahm. Wie sollte man solch einen Mann – und sei es auch nur für eine begrenzte Zeit – ersetzen?

"Vielleicht ist es sogar für immer", hörte sich Slim plötzlich murmeln.

Mit einem Mal kreisten seine Gedanken wieder um Dan Higgins' Worte – bald sogar ausschließlich; allerdings weniger im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Zukunft der Ranch als vielmehr der gesundheitlichen seines Freundes.

Zum ungezählten Male mußte er sich fragen, ob Jess denn überhaupt eine Zukunft hatte; und wenn tatsächlich ja, wie diese aussah. Vielleicht hatte auch Mort Cory recht, und alles war nur halb so schlimm, wie es im Augenblick schien. Vielleicht stellte sich mit freundlicherem Wetter von allein eine Besserung ein. Solange Jess in der heilenden Sonne sitzen konnte, hatte seine Genesung enorme Fortschritte gemacht. Vielleicht konnte er mit beginnendem Frühling diesen Erfolg fortsetzen und die inneren Verletzungen auskurieren. Aber dazwischen lag ein langer Winter, den er – wenn Higgins Recht behielt – mit seinen kaum vorhandenen Kraftreserven und der geringen Widerstandskraft seines geschwächten Körpers nicht überstehen konnte. Slim fand es jedenfalls äußerst grotesk, daß Jess' Gesundung hauptsächlich vom Wetter oder den Jahreszeiten abhängen sollte.

Endlich zu Hause hatte der Rancher gerade noch Zeit, den Wagen abzuladen, das Gespann auszuschirren und die Pferde zu versorgen, ehe Daisy zum Essen rief.

Im Haus roch es verführerisch nach Braten, daß er relativ rasch auf andere Gedanken kam, zudem es seinem Freund wesentlich besser zu gehen schien als am Abend zuvor, so daß es ihm zusehends leichter fiel, die Worte des Arztes erst einmal in den Hintergrund zu stellen.

Slim empfand es als eine Unhöflichkeit Daisy gegenüber, die sich soviel Mühe mit dieser vortrefflichen Mahlzeit gemacht hatte, wenn er während des Essens geschäftliche Dinge oder sonstige Probleme besprochen hätte. Auch Jess, in dieser Beziehung nicht weniger taktvoll, beschränkte das Tischgespräch auf Belanglosigkeiten und kam gar nicht auf die Idee, seinen Partner mit Fragen zu löchern. Erst als Daisy abgeräumt hatte und den Kaffee brachte, konnte er seine Neugierde über das, was es Neues gab, nicht mehr länger beherrschen.

"Was sagt eigentlich Kellington zu unserem Hufeisenproblem?" wollte er wissen, während er zwei Löffel Zucker in der dampfenden Kaffeetasse vor ihm verschwinden ließ und ausgiebig umrührte. Offensichtlich liebte er dieses Ritual, mit dem er regelmäßig den gemütlichen Teil des Abends einläutete.

"Du wirst es wahrscheinlich nicht für möglich halten", grinste Slim und klapperte ebenso genüßlich mit dem Kaffeelöffel in seiner Tasse, "aber er war ausgesprochen einsichtig. Er hat sich anscheinend dermaßen gefreut, mich wiederzusehen, daß er jeden Vorschlag bereitwillig akzeptiert hätte. Er hat sich bei mir erst einmal ausgiebig ausgeweint über diese schlechten und gefährlichen Zeiten, in denen man seiner Meinung nach seines Lebens nicht mehr sicher sein kann und eben so fort. Du kennst ihn ja. Ich habe ihm halt zugehört, damit er zufrieden war. Als ich endlich von den lahmenden Pferden anfangen konnte, war die Angelegenheit mit zwei Sätzen vom Tisch."

"Mit zwei Sätzen?"

"Ja, ich glaube nicht, daß es viel mehr waren. Hab' sie zwar nicht gezählt, aber er war sofort meiner Meinung. Ich mußte ihm genau erklären, woran es liegt. Ich möchte wetten, daß er nur die Hälfte kapiert hat, aber ich habe ihn ohne Wenn und Aber überzeugt, daß es so nicht weitergehen kann. Aber das ist noch nicht alles. Da er sowieso nach Cheyenne ins Hauptbüro muß, will er die Sache bei Milford unterwegs gleich selbst in die Hand nehmen und regeln. Jetzt bist du platt, was?"

"Wie ein frisch gebügeltes Hemd", gab der Freund ohne Umschweife zu. "Was ist denn mit dem los? Ist der krank?"

"Er machte auf mich eigentlich einen ziemlich gesunden Eindruck." Slim verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. "Weiß der Teufel, was er auf einmal hat. Uns kann es schließlich egal sein. Hauptsache, er bringt Milford dazu, seine Schmiedekunst nicht mehr länger an den Kutschpferden der Gesellschaft auszuprobieren. Ich soll dir übrigens einen schönen Gruß von ihm bestellen und weiterhin gute Besserung wünschen."

"Danke, sehr aufmerksam", sagte Jess ohne große Begeisterung. Er machte keinen besonderen Hehl daraus, daß er Arthur Kellington zwar als Leiter des hiesigen Zweigbüros der Postgesellschaft und als cleveren Geschäftsmann respektierte, aber ansonsten keine freundschaftliche oder gar herzliche Beziehung zu ihm pflegte. "Gibt es sonst was Neues?"

"Nicht viel."

"Du machst wohl Witze! Jetzt warst du seit Wochen zum erstenmal wieder in der Stadt, und dann kommst du heim und behauptest, es gäbe nicht viel Neues. Das kaufe ich dir nicht ab."

"Ehrlich, Jess, nur überall das übliche Blabla, außer daß Kellington eine Wahnsinnssehnsucht nach dir zu haben scheint."

Jess riß erstaunt die Augen auf und deutete mit einer unsicheren Geste auf sich selbst.

"Nach mir? Das ist hoffentlich nicht dein Ernst!"

"Mein voller oder, besser gesagt, seiner. Und nicht nur er, sondern vor allem auch Majors."

"Majors? Was will denn der von mir? Kann mich nicht erinnern, daß ich irgendwelche Schulden bei ihm hätte."

"So war das auch nicht gemeint. Aber Majors will irgendwann im Dezember den Geldbestand in seinem Tresor verringern und einen hübschen Batzen in die Zentrale schicken. Für den Transport hat er Kellington beauftragt. Jetzt sorgen sich beide um die Sicherheit des Schatzes."

"Und was hat das mit mir zu tun?"

"Muß ich dir das wirklich erklären?"

Natürlich war dies nicht notwendig.

"Du hast es ihm hoffentlich ausgeredet."

"Ich hab's zumindest versucht. Allerdings befürchte ich, daß es mir nicht ganz gelungen ist. Kellington kann in dem Punkt sehr hartnäckig sein, das weißt du ja, vor allem, wenn ihm so eine gewichtige Person wie Majors im Nacken sitzt. Das Ganze ist mal wieder eine heikle Angelegenheit und nicht ganz ungefährlich dazu, wie immer. Es soll zwar ein Geheimnis bleiben, aber Mort sagte mir im Vertrauen, daß es bereits stadtbekannt ist. Offen gestanden hätte ich dir auch ohne das da", Slim deutete unbestimmt in Richtung Jess' linker Schulter, "dringend geraten, die Finger davon zu lassen. Bei der Popularität um dieses Geheimnis rechne ich fest damit, daß da unterwegs ein munteres Preisschießen stattfinden wird."

"Du kennst mich doch."

"O ja, ich kenne dich! Ich kenne dich und ich kenne Kellington und auch Majors, aber dich ganz besonders!" bekräftigte Slim aufatmend. "Deshalb weiß ich auch, wer im Dezember Schießscheibe spielen würde, wenn es da nicht etwas Bestimmtes gäbe."

"Dann weißt du mehr als ich."

"Ach, komm, Jess, hör auf, so scheinheilig zu tun! Es wäre wie immer. Zuerst bist du dagegen und behauptest, daß das gar nicht in Frage käme, und zum Schluß, wenn es drauf und dran geht, würdest du doch neben dem Kutscher hocken, weil du es angeblich nicht mit deinem Gewissen vereinbaren könntest, wenn du diese Bitte abgeschlagen hättest und tatsächlich etwas passierte. Genau darauf spekuliert doch Kellington immer. Selbst diesmal tut er es."

"Das will ich nicht abstreiten", gab Jess mit gesenktem Blick zu. "Aber diesmal irrst du dich bestimmt!"

"Erzähl mir nicht, du könntest plötzlich über deinen eigenen Schatten springen! Das hat bis jetzt noch keiner geschafft."

"Das hab' ich auch nicht vor. Ich habe noch nicht einmal vor, es zu versuchen. Aber weißt du, ich war in den letzten Wochen dem Tod verteufelt nahe, näher als jemals zuvor in meinem Leben, so nahe, daß ich zeitweise richtige Angst vor ihm hatte. Diese Angst habe ich bisher nicht gekannt, nicht in dem Maße! Und ich hab' sie immer noch, weil ich weiß, es kann schneller zu Ende sein, als ich denke oder mir lieb ist. Verstehst du, ich wußte das vorher zwar auch, aber irgendwie war es bisher etwas anderes. Ich habe mir nicht diese Gedanken darüber gemacht. Vielleicht mache ich sie mir im Augenblick auch nur aus lauter Langeweile."

"Das hoffe ich nicht, in deinem Interesse."

"Ich denke dabei eigentlich weniger an mich als an Mike. Solange der Junge mich braucht, wird mich diese Angst verfolgen. Was nicht heißen soll, daß ich mich in Zukunft vor irgendeiner Gefahr verkriechen oder davonrennen werde, gewiß nicht! Aber ich werde – das heißt, ich muß! – bewußter versuchen, jede mögliche Gefahr so gering wie möglich zu halten. Verstehst du, was ich damit sagen will?"

"Ich denke schon, sehr gut sogar", nickte Slim nachdenklich. Ganz unvermittelt war das Gespräch nun doch wieder ernster geworden, als sie beabsichtigt hatten. Zu allem Überfluß drängten sich auch noch Dan Higgins' Worte etwas mehr in den Vordergrund, was dem Rancher allerdings gar nicht recht war; denn sein Freund geriet mehr und mehr in eine Stimmung, in der er besonders leicht ein Gespür für solche Dinge entwickelte. "Und ehrlich gesagt, ich kann nur hoffen, daß diesmal dieses Gefühl bei dir anhält. An wen du dabei denkst, ist mir im Grunde egal. Hauptsache, du bist endlich so einsichtig."

"Im Moment bin ich es jedenfalls." Jess blickte mit etwas aufgehellterem Gesicht dem Freund geradewegs in die Augen. "Deshalb werden Majors und Kellington diesmal garantiert ein paar schlaflose Nächte haben. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche."

Slim, sichtlich froh, daß Jess nicht noch tiefgreifender auf seinen Sinneswandel einging, reagierte sofort dementsprechend.

"Ich schätze, die werden's überleben."

"Ist anzunehmen." Jess grinste. Anscheinend war er nicht mehr im geringsten daran interessiert, die Phase seiner tiefsinnigen fünf Minuten weiter auszudehnen. Statt dessen schenkte er sich Kaffee nach und genoß das heiße Getränk, das seiner Meinung nach erst durch die entsprechende Menge Zucker seine Vollkommenheit entfaltete. "Was sagt denn Mort zu der Geschichte mit dem Geldtransport?" fragte er aus reiner Neugierde, obwohl er den Gesetzeshüter gut genug kannte, um dessen Reaktion genau zu wissen.

"Dasselbe wie immer."

"Wer weiß, vielleicht ruft dieser Transport unsere drei Freunde wieder auf den Plan."

"Genau dieselbe Vermutung hatte ich auch."

"Vielleicht wäre das eine gute Gelegenheit, sie endlich in die Falle gehen zu lassen."

In Jess' Augen blitzte es gefährlich auf, daß Slim fast befürchtete, er hätte seine guten Vorsätze von gerade eben schon wieder über den Haufen geworfen.

"Mort wollte deshalb noch einmal mit Majors sprechen. Es könnte wirklich sein, daß sich da endlich etwas tut."

"Ja", kam eine brummige Zustimmung; es hörte sich an wie das bösartige Geknurre eines gereizten Hundes.

Jess rieb sich, offensichtlich nun doch in düstere Gedanken versunken, über die Brust. Unter seinem Verband kribbelte es unangenehm, wenn er sich besonders den einen der drei vorstellte, dem er dieses Andenken zu verdanken hatte. Zum erstenmal machte sich in ihm der unbewußte Wunsch bemerkbar, demjenigen, der dafür verantwortlich war, einen Teil dessen zurückzuzahlen, was er ihm angetan hatte. Und es war auch das erste Mal, daß er bei diesem Rückzahlen der Schuld nicht in vorderster Linie an das dachte, was Mike angetan worden war, sondern ihm selbst. Er konnte nicht behaupten, daß er sich dafür rächen wollte. Trotzdem konnte er nicht leugnen, daß es da eine offene Rechnung gab, die er zu gern beglichen hätte. Eine entsprechende Situation hätte er zwar gewiß nicht herausgefordert, aber er hätte sich auch nicht abgewendet, wenn sich ihm zufällig die Gelegenheit für eine Revanche bot.

"Ich frage dich besser nicht, woran du gerade denkst", sagte Slim mit ernst zusammengezogenen Brauen, nachdem er ihn eine Weile beobachtet hatte.

Jess brauchte einen Moment, ehe er endlich begriff, daß er gemeint war. Ein wenig zerstreut blickte er auf, sehr darum bemüht, sich nichts weiter anmerken zu lassen.

"Entschuldige, ich war in Gedanken. Was ist los?"

"Nichts von Bedeutung, außer daß du einem regelrecht Angst einjagen kannst, wenn du so vor dich hinstarrst. Dann möchte ich nicht unbedingt derjenige sein, der dir im Gehirn rumspukt. Ich möchte wetten, du hast – wer immer es auch war, ich will es gar nicht wissen! – keinen guten Faden an ihm gelassen."

"Das bildest du dir ein."

"Tatsächlich?"

Jess wich seinem Blick aus und trank von seinem Kaffee. Sich selbst über seine eigenen Gefühle im unklaren, hätte er es jetzt nicht fertiggebracht, sich jemandem anzuvertrauen, auch Slim nicht, obwohl dieser der erste und vielleicht auch einzige wäre, mit dem er darüber reden könnte. Ein andermal vielleicht, wenn er diese Gefühle selbst konkreter fassen konnte …

"Meinst du, Majors läßt sich darauf ein, das Geld der Bank als Köder zu benutzen?" fing Jess genau an dem Punkt wieder an, an dem ihr Gespräch abgebrochen war. Dabei tat er einfach, als hätte es seine gedankliche Abschweifung nicht gegeben.

"Keine Ahnung." Slim zuckte mit den Schultern. "Aber wenn Mort ihn für seine Pläne gewinnen kann, wird es auf jeden Fall ein gefährliches Unterfangen. Dann hoffe ich nur, daß nicht wieder Blut fließt und es noch mehr Tote und Verletzte gibt."

"Tja, damit wäre aber aller Wahrscheinlichkeit nach zu rechnen. Egal wie, es ist und bleibt ein ziemliches Risiko. Und Kellington könnte es sich wieder einmal einfach machen und die Verantwortung anderen überlassen."

"Solange er sie diesmal nicht dir überläßt …"

"… ist es dir egal, ich weiß", vollendete Jess den Satz. "Mir an sich auch! Trotzdem fürchte ich, daß sich Mort damit was einhandelt, womit er nicht nur Lorbeeren ernten kann."

"Ich glaube nicht, daß er das vorhat – Lorbeeren verdienen."

"Ich auch nicht! Wo denkst du hin? Jeder andere vielleicht, aber nicht Mort! Da kann ihm der saubere Gemeinderat die Hölle heißmachen, wie er lustig ist. Ich hoffe nur, daß es dann diesmal nicht ausgerechnet Mort ist, der auf der Strecke bleibt. Das wäre es nicht wert, weder das Geld noch das Gesetz."

"Es ist aber nun mal seine Aufgabe. Außerdem weiß er schließlich, wie gefährlich die drei sind. Ein Nachteil ist das gewiß nicht."

"Gott sei Dank, kann ich da nur sagen! Hat er eigentlich noch mal was gehört von ihnen?"

"Nein, die letzte Meldung kam aus Twin Forks."

"Ja, das weiß ich. Und sonst nichts mehr?"

"Nein, keine Spur, geradeso, als ob sie nicht existierten."

"Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich das auch glatt annehmen. Irgendwie versteh' ich das nicht ganz."

"Mach dir nichts draus. Offensichtlich ist nichts, was mit diesen Halunken in Zusammenhang steht, zu verstehen. Ganz richtig im Kopf sind die jedenfalls nicht. Zumindest trifft das auf den einen zu, diesen Gregory oder Hal oder wie auch immer. Je mehr ich über den Kerl nachdenke, desto mehr nimmt er in meinen Augen das Bild eines Wahnsinnigen an. Die Begeisterung, mit der dieser Verrückte auf Menschen losballert, ist nicht normal. Ich kann dieses widerwärtige Grinsen in seiner Visage einfach nicht vergessen. Ich kann mich nicht erinnern, schon jemals so etwas zuvor gesehen zu haben. Ich glaube, mit der Gewissenlosigkeit, mit der dieser Spinner auf Menschen schießt, könnte ich noch nicht mal auf 'ne Klapperschlange schießen, die mich gebissen hat. Es ist nicht so, daß der nichts dabei empfindet. Ganz im Gegenteil! Es ist eine ganz primitive Schadenfreude, die den überkommt, eine Art Befriedigung, würde ich fast sagen. Das ist das Erschreckende."

"Auch der wird eines Tages seinen Meister finden", prophezeite Jess mit düster klingender Stimme. "Ich hoffe es jedenfalls."

Slim sah ihn prüfend an. Irgend etwas an seiner Haltung, dem Ausdruck seiner finster dreinblickenden Augen jagte ihm einen leichten Schauer über den Rücken. Es wäre zuviel gesagt, wenn er behauptete, in Jess ginge eine seltsame Veränderung vor, aber ganz geheuer waren ihm seine zweideutigen Bemerkungen heute abend nicht.

Soviel stand fest: zum ausgesprochenen Feind wollte er einen Mann wie Jess Harper nicht unbedingt haben. Dieser Meinung war er zwar schon zu Anfang ihrer Bekanntschaft gewesen, aber heute fiel es ihm seit langem wieder einmal bewußt auf. Obwohl Jess herzensgut war und die Seele von einem Menschen sein konnte, der für einen Freund alles gäbe, einschließlich sein eigenes Leben, konnte er auf der anderen Seite genauso unerbittlich sein und wie ein in die Enge getriebenes Tier wild um sich beißen. In seinen Adern floß das heiße Blut des Südens, das ihn in früheren Jahren so oft in Schwierigkeiten brachte und auch heute noch für recht wilde Turbulenzen sorgen konnte, wenn es in Wallung geriet. Zwar dauerte es heute wesentlich länger, bis ihn jemand provozieren konnte, aber auszuschließen war es nicht. Und wenn dies geschehen war, dann konnte aus dem sonst so treusorgenden väterlichen Freund eines zehnjährigen Waisenjungen, dem ihr familiäres Zusammenleben und Zueinanderhalten über alles ging, ein gefährlicher Kämpfer werden.

Slim fragte sich allen Ernstes, was geschähe, wenn dieser Mann, der mit Abstand sein bester Freund war, den er je hatte und jemals hätte, durch einen Zufall, eine närrische Laune des Schicksals, bewußt noch einmal demjenigen begegnete, dem nicht nur er diese schwere Verwundung, sondern auch Mike sein seelisches Trauma verdankte; wenn er dieser Bestie von Mensch ein weiteres Mal gegenüberstünde mit der Möglichkeit, sich zu verteidigen. Daß dann auf jeden Fall wieder Blut fließen würde, war hundertprozentig sicher. Wessen Blut es wäre – darüber wollte Slim lieber keine Spekulationen anstellen.

Er mußte wieder an die Schießübungen hinter dem Haus denken. Die Tatsache, daß Jess ein schneller und sicherer Schütze war, der auch in extremen Situationen die Nerven behielt, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in einem Punkt einem Gegner wie diesem Hal unterlegen sein mußte: und das war sein Mangel an Skrupellosigkeit. Er würde auch einen Killer wie diesen Hal oder Gregory Thorne nicht kaltschnäuzig über den Haufen schießen, sondern allenfalls in Notwehr gegen ihn ziehen.

Daß Jess in einem fairen Kampf schneller war als sein Gegner, wollte Slim nicht eine Sekunde lang bezweifeln. Er hatte gewiß auch die besseren Nerven. Das stand außer Frage. Nur ob es überhaupt zu einem fairen Kampf käme, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, nicht wenn ein heimtückischer Amokläufer wie dieser Hal im Spiel war. Und genau das bereitete Slim nicht unerhebliche Sorgen, obwohl die Chance, daß Jess diesen Verrückten jemals wieder traf, relativ gering war. Aber ganz auszuschließen war es nicht.

"Und ich hoffe, daß du das nicht gerade sein wirst", sagte er deshalb mit einer unguten Ahnung.

"Wie kommst du darauf, daß ausgerechnet ich …?" fuhr Jess unbeabsichtigt auf.

"Es war nur so eine Idee."

"Ich muß sagen, du hast merkwürdige Ideen heute abend. Kann es sein, daß dir irgendwas nicht bekommen ist?"

"Ich meinte halt nur."

"Denkst du vielleicht, ich würde es darauf anlegen oder dem Kerl sogar nachlaufen?"

"Jetzt redest du aber Unsinn! Trotzdem könnte er dir so gut wie jedem anderen plötzlich, völlig unerwartet, über den Weg laufen. Das wäre doch möglich, oder?"

"Und? Du erwartest hoffentlich nicht von mir, daß ich ihm dann freundlich guten Tag sage und ihm die andere Seite hinhalte, damit er mir da auch noch eine reindonnert."

"Ich rechne fest damit, daß du das nicht tun wirst."

"Na also! Wir sollten besser das Thema wechseln. Ich möchte mir im nachhinein nicht das gute Essen verderben. Hab' keine Lust, wegen dieses Kerls Verdauungsprobleme zu bekommen", lenkte Jess ein, denn allmählich wurden ihm seine eigenen Gedanken unheimlich.

"Hätte nicht gedacht, daß du so etwas kriegst."

"Bei dem Kerl schon." Jess füllte zum dritten Mal seine Tasse. "Was machen eigentlich unsere Finanzen?" fing er prompt selbst von etwas anderem an. "Du wolltest doch zur Bank."

Slim lehnte sich, zufrieden lächelnd, zurück. Offensichtlich tat es ihm gut, das Gespräch mit etwas Angenehmem ausklingen zu lassen.

"Ob du es glaubst oder nicht, aber die sind das Erfreulichste, was ich dir bieten kann. Wir schreiben zum erstenmal gesunde, fette schwarze Zahlen."

"Du meinst, die Ranch ist schuldenfrei?"

"Jawohl, genau das ist sie! Keine Hypothek, keine Schuldverschreibung, kein Wechsel, nichts, nur ein gutes Polster auf dem Konto für den Winter. Wir haben es endlich geschafft!"

"Kann ich kaum glauben."

"Ist aber so! Das war wirklich ein hervorragendes Jahr!"

"Dabei sah es am Anfang gar nicht so rosig aus."

"Nein, aber vergiß nicht die Herde dreijähriger, die wir im Frühjahr so blendend verkaufen konnten. Und dann die Pferde! Mit denen haben wir einen Riesengewinn einfahren können."

"War auch 'ne verfluchte Knochenarbeit, diese Biester vor Ablauf der Frist hinzutrimmen. Aber es scheint sich ja gelohnt zu haben."

"Und ob! Ich habe mir erlaubt, für dich und mich je fünfhundert als Privatentnahme zu verbuchen. Ich nehme an, es ist dir recht."

"Wenn soviel übrig war, auf jeden Fall."

"Das war es, Partner, das war es! Und auf dem Ranchkonto steht noch genug für die laufenden Kosten, Winterfutter und die eine oder andere Anschaffung. Vielleicht kommen wir so endlich mal zu einem neuen Schuppen. Auf jeden Fall können wir nun von unserem Optionsrecht auf das Land südlich des Flusses Gebrauch machen. Das ist ausgezeichnetes Weideland und durch die tiefe, geschützte Lage vor allem im Winter nicht uninteressant."

"Das hört sich wirklich nicht schlecht an. Aber hast du dir auch schon mal überlegt, daß die Ranch in ihrer heutigen Größe bereits an der äußersten Grenze liegt, um sie allein zu bewirtschaften? Mike ist noch zu jung, um eine vollwertige Hilfe zu sein. Außerdem will ich, daß er nicht vorzeitig von der Schule geht. Er soll eine gute Ausbildung erhalten und sich nicht beim Pferdezureiten die Knochen brechen müssen. Wenn wir den Besitz vergrößern, brauchen wir Hilfe. Außerdem weiß ich nicht, für wie lange ich noch ausfallen werde. Ich gehe zwar davon aus, daß es nicht für immer sein wird, aber selbst diese Möglichkeit ist nicht ganz auszuschließen. Versuch jetzt ja nicht, mir zu widersprechen! Du weißt, daß ich recht habe!"

"Ich sage doch gar nichts."

"Um so besser! Also, wie sollen wir dann deiner Meinung nach einen derart vergrößerten Besitz bewirtschaften können wie bisher? Jetzt darfst du was sagen."

"Vielen Dank. – Natürlich brauchen wir dann Hilfe. Warum auch nicht? Wir sollten allmählich die Knochenarbeit einer bezahlten Arbeitskraft überlassen."

"Fühlst du dich etwa schon zu alt dazu? Ehrlich gesagt, ich nicht."

"Ich auch nicht, aber warum sollen wir unsere Gesundheit ruinieren, nur um den Betrieb hier vorwärtszubringen? Ich rede da vor allem von dir, wenn du meinst, nächtelang im eiskalten Regen herumreiten zu müssen, nur um so ein paar störrische Rindviecher zusammenzuhalten, daß sie nicht in ihrer Dummheit in einem Schlammloch ersaufen. Das kann genausogut jemand anders machen."

"Aber vergiß nicht, wir haben damals kein einziges Tier verloren", warf Jess zu seiner Rechtfertigung ein, der sofort wußte, von welchen Nächten der Freund sprach.

"Nein, aber dafür bist du anschließend ausgefallen."

"Das war doch halb so wild."

"Bei dir ist das immer nur halb so wild. Immerhin hast du über eine Woche im Bett gelegen und konntest vor Fieber kaum aus den Augen gucken."

"Das war Dans Schuld! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nicht so lange im Bett gelegen."

"Nein, sondern wahrscheinlich unter der Erde."

"Was willst du denn? Ich hab's doch ganz gut überstanden."

"Sicher, aber um ein Haar hätte es auch anders ausgehen können. Herrgott noch mal! So etwas muß doch nicht sein! Oder diese Mustangs einbrechen, die dich regelmäßig in den Dreck werfen und auf dir rumtrampeln, bis sie dir eines Tages das Genick oder Rückgrat brechen werden. Auch das kann jemand anders machen. Es reicht, wenn du sie hinterher nur noch trainierst. Die Ausbildung von so einem halbwilden Bastard ist schließlich gefährlich genug."

"Na ja, alles was Recht ist, aber, alles in allem betrachtet, muß ich dir zustimmen."

Slim sah ihn verblüfft an, als hätte er sich verhört.

"Wie bitte?"

"Ja, du hast recht", bestätigte Jess trotz seines anfänglichen Einwandes, damit er zufrieden war. "Ganz abgesehen davon weiß ich nicht, ob ich das überhaupt je wieder tun kann. Schon allein deshalb müssen wir uns mit dem Gedanken an mindestens eine Hilfskraft, vielleicht sogar zwei, beschäftigen, auch wenn wir das Stück Land am Fluß nicht erwerben."

Die Begründung gefiel Slim zwar weniger, aber allein die Tatsache, daß Jess so einsichtig war, versetzte ihn in helles Erstaunen.

"Also, ehrlich gesagt, ein wenig wundert mich das schon, daß du so schnell nachgibst. Was ist denn auf einmal los mit dir? Hat das irgendwie eine bestimmte Bedeutung?"

"Nicht daß ich wüßte." Jess hob die rechte Schulter. "Aber vielleicht hängt das indirekt mit dieser Angst zusammen, die ich dir versucht habe zu erklären. Ich weiß es nicht. Ist doch egal. Ich kann dir doch auch mal widerspruchslos recht geben, oder?"

"Das kommt zwar selten vor …"

"Aber nur, weil es mir Spaß macht, dich in der Beziehung zu ärgern."

"Wieso ärgern? Ich genieße das." Sie grinsten sich an. In diesem Augenblick war Slim unendlich weit davon entfernt, sich mit Doc Higgins' Hiobsbotschaft zu beschäftigen. Wenn er so ausgelassen mit dem Freund plaudern konnte, wie sollte er da die Zukunft so schwarz sehen, wie sie der Arzt prophezeite? "Bei der Gelegenheit sollten wir vielleicht überlegen, was wir mit der Konzession für das Depot machen."

"Daß du den Vertrag nächstes Jahr nicht verlängern willst, habe ich mir schon gedacht."

"Und du? Was ist mit dir?"

"Ich habe dazu, glaube ich, gar keine Meinung. Irgendwie ist es mir egal. Sicher, es artet langsam, aber sicher in ein undankbares Geschäft aus. Aber dafür bringt es auch Abwechslung. Und man trifft hin und wieder interessante Leute, wie zum Beispiel Daisy, die bis heute ihre Fahrt nach San Francisco nicht fortgesetzt hat."

"Ich hoffe, daß sie das auch nicht mehr tun wird. Denn von deiner Kochkunst könnte ich nicht mehr leben."

"Denkst du vielleicht, ich von deiner?"

"Wollen Sie mich loswerden?" mischte sich Daisy überraschend von der Küchentür her ein; sie hatte ihren Namen fallen hören.

"Gott bewahre!" rief Slim. "Wir sind froh, daß wir Sie haben. Wir können Sie zwar nicht zwingen, bei uns zu bleiben, aber falls Sie mit dem Gedanken …"

"Keine Sorge, ich habe gewiß keine Gedanken in der Richtung. Ich kann doch Mike nicht mit solchen zwei Mannsbildern allein lassen."

"Jetzt hat sie's uns wieder mal gewaltig gegeben!" stellte Jess verschmitzt fest.

"Sagen Sie bloß nicht, ich hätte unrecht!"

"Ich werde mich hüten. Nachher hauen Sie mir die Pfanne auf den Kopf wie dem Kerl, der sich mal an Ihrem Haushaltsgeld vergreifen wollte. Übrigens auch einer dieser interessanten Leute, die ich meinte", wandte sich Jess grinsend an Slim.

"Was du unter interessant verstehst!"

"Wieso? War es doch auch zu sehen, wie Daisy ihre Domäne verteidigt."

"Jedenfalls wird der sich an nichts mehr hier vergreifen, sollte er noch einmal vorbeikommen", rechtfertigte Daisy ihr tatkräftiges Eingreifen und verschwand wieder in der Küche.

"Der denkt garantiert nicht mehr im Traum daran", bekräftigte Jess. "Du siehst, was ich meine, Slim?"

"Ja, ich seh's", schmunzelte der Rancher. "Trotzdem sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, ob wir das Depot halten oder nicht. Ich bin der Meinung, wir haben dadurch mehr Arbeit und Ärger, als die Sache abwirft."

"Aber die ganzen letzten Jahre waren wir froh darum."

"Das will ich nicht leugnen. Aber früher oder später müssen wir eine Entscheidung fällen, zudem ich glaube, daß zumindest die Parallelstrecke zur Eisenbahn bald eingestellt wird. Die Bahn ist nun mal bequemer und schneller. Daran führt kein Weg vorbei. Spätestens dann würde diese Einnahmequelle sowieso wegfallen, egal, ob wir sie nötig hätten oder nicht. Mit dieser Entwicklung wird sich auch ein Arthur Kellington abfinden müssen. Ob ihm das nun gefällt oder nicht. Und für uns kann es dann nur von Vorteil sein, wenn wir auf die Konzession nicht mehr länger angewiesen sind. Ich meine, wir müssen das ja nicht heute abend entscheiden, aber darüber nachdenken sollten wir schon."

"Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben."

Der Rest des Gespräches beschränkte sich auf Belanglosigkeiten. Schließlich meinte Jess, er hätte für heute abend genug Kaffee in sich hineingeschüttet und wollte lieber noch für ein paar Minuten an die frische Luft gehen, sonst müßte er diese Nacht mit erheblichen Schlafschwierigkeiten rechnen.

"Du willst jetzt noch rausgehen?" fragte Slim, nicht gerade begeistert von seinem Vorhaben.

"Ja, warum nicht? Sollte ich mich im Dunkeln vor irgend etwas fürchten?"

"Unsinn, aber es ist verdammt ungemütlich draußen – naß und kalt, genau das Richtige für dich."

"Du sagst es. Das kann jedenfalls kaum schlimmer sein, als den ganzen Tag im Haus zu hocken. Ich muß mir einfach noch ein wenig die Beine vertreten, sonst fällt mir innerhalb der nächsten halben Stunde die Decke auf den Kopf. Ich werd' schon ganz kribbelig. Bei der Gelegenheit kontrolliere ich gleich die Tore. Dann habe ich heute wenigstens etwas gearbeitet, nachdem Mike den ganzen Nachmittag wie ein Bluthund aufgepaßt hat, daß ich ja nichts anrühre. Steckst du da vielleicht dahinter?"

"Wie kommst du darauf?"

"Ist mir gerade so eingefallen. Hätte ja sein können."

Keine zwei Minuten später standen sie, den Patronengurt über ihre Jacken geschnallt, Seite an Seite auf der Veranda.

"Weißt du was?" fragte Jess mit einem tiefen zufriedenen Seufzer, während er in die diesige Dunkelheit starrte, in der sich drüben an der Koppel ein paar Pferde als schwarze Schatten im aufsteigenden Dunst schemenhaft am Gatter entlang schoben. "Jetzt, da jeder Quadratfuß dieses Bodens schuldenfrei ist, gefällt mir dieses Fleckchen Erde noch mal so gut. Hätte nie gedacht, daß ich mal mit einem Stück Land so verwachsen sein könnte."

Sie traten aus dem Lichtkegel, der durch das Fenster neben der Haustür fiel, hinunter auf den Hof und machten gemächlich ihre Runde, wobei sie die Tore schlossen und die Stalltüren verriegelten, nachdem sie noch einmal nach den Pferden gesehen hatten.

Sie gingen bis zur vorderen Einfahrt, über der unter dem hohen Torbogen mit dem Namen der Ranch das große schmiedeeiserne S-R baumelte. Über den Weiden ringsum schwelte der Dunst, und die hellerleuchteten Fenster des Wohnhauses wirkten wie Irrlichter, die in den Schwaden zu tanzen schienen. Die Luft war unangenehm naß und kalt, roch nach feuchter Erde und Moder.

Die naßkalte Luft reizte Jess zu heftigem Husten, daß er sogar einen Augenblick stehen bleiben mußte und sich leicht nach vorn beugte, während seine Rechte unter seiner Jacke verschwand und fest gegen seine schmerzende Brust drückte.

"He, alles in Ordnung?" fragte Slim besorgt und legte ihm den Arm um die Schultern, als wollte er ihn so vor der unwirtlichen Witterung schützen; er kam ihm auf einmal wieder so furchtbar zerbrechlich vor, daß es ihn erschreckte.

"Es … es geht schon", keuchte Jess. "Wir sollten besser zurückgehen, ehe es noch schlimmer wird", sagte er etwas kurzatmig.

Sie kehrten um, wobei Slim etwas dichter neben ihn trat, um ihm schneller helfen zu können, falls aus dem bisher relativ leichten Husten und Keuchen ein schwerer Anfall wurde. Aber davon blieb der Freund an diesem Abend Gott sei Dank verschont. Dafür mußte der Rancher um so intensiver an Doc Higgins' Worte denken.

Als löste ihr enges brüderliches Verhältnis eine Art Gedankenübertragung aus, stellte Jess auf dem Rückweg genau die Frage, vor der sich Slim die ganze Zeit gefürchtet hatte.

"Warst du eigentlich bei Dan gewesen heute mittag?"

Slim zögerte fast eine Sekunde zu lang mit der Antwort. Zum Glück verbarg die Dunkelheit den Großteil seiner Verlegenheit, mit der er in Windeseile nach den passenden Worten suchen mußte.

"Nein, warum?" erwiderte er mit einer Gegenfrage; der abweisende Ton in seiner Stimme wäre wahrscheinlich auch einem weniger feinfühligen Menschen aufgefallen.

Jess sah ihn forschend von der Seite her an, während sie langsam nebeneinanderher gingen. Die Arglosigkeit, die er trotz der Dunkelheit auf dem Gesicht des Freundes erkennen konnte, glich einer durchsichtigen Maske. Daß der Rancher bewußt seinem fragenden Blick auswich, bestätigte nur Jess' Vermutung: er war nicht aufrichtig. Die Frage war nur, warum?

"Ich meinte nur."

"Wolltest du denn, daß ich zu ihm gehe?"

"Nein, sonst hätte ich dich darum gebeten. Ich dachte … na ja, ich hatte dich halt im Verdacht, nach dem, was letzte Nacht war."

"Vielleicht hätte ich deshalb tatsächlich mal bei ihm vorbeischauen sollen. Geschadet hätte es bestimmt nicht."

"Wieso? Bist du krank?"

"Ich nicht, aber offensichtlich geht es dir nicht besonders. Du scheinst wirklich Probleme wegen dieser widerlichen naßkalten Suppe hier zu haben."

"Halb so wild! Irgendwie werde ich mich daran gewöhnen müssen."

Das Gespräch erstarb. Jess wußte jetzt, daß er ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er konnte zwar nicht behaupten, daß er ihn belogen hatte, aber aufrichtig war er auch nicht gewesen. Er verzichtete jedoch darauf, ihn festzunageln und zur Rede zu stellen. Obwohl er den Grund für diese Unaufrichtigkeit nicht wußte, ahnte er, daß Slim ihn lediglich schonen wollte, wovor auch immer. Allerdings war sich Jess ziemlich sicher, daß er früher oder später doch offen mit ihm reden mußte. Sie hatten sich noch nie lange etwas vormachen können. Aber an diesem Abend hatte Jess selbst nicht mehr das geringste Bedürfnis, in einem Wespennest herumzustochern, von dem er wußte, daß es hinterher nicht mehr zu besänftigen war.

Slim war sichtlich erleichtert, daß es Jess dabei bewenden ließ. Erst im nachhinein fiel ihm auf, daß der Freund seine Frage für seine eigenen Zwecke so geschickt formuliert hatte, daß er ihn mit seiner Antwort nicht belügen mußte. Jess hatte ihn schließlich nicht gefragt, ob er mit Dan gesprochen hatte, sondern ob er bei ihm gewesen wäre. Nun, und genau das war er nicht. Er hatte den Arzt in der Stadt nur zufällig getroffen, ihn aber nicht gezielt aufgesucht. Er war noch nicht einmal mit ihm ins Haus gegangen. Warum er diese Einladung am Nachmittag abgelehnt hatte, konnte er selbst nicht erklären. Jetzt kam ihm diese Entscheidung sehr gelegen. Auf der einen Seite konnte er mit Leichtigkeit das Versprechen halten, das er Dan Higgins gegeben hatte, nämlich Jess nichts von ihrer Unterredung zu berichten. Auf der anderen Seite brauchte er, und das war ihm das Wichtigste überhaupt bei dieser Geschichte, den Freund nicht anzulügen. Für ihn war schlimm genug, daß er nicht offen mit ihm sprechen konnte.

Ein wenig wunderte er sich allerdings, wieso Jess nicht weiter darauf einging, wie es sonst seine übliche Art war, wenn er hartnäckig darauf beharrte, bis zum Grund einer Sache vorzudringen. Daß er es gerade hierbei so schnell bei Oberflächlichkeiten bewenden ließ, machte Slim etwas stutzig, je mehr er sich die Dinge überlegte. Irgendwie paßte es nicht zu ihm und seiner sonst üblichen Wahrheitsliebe, mit der Jess einen für gewöhnlich in Verlegenheit bringen konnte, wenn man versuchte, etwas vor ihm zu verheimlichen. Das bedeutete entweder, daß er völlig ahnungslos war, was sich Slim jedoch am allerwenigsten vorstellen konnte, oder aber mehr wußte oder zumindest vermutete, als er zugeben wollte. Vielleicht wollte er den Freund auch nur testen, wie weit seine Offenheit ihm gegenüber reichte. Slim konnte nur hoffen, daß er das in diesem Fall nicht als Maßstab seiner Loyalität ansetzte. Ihre Freundschaft hätte sonst einen gewaltigen Schlag auszuhalten – bildete er sich jedenfalls ein.

Schweigend beendeten sie ihre Runde. Ein Außenstehender hätte wahrscheinlich angenommen, daß sie nur die Stille des Abends genießen wollten und deshalb wenig gesprächig waren. In Wirklichkeit jedoch wollten sie sich durch ihr Schweigen gegenseitig schonen, während sie unwissentlich an dasselbe dachten; Slim, weil er von Dan Higgins informiert worden war; Jess, weil ihm sein untrügliches Gespür überdeutlich eine Ahnung signalisierte, die genauer zu sein schien als jede Erklärung oder Bestätigung. Es war wirklich keine leichte Sache, mit der sie da ihre Gedankenwelt belasteten – für keinen von ihnen.

Wenig später erreichten sie den Ausgangspunkt ihres Spazierganges. Slim, der schon an der Haustür war und sie gerade öffnen wollte, bemerkte mit einem Mal, daß Jess nicht mehr bei ihm war. Er konnte sich nicht erinnern, daß er mit ihm die Veranda betreten hatte. Als er sich suchend umwandte, fand er ihn zwei Schritte vorm Treppenaufgang, noch unten auf dem Hof stehend, den Rücken halb dem Haus zugekehrt, in den dichter werdenden Nebel starrend, als gäbe es da etwas in der Dunkelheit, was seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

"Was hast du denn? Meinst du, da lauert jemand im Hinterhalt?" wollte Slim mit fast ein wenig Ironie wissen, obwohl Jess' Haltung nicht unbedingt etwas in der Richtung verriet; deshalb auch Slims fragwürdiger Versuch, die Situation ins Lächerliche zu ziehen.

"Nein, das ist es nicht. Da ist bestimmt keiner!" versicherte Jess mit einer Gewißheit und auch Ernsthaftigkeit, daß Slim erstaunt die Brauen hochzog.

Der Freund blickte ihn kurz an. Für einen Moment fiel das Licht aus dem Haus in seine Augen. Die Melancholie, die plötzlich wieder in ihnen lag, versetzte Slim einen gewaltigen Stich mitten ins Herz. Jess machte ganz den Eindruck von jemandem, der von irgend etwas für immer Abschied nehmen mußte, von etwas, das ihm nahe lag und er nicht wiedersähe, etwas, das er nicht verlassen wollte, die Wahl dieser Entscheidung ihm jedoch vom Schicksal aufdiktiert wurde. Jedenfalls wurde es Slim ganz anders.

"Dann komm endlich!" hörte er sich lamentieren. "Ich denke, du willst mit Mike noch eine Partie Dame spielen."

Für einen Augenblick verharrte Jess reglos auf der Stelle, als könnte er sich nicht losreißen. Slim, die drei Stufen der Veranda über ihm, blickte besorgt auf ihn hinab.

Das Licht aus dem Haus ließ den aufziehenden Dunst milchigweiß leuchten. Entsprechend blaß wirkte Jess' Gesicht, noch blasser und hagerer als sonst. Slim glaubte fast, so etwas wie Enttäuschung in ihm zu erkennen. Enttäuschung worüber, fragte er sich. Darüber, daß ihm sein bester Freund bewußt nicht die Wahrheit sagen wollte? Wartete er darauf? Wollte er ihm Gelegenheit geben, das Versäumte nachzuholen, ehe sie wieder zu den anderen ins Haus zurückkehrten?

Nein, das war keine Enttäuschung, die sich da in seinen Augen spiegelte. Es war eine seltsame Traurigkeit, die in ihnen lag, die nur eines bedeuten konnte: Jess ahnte nicht nur, was das Schicksal noch für ihn bereithielt, er wußte es. Und da er der festen Überzeugung war, daß Slim es auch wußte, hielt er es nicht für nötig, darüber zu sprechen. Es hätte seiner Meinung nach nichts geändert.

"Verdammt, Jess, was ist denn bloß mit dir los? Du bist ja auf einmal ein einziges Rätsel! Stehst da rum und stierst vor dich hin wie einer, der überlegt, ob er von einer Klippe springen soll oder nicht."

"Du wirst lachen, aber so ähnlich ist mir zumute." Langsam stieg Jess die drei Stufen hoch. Endlich auf der Veranda, griff er nach dem Vordachpfosten. "Du solltest endlich mal Farbe besorgen und das Ding streichen!" sagte er plötzlich ohne ersichtlichen Bezug zu dem vorher Gesagten, während seine Rechte auf dem Balken auf und ab glitt.

Slim starrte ihn verwirrt an. Seine Gedankensprünge waren genauso merkwürdig wie seine ständig wechselnde Stimmung.

"Ich hatte noch keine Zeit, mich darum zu kümmern. Außerdem gibt es Wichtigeres im Moment, als das Haus zu verschönern."

"Der Lack ist schon vollkommen verwittert. Wenn du die Farbe besorgst, werde ich den Anstrich besorgen. Dann habe ich wenigstens etwas zu tun."

"Der alte Lack muß erst abgeschliffen werden, sonst hält das nicht lange. Das weißt du genau. Und eben das wirst du nicht tun! Das Haus braucht im Frühjahr sowieso ein paar Eimer Farbe. Ich denke, das haben wir neulich schon mal ausführlich besprochen. Bis dahin wird auch dieser verdammte Pfosten warten müssen. Was stört dich denn plötzlich daran?"

"Es fällt mir halt gerade auf. Diese feuchte Witterung ist nichts für das blanke Holz."

"Das ist gutes, altes Holz. Es ist hart genug, um die paar Wintermonate auch ohne neue Farbe zu überstehen."

Slim wurde immer ungehaltener. Es gefiel ihm einfach nicht, wie Jess da vor sich hin brummelte und dabei gedankenverloren über den Holzbalken rieb.

"Mit dem Holz ist es wie mit den Menschen – die einen überstehen es, die anderen nicht."

"Was soll denn das nun wieder heißen? Was redest du da bloß für ein Zeug zusammen?" Slim sah ihn ärgerlich an. "Davon kann man ja 'ne Gänsehaut kriegen!"

"Du hast recht!" Wie zur Bekräftigung schlug Jess gegen den Pfosten. Mit einem Ruck straffte er seinen etwas zusammengekauerten Körper und sah entschlossen auf. Die Melancholie war zwar nicht ganz aus seinen Augen verschwunden, aber er bemühte sich ernsthaft, seinen Schwermut niederzukämpfen und in der feuchtkalten Dunkelheit zurückzulassen. "Wir sollten wirklich endlich hineingehen, ehe es hier draußen noch ungemütlicher wird."

Fortsetzung folgt