KAPITEL 19
Am nächsten Tag, irgendwann im Laufe des vorangeschrittenen Vormittags kam Jess die Treppe herunter. Er hatte sich nach dem Frühstück wieder hingelegt, weil er sich nicht besonders fühlte.
Daisy war beim Bügeln. Als sie ihn kommen hörte, stellte sie das Eisen zur Seite und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Dabei fielen ihr sofort seine müden Augen auf. In seinem grauen Flanellhemd wirkte er auffallend blaß und krank.
"Jess, Sie sehen aber gar nicht gut aus", empfing sie ihn besorgt.
"Ich weiß", gab er diesmal sofort zu. Ein Blick in den Spiegel vor einer Minute hatte ihm eindeutig gezeigt, daß es unmöglich wäre, jemandem weismachen zu wollen, ihm ginge es blendend. "Ich glaube, je mehr ich schlafe, desto müder werde ich."
"Sie sollten morgens nicht mehr so früh aufstehen, solange Sie nicht gesund sind. Für Sie wäre es besser, wenn Sie ausschliefen, anstatt sich nach dem Frühstück wieder hinzulegen. Sie quälen sich doch nur selber herum und schaden sich damit mehr, als Sie absehen können."
"Wahrscheinlich haben Sie recht." Sein Lächeln wirkte etwas gezwungen. "Ich verspreche, mich ab morgen zu bessern. Aber beschweren Sie sich nicht, wenn Sie zweimal Frühstück machen müssen."
"Aber, Jess, das soll doch kein Problem sein. Wenn Sie nur deshalb … Sie wissen ganz genau, daß ich auch dreimal Frühstück machte, wenn es sein müßte. Das ist mir bestimmt nicht zuviel. Das mache ich doch gern. Ach, manchmal sind Sie aber auch so unbeholfen in der Beziehung!" mußte sie ihm vorhalten. "Sie sind ewig nur darauf bedacht, an andere zu denken, sogar wenn es um solche Lappalien geht. Wann lernen Sie bloß endlich, ein einziges Mal zuerst an sich zu denken? Wenn ich Sie morgen früh um sechs hier im Haus herumgeistern sehe, werde ich Sie eigenhändig mit dem Kehrbesen wieder ins Bett jagen. Und Frühstück werden Sie dann überhaupt keines kriegen! Haben Sie mich verstanden?"
"Sie können ja ganz schön energisch werden", bemerkte er verschmitzt. "Seien Sie nachsichtig mit mir!" bat er mit einem schelmischen Zwinkern, das seine müden Augen richtiggehend belebte. "Was das angeht, bin ich ziemlich schwer von Begriff."
"Ach, Sie! Wenn Sie schwer von Begriff sind, bin ich meine eigene Großtante. Das sind alles nur faule Ausreden. Ich kenne Sie besser, als Sie denken."
"Das glaube ich Ihnen aufs Wort."
Mit einem Mal wurde sie sehr ernst. Als hätte sie ihren Sohn vor sich, fuhr sie ihm mit mütterlicher Besorgnis über sein hageres Gesicht und legte ihm die Hand unter das spitz gewordene Kinn.
"Jess, wir sollten darüber nicht soviel scherzen. Sie sahen wirklich schon besser aus. Sie müssen sich mehr schonen und sollten das mit dem Ausruhen tatsächlich beherzigen."
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie an seine Wange. Was ihm diese Frau bedeutete, konnte er nicht erklären. Sie schenkte ihm all das, was er als Kind entbehren mußte und später als erwachsener Mann verloren hatte. Es tat ihm gut, einen Menschen wie sie in seiner Nähe zu haben. Sie war für ihn etwas Ähnliches, was er für Mike sein wollte, eine Art Zuflucht. Sie erschien ihm wie einer dieser geschlechtslosen Engel, der mit seiner Aura eine magische Kraft ausstrahlte, die ihn in seinen Bann zog und mit einem wohligen Gefühl der Geborgenheit erfüllte.
"Ich habe nicht gescherzt, Daisy!" versicherte er mit einem wehmütigen Ausdruck in seinen dunklen Augen. "Auch mir ist das sehr ernst. Wenn es sich anders angehört haben sollte, dann doch nur, um Sie nicht zu erschrecken."
"Sie sind ein richtiger Lauselümmel, wissen Sie das! Man kann Ihnen nicht böse sein."
"Nun, ich kenne einen ganzen Haufen Leute, die da absolut anderer Meinung sind. Manche von ihnen kriegen sogar schon einen Tobsuchtsanfall, wenn sie bloß an mich denken oder meinen Namen hören."
"Die kennen Sie alle nicht so gut wie ich." Sie sah ihn sinnend an, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Nur allzu leicht wäre das Gespräch sonst in Bahnen gelenkt worden, in die sie es ihm zuliebe nicht bringen wollte. Statt dessen fing sie von etwas völlig anderem an. "Jetzt habe ich aber genug geschwätzt! Möchten Sie etwas essen? Soll ich …"
"Danke, Daisy", hielt er sie zurück, als sie schon Richtung Küche enteilen wollte; er war tatsächlich froh, daß sie das Thema wechselte. "Aber ich habe wirklich keinen Hunger. Ich trinke nur ein Glas Milch. Das kann ich mir auch selber holen!" setzte er rasch hinzu, noch ehe sie dazu kam davonzuhuschen, um ihm das Gewünschte zu bringen. "Dann habe ich wenigstens etwas zu tun."
Sie schüttelte nur den Kopf, um ihm zu zeigen, daß er nicht so reden sollte, ließ ihn aber doch gehen, um sich selbst zu bedienen.
Mit einem vollen Glas kam er aus der Küche und setzte sich zu ihr. Eine ganze Weile sah er ihr bei der Arbeit zu, trank von seiner Milch und versuchte, die Ruhe zu genießen, ohne sich durch das Nichtstun nervös machen zu lassen.
Er beobachtete sie, wie sie mit flinken und doch ruhigen Bewegungen ein Wäschestück nach dem anderen bügelte und akkurat zusammenlegte. Wenn er es jemandem sagte, hätte es vermutlich keiner geglaubt, aber irgendwie tat es ihm gut, ihr dabei zuzusehen.
"Wissen Sie was?" sagte er auf einmal, weil er sich mit ihr über dieses Phänomen unterhalten wollte. "Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich könnte Ihnen jetzt stundenlang beim Bügeln zusehen. Es klingt bestimmt ganz schön dämlich, aber irgendwie wirkt es so beruhigend."
Sie blickte ihn lächelnd an.
"Komisch, mein Mann hat das immer behauptet. Von Nachbarsfrauen habe ich das auch schon gehört, daß ihre Männer ganz wild darauf sind, ihnen dabei Gesellschaft zu leisten, wenn sie entspannen wollen. Anscheinend übt diese Arbeit auf das starke Geschlecht eine ähnliche Wirkung aus wie ein Beruhigungsmittel. Vielleicht sollten es Nervenärzte als Behandlungsmethode einführen."
"Es wirkt aber offensichtlich nur in der einen Richtung. Ich kann mich noch sehr gut an die Zeiten erinnern, als wir unsere Hemden selbst bügelten. Es machte mich immer fürchterlich nervös, wenn Slim Hausdienst hatte und sich mit dem Eisen versuchte. Dasselbe hat er behauptet, wenn ich an der Reihe war."
"Das muß ein köstliches Bild gewesen sein!" rief sie amüsiert.
"Lachen Sie nicht! Wir haben uns die größte Mühe gegeben. Slim hat jedesmal krampfhaft versucht mir klarzumachen, daß ein Bügeleisen kein Brandeisen sei. Übrigens genauso erfolglos wie ich ihm beizubringen versuchte, daß er das Ding nicht ständig wie einen Hammer auf den Amboß hauen soll, wenn eines meiner Hemden dazwischen war. Wir haben uns dann darauf geeinigt, unsere Hemden nur noch zu besonderen Anlässen zu bügeln. Das war wirtschaftlicher, weil wir die Ausgaben für Wäsche erheblich reduzieren konnten."
Daisy lachte vergnügt auf, wenn sie sich die zwei Männer bei der notgedrungen absolvierten Hausarbeit vorstellte.
"Das hat wahrscheinlich genauso lustig ausgesehen, als wenn ich versuchte, Ihre Arbeit zu machen."
"Sie würden dabei mit Sicherheit ein besseres Bild abgeben als wir in unserer Hausmädchenrolle. Aber wenn ich ganz ehrlich bin – wir hatten auch einen Mordsspaß. Es war manchmal schon recht abenteuerlich, was wir uns einfallen ließen, um diese lästige Hausarbeit auf ein Mindestmaß zu beschränken. Ich glaube, es war höchste Zeit, daß Sie damals diesem Junggesellentreiben ein Ende bereiteten. Es ist auch für Mike besser, anstatt in einem chaotischen Männerhaushalt aufzuwachsen."
"Haben Sie eigentlich noch nie daran gedacht, wieder zu heiraten?" Zu spät merkte sie, daß sie damit an eine alte Wunde bei ihm rührte, die selbst nach so langer Zeit nicht ganz vernarbt war. "Es tut mir leid, Jess, ich wollte nicht … Es war gedankenlos von mir."
"Ist schon gut, Daisy", winkte er ab. "Ich glaube, es macht mir nicht mehr ganz soviel aus, darüber zu reden. Mit Ihnen kann ich das. Außerdem ist es mittlerweile wirklich schon sehr lange her, daß ich eigentlich gelernt haben müßte, damit umzugehen. Das Leben geht schließlich weiter. Wenn man Erinnerungen zu sehr nachhängt, kann es passieren, daß man nicht frei genug ist, die Gegenwart zu bewältigen. Trotzdem glaube ich nicht, daß … Wissen Sie, ich habe Laura sehr geliebt. Irgendwie habe ich Angst davor, diesen Schmerz des Verlustes noch einmal erleben zu müssen. Ich könnte es nicht ertragen. Und dann wäre es auch nicht fair einer Frau gegenüber. Ich kann Laura nicht vergessen. Ich habe das alles vielleicht ganz gut überwunden in der Zwischenzeit, aber ich kann nicht vergessen. Und dann muß ich auch an Mike denken."
"Aber gerade wenn Sie an ihn denken, liegt es eigentlich auf der Hand, daß Sie versuchen müßten, eine richtige Familie zu gründen. Dazu gehört nun einmal eine Frau."
"Sicher, Daisy, aber normalerweise ist es doch so, daß ein Mann eine Frau heiratet und dann die Kinder kommen. Das ist das, was ich unter dem Gründen einer Familie verstehe. Bei Mike ist es ganz anders. Der Junge war zuerst da. Er ist schon, ich kann nicht sagen, erwachsen, aber immerhin so alt, daß ich ihm ein Mitspracherecht einräumen muß. Ich kann mir doch nicht einfach eine Frau suchen, sie heiraten und ihm sagen: 'Das ist jetzt für dich eine Mutter. Achte und respektiere sie, hab sie lieb!' Das geht doch nicht. Zu so etwas kann ich den Jungen nicht zwingen. Das muß er freiwillig tun, von sich aus. Wenn ich eine Frau so lieben würde, um sie heiraten zu können, heißt das noch lange nicht, daß auch Mike sie genug liebhaben könnte, um sie als Ersatz für eine ihm unbekannte Mutter zu akzeptieren."
"Aber wenn Sie dabei immer nur an den Jungen denken …"
"Das werde ich, Daisy, das werde ich! Mike hat furchtbare Dinge in diesem Waisenhaus erleben müssen. Das Schlimmste war, nicht geliebt, sondern nur notgedrungen geduldet zu werden, ja, lästig zu sein. Solange ich lebe, möchte ich, daß er so etwas nie wieder als Kind erfahren muß. Wenn ein Erwachsener so behandelt wird, hat er die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, etwas zu ändern, dagegen zu kämpfen, aber ein Kind … Mike soll das für alle Zukunft erspart bleiben. Die ersten sechs Jahre seines Lebens mußte er genug leiden. Glauben Sie mir, ich weiß, wie das ist, wenn man als Kind nur herumgestoßen und getreten wird. Um ganz sicher zu sein, daß sich das bei Mike nicht wiederholt, bin ich gerne bereit, auf alle Annehmlichkeiten zu verzichten, die ein Eheleben so mit sich bringen kann. Was geschehen wird, wenn der Junge einmal erwachsen ist und auf eigenen Beinen stehen kann … Nun ja, darüber sollten wir uns besser erst unterhalten, wenn es soweit ist. Bis dahin hoffe ich auch weiterhin auf ihre tatkräftige Hilfe, was seine Erziehung anbelangt. Das darf ich doch?"
"Aber natürlich!"
"Das hier soll sein Zuhause bleiben, solange er will."
"Haben Sie sich schon einmal überlegt, was wird, wenn Slim die Heiratswut packt? Das hier ist immerhin sein Elternhaus. Sie können nicht von ihm verlangen, daß er es verläßt."
"Wer redet denn von so etwas!" Jess lachte belustigt auf. "Nur darüber mache ich mir in Zukunft erst wieder Gedanken, wenn er mir seine Angetraute offiziell als Mrs. Sherman vorstellt. Allein in den letzten zwei Jahren hat er mir mindestens fünfmal geschworen, endlich die Richtige gefunden zu haben. Die und keine andere! Die ersten drei Male habe ich ihn tatsächlich ernstgenommen. Das eine Mal war ich sogar so voreilig und hatte schon das Bauholz für ein neues Haus bestellt, das ich mir unten am Fluß bauen wollte, und bereits den Grundriß dafür abgesteckt. Erinnern Sie sich noch? Mike wollte sein Zimmer unbedingt auf der Seite zum Stall hin, damit er morgens vom Bett aus sein Pony begrüßen könnte."
"Und Sie getrauten sich nicht, mich zu fragen, ob ich mit Ihnen umziehen wollte."
"Genau! Und dann ist aus der großen Liebe doch nichts geworden, und Slim meinte, wir sollten ihn ja nicht allein hier sitzen lassen."
"Ja, und mit dem Holz haben Sie das Haus hier ausgebaut."
"Sehen Sie, Daisy, und genau deshalb mache ich mir über dieses Problem keine weiteren Gedanken. Wenn ich jedesmal Bauholz bestellt hätte, hätten wir mittlerweile schon eine ganz ansehnliche Gemeinde hier aufbauen können." Jess grinste vergnügt vor sich hin, ehe er wieder ernster wurde. "Aber das meinte ich nicht mit Zuhause. Zuhause ist meiner Meinung nach nicht allein ein Gebäude oder Dach über dem Kopf. Für mich bedeutet das etwas anderes, mehr als nur ein Herd oder Bett."
"Ich weiß, was Sie meinen", nickte sie verständnisvoll.
"Das ist auch der Grund, weshalb ich Slim das Versprechen abgenommen habe, sich um Mike zu kümmern, falls ich …" Er sprach den Satz nicht zu Ende und starrte vor sich hin. "Sicher war das überflüssig, vielleicht sogar verletzend für ihn, denn ich weiß, daß er das auch ohne dieses Versprechen tun würde. Aber wer weiß, was noch wird. Über das, was aus mir wird, bin ich mir jedenfalls nicht sicher, nicht nach dieser Geschichte hier." Mit dem Daumen deutete er zum Nachdruck auf seine Brust. Daisy wollte etwas einwenden, aber sie schwieg. Jetzt war nicht der richtige Augenblick für Einwände. "Auf jeden Fall kann ich seitdem beruhigter leben. Und sicherlich wird es mir auch leichter fallen …"
Nun konnte sie sich doch nicht mehr beherrschen.
"Bitte, Jess, sprechen Sie nicht weiter!" bat sie, noch ehe es ihr recht gewahr wurde, daß er von sich aus innegehalten hatte.
"Sicher, Daisy, entschuldigen Sie, ich wollte Sie damit nicht beunruhigen. Aber Sie wissen so gut wie ich, daß ich nach wie vor mit allem rechnen muß. Wir alle wissen das! Es hat wenig Sinn, so zu tun, als gäbe es dieses Problem nicht. Damit schaffen wir es gewiß nicht aus der Welt. Wenn ich jedoch schon nicht weiß, wie meine eigene Zukunft aussehen wird, will ich wenigstens für die von Mike vorsorgen. Das muß ich doch, oder nicht? Das tun doch Väter im allgemeinen, nicht wahr? Ich meine, ich bin zwar nicht sein richtiger Vater, aber das ändert schließlich nichts. Deshalb bin ich trotzdem für ihn verantwortlich. Oder nehme ich es damit zu ernst?"
"Bestimmt nicht. Mit so etwas kann man es eigentlich nie ernst genug meinen. Sie machen das schon richtig, nur sollten Sie dabei Ihre eigene Zukunft nicht allzu düster sehen."
"Ich weiß, aber es ist nicht immer leicht." Er trank seine Milch aus und stand entschlossen auf. "Wissen Sie was, Daisy? Diese Unterhaltung mit Ihnen hat mir richtig gutgetan. Ich rede zwar nicht ausgesprochen gern über solche Dinge, aber hin und wieder brauche ich das."
"Sie wissen, ich bin immer für Sie da, wenn Sie mich brauchen", lächelte sie bescheiden und sortierte die gebügelte Wäsche.
"Wie könnte ich das vergessen! Sie sind wirklich ein Goldschatz!"
"Jess, Sie reden zuviel!"
"Ich weiß", lachte er. "Da muß was in der Milch gewesen sein. Trotzdem danke ich Ihnen, daß Sie soviel Geduld haben. Ich kann mir gut vorstellen, daß ich Ihnen vor allem in der letzten Zeit ganz schön auf die Nerven gehe."
"Jetzt wollen Sie sich wieder schlechter machen, als Sie sind."
"Na, ehe ich mich tatsächlich noch anfange zu schämen, werde ich lieber mal rausgehen und nachsehen, was Slim treibt. Nicht daß der Kerl nur so tut, als ob er arbeitet und statt dessen im Heu liegt und schläft."
"Glauben Sie das?" fragte sie amüsiert.
"Natürlich nicht!" antwortete er ebenso. "Aber Kontrolle kann schließlich nichts schaden."
Über sein albernes Gerede konnte sie nur den Kopf schütteln. Aber im stillen war sie froh darum, war er doch vor kurzem für ihre Begriffe ein wenig zu ernst gewesen. Vor allem schien er jedoch seine Zerschlagenheit überwunden zu haben, denn seine Augen blickten nicht mehr ganz so müde. Offensichtlich hatte es ihm wirklich gutgetan, mit ihr ein wenig zu plaudern.
Neben seinen gesundheitlichen Problemen machte Jess vor allem die Langeweile zu schaffen. Am Ende der Woche stellte er deshalb die Mitbewohner der Ranch vor vollendete Tatsachen, erschien bei Slim im Stall und bat ihn anzuspannen. Der Rancher war davon überhaupt nicht begeistert, holte aber doch die Pferde, um sie vor den schweren Kastenwagen zu schirren. Es war zwecklos, gegen Jess' texanischen Dickschädel zu kämpfen.
"Soll ich irgend etwas in der Stadt erledigen?"
"Du kannst bei Hanson vorbeigehen und ihn fragen, ob die Schmiederohlinge da sind. Er hatte nicht alle Größen auf Lager. Sie waren bestellt, und er meinte, sie müßten in dieser Woche noch eintreffen. Er wollte auch stärkeren Draht besorgen für den Zug am Gattertor. Der ist schon wieder gerissen."
"Hab' ich gesehen."
"Und frag ihn, was mit der Pumpe ist, ob wir noch vor dem ersten Frost damit rechnen können. Die im Waschhaus zieht Luft. Der Zylinder hat einen Riß. Daisy muß jedesmal das Wasser von der Tränke schleppen, wenn ich sie nicht rechtzeitig dabei erwische und ihr das abnehme."
"Na, da kommt doch einiges zusammen. Es lohnt sich also, daß ich in die Stadt fahre", stellte Jess nicht ohne Triumphgefühl fest.
"Du weißt ganz genau, daß es in der Stadt immer etwas zu erledigen gibt, wenn man nur genügend darüber nachdenkt", brummte Slim weniger begeistert. "Bei der Gelegenheit würde ich an deiner Stelle auch gleich zum Barbier gehen und mir die Haare schneiden lassen. Du siehst aus wie ein Pferdedieb, der unter der Mähne seine abgeschnittenen Ohrläppchen verbergen will. Wenn du so Morts Deputy über den Weg läufst, locht er dich glatt ein, weil er denkt, du wärst einer der Rothäute, die letzten Monat aus dem Reservat abgehauen sind."
"Hab' noch nie so einen bleichgesichtigen Indianer gesehen."
"Nein, aber von hinten sieht man das nicht. Es sollen sich Skalpjäger in der Gegend herumtreiben. Nimm dich in acht, daß sich nicht einer 'ne Prämie verdienen will."
"Der soll nur kommen!"
"Nehmen Sie mich mit?" mischte sich plötzlich Daisy ein, daß sich Jess erstaunt umwandte und Slim sich ebenso überrascht von seiner gerade beendeten Arbeit aufrichtete.
Sie trug ein langes Cape aus schwerem Wollstoff, den dazu passenden Hut und streifte gerade ihre dünnen Lederhandschuhe über. Sie sah sehr unternehmungslustig aus.
"Daisy, was haben Sie denn vor?" brachte Jess endlich heraus.
"Ich werde mit Ihnen in die Stadt fahren und einen kleinen Bummel machen. Haben Sie etwas dagegen?"
"Nein", sagte er verwirrt. "Überhaupt nicht! Wie kommen Sie darauf?"
"Das ist wirklich eine großartige Idee!" rief Slim begeistert. Er machte gar keinen Hehl daraus, daß er sichtlich froh war, den Freund nicht allein fahren lassen zu müssen. Fast hatte er sogar den Verdacht, Daisy hätte ebenfalls Bedenken gehabt und wollte nur deshalb ausgerechnet heute einen Stadtbummel machen.
"Das finde ich auch", nickte sie. "Ich muß unbedingt wieder einmal ein wenig mit anderen Frauen schwätzen. Dann trifft es sich doch ausgezeichnet, daß Sie ausgerechnet denselben Weg haben", wandte sie sich an Jess, der mißtrauisch die Brauen zusammenzog.
"Irgendwie habe ich das Gefühl, das ist ein abgekartetes Spiel. Wollen Sie etwa Aufpasser spielen?"
"Ich dachte eigentlich eher, daß Sie auf mich aufpassen", erwiderte sie schlagfertig. "Ich wollte neulich schon mit Slim fahren, wollte Sie aber nicht allein lassen. Außerdem hätte es dann nichts zu essen gegeben. Nun, und ich nehme nicht an, daß Sie mich in diesen Zeiten allein fahren lassen."
"Worauf Sie sich verlassen können!"
"Na also! Da habe ich mir gedacht, daß wir ja ein wenig auf uns gegenseitig aufpassen können. Ich fühle mich wirklich sicherer, wenn einer von Ihnen mich begleitet. Ich habe zwar keine Angst, aber noch treibt sich hier zuviel Gesindel herum."
Ihre Argumentation war zwar sehr fadenscheinig, erfüllte aber ganz gut ihren Zweck. Daisy vertrat natürlich auch die Ansicht, daß Jess besser zu Hause bliebe, weil das, was er vorhatte, noch viel zu anstrengend für ihn war. Da sie auf der anderen Seite allerdings wußte, daß sie ihn mit gängigen Mitteln nie hätte von seinem Vorhaben abbringen können, sah sie es als beste Lösung an, ihn zu begleiten.
"Sie haben mich überzeugt", gab Jess nach, weil er merkte, daß es wenig Sinn hatte, mit ihr darüber zu diskutieren.
"Fein, dann machen wir uns heute einen schönen Tag in der Stadt."
"Ich wollte eigentlich mit Mike zurückkommen bis zum Essen."
"Wie wäre es, wenn wir in der Stadt essen und erst am Nachmittag zurückfahren? Dann brauche ich mich heute mittag nicht so zu hetzen. Sie haben doch nichts dagegen, Slim?" wandte sie sich an diesen, der erwartungsgemäß nichts einzuwenden hatte, sondern im Gegenteil sehr dafür stimmte.
Er half ihr auf den Wagen und registrierte es mit Beruhigung, daß Daisy selbst die Zügel ergriff, noch ehe Jess Gelegenheit gehabt hätte, sie ihr streitig zu machen. Kein einziges Wort verlor dieser darüber. Manchmal konnte er wirklich einsichtig sein, aber offenbar nur, wenn Daisy im Spiel war. Dann hatte eindeutig sie das Sagen, und er fügte sich – mehr oder weniger bereitwillig.
In der Stadt trennten sie sich, um jeder für sich Besorgungen zu machen, verabredeten sich jedoch zum Mittagessen im Hotel.
In Tonis Friseurgeschäft war im Moment niemand. Der Besitzer, ein italienischer Einwanderer, der stolz auf seine amerikanische Staatsbürgerschaft war und dies jedem Fremden zur Begrüßung freudestrahlend in fast fehlerfreiem Englisch mit liebenswertem italienischem Akzent erklärte, fegte die überflüssigen Reste seines letzten Kunden zusammen. Als Jess eintrat, bimmelte die Türglocke wie ein ganzes Gehänge von Schellen und Klingeln, daß dieser jedesmal vor Schreck zusammenzuckte, weil er dachte, er hätte die halbe Einrichtung demoliert.
"Hallo, Toni!" begrüßte er den Inhaber, der bei seinem Eintreten sofort den Besen zur Seite stellte. "Ihr Türgeklimper schafft es immer noch, mich zu erschrecken. Irgendwann werde ich davon garantiert einen Herzschlag kriegen", grinste er und schloß vorsichtig die Tür, um das Glockenspiel nicht über Gebühr zu reizen.
"Signor Jess!" rief Toni erfreut und schlug klatschend die Hände zusammen, wobei seine schwarzen, südländischen Augen vor Freude zu strahlen begannen. Das "Signor" war der einzige Überrest, der an seine Muttersprache erinnerte. Er benutzte es allerdings nur im Zusammenhang mit der an ihn gerichteten Anrede, weil er der Meinung war, es paßte besonders gut zu seinem Vornamen. "Das ist aber eine Überraschung! Ich habe Sie ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!" An seinen Fingern fing er an zu rechnen. "Mindestens drei Monate nicht!"
"Das ist gut möglich. Wahrscheinlich sogar noch länger."
"Ah, das war eine furchtbare Geschichte!" Toni half ihm aus der Jacke und hängte sie an die Garderobe; er war mit allen Kunden aufmerksam und freundlich, aber er machte keinen Hehl daraus, daß er Jess zu jenen zählte, die er besonders gern bediente. "Die ganze Stadt hat davon gesprochen. Man sieht es Ihnen noch richtig an. Ganz blaß und schmal sind Sie geworden."
"Nicht schmal, Toni, hager nennt man so was", korrigierte Jess, ohne sich von seiner Anteilnahme belästigt zu fühlen oder ihn in schulmeisterlicher Manier verbessern zu wollen.
"Ah, danke, Signor Jess, aber manchmal erwische ich immer noch ein falsches Wort."
"So falsch war es gar nicht", meinte dieser, während er sich auf einem der bequemen Stühle niederließ.
"Jedenfalls sehen Sie noch sehr krank aus." Toni sah ihn mitleidig an. "Dafür sollten diese Kerle zur Hölle fahren! Wenn einer von ihnen in meinem Laden auftauchte, würde ich ihm mit dem Rasiermesser glatt die Kehle durchschneiden!" verkündete er in leidenschaftlichem Eifer, wobei er in bezeichnender Weise mit dem Zeigefinger an seinem Hals demonstrierte, wo und wie er die Klinge ansetzen wollte.
"Tun Sie es lieber nicht, Toni!" riet Jess mit ernster Miene. "Ich an Ihrer Stelle würde es noch nicht einmal probieren. Diese Männer sind wirklich gefährlich."
"Wenn das ein Mann wie Sie sagt … Kennen Sie diese Halunken?"
"Nein, und ehrlich gesagt, möchte ich auch nicht ihre nähere Bekanntschaft machen. Der eine Zusammenstoß mit ihnen reicht mir für alle Zeiten."
"Die haben Sie sehr schlimm getroffen, nicht wahr? Als ich davon erfuhr … Du lieber Himmel, ich konnte es nicht glauben! Ich konnte mir nicht vorstellen, daß man Sie … Aber jetzt, wo ich das da sehe …" Toni deutete mit einem bedauernden Kopfschütteln auf Jess' leeren Hemdsärmel, der in seinem Hosenbund steckte. "Allmächtiger, was hat man Ihnen angetan!"
"Keine Sorge, das ist nur vorübergehend. Meinem Arm ist bei der Sache nichts geschehen", beruhigte Jess den temperamentvollen Einwanderer.
"Trotzdem packt mich eine entsetzliche Wut, wenn ich daran denke, was ich in der Zeitung darüber las und Sie dann so vor mir sehen muß."
"Lassen wir das lieber, Toni", meinte Jess schließlich. "Es ist nun mal nicht zu ändern. Ich habe eine ziemlich schlimme Zeit hinter mir und möchte das nicht mehr beleben, als unbedingt sein muß."
"Natürlich, Signor Jess, entschuldigen Sie, wenn ich soviel davon rede! Aber es hat mich wirklich sehr getroffen."
"Danke." Seine ehrliche Anteilnahme machte Jess fast verlegen. "Aber machen Sie sich trotzdem nicht so viele Sorgen. Ich denke, ich hab's ganz gut überstanden, auch wenn das von den Kerlen gewiß nicht beabsichtigt war. Ich hatte verdammtes Glück und … na ja, reden wir von was anderem."
"Natürlich!" wiederholte der Barbier verständnisvoll, griff endlich nach dem Umhang und warf ihn über seinen Kunden. "Rasieren und Haare schneiden?" fragte er beiläufig.
"Nur Haare schneiden, bitte!"
"Wie immer?"
"Ja, wie immer."
"Im Osten trägt man jetzt Mittelscheitel und viel Pomade. Soll ich …"
"Toni, ich sagte, wie immer. Lassen Sie bitte den Scheitel, wo er ist, und unterstehen Sie sich ja nicht, mir irgendwo Pomade hinzuschmieren."
"Aber alle modebewußten jungen Männer ölen ihr Haar. Darauf fliegen die Frauen wie nichts."
"Meinetwegen, aber ich bin weder modebewußt, noch lege ich Wert darauf, daß eine Frau auf mich fliegt, bloß weil ich mich einfette wie eine Radnabe oder mir einen Mittelscheitel mit dem Schürhaken ziehen lasse. Also, keine Pomade und kein modebewußter Firlefanz! Nur schneiden, bitte, damit ich mich wiedererkennen kann. Capito?"
"Si, Signor Jess." Toni schüttelte seufzend den Kopf und fing endlich an. Bald war er darüber hinweg, daß er Jess nicht den letzten Schrei der Figarokunst verkaufen konnte. Wenn er ehrlich war, hätte ein pomadiger Mittelscheitel gar nicht zu seinem Kunden gepaßt.
Jess schloß die Augen, weil es ihn nervös machte, den Barbier auf seiner linken Seite hantieren zu sehen, obwohl Toni sich die größte Mühe gab, seine kranke Schulter nicht zu berühren.
"Was gibt's eigentlich Neues in der Stadt?" wollte er teils aus Neugierde, teils aus Langeweile wissen.
"Ach, nicht viel, das übliche Gerede, den üblichen Klatsch. Nichts Besonderes! Mrs. Barlow hat ihr fünftes Baby bekommen, endlich ein Junge! Der alte Sam Klugman ist vor drei Wochen an Altersschwäche gestorben, und der Frauenbund für Zucht und Ordnung wettert wie immer gegen die Unmoral der heutigen Jugend."
Jess grinste bis über beide Ohren.
"Das ist wirklich nichts Neues. Es wäre höchstens etwas Neues, wenn die Damen mal gegen was anderes wetterten."
"Tja, und Sheriff Cory ist fürchterlich wütend, weil er immer mehr Steckbriefe in seiner Schublade hat und vor allem, weil er diese drei Halunken noch nicht fangen konnte. Waren Sie schon bei ihm?"
"Nein, noch nicht. Ich bin als erstes hierher gekommen. Werde ihn nachher besuchen."
"Er ist wirklich mächtig verärgert. Das kann ich sogar sehr gut verstehen. Und dann will Mr. Majors sein Geld transportieren lassen nächsten Monat. Offiziell ist davon zwar noch nichts bekannt, aber die ganze Stadt weiß es schon. Haben Sie davon gehört?"
"Ja, scheint wirklich ein offenes Geheimnis zu sein."
"Wie immer, wenn davon niemand wissen soll. Es wird nicht mehr lange dauern, bis man im Saloon Wetten darüber abschließt, ob das Geld unterwegs gestohlen wird oder nicht. Ich überlege schon, ob ich mir vorher nicht lieber meine Ersparnisse von der Bank hole. Unter meiner Matratze sind sie bestimmt besser aufgehoben als bei Mr. Majors. Was meinen Sie?"
"Wenn Sie klug sind, lassen Sie Ihr Geld lieber, wo es ist. Bei Majors ist es auf alle Fälle sicherer. Und wenn es gestohlen wird, ist die Bank versichert. Außerdem steht doch gar nicht fest, ob tatsächlich jemand das Geld stehlen will. Wenn soviel darüber geredet wird, halten es Ganoven meist für uninteressant. Warten wir es also erst einmal ab."
"Wahrscheinlich haben Sie recht, aber man munkelt so allerlei. Na ja, und Mr. Kellington ist deshalb auch schon ganz nervös, weil seine Gesellschaft den Transport übernehmen soll."
"Habe davon gehört."
"Jetzt ist er nach Cheyenne gefahren ins Hauptbüro. Ich wette mit Ihnen, dort weint er sich erst einmal über diese Verantwortung aus. Ich verstehe nicht, wieso die Bank das Geld nicht mit der Eisenbahn transportiert. Die haben doch richtige Tresorwagen und so. Die sind garantiert viel sicherer."
"Wahrscheinlich auch teurer. Das wird Majors nicht gefallen."
"Aber wenn das Geld gestohlen wird, kommt das doch noch teurer."
"Ich würde mir nicht soviel den Kopf darüber zerbrechen. Es wird schon gutgehen."
"Werden Sie den Transport begleiten?"
"Schließt man darüber auch schon Wetten ab?"
"Nein, wo denken Sie hin! Das ist eine rein persönliche Frage von mir. Wenn Sie es täten, könnte ich beruhigter schlafen."
"Da muß ich Sie leider enttäuschen. Diesmal lasse ich mich gewiß nicht dafür einspannen. Abgesehen davon, kann ich es auch gar nicht, denn bis dahin bin ich garantiert noch nicht wieder völlig in Ordnung. Also, wenn Sie wetten wollen – mein Rat: setzen Sie auf Nein und Sie werden gewinnen."
Toni lächelte verlegen. Jess hatte ihn sogar mit geschlossenen Augen durchschaut.
"Ich sagte doch, daß man darüber keine Wetten abschließt", bestritt er trotzdem, weil er nicht wußte, was er sonst darauf erwidern sollte.
"Ich meinte ja auch nur, falls …"
Bald darauf war Toni mit seiner Arbeit fertig, nahm ihm den Umhang ab und pinselte ihm die Haare von Kragen und Schultern.
Jess warf einen Blick in den Spiegel, in dem er durch das Fenster hinter ihm einen Reiter draußen vorbeikommen sah. Irgend etwas lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Mann, kam ihm bekannt vor, obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Es kamen häufig Fremde hier durch, und er sollte sich eigentlich keine weiteren Gedanken über ihn machen. Trotzdem verharrte sein Blick einige Augenblicke länger auf dem Reiter, dessen Gesicht er nur undeutlich im Profil gesehen hatte. Dabei hätte er zu gerne gewußt, was ihn so nachdenklich machte. Er stand rasch auf und eilte zum Fenster, aber der Mann war schon vorbei. Anscheinend war er in eine Seitenstraße gebogen, denn er konnte ihn nirgendwo mehr sehen.
"Was haben Sie denn, Signor Jess?" fragte Toni verwirrt, folgte ihm zum Fenster und blickte suchend auf die Straße.
"Ich weiß nicht, ich dachte, ich hätte im Spiegel jemanden gesehen, den ich kenne. Habe mich wohl geirrt. Kommen eigentlich in letzter Zeit viele Fremde hier durch?"
"Nein, ist mir noch nicht aufgefallen, jedenfalls nicht mehr als sonst auch. Warum fragen Sie?"
"Nur so." Jess wußte wirklich nicht, weshalb er das gefragt hatte. Verwirrt über seine eigene Reaktion, schüttelte er den Kopf, fingerte aus seiner Brusttasche ein paar Münzen und drückte sie Toni in die Hand. "Der Rest ist dafür, daß Sie mich mit der Pomade verschont haben."
"Vielen Dank, Signor Jess. Ah, Sie sehen jetzt wieder richtig gut aus!" schmeichelte der Barbier und sah ihn von oben bis unten an, als wollte er ihn auf dem schnellsten Weg als Bräutigam für eines seiner diversen weiblichen Familienmitglieder werben. Seine Töchter waren zwar noch nicht im heiratsfähigen Alter, aber er hatte noch jede Menge Cousinen und Nichten, die unter die Haube zu bringen waren.
"Danke, aber ich denke, jetzt übertreiben Sie gewaltig", grinste Jess ihn an. Den Zwischenfall mit dem Reiter hatte er längst vergessen. Statt dessen fuhr er sich über sein hohlwangiges Gesicht und nahm sein spitzes Kinn zwischen die Finger, während er noch einmal in den Spiegel sah. Sogar seine sonst kräftige, sehnige Hand war nur ein knochiges Überbleibsel, umgeben von einer bleichen Haut, die genauso durchsichtig wirkte wie die in seinem Gesicht. "Wenn ich mich so betrachte, komme ich mir eher wie ein Gespenst vor, das sogar am hellichten Tag die Leute erschreckt."
"Wenn man so krank war wie Sie, ist das doch kein Wunder." Toni hatte noch ein paar Haare auf seinem Kragen entdeckt und entfernte sie in beflissenem Eifer. Er holte die Jacke seines Kunden von der Garderobe und half ihm hinein. "Ich bin jedenfalls froh, daß es Ihnen wieder besser geht. Ich habe mir wirklich sehr große Sorgen um Sie gemacht", gestand er in seiner ehrlichen Art, ohne aufdringlich zu wirken.
"Danke, Toni." Beinahe brachte er es nun doch fertig, Jess verlegen zu machen. "Grüßen Sie bitte Ihre Frau und die Kinder!"
Sie verabschiedeten sich, und Jess verließ endlich den Laden, ehe der Barbier vielleicht doch noch auf die Idee kam, ihn mit Pomade oder Duftwässerchen zu beglücken.
Fast direkt vor Tonis Ladentür stieß Jess mit Gary Morgan zusammen, der wie eine Kanonenkugel um die Ecke geschossen kam und es wie immer pressemäßig eilig hatte. Im Vorbeihuschen wollte Gary schon eine Entschuldigung murmeln, als es ihn jedoch stutzig machte, wieso der Mann so zusammengefahren war, obwohl er ihn seiner Meinung nach nur leicht angerempelt hatte.
"Jess! Jess Harper! Ich werd' verrückt!" rief er lauthals, ergriff seine Rechte und schüttelte sie, als wollte er sie ihm ausreißen.
Jess, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, mußte den quirligen Zeitungsmann erst einmal davon abhalten, ihm in seinem Ungestüm ernsthaft wehzutun.
"Vorsicht, Gary! Ich bin noch etwas empfindlich." Gequält grinsend, versuchte er, seine Rechte zu befreien, weil die heftige Bewegung, zu der ihn Gary mit seiner Begrüßung zwang, seine Wunde zum Schmerzen brachte.
"Natürlich, Jess, entschuldigen Sie, aber ich war so überrascht, Sie zu sehen, daß ich völlig vergaß …" Endlich gab er seine Hand frei. "Ich habe Ihnen hoffentlich nicht wehgetan?"
"Ist gerade noch mal gutgegangen."
"Wie geht es Ihnen denn? Mein Gott, Sie sehen ja noch ganz mitgenommen aus. Aber wenn ich daran denke, als ich Sie kurz nach dem Überfall gesehen habe … Da sehen Sie ja heute schon beinahe blendend aus. Sind Sie zum ersten Mal wieder in der Stadt?" redete er wie ein Wasserfall auf ihn ein.
"Ja."
Jess nervte das ununterbrochene Gerede, aber es hatte auch einen Vorteil. Wenn Gary so viel quatschte, brauchte er es nicht zu tun, zudem er ihm nur für kurze Antworten Zeit ließ, wenn er ihm überhaupt welche ließ und seine Fragen nicht gleich selbst beantwortete.
"Also, dieser Kerl hatte Sie ja fürchterlich zugerichtet. Mir ist ganz anders geworden. Werden Sie etwas gegen die Kerle unternehmen? Der Sheriff hat sich wirklich sehr bemüht, konnte sie aber bis heute nicht erwischen. Sehr gerissene Burschen! Werden Sie sie jagen?"
"Erwarten Sie das von mir?"
Mit der Gegenfrage verwirrte er den Zeitungsmann gewaltig, der sich offensichtlich nur darauf eingestellt hatte, selbst zu fragen. Nicht daß Jess etwas gegen Gary Morgan gehabt hätte. Er mochte ihn eigentlich ganz gut leiden und schätzte seine Gesetzesloyalität; aber heute war ihm sein außergewöhnliches Engagement und der damit verbundene, fast aufdringliche Redefluß ein wenig zuviel.
Ganz nebenbei setzte sich Jess Richtung Hansons Eisenwarengeschäft in Bewegung. Gary, der es ursprünglich so eilig hatte, ein Ziel in entgegengesetzter Richtung zu erreichen, ging unbewußt neben ihm her. Jess' Frage brachte ihn etwas aus dem Konzept.
"Nun, das nicht gerade; aber wie gesagt, der Sheriff war ziemlich erfolglos. Nicht daß ich unserem Sheriff nichts zutraue, bei Gott, nein! Er ist der fähigste Gesetzeshüter, den ich mir vorstellen kann! Aber Sie gingen vielleicht mit einer ganz anderen Hartnäckigkeit an die Sache. Immerhin hat man Sie um ein Haar getötet. Da kann ich mir gut vorstellen …"
"… daß ich mich rächen will?"
"Nun, Jess, ich kenne Sie und möchte behaupten, daß Rache nicht das richtige Wort ist. Sagen wir eher – revanchieren? Jess, ehrlich, es würde Ihnen niemand verübeln. Ganz im Gegenteil! Die ganze Stadt stünde hinter Ihnen."
"Kann ich mir denken, einschließlich unseres Frauenbundes für Zucht und Ordnung."
Gary sah ihn fragend von der Seite her an. Daß Jess die Sache nicht ganz ernst zu nehmen schien, überraschte ihn.
"Jess, ich mache keine Witze", betonte er deshalb.
"Ich auch nicht."
"Dann werden Sie also etwas unternehmen?"
"Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Der Sheriff ist wochenlang erfolglos in der Gegend herumgeritten und hat nach diesen Kerlen gesucht. Was anderes könnte ich auch nicht tun. Offen gestanden, dazu sehe ich mich nicht einmal in der Lage. Nein, Gary, ich muß Sie leider enttäuschen. Im Augenblick habe ich eigentlich vor, gar nichts weiter zu tun, als mich erst einmal gründlich auszukurieren. Glauben Sie mir, damit werde ich eine ganze Weile vollauf beschäftigt sein."
"Dann werden Sie auch nicht den Geldtransport nächsten Monat begleiten?"
"Nein, bestimmt nicht!"
"O je!" jammerte Gary. "Da seh' ich ja einiges auf uns zukommen."
"Wieso?"
"Weil Mr. Kellington so schnell niemand Geeignetes auftreiben wird, der das übernehmen kann."
"Das ist sein Problem. Gary", sagte Jess eindringlich und blieb für einen Moment stehen, "ich bin noch lange nicht gesund. Weder Kellington noch Majors noch Sie oder sonst jemand kann von einem kranken Mann verlangen, sein Leben und das von anderen wegen etwas aufs Spiel zu setzen, was genausogut ein anderer erledigen kann, wahrscheinlich sogar besser."
"Natürlich, Jess, entschuldigen Sie, ich habe nicht daran gedacht … Ich vergesse immer wieder, wie schwer Sie verwundet wurden, weil ich es einfach nicht glauben kann. Obwohl ich Sie damals, kurz nach dem Überfall gesehen habe, konnte ich es mir nie richtig vorstellen. Es war ein großer Schock, nicht nur für mich, sondern für alle anständigen Bürger dieser Stadt."
"Tja, Gary, manchmal treffen einen solche Dinge schneller, als man denkt. Werden Sie jetzt schreiben, daß ich kneife?"
"Jess!" rief Morgan entrüstet. "Ich habe nicht eine Sekunde lang angenommen … Mein Gott, wie können Sie so etwas sagen!" Sein Gefühlsausbruch war wirklich echt und nicht die Spur von affektiert.
"Es hätte ja sein können."
"Ich würde niemals so etwas von Ihnen behaupten! Niemals! Das wissen Sie genau, auch wenn Sie mir zehnmal versicherten, daß es die Wahrheit wäre. Ich würde es Ihnen ganz einfach nicht glauben. Sie werden schon Ihre Gründe für diese Entscheidung haben. Und daß Sie noch sehr krank sind, das merkt sogar jemand, der fast blind ist. Da braucht er gar nicht zu wissen, was passiert ist. Und jeder, der versucht, Ihnen etwas in der Richtung nachzusagen, kriegte es ganz gehörig mit mir zu tun. Soll sich ja keiner unterstehen!"
"Danke für Ihre redliche Gesinnung, Gary! Sie sind wirklich der einzige Zeitungsmensch, den ich kenne, der die Wahrheit nicht verdreht."
"Leider haben Sie recht. In unserer Gilde sind die meisten nur gierig nach Sensationen und treten die Wahrheit mit Füßen, nur um sich besser verkaufen zu können – und gehen dabei manchmal sogar über Leichen. Die Macht der Worte ist eine unheimliche und stärker als jede Waffe – sehr gefährlich!"
"Das glaube ich Ihnen auf Anhieb."
Endlich hatten sie Hansons Laden erreicht. Jess, dem Morgans Gesellschaft zu Anfang nicht gerade besonders angenehm gewesen war, fand, daß sich dies im Laufe ihres kurzen Gespräches doch noch geändert hatte. Schließlich hatte er nichts gegen ihn, er fand ihn nur hin und wieder etwas aufdringlich. Sonst konnte er ihm nichts Negatives nachsagen.
"Jetzt, da Sie wieder einigermaßen auf den Beinen sind, werde ich Sie ja hoffentlich öfter in der Stadt sehen", sagte Gary zum Abschied und schüttelte seine Hand, diesmal aber eher vorsichtig, um ihm nicht noch einmal durch seine Gedankenlosigkeit wehzutun.
"Sicher, Gary, und passen Sie auf, daß Sie nicht in einen Wagen laufen vor lauter Eile."
"Schusseligkeit, reine Schusseligkeit, sonst nichts!" verbesserte der lebhafte Zeitungsmann.
Jess blickte ihm grinsend nach, als er den gleichen Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückhastete.
Obwohl sich Jess in Hansons Eisenwarenhandlung nicht länger als nötig aufhalten wollte, mußte er es sich auch hier gefallen lassen, erst einmal die übliche Begrüßung hinzunehmen. Dann war er endlich unterwegs zu Doc Higgins' Praxis, die sich in der nächsten Querstraße, allerdings über der breiten Hauptstraße, befand. Hier hatte er jedoch Pech, denn der Arzt war nicht zu Hause, sondern auf seiner wöchentlichen Besuchsfahrt zu den umliegenden Farmen und Ranches unterwegs. Seine Haushälterin, Mrs. Howard, meinte, er wäre nicht vor Sonntagabend zurück.
Wieder zurück auf der Hauptstraße, bemühte er sich, möglichst wenigen Leuten zu begegnen, was allerdings nicht ganz einfach war. Außerdem wollte er nicht unhöflich sein und ihnen absichtlich ausweichen. Immerhin war er für viele Wochen so gut wie verschollen für sie gewesen, und sie freuten sich, ihn endlich wieder unter den Ihren zählen zu können. Als gerngesehenes Mitglied ihrer Gemeinde begrüßten ihn die Bürger dieser Stadt wie ein verlorengegangenes Schaf, das nach bangem Warten wieder auftauchte, reichlich lädiert zwar, aber Gott sei Dank am Leben. Zu seiner Beerdigung wollte anscheinend niemand gern gehen.
Zehn Minuten vor Geschäftsschluß hatte er sich endlich bis zur Bank durchgekämpft. Hier wollte er eigentlich nur den größten Teil der fünfhundert Dollar, die Slim am Dienstag als Privatentnahme auf sein Konto eingezahlt hatte, dem Sperrkonto gutschreiben lassen, das auf Mikes Namen lautete. Selten erschien ihm diese Vorsorge so wichtig wie gerade heute. Vielleicht war es das letzte Mal, daß er etwas in der Beziehung tun konnte, nicht etwa, weil es ihm in Zukunft an den bescheidenen Mitteln fehlte, sondern ganz einfach deshalb, weil er keine Gelegenheit mehr dazu bekäme.
Jess erledigte seine Geschäfte bei dem Mann am Schalter und war froh, daß sonst niemand in der Bank war und Anstalten machte, ihn aufzuhalten. Schon an der Tür, sprach ihn jedoch der Bankdirektor Lincoln Majors aus dem Hintergrund an. Notgedrungen mußte sich Jess umwenden und zu ihm zurückkehren. Es wäre mehr als unhöflich gewesen, so zu tun, als hätte er ihn nicht gehört.
"Guten Tag, Mr. Majors", begrüßte er den wohlgenährten Geschäftsmann, der angenehm frei von Überheblichkeit war, sondern gern den Kontakt zu seinen Kunden pflegte, auch wenn sie nur ein kleines Konto bei seiner Bank hatten.
"Das ist ja wirklich eine freudige Überraschung!" Die zwei ungleichen Männer tauschten einen kräftigen Händedruck, der sich allerdings tatsächlich nur auf ihre Hände beschränkte. Allem anderen wäre Jess sofort ausgewichen; er hatte noch genug von Gary Morgans Armgeschüttle. "Wie geht es Ihnen denn?"
"So einigermaßen."
"Haben Sie einen Moment Zeit?"
Jess warf einen flüchtigen Blick zu der großen Uhr an der Wand.
"Ein paar Minuten schon."
"Dann kommen Sie, gehen wir nach hinten." Majors öffnete die Absperrung und ließ ihn in den vom Schalterraum abgegrenzten Bereich. "Sie können ruhig abschließen und Mittag machen", wandte er sich an den Kassierer. "Ich lasse Mr. Harper dann hinaus."
"In Ordnung, Mr. Majors", erwiderte der Angestellte, brachte die Kassette mit dem Geld aus der Kasse zum Tresor, überließ es Majors, den Safe zu schließen, dessen Zeitschloß sich erst am Nachmittag wieder zur eingestellten Zeit öffnen ließ, und verließ die Bank.
Majors nahm Jess mit in sein Büro, wo er ihm Platz in einem bequemen Ledersessel anbot.
"Setzen Sie sich! Trinken Sie zur Begrüßung einen Cognac mit mir? Echter französischer! Zergeht auf der Zunge."
"Das glaube ich Ihnen gern – vielen Dank, trotzdem muß ich ablehnen. Das soll keine Unhöflichkeit sein, Mr. Majors", setzte Jess etwas verlegen hinzu, "aber ich muß noch vorsichtig sein."
"Verstehe ich voll und ganz." Majors, der die Flasche schon aus seiner Schublade hervorholen wollte, ließ sie stehen, wo sie stand. "Mir tut es auch gut, einmal darauf zu verzichten. Doc Higgins meinte übrigens ebenfalls, es könnte mir nichts schaden, mit diesen angenehmen Lastern des Lebens etwas kürzer zu treten. Meine Pumpe ist leider nicht mehr die jüngste." Majors setzte sich hinter seinen wuchtigen Schreibtisch, der mit Papieren überladen war. "Tja, ich will nicht lange um den heißen Brei reden, sondern gleich zur Sache kommen. Sie werden sicherlich schon von diesem geplanten Geldtransport gehört haben."
"Die ganze Stadt spricht davon."
"Ja, ich weiß, das ist ein Problem. Geheimnisse haben es hier schwer, geheim zu bleiben. Weshalb ich Sie sprechen wollte …"
"Fragen Sie mich bitte nicht, ob ich die Sache übernehme", bat Jess, ohne Majors ausreden zu lassen. "Meine Antwort lautet, nein."
"Nun", der Bankier lächelte schuldbewußt, "um ganz ehrlich zu sein, hatte ich ursprünglich die Absicht, Sie das zu fragen. Aber nachdem ich Sie gesehen habe, wußte ich sofort, daß ich das nicht tun kann. Ein Mann, der so krank aussieht wie Sie, ist es wahrscheinlich auch noch. Da wäre es glatt eine Unverschämtheit von mir, so etwas noch weiter in Erwägung zu ziehen. Ich habe mich immer gefragt, ob Gary Morgan nicht ein wenig zu tief in sein schriftstellerisches Repertoire gegriffen hat, als er von der Sache berichtete. Wenn ich Sie mir allerdings so anschaue … Ich wollte es nicht glauben. Jetzt wünschte ich, er hätte übertrieben. Ich denke jetzt nicht nur an den Geldtransport. Man hat Ihnen offensichtlich ganz erheblich zugesetzt, wahrscheinlich sogar mehr, als Morgan berichtet hat."
Offenbar reizte der Anblick seines jämmerlichen Äußeren seine Mitmenschen zu spontanen Sympathiebekenntnissen, was selbst einen gewieften Geschäftsmann wie Lincoln Majors dazu trieb, vom eigentlichen Kern des Themas abzuschweifen.
"Mir hat es gereicht", grinste Jess gequält.
"Offen gestanden, das sieht man Ihnen auch heute noch an. Sie können einen, der weiß, wie Sie normalerweise aussehen, ganz schön erschrecken."
"Tut mir leid, ist nicht meine Absicht."
"Natürlich nicht", sagte Majors, ein wenig abwesend wirkend.
Jess lehnte sich in dem schweren Ledersessel zurück, daß seine aufgeknöpfte Jacke über der Brust auseinanderfiel. Darunter konnte Majors den Revolvergurt erkennen, den er um die Hüften trug. Irgendwie beruhigte ihn der breite Ledergürtel mit dem Holster, in dem wie selbstverständlich der schwere Colt steckte, nicht aufreizend, aber doch mit der unverkennbaren Nachdrücklichkeit eines Mannes, der damit wie beiläufig zeigte, daß er die Waffe weder zur Angabe noch zur bloßen Zierde trug, sondern wie jemand, der sie vorzüglich zu benutzen verstand, wenn es die Umstände erforderten.
Was Majors bei jedem anderen – außer vielleicht dem Sheriff und auch noch Slim Sherman –, mit dem er allein in der Abgeschiedenheit seines Geschäftszimmers und der unmittelbaren Nähe des großen Geldschrankes saß, im höchsten Maße nervös gemacht hätte, erfüllte ihn in Jess' Gesellschaft mit einem behaglichen Gefühl der Sicherheit.
Obwohl seinem Besucher die momentane körperliche Schwäche überaus deutlich anzusehen war, konnte man auf den ersten Blick erkennen, daß Jess ein Mann war, der sich von einem Gegner keinesfalls so leicht einschüchtern ließ. Seine Haltung verriet eine überlegene Ruhe, die ihn auch in extremen Situationen nicht im Stich ließ, was sich für ihn schon so viele Male als Lebensretter erwiesen hatte. Diese Souveränität – so wollte es Majors einmal nennen – beeindruckte ihn ungemein. Selbst jetzt, in seinem verheerenden Zustand, strahlte sie dieser Mensch mit einer Intensität aus, daß der Bankdirektor regelrecht fasziniert davon war.
"Sie wollten doch zur Sache kommen", erinnerte Jess, womit er den schwergewichtigen Mann aus seinen Reflexionen über dieses Phänomen riß.
"Natürlich, entschuldigen Sie, aber ich mußte gerade an etwas denken."
"Hoffentlich war es was Erfreuliches."
"Ja, doch, würde ich sagen." Ein Lächeln verbreiterte Majors' Gesicht um fast das Doppelte; etwas Herzliches, Warmes lag in seinen wasserhellen Augen, was so ganz und gar nicht zu seinem sonstigen Auftreten paßte. "Also, bleiben wir noch ein wenig bei diesem Geldtransport. Nein!" Er hob abweisend die Hand, als er merkte, daß Jess etwas einwenden wollte. "Keine Sorge, ich werde Sie gewiß nicht zu überreden versuchen. Wie gesagt, es wäre eine glatte Unverschämtheit, ja, Unverantwortlichkeit von mir. Nein, es geht um etwas anderes. Nur eines gleich vorweg: dieses Gespräch soll unter uns bleiben. Wenn ich mit Ihnen gesprochen habe, wissen nur Sie und der Sheriff davon. Ich gestehe Ihnen zu, Slim Sherman einzuweihen, denn auch ihm kann man trauen. Aber kein Wort zu jemand anderem – auch nicht zu Mr. Kellington. Nicht daß ich ihm nicht traute, aber bei ihm gehen zu viele Leute ein und aus. Wie schnell ist da etwas zur falschen Stelle durchgesickert. Es geht immerhin um einen Haufen Geld. Ich kann nicht zulassen, daß irgend jemand Außenstehendes davon erfährt und das auch noch zu einem offenen Geheimnis wird. Deshalb müssen Sie mir Ihr Wort geben!"
"Sie haben es."
"Wenn ein Mann wie Sie mir sein Wort gibt, weiß ich ganz genau, daß das mehr wert ist, als wenn ich mit einem anderen eine schriftliche Abmachung treffe. Ich wollte, es wäre nur einer unter meinen Geschäftspartnern, der so aufrichtig ist wie Sie", seufzte der Bankier und kam um ein Haar abermals vom Thema ab.
"Mr. Majors, ich will Sie nicht drängen, aber ganz soviel Zeit habe ich nicht, um mich mit Ihnen über Ihre Geschäftspartner zu unterhalten, die ich zudem weder kenne noch kennenlernen möchte", wurde Jess fast ein wenig ungeduldig, weil der Bankdirektor trotz seiner Versicherung, nicht um den heißen Brei schleichen zu wollen, ständig so weit ausholte, daß er den berühmten roten Faden zu verlieren drohte. "Also, worum geht es?"
"Nun ja, der Sheriff war bei mir und machte den Vorschlag, die Geldsendung gewissermaßen als Köder zu benutzen. Er sagte, Slim Sherman hätte ihn auf diese Idee gebracht."
"Ja, ich weiß. Slim hat mir davon erzählt. Das heißt, wir haben uns eigentlich mehr zwanglos über diese Möglichkeit unterhalten."
"Ja, und? Was halten Sie davon?"
"Was ich davon halte? Meinen Sie denn, daß ich der kompetente Mann bin, der ihnen hierzu den richtigen Rat erteilen kann?"
"Warum nicht? Ich kenne keinen kompetenteren."
Jess schüttelte verständnislos den Kopf.
"Wieso kommen Sie da ausgerechnet auf mich? Meinen Sie nicht, daß da die Meinung des Sheriffs ausschlaggebender ist? Er ist schließlich der Fachmann. Er hat hier die Polizeigewalt inne und weiß am besten, ob etwas und wenn ja, was davon zu halten ist. Nicht ich!"
"Auch Sie sind Fachmann in solchen Dingen. Sie haben schließlich die meisten Transporte für diese Bank begleitet und alle sicher durchgebracht. Ich möchte sogar behaupten, daß Ihre Erfahrung in der Beziehung wesentlich weiter reicht als die des Sheriffs, der sich erst um die Dinge kümmert oder kümmern kann, wenn es eben keine Dinge mehr, sondern Fälle, sprich Überfälle sind."
"Ich glaube, jetzt überschätzen Sie aber meine Fähigkeiten der Verbrechensbekämpfung gewaltig. Ich sollte vielleicht erinnern, ja, mit Nachdruck betonen, daß ich nichts weiter als ein einfacher Cowboy, allenfalls vielleicht Rancher bin, der sich zwar hin und wieder beschwatzen läßt, einen Ihrer Geldtransporte zu begleiten, wenn sich gerade kein anderer dafür bereit erklären will, aber ansonsten mit der Lösung kriminalistischer Probleme wenig im Sinn hat."
"Ach, kommen Sie, Jess, nun seien Sie nicht gar zu bescheiden! Soll ich Ihnen ein paar Fälle aufzählen, in denen Sie mehr als nur eine Begleitung meiner Geldtransporte waren? Sie haben Sheriff Cory schon mehr als einmal – und das waren gewiß nicht alles nur Zufälle! – auf die richtige Fährte geführt und dem Gesetz zum Erfolg verholfen."
"Ja, und habe mir dabei auch ein paar hübsche Narben eingehandelt."
"Ich weiß, aber wie gesagt, ich will diesmal wirklich nur Ihre Meinung zu der Sache hören."
"Ehrlich gestanden, ich habe mir darüber noch nicht den Kopf zerbrochen, weil ich im Augenblick ganz andere Probleme habe – rein persönlicher Natur", erklärte Jess gleich unmißverständlich, damit Majors nicht auf die Idee kam, diese ebenfalls mit ihm diskutieren zu wollen. "Aber wenn das Geld als eine Art Köder dienen soll und diese oder von mir aus andere Halunken anbeißen, wird es auf jeden Fall Blutvergießen geben, es sei denn, eine Truppe bestens ausgebildeter Marshals bietet denen Paroli. Aber selbst dann oder vielleicht gerade dann wird die Sache gewiß nicht unblutig über die Bühne gehen. Und natürlich wird es dabei immer die Gefahr geben, daß das Geld unrechtmäßig den Besitzer wechselt. Ich weiß zwar nicht, wie hoch die Summe ist, aber ich gehe auf jeden Fall davon aus, daß es mehr als genug ist, um so ein paar Strauchdiebe sich einen angemessenen Plan ausdenken zu lassen."
"Fünfzig-, vielleicht sechzigtausend, möglicherweise sogar noch mehr."
Jess pfiff durch die Zähne.
"Das ist wirklich ordentlich!" mußte er zugeben. "Es wurden schon Überfälle wegen weitaus weniger präzis organisiert. Und Leute hat man auch schon wegen geringerer Beträge umgebracht. Wieso wollen Sie überhaupt soviel transportieren?"
"Das ist eine gute Frage." Majors machte eine ausholende Geste. "Weil zuviel im Tresor ist. Das war ein sehr gutes Jahr. Die Rancher haben ausgezeichnete Geschäfte gemacht, weil die Fleischpreise überaus stabil waren …"
"Das kann ich nur bestätigen", warf Jess beiläufig ein.
"… die Farmer hatten Ernten wie seit Jahren nicht mehr, und selbst die Bergwerksgesellschaften haben riesige Gewinne einfahren können. Irgendwo muß sich das ganze Geld ja ansammeln. Nun, die Bank oder, besser gesagt, der Tresor hier ist nicht groß und der Versicherung sicher genug. Mit anderen Worten, sie haben ihn nicht für eine so große Summe zugelassen. Also muß ich die Geldmenge reduzieren und einen Teil in den Hauptsafe nach Cheyenne transportieren lassen."
"Das leuchtet ein."
"Wenn bis dahin einer versucht, den Geldschrank hier zu knacken und erfolgreich ist, wird die Bank fürchterlichen Ärger bekommen, denn die Versicherung würde nur bis zu einem gewissen Betrag Ersatz leisten. Das heißt, im Ernstfall sind wir – bin ich – unterversichert."
"Und wenn das Geld transportiert wird, ist für unterwegs die Versicherung des verantwortlichen Unternehmers und nicht die der Bank zuständig, womit wieder eine Deckung garantiert ist, vorausgesetzt, Kellington oder wer auch immer hat nicht am falschen Ende gespart. Wenn doch, haftet er für den Verlust", setzte Jess den Gedankengang fort.
"Genau, und die Bank und ihre Kunden hätten keinen Schaden."
"Und wenn Sheriff Cory das Geld als Köder benutzt, kann es sein, daß die Versicherung von vornherein nicht mitspielt und Kellington oder das Transportunternehmen auch nicht."
"So ist es!"
"Schön und gut, aber mittlerweile ist die Sache doch schon so bekannt, daß sie sowieso mit einem hohen Risiko belastet ist, auch ohne daß der Sheriff das Geld als Köder benutzt."
"Aber das Risiko ist nicht offiziell als solches deklariert. Das ist eben der Unterschied."
"Verstehe", nickte Jess nachdenklich. Ohne daß es ihm recht bewußt wurde, hatte Majors ihn für seine Zwecke eingespannt, denn jetzt fing er doch an, sich über dieses Problem den Kopf zu zerbrechen, obwohl er dies zu Anfang energisch von sich weisen wollte.
"Ich wäre dem Sheriff wirklich gern behilflich, aber hier geht es in erster Linie um das Geld meiner Kunden, die es der Bank anvertrauten. Damit kann und darf ich nicht so leichtfertig umgehen. Und mit Ihnen rede ich offen darüber, weil es Sie in gewisser Weise auch betrifft."
"Mich?"
"Ja, ich meine jetzt nicht, weil auch Sie Ihr Geld dieser Bank anvertraut haben, sondern weil es der Sheriff speziell auf die drei Burschen abgesehen hat, die an dem da schuld sind." Majors deutete auf Jess' linke Schulter.
"Vergessen Sie nicht, daß die drei noch mehr angestellt haben. Die haben unter anderem Bud Franklin umgelegt und beinahe ein kleines Mädchen erschossen, ganz zu schweigen von ein paar mehr Opfern, die nicht soviel Glück hatten wie ich."
"Das ist schlimm genug, aber ehrlich gesagt, stehen die mir alle nicht so nahe."
"Auch das waren Menschen!"
"Sicher, aber Sie sind ein Mitglied unserer Gemeinde, ein angesehener Bürger dieser Stadt, die Ihnen obendrein schon einiges zu verdanken hat."
"Das ist ein Thema, das meiner Meinung nach nicht zur Debatte steht im Moment."
"Vielleicht nicht für Sie, aber für mich schon! Nein, keine Widerrede!" schnitt Majors ihm das Wort ab, noch ehe er etwas Energisches einwenden konnte. "Es ist mein gutes Recht, das so zu sehen. Das müssen Sie mir zugestehen! Genau das ist jedoch der Grund, weshalb ich so in der Zwickmühle stecke. Denn auch ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß diese drei Halunken endlich geschnappt werden. Sicher, die haben genügend andere Scheußlichkeiten angestellt und wer weiß, wozu allem sie noch fähig sind. Aber die haben Sie beinahe kaltblütig umgebracht, und das – und nur das! – ist für mich ausschlaggebend."
"Ich kann das auf keinen Fall billigen!"
"Jess, es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben."
"Na, großartig!" rief dieser ein wenig mürrisch. Er wollte keinen Hehl daraus machen, daß ihm diese Einstellung nicht behagte. "Und was schlagen Sie demnach vor?"
"Das wollte ich eigentlich von Ihnen wissen."
"Von mir? Da fragen Sie gerade den Richtigen!"
"Eben, dieser Meinung bin ich auch!" schmunzelte Majors, der genau wußte, daß sie in diesem entscheidenden Punkt zwar am selben Strang, aber an verschiedenen Enden zogen.
"Mr. Majors, soweit waren wir heute schon einmal. Ich habe allmählich das Gefühl, wir drehen uns im Kreis. Ich finde, Sie verlangen da etwas zuviel von mir, zudem Sie eigentlich wissen sollten, daß ich mich selbst bei weitem nicht so wichtig nehme, um so etwas nur meinetwegen zu befürworten. Ich kann doch niemanden ins offene Messer rennen lassen, bloß weil man mir so ein Ding verpaßt hat. Wenn Sheriff Cory den dreien eine Falle stellen will, ist das bestimmt keine schlechte Idee. Wenn Sie ihn dabei unterstützen wollen, so ist Ihnen das groß anzurechnen, zudem Sie wissen, wie gefährlich die sind. Aber tun Sie das um Gottes willen nicht meinetwegen. Ich sagte Ihnen, daß, wenn es tatsächlich soweit käme und die anbeißen, auf jeden Fall Blut fließen wird. Ich will verdammt noch mal nicht, daß das nur meinetwegen geschieht! Dagegen werde ich etwas unternehmen, verlassen Sie sich drauf! Aber wenn Sie vielleicht sogar annehmen, mich so rumkriegen zu können, damit ich diesen Transport …"
"Du lieber Himmel, regen Sie sich nicht so auf!" versuchte Majors, den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen. "Ich will Sie weiß Gott nicht rumkriegen. Was ich zu diesem Punkt gesagt habe, war mein voller Ernst. Aber Sie dürfen mir nicht verübeln, wenn ich behaupte, daß mir das, was mit Ihnen geschehen ist, mehr an die Nieren geht als das, was diese Kerle sonst noch angestellt haben. Und wenn Sie noch so sehr aus der Haut fahren wollen oder sollten deshalb – Sie werden meine Meinung nicht ändern. Das müssen Sie akzeptieren, so wie ich akzeptieren muß, daß es für Sie offensichtlich mehr zählt, was sonst auf das Konto dieser Männer geht. Ich weiß, daß Sie da sehr empfindlich sind, aber letztendlich ist es doch egal, was mich oder Sie zu irgend etwas in dieser Angelegenheit veranlaßt. Unser Ziel ist das gleiche."
Jess machte eine wegwerfende Handbewegung und hatte sich wieder völlig in der Gewalt.
"Sie haben recht", sagte er. "Entschuldigen Sie, daß ich beinahe hochgegangen bin, aber ich bin in der Beziehung wirklich empfindlich."
"Also, wo waren wir stehengeblieben …" Der Bankier blickte erwartungsvoll auf, machte jedoch den Eindruck, als wüßte er sehr genau selbst die Antwort auf seine Frage, weshalb sein Gegenüber keine Anstalten machte, etwas zu erwidern. "Nun denn, ich hoffe, Sie können mir bei meinen Überlegungen ein wenig auf die Sprünge helfen. Versuchen Sie es wenigstens!"
Jess, der sich auf der einen Seite geschmeichelt fühlte, daß man so viel Wert auf seinen Rat legte, war auf der anderen Seite reichlich genervt von Lincoln Majors' nahezu aufdringlicher Hilfesuche, die in seinen Augen schon fast ins Lächerliche ausuferte.
"Sie verlangen da einiges von mir, wissen Sie das?"
"Darüber bin ich mir im klaren."
"Ich verstehe einfach nicht, warum Sie sich da ausgerechnet an mich wenden, wieso Sie überhaupt auf diese fixe Idee kommen, ich könnte Ihnen eine Patentlösung aus dem Ärmel schütteln. Ich habe wirklich ganz andere Sorgen."
"Das will ich Ihnen gern glauben, aber manchmal reicht schon, wenn man nur zwanglos über etwas redet, um die Spur einer Lösung zu finden. Und das muß ich, und zwar bald! Deshalb dachte ich, daß es ganz fruchtend wäre, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten."
Jess wollte ihm nicht schon wieder sagen, daß sie soweit schon einmal waren. Majors hatte anscheinend die volle Absicht, den Tanz mindestens so lange fortzuführen, bis er ihn endlich aus der Reserve locken konnte. Das Problem war nur, daß sich Jess tatsächlich noch keine gravierenden Gedanken über diese Angelegenheit gemacht hatte und folglich auch nicht wußte, was er dem Bankdirektor erzählen sollte.
Allerdings gab es da etwas, was er so ganz und gar nicht begreifen wollte: Majors war so damit beschäftigt, ihm eine Äußerung zu entlocken, daß er offensichtlich keine Zeit oder Gelegenheit fand, sich selbst den Kopf darüber zu zerbrechen, wie am sinnvollsten bei der Sache vorzugehen war. Jess kam er wie ein kleiner Junge vor, der lamentierend nach einem Bonbonglas hoch oben auf dem Schrank verlangte oder greifen wollte und dabei nicht bemerkte, daß direkt vor seiner Nase eines stand.
"Haben Sie eigentlich schon daran gedacht, das Geld nicht mit der Postkutsche, sondern mit der Eisenbahn zu transportieren?" fragte er deshalb, weil ihm dies wie auch Toni, dem Barbier, wesentlich sicherer erschien. "Das wäre auf jeden Fall sicherer und zudem schneller."
"Und teurer."
"Sicherheit hat ihren Preis. Das ist nun mal so."
"Züge werden hin und wieder auch überfallen und ausgeraubt."
"Aber nicht so häufig wie Postkutschen."
"Ein wenig wundert es mich, daß ausgerechnet Sie diesen Vorschlag machen."
"Weshalb?"
"Sie als Mann der Postkutschengesellschaft!"
"Ich bin kein Mann der Postkutschengesellschaft!" widersprach Jess sofort. "Wenn wir die Konzession für ein Depot haben, sehe ich mich noch lange nicht als Mann von Kellingtons Betrieb. Und wenn ich hin und wieder seine Kutschen begleite oder als Fahrer einspringe, tue ich das gewiß nicht deshalb, weil ich einer seiner Männer bin. Ihre Geldtransporte habe ich schließlich auch schon begleitet. Aber deshalb bin ich kein Angestellter Ihrer Bank. Sie wollten, daß ich Ihnen einen Vorschlag mache. Nun gut, das mit der Eisenbahn war einer, obwohl das nicht Ihr Problem zu lösen scheint. Riskant bleibt der Transport auch, wenn er im Tresorwagen eines Zuges stattfindet, solange er als Köder für irgendwen eine Rolle spielen soll."
"Sie sagen es! Trotzdem war der Vorschlag nicht der schlechteste. Zugegeben, daran habe ich sogar selbst schon gedacht."
"Und?"
"Ich habe mich noch nicht festgelegt. Spätestens wenn Mr. Kellington nicht für den geeigneten Schutz sorgen kann, werde ich das mit der Eisenbahn näher in Erwägung ziehen."
"Er wird schon jemanden auftreiben. Vielleicht wäre es leichter, wenn er dabei etwas tiefer in die Tasche griffe. Es gibt immer welche, die meinen, sie müßten unbedingt den Helden spielen, wenn nur die Kasse stimmt. Manchmal sind unter diesen Abenteurern ganz brauchbare Burschen. Und wenn sich einer von denen gut bezahlen läßt, sollte man annehmen, daß er weiß, worauf er sich einläßt, und nicht bei der erstbesten Schwierigkeit kalte Füße kriegt."
"Ich bitte Sie, Jess, Sie nehmen doch wahrhaftig nicht an, daß ich soviel Geld meiner Kunden ein paar Abenteurern überlasse!"
"Was anderes war ich auch nicht, als ich vor acht Jahren hierherkam."
"Das kann möglich sein …"
"… aber vor acht Jahren hätten Sie mir nicht soviel Geld anvertraut, stimmt's?" vollendete Jess den Satz in süffisantem Tonfall.
"Das weiß ich heute nicht mehr", wich Majors aus. "Und außerdem steht das jetzt nicht zur Debatte!" Wie und was er früher über den Mann dachte, der vor ihm saß und von dem er heute nur das Beste hielt, wollte er nicht mit ihm erörtern; es wäre ihm peinlich gewesen. "Fahren Sie lieber fort, so laut vor sich hin zu denken wie bei der Überlegung mit der Eisenbahn. Ich finde das sehr anregend. Vielleicht komme ich mit Ihrer Hilfe doch auf einen grünen Zweig."
"Sie erwarten tatsächlich eine Patentlösung aus dem Stegreif von mir, nicht wahr? Was hätten Sie bloß unternommen, wenn ich heute und die nächste Zeit nicht in Ihrer Bank aufgetaucht wäre?"
"Gott sei Dank sind Sie aber im richtigen Moment gekommen!"
"Sie sollten die Sache wirklich lieber mit dem Sheriff besprechen. Nachher mache ich Ihnen einen Vorschlag. Und wenn die Sache schiefgeht, nageln Sie mich als willkommenen Sündenbock fest."
"Das werde ich gewiß nicht tun! Im übrigen paßt diese Übervorsichtigkeit ganz und gar nicht zu Ihnen."
Jess schüttelte abermals aufatmend den Kopf. Er fragte sich allen Ernstes – und das schon zum x-tenmal! –, weshalb er eigentlich hier saß und sich den Kopf für andere zerbrach, zudem es weder seine Aufgabe noch sein Problem war, das er hier lösen sollte.
"Na schön", sagte er, daß es sich anhörte wie ein Seufzen, "dann stelle ich Ihnen eine ganz einfache Frage. Vielleicht wird Ihnen die Beantwortung weiterhelfen."
"Nur zu!"
"Haben Sie sich schon einmal in Erwägung gezogen, zwei Transporte durchzuführen?"
"Ich soll das Geld teilen und das Risiko doppelt eingehen?" fragte Majors verwirrt, ja, enttäuscht, ohne sich eine Antwort überlegt zu haben.
"Davon war nicht die Rede. Aber wenn Sheriff Cory das Geld als Köder benutzen will, könnten Sie einen zweiten Transport genausogut als Köder benutzen für die, die es eventuell darauf abgesehen haben. Das würde ich Ihnen sowieso raten, auch wenn der Sheriff das Katz-und-Maus-Spiel wieder abbläst. Die Sache ist mittlerweile so publik, daß es auf jeden Fall ein Risiko wäre. Befördern Sie mit Kellingtons Postkutsche eine leere Kiste, während das Geld komfortabel im Safewagen der Union Pacific reist, aber ohne daß es das ganze Territorium weiß. Sollte die Postkutsche tatsächlich unterwegs überfallen werden, wäre das Geld längst in Sicherheit, bis die Räuber dahinter kämen, daß man sie an der Nase herumgeführt hat."
"Sie sind ein Genie!" rief Majors begeistert, und sein rundes Gesicht strahlte wie der Vollmond in einer klaren Frühlingsnacht.
"Bin ich ganz gewiß nicht!" erwiderte Jess trocken und befürchtete, der beleibte Bankier würde gleich aufspringen und ihm vor Freude um den Hals fallen. Das wäre gewiß nicht glimpflich für ihn ausgegangen.
"Ich wußte es! Ich wußte, daß ich mit Ihrer Hilfe eine Lösung finde. Das ist das Einfachste überhaupt! Warum bin ich bloß nicht selbst darauf gekommen?"
"Weil Sie zu sehr damit beschäftigt waren, von mir etwas zu erfahren. Aber ich wette mit Ihnen, es hätte bestimmt nicht lange gedauert, bis Ihnen das auch eingefallen wäre. Sie stehen doch nicht zum ersten Mal vor so einem Problem."
"Natürlich nicht, aber der Sheriff hat mich mit seinem Köderspiel völlig verunsichert und Mr. Kellington mit seinen maßlosen Bedenken ebenso."
"Es wundert mich, daß Mort Cory nicht gleich diesen Vorschlag machte."
"Wir haben über die Sache noch nicht weiter geredet. Er fragte mich nur, ob ich eventuell einverstanden wäre und das Geld als Speck zur Verfügung stellen wollte. Er wollte nicht gleich eine Antwort, sondern bat mich, die Sache zu überdenken und ihm möglichst bald meine Entscheidung mitzuteilen. Auf der anderen Seite bleibt es ein gefährliches Unterfangen. Wenn irgendwelche Halunken erst einmal spitzkriegen, daß der Transport mit der Postkutsche eine Finte war, wird es vermutlich erst so richtig losgehen."
"Möglich, sogar anzunehmen. Allerdings hängt das auch von den Halunken ab."
"Ich habe in erster Linie an die drei gedacht, die der Sheriff unbedingt erwischen will."
"Die drei werden grundsätzlich erst um sich schießen und hinterher die Fragen stellen. Da spielt es gewiß keine Rolle, ob die auf einen Bluff hereingefallen sind oder nicht. Wahrscheinlich würden die das sowieso erst feststellen, nachdem sie demonstriert hätten, daß sie nicht langes Federlesen machen. Gerade diese drei töten auch, wenn für sie kein lukratives Geschäft auf dem Spiel steht, sondern einfach bloß aus purer Freude daran. Für den Kutscher und seinen Begleiter wird es auf alle Fälle ein Tanz auf dem Pulverfaß."
"Ja, so sehe ich das auch."
"Allerdings denke ich, daß unser Sheriff da schon entsprechend vorbauen wird. Wenn Mort Cory einen solchen Köder auslegt, kann man getrost davon ausgehen, daß er die Falle so präpariert, um der Maus keine Chance zu geben."
"Trotzdem fühlte ich mich wohler, wenn ich wüßte, jemand wie Sie könnte ihn unterstützen oder zumindest aufpassen, daß wenigstens dem Geld nichts passiert."
"Mr. Majors, bitte fangen Sie nicht wieder damit an!" bat Jess nun fast ein wenig ärgerlich. "Ich habe Ihnen den Gefallen getan, laut vor mich hin zu denken. Tun Sie mir jetzt bitte den Gefallen und begraben Sie dieses Thema ganz schnell, ehe Sie mich damit zu etwas reizen, was mir und gewiß auch Ihnen hinterher leid täte. Ich habe zu diesem Punkt nichts mehr zu sagen. Wir haben ihn schon viel zu sehr breitgetreten."
Jess' Stimme klang auffallend leise, dafür um so energischer. Der verhaltene Ärger schwang wie der Ton einer falschgestimmten Saite mit. Jeder, der ihn kannte, wußte, daß es äußerst unklug war, ihn, an diesem Punkt angelangt, weiter zu reizen. Er stand kurz davor, die Geduld zu verlieren. Zum Glück kannte der Bankier sein Gegenüber, denn er lenkte sofort ein.
"Gewiß, das haben wir", gab er zu. "Tut mir leid, daß ich jedesmal wieder davon anfange. Mir ginge es auch auf die Nerven. Sie hatten eine Engelsgeduld mit mir. Trotzdem war dieses Gespräch mit Ihnen ein voller Erfolg für mich. Ich wußte, daß es mir helfen würde, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten."
"Sie wollen mir also immer noch allen Ernstes weismachen, daß Sie ohne mich nicht selbst darauf gekommen wären? Ach, jetzt hören Sie aber auf! Sie als Direktor dieser Bank können mir nicht erzählen, daß Sie mich oder irgend jemanden sonst brauchen, der Ihnen dabei helfen muß herauszufinden, wie Sie Bankgelder am sichersten transportieren können. Es ist schließlich nicht das erste Mal."
"Na ja, ein wenig haben Sie natürlich recht", gab Majors endlich zu. "Meine Gedanken gingen bereits in diese Richtung. Spätestens bei einem Gespräch mit dem Sheriff hätten sie konkrete Formen angenommen. Aber jetzt, da ich weiß, daß Sie derselben Meinung sind, fühle ich mich irgendwie bestätigt und kann beruhigt einen genauen Plan mit dem Sheriff ausarbeiten."
"Zum tausendsten Mal: ich verstehe immer noch nicht so ganz, wieso Sie ausgerechnet auf meine Meinung soviel Wert legen. Ich bin weder ein Geschäftsmann noch Gesetzeshüter, habe nichts mit der Organisation von Transporten zu tun und bin auch nicht für irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen verantwortlich, sondern beschäftige mich eigentlich mit ganz anderen Dingen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Trotzdem tun Sie so, als ob es in dieser Stadt keinen außer mir gäbe, der Ihnen einen Rat erteilen könnte."
"Sie haben etwas vergessen: Sie haben trotz allem eine einschlägige Erfahrung und vor allem einen gesunden Menschenverstand. Sie haben diese herausragende Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und treffen Ihre Entscheidungen klipp und klar."
"Wenn Sie sich da nur nicht irren!" meldete Jess vehemente Zweifel an, aber Majors hatte sein unumstößliches Urteil über ihn schon lange gefällt.
"Ich denke nicht. Jedenfalls beruhigt es mich, Sie gedanklich auf meiner Seite zu wissen."
"Ich fürchte fast, es hat wenig Sinn, da irgendwelche Logik hineinbringen zu wollen."
"Sehen Sie es einfach als gegebene Tatsache an."
"Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Trotzdem, wenn wir schon dabei sind – einen Rat möchte ich Ihnen noch geben. Aber das ist wirklich einer, den Sie beherzigen sollten. Wenn Sie tatsächlich mit Mort Cory einen Plan ausarbeiten, lassen Sie niemanden davon wissen! Er könnte sonst ganz fürchterlich in die Hose gehen. Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, daß diese Unterhaltung unter uns bleibt. Das wird sie, obwohl wir nichts Konkretes beschlossen haben. Aber wenn es um die Details geht … Mr. Majors, es sollte wirklich niemand außer Ihnen von diesem zweiten Unternehmen die Versanddaten kennen."
"Jess, Sie wollen mir doch nicht damit sagen, daß ich Sie in Versuchung führen könnte."
"Ich habe nicht von mir gesprochen. Aber wenn das genauso ein offenes Geheimnis wird wie dieses Vorhaben überhaupt, dann ist es bereits jetzt zum Scheitern verurteilt. Das sollten Sie eigentlich wissen."
"Sicher! Aber trotzdem – danke für den guten Rat!"
"Na gut, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg dabei. Wahrscheinlich werden wir uns hinterher fragen, warum überhaupt so ein Theater um das Ganze gemacht wurde."
"Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das."
Jess sah diese Unterhaltung für beendet an. Sie hatte seiner Meinung nach viel zu lange gedauert. Ein Blick auf die Wanduhr hinter Majors verriet ihm, daß er sich beeilen mußte, wenn er Mort Cory noch guten Tag sagen wollte, ehe er Mike von der Schule abholte. Um unmißverständlich zu zeigen, daß es nichts mehr zu bereden gab, erhob er sich. Majors sah erstaunt an seiner hageren Gestalt auf, ehe auch er aufstand.
"Sie wollen schon gehen?"
"Ja, ich denke, es gibt nichts weiter zu bereden im Moment. Außerdem habe ich noch etwas zu erledigen."
"Natürlich. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange in Anspruch genommen habe."
Majors kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Neben Jess wirkte er wie ein zum Platzen gefüllter Mehlsack, obwohl er trotz allem eine sympathische Erscheinung war. Sie verließen das Geschäftszimmer und kamen zurück in den Schalterraum.
"Dabei fällt mir ein … Ich weiß nicht, ob es Ihnen der Kassierer gesagt hat", meinte Majors in geschäftlichem, aber freundlichem Ton, "daß auch die Bank gute Geschäfte gemacht hat in diesem Jahr und die Zinsen auf Einlagen um einen halben Prozentpunkt anheben konnte."
"Dann wird das Geld auf Mikes Sperrkonto schneller wachsen."
"Sie tun wirklich viel für den Jungen."
"Er ist mein Pflegesohn! Es ist wenig genug, was ich ihm hinterlassen kann, aber er soll es einmal leichter im Leben haben als ich."
"Sie sorgen wirklich gut für ihn. Ich meine damit eigentlich weniger die finanzielle Seite als die menschliche. Und er ist so ein aufgeweckter Junge!"
"Nun, ein Engel ist er nicht – Gott sei Dank! Aber ich denke, er ist genau richtig."
"Das denke ich auch! Wissen Sie, wenn mir einer vor acht Jahren erzählt hätte, was aus diesem Abenteurer von damals einmal wird, dem hätte ich kein Wort geglaubt. Meine Güte, was haben Sie sich verändert – zu Ihrem Vorteil verändert!"
Jess lachte abfällig auf.
"Es ist seitdem viel Zeit vergangen. Vielleicht bin ich einfach nur älter und darum ruhiger geworden, vielleicht auch etwas bequemer."
"Das muß ja schließlich kein Nachteil sein, wie man sehen kann." Majors ging mit ihm zur Tür und schloß auf, um ihn hinauszulassen. "Passen Sie gut auf sich auf, Jess!"
"Sicher!" versprach dieser und schüttelte die fleischige Hand des Bankiers; obwohl seine Rechte im Augenblick nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, war sein Händedruck kräftig wie eh und je.
Majors blieb hinter der abgeschlossenen Tür stehen und beobachtete den Mann durch das Fenster. Wenn er ehrlich sein wollte, war er froh, daß sich sein erster Eindruck von damals, als er vor acht Jahren hier aufgetaucht war, schlichtweg als falsch erwiesen hatte. Um so mehr bedauerte er, was ihm widerfahren war und aufgrund dessen seine Gesundheit sehr angeschlagen zu sein schien. Zufällig bekam er mit, wie Jess heftig zu husten begann und sich für einen Augenblick an den Vordachpfosten lehnte. Der Bankier schüttelte betroffen den Kopf und überlegte, ob er nach draußen gehen sollte, als sich bei Jess der Hustenreiz legte. Schließlich wandte sich Majors ab und ging ins Innere der Bank zurück. Der Anblick des kranken Mannes tat ihm plötzlich in der Seele weh, daß er ihn nicht mehr länger ertragen konnte.
Tatsächlich überfiel Jess ein relativ heftiger, aber Gott sei Dank kurzer Anfall, der ihm für Augenblicke wahnsinnige Schmerzen durch die Brust trieb. Anscheinend reizte der Wechsel von der trockenen Wärme in dem leicht überheizten Büro des Bankiers zu der feuchtkalten Novemberluft, die draußen wie eine Bleischicht über der Stadt lag, seine Schleimhäute mehr, als er nur mit einem harmlosen Hüsteln abtun konnte.
Einen Moment stand er mit der rechten Schulter an den Vordachpfosten gelehnt. Ein paar Minuten dauerte es, bis die Schmerzen nachließen und er sich aufraffte. Noch etwas steifbeinig überquerte er die Straße. Schräg gegenüber lag das Sheriffbüro. Bis er es erreichte, hatte er den Anfall einigermaßen überwunden, daß Mort Cory sicherlich nicht gleich auf Anhieb erkannte, was gerade eben mit ihm gewesen war.
Jess trat, ohne zu klopfen, ein. Das hatte er sich schon vor langer Zeit so angewöhnt, nicht weil es ihm an entsprechender Höflichkeit mangelte, sondern weil er sich nur allzu gern einen Spaß daraus machte, den Gesetzeshüter zu ertappen, wie er, nichts ahnend, hinter seinem Schreibtisch über dem lästigen Papierkram brütete und dabei lautstark mit sich selbst fluchte. Mort war bei seinem Hereinplatzen schon so sehr erschrocken, daß er beinahe das Tintenfaß umgestoßen hätte.
Heute riß Jess zwar nicht wie üblich die Tür mit einem Ruck auf – allzu heftige Bewegungen, die nicht unbedingt erforderlich waren, wollte er aus gutem Grund lieber vermeiden –, aber er trat doch mit einer Lässigkeit ein, als wäre er hier zu Hause; das sogar mit gewissen Recht, denn oft genug hatte er dem Sheriff den Gefallen getan, ihn für ein paar Tage zu vertreten, wenn er dienstlich die Stadt verlassen mußte. Aber seit Mort zwei zuverlässige Gehilfen hatte, kam dies kaum noch vor, worüber sich Jess gewiß nicht ärgerte.
Zu seiner Überraschung schien das Büro jedoch nicht besetzt. Er wunderte sich noch, wieso dann die Tür offen war, als Mort Corys Stimme aus dem angrenzenden Gefängnis drang. Er hatte die Tür gehört und wollte sich bemerkbar machen.
"Einen Moment! Ich komme gleich. Nehmen Sie ruhig schon mal Platz!"
Jess blickte sich verwundert im Büro um. Außer ihm war kein Besucher anwesend. Gleichgültig zuckte er mit der gesunden Schulter und wollte es sich gerade bequem machen, als Cory mit polternden Schritten näherkam. Er hatte im angebauten Gefängnistrakt die quietschenden Scharniere der Zellentüren geölt. Sich mit einem Lappen die verschmierten Hände wischend, trat er durch die Trenntür und war so mit dem Dreck an seinen Fingern beschäftigt, daß er beim Eintreten gar nicht aufsah.
"Fürchterliche Sauerei!" fluchte er. "Entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange warten ließ. Was kann ich für Sie …" Endlich hob er den Kopf. "Jess!" rief er erfreut, warf den Lappen auf seinen Schreibtisch und eilte auf den Mann zu, um ihn gebührend zu begrüßen. "Menschenskind! Du bist das wirklich!"
"Na, Gott sei Dank, ich befürchtete schon, wir wären seit neuestem wieder per Sie. Hätte ja sein können, daß du mich nicht mehr kennen willst, nachdem ich so lange nicht mehr hier war", grinste Jess und tauschte mit ihm einen freundschaftlichen Händedruck.
"Ganz so schlimm ist es nicht, alter Junge. Außerdem war ich ja erst vor kurzem bei euch zum Essen."
"Vor kurzem ist gut! Das ist immerhin ein paar Wochen her."
"So lange schon? Wird mir nichts anderes übrigbleiben, als mal wieder einen Kontrollbesuch zu machen, um zu prüfen, ob Mrs. Daisy noch so gut kochen kann."
"Tu das!" kam die verschmitzte Aufforderung.
Während sich Jess auf dem Armlehnstuhl vor dem Schreibtisch niederließ, ging Mort zu dem bullernden Kanonenofen in der Ecke und holte die Kanne mit dem Kaffee.
"Ich nehme an, du trinkst auch eine Tasse zum Aufwärmen."
"Schmeckt dein Kaffee immer noch so scheußlich?"
"Ich verrate lieber nicht, was Slims Kommentar war, als er am Dienstag hier vorbeischaute."
"Das sagt ja alles."
Mort schenkte ein, stellte die Kanne zurück und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
"Was treibst du denn in der Stadt? Hat dir das der Doc überhaupt schon erlaubt?"
"Sagen wir, er hat es mir nicht ausdrücklich verboten. Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Beinahe wäre mir die Decke und das ganze obere Stockwerk auf den Kopf gefallen. Ich mußte einfach mal raus. Ist verdammt langweilig, wenn man nichts tun kann, als nur rumsitzen, essen und schlafen."
"Kann ich verstehen. Aber bist du denn für solche Ausflüge schon fit genug?"
"Bis jetzt geht es mir nicht schlechter, als wenn ich zu Hause geblieben wäre, denke ich."
Jess trank von seinem Kaffee; er schmeckte bitter wie Galle.
"Jetzt mal allen Ernstes, Junge – wie geht es dir? Du siehst noch reichlich mitgenommen aus." Im stillen dachte Mort, daß todkrank das richtige Wort wäre. "Und so rappeldürr, als wolltest du dich hinter dir selbst verstecken. Richtig ausgezehrt! Ehrlich gesagt, du gefällst mir nicht besonders."
"Du wirst es nicht glauben, aber als ich vorhin bei Toni war und mich im Spiegel betrachtet habe, ist mir dasselbe aufgefallen."
"Wenn du schon in der Stadt bist, solltest du unbedingt beim Doc vorbeischauen."
"Schon geschehen."
"Und?" Die Frage kam fast zu erwartungsvoll.
"Er war nicht da. Ist unterwegs. Seine Haushälterin erwartet ihn nicht vor Sonntag zurück." Jess verzog spitzfindig den Mund. "Ein Grund, am Montag wieder herzukommen. Dann habe ich wenigstens etwas zu tun."
"Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Du siehst wirklich furchtbar aus."
"Ja, ich weiß. Ich habe vorhin zu Toni gesagt, wie ein Gespenst, das sogar am hellichten Tag die Leute erschreckt." Jess machte eine wegwerfende Handbewegung. "Besser, wir lassen das! Tu mir den Gefallen und red von was anderem. Dieses Thema mußte ich heute schon so oft durchkauen, daß ich vermutlich Verdauungsprobleme kriegen werde."
"Wieso?"
"Jeder, den ich treffe, stellt das in ähnlicher Form fest. Hätte nicht gedacht, daß sich die Leute so für mich interessieren. Wobei ich nicht einmal weiß, ob es bei allen echtes Interesse oder hauptsächlich nur Neugierde ist."
"Ich glaube eher, echtes Interesse. Die Leute sind nicht ganz so schlecht, wie immer angenommen wird. Und du bist nun einmal einer von ihnen. Du gehörst zu ihrer Gemeinschaft, sie mögen dich. Da ist es doch kein Wunder, wenn sie sich um dich sorgen oder Interesse an deinem Befinden zeigen. Laß sie nur! Sie meinen es sicherlich gut. Was die anständigen Bürger dieser Stadt betrifft, so können sie zwar auf der einen Seite sehr spießig sein, aber auf der anderen Seite wissen sie doch, was Gemeinsinn und Zusammenhalt heißt."
"Komisch, gerade eben hat mir Majors auch so was Ähnliches klarzumachen versucht."
"Du warst bei ihm?" wollte Mort erstaunt wissen.
"Ja, notgedrungen. Ich hatte in der Bank zu tun, und da hat er mich erwischt."
"Wollte er dich wegen seines Geldtransportes beschwatzen?"
"Jein. In der Beziehung muß ich ihm zugestehen, daß er relativ einsichtig war. Jedenfalls hat er ziemlich schnell kapiert, daß mit mir da diesmal nichts läuft. Aber er wollte von mir den, wie er sagte, fachmännischen Rat in puncto Sicherheit und was da gegebenenfalls zu tun sei."
"Von dir?"
"Frag mich bloß nicht, wieso! Ehrlich gesagt, habe ich seine fadenscheinige Argumentation nicht ganz verstanden. Er erzählte mir, daß du das Geld als Köder benutzen wolltest, und wollte wissen, was ich davon halte. Verlange bitte keine ausführlichen Einzelheiten von mir! Mir ist es jetzt einfach zuviel, das alles zu wiederholen. Jedenfalls war er überglücklich, als ich ihm den Vorschlag machte, zwei Transporte durchzuführen, den einen als Köder ohne Geld, den zweiten zur Sicherheit und mit dem Zaster."
"So etwas wollte ich ihm auch vorschlagen, aber er sollte erst einmal darüber nachdenken, ob er überhaupt mit meinem Mit-Speck-fängt-man-Mäuse-Spiel einverstanden ist."
"Genau das hatte ich vermutet." Jess lachte sarkastisch auf. "Das Tollste war, daß er von mir das Wort haben wollte, mit niemandem außer dir und Slim darüber zu reden, damit nichts durchsickert. Dabei gehe ich fest davon aus, daß sein Plan, wie immer er letztendlich aussehen wird, zu gegebener Zeit ebenso zu einem offenen Geheimnis wird wie dieser Transport überhaupt, was jedoch weder meine noch deine oder gar Slims Schuld wäre."
"Davon bin ich allerdings auch überzeugt. Und was hältst du so ganz im allgemeinen von dieser Idee, ich meine, mit dem Köder?"
"Mort, was heißt hier Idee? Dieser Transport wird das Geschmeiß des ganzen Territoriums anziehen, so bekannt wie das ist, egal, ob du einen Köder daraus machen willst oder nicht."
"Ja, ich weiß."
"Na also! Dann liegt es doch nur auf der Hand, sich diese Tatsache zunutze zu machen und im geeigneten Moment die Falle zuschnappen zu lassen, egal, wer drinnen sitzt. Du kannst mir doch nicht erzählen, daß du es ausschließlich nur auf unsere drei Freunde abgesehen hast."
"Nein, aber hauptsächlich! Ich rechne fest damit, daß gerade die anbeißen werden."
"Ich bin mir da nicht so sicher. Gerade denen würde ich auch etwas anderes zutrauen."
"Und das wäre?"
"Daß sie zum Beispiel frechweg in die Bank marschieren und das Geld direkt aus dem Tresor holen."
"Aber das wäre doch viel riskanter. Warum sollten die sich unnütz in Gefahr begeben, wenn sie's unterwegs viel einfacher haben können?"
"Eben! Es könnte denen zu einfach sein. Unsere Bank wäre schließlich nicht die erste, die sie am hellichten Tag heimsuchten."
"Daran habe ich wirklich noch nicht gedacht."
"Das solltest du aber. Ich könnte es ihnen jedenfalls ohne weiteres zutrauen. In der Stadt gibt es außerdem mehr Leute, die man über den Haufen knallen kann. Das ist zumindest für unseren schießwütigen Hal nicht zu verachten. Vergiß das nicht! Der braucht schließlich seine Abwechslung. Majors sagte etwas von fünfzig- oder sechzigtausend, die er transportieren will. Dann gehe ich davon aus, daß fast die doppelte Summe im Tresor liegt. Das ist ein ganz schöner Batzen Geld. Die sind das Risiko schon für weitaus weniger eingegangen, und dieser Hal hat schon für geringere Beträge Leute zusammengeschossen."
"Ja, dich!"
"Ich rede eigentlich nicht von mir, sondern von Bud Franklin und dem kleinen Mädchen, das beinahe draufgegangen wäre."
"Wenn ich mir das recht überlege, liegst du mit deiner Vermutung wahrscheinlich gar nicht so falsch. Mir scheint, du kannst diese drei Kerle ganz gut einschätzen."
"Ich kann auch falsch liegen. Ich kenne die drei schließlich nicht. Das ist alles reine Spekulation, sonst nichts!"
"Hast du darüber auch mit Majors gesprochen?"
"Nein", grinste Jess verstohlen, "denn wenn ich ganz ehrlich bin, ist mir das selbst gerade eben erst eingefallen."
"Ich muß sagen, du hast in der Beziehung noch interessantere Einfälle als Slim, der die Sache mit dem Köder andeutete. Auf jeden Fall ist es diese Vermutung wert, daß man sie näher in Erwägung zieht. Deine Ahnungen sind meistens wesentlich präziser als so manche Versicherung seitens anderer."
"Jetzt tu nicht gleich so, als ob diese Ahnung bereits Wirklichkeit wäre!"
"Ich habe Slim am Dienstag mal wieder gefragt, ob er seine Dienste nicht doch regulär der Polizei zur Verfügung stellen wollte. Natürlich hat er wie immer abgelehnt. Macht nichts! Ich setze dich genauso gern auf die Gehaltsliste."
"Red keinen Blödsinn! Du weißt genau, wie meine Antwort sein wird. Versuch also erst gar nicht, mich zu fragen. Außerdem gehe ich davon aus, daß du mit deinen zwei Deputies ganz gut bedient bist."
"Von denen wäre aber garantiert keiner auf diese Idee gekommen."
"Nun hör aber auf! Früher oder später müßte diese Möglichkeit jedem blutigen Anfänger in den Sinn kommen. Und du kannst mir nicht erzählen wollen, daß du selbst nicht vielleicht auch schon daran gedacht hast."
"Bestimmt nicht, ehrlich!"
"Aber dann doch nur, weil du im Moment zu sehr auf diese Ködergeschichte fixiert bist."
"Kann sein, aber beschwören will ich das nicht. Jedenfalls, ehe du dich vielleicht bei Pinkerton bewerben willst, frag lieber erst mich. Hier kannst du sofort anfangen."
"Du hast sie ja nicht alle! Ich bin doch kein Polizeischnüffler!"
"Danke!"
"'tschuldige, war nicht auf dich bezogen!" Jess hob beschwichtigend die Hand, obwohl Mort es mehr als Scherz aufgefaßt hatte. Aber wenn es um dieses Thema ging, war mit den zwei Freunden von der Sherman-Ranch gleichermaßen nicht zu spaßen. "Zudem glaube ich nicht, daß ich dir mit dem da", er deutete mit dem Daumen auf seine Brust, "eine große Hilfe sein könnte."
"Das wirst du ja nicht für immer mit dir herumschleppen. Ganz abgesehen davon, brauche ich hier keinen, der sein Gehalt damit verdienen will, daß er sich körperlich betätigt. Dafür habe ich zwei Deputies, die ganz wild darauf sind, sich mit Kontrollritten und dem Schlichten von Saloonprügeleien Bewegung zu verschaffen. Polizeiarbeit ist aber ein bißchen mehr. Hauptsächlich sollte man dabei mit dem hier oben arbeiten", Mort tippte zum Nachdruck an seinen Kopf, "und nicht nur zeigen, daß man Muskeln hat oder fix mit der Kanone ist."
"Ich weiß. Ich weiß auch dein Angebot zu schätzen, aber trotzdem … Gib dir keine Mühe. Ich werde das bleiben, was ich bin, auch wenn ich mich für den verbleibenden Rest meines Lebens auf kein Pferd mehr setzen könnte. Und damit Schluß!"
Irgendwie redet er schon, als ob er wüßte, was Doc Higgins gesagt hat, dachte Mort im stillen und fragte sich, ob Slim vielleicht nicht doch mit ihm gesprochen hatte.
"Trotzdem würde es mich freuen, wenn du ab und zu darüber nachdenken könntest."
"Mort, bitte, wir brauchen uns darüber nicht weiter zu unterhalten. Wenn du weiterhin haben willst, daß ich dir gelegentlich behilflich bin, dann sollten wir es dabei lassen. Im übrigen solltest du deine Deputies halt mehr zum Gebrauch ihres Verstandes anleiten. Zumindest der eine, Clem Brittfield, scheint ein ganz cleverer Bursche zu sein. Ich möchte wetten, daß, wenn der sich erst einmal mit einer Sache näher befaßt, er auch ganz brauchbare Einfälle haben kann. Du mußt ihm nur die Möglichkeit geben, sich zu bewähren."
"Sicher, aber du wirst es mir hoffentlich nicht verübeln, wenn ich es von Zeit zu Zeit bei dir versuche, um zu sehen, ob du vielleicht nicht doch deine Meinung geändert hast."
"Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß das jemals geschehen wird. Anstatt dir hier sinnlos den Kopf zu zerbrechen, wie du mich eventuell doch noch rumkriegst, solltest du besser darüber nachdenken, wie du einem möglichen Bankraub vorbeugen willst. Das ist meiner Meinung nach wesentlich wichtiger."
"Jetzt redest du, als wärst du absolut sicher, daß es überhaupt soweit kommt."
"Bin ich nicht! Aber die Chancen, daß so etwas passiert, sind – ich möchte fast behaupten – ziemlich gleich groß mit denen eines Überfalls unterwegs auf den Transport. Ich mache mir gewiß keine Sorgen darüber, daß dabei ein Haufen Geld abhanden kommen könnte. Was mir Sorgen bereitet, ist, daß – wenn es tatsächlich unsere drei Freunde wären – bei so einem Überfall nicht nur der Verlust des Geldes zu beklagen wäre, sondern sehr wahrscheinlich auch Menschenleben. Bei einem Überfall unterwegs sind nur die gefährdet, die das Risiko kennen und sich dafür bezahlen lassen. Aber hier in der Stadt … Du weißt schließlich, daß deren Freude um so größer ist, je mehr Unschuldige darin verwickelt werden."
"Das habe ich garantiert nicht vergessen. Ich brauche dabei nur an denjenigen zu denken, der mir im Augenblick gegenübersitzt", erwiderte Mort trocken.
"Irgendwie habe ich das Gefühl, du fängst absichtlich immer wieder davon an, nur um mich zu ärgern", vermutete Jess und gab sich die größte Mühe beim Versuch, es einigermaßen gelassen zu sehen; es reizte ihn tatsächlich.
"Natürlich!" erwiderte Mort; im Gegensatz zu ihm sah er die Sache nicht so verbissen. "Weshalb denn sonst?"
Er grinste den abgezehrten Mann an, der regelrecht verloren wirkte in dem wuchtigen Armlehnstuhl vor dem Schreibtisch und in seiner gefütterten Jacke, die ihm normalerweise ganz gut paßte, im Augenblick jedoch wenigstens zwei Nummern zu groß zu sein schien. Trotzdem konnte der bemitleidenswerte Eindruck, den er mit seiner momentanen körperlichen Schwäche erweckte, nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine wachsamen Augen und sein ansonsten entschlossenes Auftreten den Kämpfer verrieten, der genau wußte, was er wollte und es auch durchzusetzen verstand, mit dem im Ernstfall auch jetzt nicht zu spaßen war. Auf keinen Fall würde ihn sein vorübergehendes Gebrechen dazu bringen, klein beizugeben. Mort Cory war einfach felsenfest davon überzeugt, daß sein Zustand nur vorübergehend war. Das redete er sich zumindest konsequent ein.
Fortsetzung folgt
