KAPITEL 20
Für Jess war der lange Ausflug nach Laramie zuviel gewesen für das erste Mal. Zwar stritt er dies rigoros ab, aber vor sich selbst konnte er es nicht leugnen. Am Abend ging er auffallend früh zu Bett, und am nächsten Morgen schlief er lange in den Tag hinein, daß er sich darüber nur wundern konnte. Wenn er allerdings sein Schlafbedürfnis als Maßstab für seine Genesung nehmen wollte, so schien diese eine Entwicklung rückwärts zu machen. Dabei war er sich nicht sicher, ob nicht vielleicht auch die Langeweile eine entscheidende Rolle spielte. Was auch der Grund für sein gesteigertes Schlafbedürfnis sein mochte – er konnte sich nicht erinnern, jemals soviel Zeit damit zugebracht zu haben, es zu befriedigen.
Als er endlich die Treppe herunterkam, stellte er mit Schrecken fest, daß es schon bald Mittag war. Einigermaßen ausgeruht und in relativ guter Verfassung erschien er bei Daisy in der Küche, wo er sich ein großes Glas Milch und ein paar übriggebliebene Biskuits vom Frühstück holte. Natürlich protestierte Daisy dagegen heftig und wollte darauf bestehen, ihm ein ordentliches Frühstück zu machen. Da es jedoch bald Mittagessen gab, konnte Jess sie nach einigem Hin und Her davon überzeugen, daß dies nicht notwendig war. Der Lärm der eintreffenden Kutsche aus Cheyenne beendete die Debatte, bei der er sonst vielleicht doch noch den kürzeren gezogen hätte.
"Das ist ja schon die Kutsche aus Cheyenne!" stellte er überrascht fest und ging zur Haustür, wo er nach seinem Revolvergurt griff, der an einem Haken neben seiner Jacke hing.
Mit flinken Bewegungen schnallte er den breiten Gürtel um und wollte gerade die Rechte nach seiner Jacke ausstrecken, als es klopfte und zur gleichen Zeit geräuschvoll die Tür aufgestoßen wurde. Jess zuckte reflexartig zusammen und machte einen raschen Schritt zurück, weil er befürchtete, mit der Türkante zu kollidieren. Der Platz hätte jedoch gereicht; aber er war etwas schreckhaft, wenn jemand oder etwas seiner kranken Schulter zu nahe kam.
"Hallo, ist denn niemand …" Es war Arthur Kellington, der das Haus mit seiner stürmischen Jungenhaftigkeit betrat und die Tür aufriß, als müßte er für einen dreihundertfünfzig Pfund schweren Körper Platz schaffen; dabei brachte er kaum knapp die Hälfte auf die Waage mit seiner spindeldürren Gestalt. "Jess!" rief er voller Freude, als er sich umwandte und den Mann halb hinter der Tür entdeckte.
"Hallo, Mr. Kellington", begrüßte Jess ihn zwar freundlich, aber nicht unbedingt wie jemanden, den er sehnsüchtig erwartete. Als Kellington dann auch noch seine Rechte mit beiden Händen packte und schüttelte, als wollte er ihm den ganzen Arm herausreißen, mußte er ihm schnellstens Einhalt gebieten. "Vorsicht bitte! Ich bin noch etwas empfindlich bei solchen stürmischen Begrüßungen."
Die Länge von Kellingtons Leitung schien an diesem späten Samstagvormittag in direkter Proportion zu seiner körperlichen Größe zu stehen. Ehe er Jess' Hand endlich losließ, hatte dieser sie ihm bereits entzogen, denn gegen den ungezügelten Ausbruch seiner Begrüßungsfreude mußte er schnellstens etwas unternehmen, um allzu großen Schaden zu verhüten. Das Ziehen in den zerschossenen Muskeln und Knochen wurde fast zum Reißen, bis er endlich seine Rechte freibekam und sogleich gegen die schmerzende Brust preßte.
"Sie müssen tausendmal entschuldigen, Jess, aber ich freue mich so, Sie endlich wiederzusehen, daß ich total vergessen habe …"
Die Wiedersehensfreude schien aus Kellington einen wahren Tolpatsch zu machen, der seine langen Arme nicht unter Kontrolle brachte, denn um ein Haar wäre seine Rechte zum Ausgleich für die verlorene Hand seines Gegenübers auf dessen kranker Schulter gelandet. Jess, der so etwas beinahe befürchtet hatte, konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen.
"Bitte nicht die Schulter, wenn es geht, sonst setzen Sie mich womöglich völlig außer Gefecht!" bat er, gequält grinsend, und hob wie zur Abwehr die Hand, während er vorsichtshalber einen weiteren Schritt zurück machte, um aus der enormen Reichweite von Kellingtons Gliedmaßen zu gelangen. Nach diesem für seine Begriffe etwas zu heftig ausgefallenen Kontakt fand er es sinnvoller, sich etwas mehr auf Distanz zu halten, als er dies ohnehin schon tat.
"Natürlich! Ich benehme mich aber auch wie ein Elefant im Porzellanladen und das alles nur, weil ich mich wirklich wahnsinnig freue!"
Der Besucher hatte erhebliche Probleme, seine Arme und Hände ruhigzuhalten, denn sie waren ständig in Bewegung. Das eine oder andere Mal wäre seine Rechte garantiert in verbotene Bereiche vorgedrungen, wenn Jess sie nicht so aufmerksam im Auge behalten und sich selbst jedesmal gerade noch im rechten Moment in Sicherheit gebracht hätte. Keinesfalls war es Kellingtons Absicht, Jess irgendwelchen Schaden zufügen zu wollen. Nur, hätte dieser sich ausschließlich darauf verlassen wollen, wäre es ihm garantiert schlecht bekommen. Soviel Wiedersehensfreude auf einmal konnte sein lädierter Zustand beim besten Willen nicht verkraften.
"Hoffentlich habe ich Ihnen in meiner Gedankenlosigkeit nicht ernstlich wehgetan." Auch wenn es auf Anhieb vielleicht nicht so klang oder aussah, aber Kellingtons Besorgnis war tatsächlich ernst gemeint. "Es täte mir wirklich leid." Allmählich fing sein Benehmen an, seinem Alter laut Kalender zu entsprechen.
"Ich denke, daß es gerade noch mal gutgegangen ist."
"Mein Gott, Sie sehen wirklich verheerend aus. Ich war zwar auf einiges gefaßt, aber daß es so schlimm ist …"
"Dieses schmeichelhafte Kompliment läßt sich zur Zeit einfach nicht vermeiden, was?" feixte Jess nun, nachdem er ihren ersten Zusammenstoß leidlich überstanden hatte.
"Entschuldigen Sie, es war wohl ein wenig geschmacklos, das zu sagen."
"Aber woher denn! Immerhin entspricht es den Tatsachen." Jess sah die Sache wesentlich lockerer, als Kellington annahm, daß dieser sogar ein wenig überrascht war.
"Wie geht es Ihnen denn? Ich war am Mittwoch schon einmal hier, aber da sagte mir Slim, sie fühlten sich nicht besonders und hätten sich hingelegt."
"Na ja, ich habe mir angewöhnt, viel zu schlafen. Das ist jedenfalls ein ganz gutes Mittel gegen die Langeweile. – Warum stehen wir eigentlich hier herum? Wollen Sie sich nicht einen Moment setzen und eine Tasse Kaffee trinken? Daisy hat noch welchen auf dem Herd. Er ist zwar nicht mehr ganz frisch, dürfte aber immer noch der beste sein, den Sie zwischen Laramie und Cheyenne kriegen können."
"Da muß ich Ihnen ohne Einwände Recht geben."
Während Kellington mit einem Mal etwas unbeholfen wirkte und sich anscheinend nicht zu setzen getraute, ehe er Daisy Cooper begrüßt hatte, erschien Jess in der Küchentür, um nach einer Tasse Kaffee für den Gast zu fragen. Die Frau holte Tassen aus dem Schrank, um gleich darauf mit dem vollen Tablett ihr Reich zu verlassen.
"Ah, Mrs. Cooper, welch freudige Überraschung!" begrüßte Kellington sie in seiner überschwenglichen Art. Irgendwie hatte er Schwierigkeiten, das angemessene Maß zu finden.
Gleich fällt er ihr um den Hals, dachte Jess, aber dann würde sie ihm glatt das Tablett auf den Kopf hauen! Wenn er sich das vor seinem geistigen Auge vorstellte, mußte er verstohlen in sich hineingrinsen.
"Guten Tag, Mr. Kellington. Nett, daß Sie wieder einmal vorbeischauen. Wie geht es Ihnen denn? Was macht die Familie?" fragte sie in ihrer herzlichen Art und nahm ihm somit den meisten Wind aus den Segeln für unbeholfene Komplimente.
"Danke, alles bestens! Wie es Ihnen geht, brauche ich ja gar nicht zu fragen. So jung und frisch, wie Sie aussehen, muß es Ihnen geradezu blendend gehen."
"Sie sind ein Schmeichler!"
Sie stellte das volle Tablett auf den Tisch. Jess füllte die Tassen, um Beschäftigung vorzutäuschen; er mochte dieses süße Gerede nicht, das genauso überladen war wie Kellingtons Büro. Nach drei Minuten Süßholzraspelei meinte Daisy zum Glück, man möge sie entschuldigen, aber sie müsse sich leider ums Essen kümmern.
"Was für eine charmante Frau! Das muß ich immer wieder feststellen!" sagte Kellington hingerissen, wobei er ihr wie verzaubert nachstarrte, als sie in der Küche verschwand.
"Ja, Daisy ist unser aller Goldschatz, den wir nicht missen möchten", fügte Jess mit Stolz hinzu; es hörte sich an, als spräche er von einem ehrwürdigen Familienoberhaupt. "Möchten Sie nicht lieber Platz nehmen und Ihren Kaffee im Sitzen trinken?" fragte er im gleichen Atemzug, denn Kellington machte ihn mit seiner Länge nervös, was jedoch hauptsächlich daher rührte, daß er seiner manchmal unberechenbaren Spontaneität, mit der er auf seine Mitmenschen zuging und körperlichen Kontakt herstellte, nicht traute und das nicht nur wegen seiner Verletzung als nicht besonders angenehm empfand.
Er mochte es nicht leiden, wenn man allzu freundschaftlich tat, ohne daß dafür Grund bestanden hätte, und reagierte empfindlich, wenn man ihm in kumpelhafter Weise zu nahe treten wollte. Zwar hatte er nichts gegen Arthur Kellington, aber als einen engen Vertrauten oder gar Freund sah er ihn nicht. Daß er ihm fast mit betonter Höflichkeit begegnete und sich nach all den Jahren nicht dazu durchringen konnte, ihn mit Vornamen anzusprechen, worum Kellington ihn oft gebeten hatte, sollte nur seine Distanzhaltung unterstreichen. Dabei hatte er nichts dagegen, daß Kellington ihn beim Vornamen nannte. Aber mehr durfte dieser nicht erwarten.
Die zwei Männer setzten sich an den Wohnzimmertisch und tranken ihren Kaffee. Ehe Kellington sich wieder in Komplimenten über Daisys Kaffeekochkunst oder unbeholfenen Bemerkungen über Jess' Befinden ergehen konnte, brachte dieser das Gespräch gleich in eine andere Richtung, zudem er es besser fand, wenn er die Fragen stellte.
"Waren Sie bei Milford?" kam er deshalb ohne Umschweife zur Sache.
"Ja, natürlich!" sagte Kellington in seiner ausholenden Art. "Ich denke, ich habe ihm die Sache ganz gut klarmachen können. Er hatte keine Ahnung, war aber zum Glück sehr einsichtig. Offensichtlich hat er sich mit den Schmiedearbeiten ein wenig übernommen. Jedenfalls ist das Problem Gott sei Dank abgestellt."
"Das heißt, wir werden deshalb keine lahmenden Pferde mehr haben."
"Nein! Zum Glück haben Sie und Slim das rechtzeitig bemerkt, ehe noch mehr Unheil geschehen wäre."
"Nun ja, Lew Witherspy hatte schon länger den Verdacht."
"Ja, ich weiß. Aber es ist, wie ich schon zu Slim sagte: wenn ich auf alle Beschwerden der Kutscher gleich hörte, hätte ich den ganzen Tag nichts anderes zu tun. Was glauben Sie, worüber die sich alle beklagen kommen?"
Jess sagte dazu nichts weiter. Es hätte etwas Falsches sein können.
"Gibt es was Neues in Cheyenne?" fragte er statt dessen.
"Nicht viel, das Übliche eigentlich. Oh, aber das darf ich keinesfalls vergessen! Ich soll Ihnen viele Grüße und Genesungswünsche von Marshal Peters bestellen."
"Danke."
"Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er bedauerte, was mit Ihnen geschehen ist. Alle, die Sie kennen und schätzen, bedauern das, mich selbstverständlich eingeschlossen."
"Wenn Sie nichts dagegen haben, sollten wir lieber das Thema wechseln. Ich möchte das nicht schon wieder durchkauen."
"Kann ich voll und ganz verstehen. Trotzdem muß ich Ihnen sagen, daß das eine furchtbare Geschichte war. Wenn ich mir vorstelle, daß man Sie direkt vor der eigenen Haustür unter den Augen Ihrer – ich sage einmal – Familie niedergeschossen und beinahe getötet hat … Da kann es einem ganz anders zumute werden."
"Mr. Kellington, bitte!" sagte Jess leise, aber sehr eindringlich, mit stärker werdendem Unmut. "Ich möchte darüber wirklich nicht sprechen! Das Ganze ist für mich und für die anderen Bewohner dieser Ranch nicht leicht und wird garantiert nicht einfacher, wenn ich es immer wieder aufwärmen soll. Was geschehen ist, war schlimm genug, und wir haben einiges zu tun, um damit fertig zu werden. Ich habe kein Bedürfnis, daraus einen Staatsakt zu machen."
"Natürlich, trotzdem …"
"… sollten wir es dabei belassen", fiel Jess ihm beinahe ungehalten ins Wort, den Satz ganz und gar nicht in Kellingtons Sinne vollendend. "Ich möchte gewiß nicht unhöflich sein und weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen, aber trotzdem … Ich nehme an, Sie haben das schon alles mit Slim durchgekaut. Tun Sie es jetzt bitte nicht mit mir!"
"Ich hätte nicht gedacht, daß Sie das so sehr belastet", bemerkte Kellington erstaunt.
Bisher hatte er von ihm immer angenommen, ein knallharter Bursche zu sein. Schwer zu erklären, woher diese etwas stark übertriebene Vorstellung rührte. Jedenfalls entsprach dieses Bild ganz und gar nicht den Tatsachen, eher seinen idealisierten Wunschvorstellungen.
"Was meinen Sie, wie es einen belasten müßte, eine Vierundvierziger aus nächster Nähe in den Pelz gebrannt zu bekommen? Man hat zwar nicht das erste Mal auf mich geschossen, aber das heißt nicht, daß ich so etwas gewöhnt bin. Sie lesen anscheinend zu viele Schauermärchen und Heldengedichte, in denen das Sterben gerne glorifiziert und als etwas Angenehmes dargestellt wird. Die Wirklichkeit ist ein bißchen anders. Glauben Sie mir! Es ist nie angenehm, wenn man einer Kugel im Wege steht, auch wenn es nur eine winzige Schramme gibt. Wenn Sie mal so ein Ding mit voller Wucht gefangen und deshalb vorm Tor zur Hölle gestanden haben, unterhalten wir uns noch einmal darüber, obwohl ich es Ihnen nicht wünsche."
"Na ja", machte Kellington etwas verlegen, in seine halbvolle Kaffeetasse starrend, ehe er wieder aufblickte und Jess mit einem verschämt wirkenden Lächeln ansah, "ich glaube, als Außenstehender macht man sich da generell falsche Vorstellungen. Sie haben recht, es ist immer leichter, nur darüber zu reden, als es selbst zu durchleben."
"Sie sagen es! Deshalb sollten wir das Thema wechseln und uns über etwas anderes unterhalten."
"Sicher", nickte Kellington verständnisvoll. Plötzlich lachte er wehmütig auf. "Und da hatte ich die Absicht, Sie trotz Slims Warnung wegen des Geldtransportes zu fragen."
Jess atmete tief auf, soweit es seine Verletzung zuließ. Dabei stieß er jedoch so heftig den Atem durch die Nase, daß es für Kellington beeindruckend genug war.
"Tun Sie's nicht!" warnte er in zunehmend übler werdender Laune.
"Sie haben schon davon gehört?"
"Wer hat das mittlerweile nicht? Ich war gestern in Laramie. Die ganze Stadt spricht davon."
"Tja, das ist das Problem. Genau aus diesem Grunde dürfte es schwierig sein, jemanden zu finden, der das Geld sicher nach Cheyenne begleitet."
"Aber mich wollten Sie fragen!" stellte Jess wenig freundlich fest. "Sie sind anscheinend von der fixen Idee besessen, mir würde das Zielscheibe-Spielen nichts ausmachen, ich wäre daran gewöhnt, mir eine verpassen zu lassen, was? Leider muß ich Sie da gehörig enttäuschen. Mir macht es nämlich überhaupt keinen Spaß – nach dem hier", zum unmißverständlichen Nachdruck deutete er mit dem Daumen auf seine Brust, "noch weniger als vorher! Ganz abgesehen davon habe ich die Verantwortung für einen zehnjährigen Jungen. Das übersehen Sie offensichtlich. Die ganze Zeit habe ich das viel zu wenig beachtet, aber als es mit mir auf Messers Schneide stand und ich vor Fieber und Schmerzen kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, ist mir ausgerechnet diese Verantwortung mehr denn je bewußt geworden. Mit anderen Worten – Sie werden in Zukunft öfter auf meine Gefälligkeiten verzichten müssen."
"So etwas habe ich beinahe befürchtet." Kellington versuchte ein müdes Lächeln. "Es tut mir leid, Jess, daß ich überhaupt davon angefangen habe." Seine Entschuldigung klang ernst gemeint. "Aber wissen Sie, wenn ich Sie nicht selbst angesprochen hätte, hätte ich mich ewig gefragt, ob ich Sie nicht vielleicht doch hätte überreden können."
"Sie sollten mich eigentlich etwas besser kennen."
Auf diese Bemerkung hin verzog Kellington das Gesicht, als hätte er auf einen faulen Zahn gebissen. Zum erstenmal hatte er ernsthaft mit diesem ihm ureigenen Problem zu kämpfen, daß er sich im Zweifelsfall gern auf das Verantwortungsgefühl anderer – und in diesem speziellen Fall auf das von Jess Harper – verließ. Es war immer ein bequemes Spiel gewesen, denn bisher brauchte er sich um eine Lösung kaum Gedanken zu machen. Jess, der sich selten etwas für seine Dienste vergüten ließ und meist aus freundschaftlicher Gefälligkeit oder auch kameradschaftlicher Sorge um den einen oder anderen Kutscher einsprang, wenn Not am Mann war, war bisher nicht nur die wirtschaftlichste, weil kostengünstigste Schutzperson gewesen, sondern bei weitem auch die zuverlässigste. So leicht konnte es weder Kellington noch die Gesellschaft verkraften, wenn er in Zukunft seltener zur Verfügung stand.
Eines mußte man Kellington jedoch lassen: trotz seiner unbekümmerten Plumpheit, mit der er gern mit der Tür ins Haus fiel oder mit beiden Beinen ins Fettnäpfchen trat, merkte er relativ rasch, daß es unklug war, mit diesem Mann weiter darüber zu diskutieren, ob er nicht vielleicht doch eine kleine Fahrt nach Cheyenne in Erwägung ziehen könnte. Auf keinen Fall wollte er es sich mit ihm wegen solcher – im Grunde genommen – Lappalien verderben. Dazu legte er viel zuviel Wert auf ein angenehmes Verhältnis mit ihm. Nicht zuletzt hatten er und die Gesellschaft seinem uneigennützigen Einsatz schon einiges zu verdanken. Das vergäße er gewiß nicht, auch wenn er das nicht immer unmittelbar zeigte.
"Sie waren doch in Cheyenne", bemühte sich Jess trotz allem intensiver um eine Lösung des Problems als Kellington. "Konnten Sie im Hauptbüro keine Unterstützung anfordern?"
"Habe ich probiert", winkte Kellington voller Frust ab. "Die Antwort war das übliche Gerede, keine Leute, kein Geld und so fort. Man läßt mir volle Handlungsfreiheit – wie immer!"
"Ich habe so das unbestimmte Gefühl, als ob da keiner so recht die Verantwortung übernehmen wollte und sich einer auf den anderen verläßt."
"Womit Sie die Situation exakt beschrieben haben", mußte Kellington beipflichten.
"Sie sollten sich vielleicht in erster Linie noch einmal mit Lincoln Majors unterhalten. Ich hatte gestern mit ihm ein ziemlich ausführliches Gespräch." Jess verzog das Gesicht zu einem süßsäuerlichen Grinsen. "Unter anderem hat er übrigens ebenfalls versucht, mich für seine Pläne zu gewinnen. Nun, wer weiß, vielleicht finden Sie mit ihm zusammen eine Lösung. Und dann haben wir schließlich noch einen sehr fähigen Sheriff in unserem Bezirk."
"Mort Cory ist für das Geld erst zuständig, wenn es gesetzwidrig den Besitzer gewechselt hat. Das wissen Sie doch!"
"Schon, aber vielleicht kann er Ihnen mit seinem fachmännischen Rat helfen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß kein brauchbarer Begleiter aufzutreiben ist. Es gibt garantiert gute Männer, die gegen entsprechende Bezahlung bereit sind, den Helden zu spielen."
"Ich brauche aber keine Helden, sondern zuverlässige Männer. Ein einziger würde mir genügen. Aber wenn es um soviel Geld geht, traue ich keinem so recht über den Weg."
"Mir würden Sie doch auch trauen."
"Ich bitte Sie, Jess, das steht außer Frage! Ihnen würde ich sogar bedenkenlos den Inhalt meines Privatsafes anvertrauen."
"Danke, das ehrt mich. Aber Sie versuchen hoffentlich nicht, mich damit zu ködern?"
"Gott bewahre! Das sollte nur heißen, daß ich einem, der sich seinen Job teuer bezahlen läßt, erst recht nicht vorbehaltlos traue. Und je mehr einer dafür fordert, desto skeptischer werde ich."
"Sie sollten bei der Auswahl vielleicht weniger auf die Bezahlung oder Forderung achten als vielmehr auf die Leute selber. Menschenkenntnis hat schließlich nichts mit Dollars zu tun."
"Wie wahr!" seufzte Kellington. "Ich sehe schon, Sie haben auch keine Lösung für mich."
"Haben Sie die tatsächlich von mir erwartet?"
"Erhofft, Jess, erhofft!" korrigierte er geschlagen.
"Komischerweise hat sich Lincoln Majors gestern ähnlich geäußert. Dabei habe ich allerdings bis heute nicht begriffen, wie ich zu dieser Ehre komme. So ganz allmählich wird mir das lästig. Jeder versucht, mich hier für die Lösung seiner Probleme zu gewinnen. Leider übersieht man dabei völlig, daß ich im Moment mit meinen eigenen genug zu schaffen habe."
Kellington erinnerte sich plötzlich, daß ihm Slim Sherman bei seinem Besuch in der Stadt dasselbe mit fast genau den gleichen Worten gesagt hatte.
"Brauchen Sie Hilfe? Jess, wir haben Ihnen schon soviel zu verdanken – ich meine nicht nur die Gesellschaft und ich selbst, sondern auch die Gemeinde – vergessen Sie nicht, ich bin Mitglied des Stadtrates! Wenn wir irgend etwas für Sie tun können – Himmel, lassen Sie mich das ja sofort wissen!" bot Kellington in ehrlichgemeinter Hilfsbereitschaft an.
"Vielen Dank! Etwas Ähnliches hat Lincoln Majors ebenfalls angeboten. Ich glaube jedoch nicht, daß er oder Sie mir helfen können – und auch nicht Ihr Stadtrat. Meine Probleme muß ich selber lösen, das heißt, wenn sie überhaupt zu lösen sind."
Kellington sah ihn fragend an. Dabei schien ihm zum erstenmal die erschreckende Veränderung des Mannes richtig bewußt zu werden, den er bisher nur als tatkräftiges Energiebündel kannte, dessen blendendes Aussehen und selbstsicheres Auftreten er von jeher bewunderte, ja, beneidete, ohne ihm deshalb irgend etwas zu mißgönnen. Allerdings mußte er zugeben, daß diese Veränderung hauptsächlich äußerlich war und offensichtlich in direktem Zusammenhang mit seiner schweren Verwundung stand. Von seiner Selbstsicherheit hatte dieser Mann mit Gewißheit nichts eingebüßt. Für Kellington ein Grund mehr, ihm seine höchste Wertschätzung entgegenzubringen. Männer seines Schlages kannte er nicht viele; wahrscheinlich deshalb, weil es davon nicht viele gab. Er sah es wirklich als große Bereicherung, Jess Harper zu seinem engeren Bekanntenkreis zählen zu dürfen.
"Gesundheitliche, nicht wahr?" vergewisserte er sich nach einem forschenden Blick in das hagere Gesicht seines Gesprächspartners.
Wenn Jess ehrlich war, mußte er zugeben, daß ihn diese Feststellung Kellingtons überraschte. Soviel Aufmerksamkeit hätte er ihm gar nicht zugetraut. Trotzdem fiel seine Erwiderung sehr karg aus, denn er hatte nicht die geringste Absicht, Auslegungen in diesem Zusammenhang zu machen.
"Ja", kam die knappe Antwort, die es Kellington eindeutig untersagte, auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren.
Er fragte wirklich nicht. Die Art, wie Jess dieses eine Wort betonte, verbot es ihm. Statt dessen begann er, sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Offensichtlich hatte weder Gary Morgan mit seinen Zeitungsberichten übertrieben, noch Slim Sherman während seines Besuches bei ihm in der Stadt die Geschichte dramatisiert. Ohne Zweifel schien Jess Harper aufgrund seiner Verletzung ein schwerkranker Mann zu sein, der sich zwar bemühte, sich nicht viel von seiner Schwäche anmerken zu lassen, dessen abgezehrter Körper, sein beinahe hinfälliges Äußeres allerdings nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß er mit den Folgen dieser Verwundung hart kämpfen mußte.
Als ihm diese Erkenntnis bei seinem jämmerlichen Anblick zum erstenmal mit aller Rücksichtslosigkeit bewußt wurde, lief Kellington ein eiskalter Schauer über den Rücken. Plötzlich war das Ganze nicht mehr nur ein Zeitungsbericht oder Sensationsgerücht, das in der Stadt kursierte, sondern greifbare Wirklichkeit, die den Mann, der ihm gegenübersaß, um ein Haar das Leben gekostet hätte. Daß er ihn gut kannte, mehr noch, daß er ihn zu seinem engeren Bekanntenkreis zählte, verstärkte das flaue Gefühl in seinem Magen, und seine anfängliche Unbekümmertheit schlug in tiefes Mitgefühl um.
Nur allzu gern hätte er ihm irgendwie geholfen, sah aber ein, daß das einzige, was er im Moment für ihn tun konnte, war, ihn nicht weiter mit diesen Dingen zu belästigen. Allein die Tatsache, daß er dies endlich erkannte, war ein enormer Fortschritt, der Jess allerdings mehr auffiel als Kellington selbst, was kein Wunder war. Zwischen ihrer beider Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis lagen Welten; gegensätzlicher konnten zwei Menschen kaum sein.
Jess wollte nun endlich von diesem Thema loskommen und versuchte erneut, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
"Was machen eigentlich die Geschäfte?" fragte er deshalb, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres zu erfahren.
Dabei hielt sich sein Interesse an eben diesen Geschäften im Grunde in sehr engen Grenzen. Aber vielleicht konnte er Kellington endlich davon abbringen, noch weiter auf seinen persönlichen Angelegenheiten herumzureiten. Über diese Dinge wollte er sich – wenn es denn schon unbedingt sein mußte – ausschließlich mit den Menschen unterhalten, die ihm nahe standen – und das wesentlich näher als ein Arthur Kellington.
"Wie immer, Jess", erwiderte der Geschäftsmann mit dem gepflegten Äußeren und dem jungenhaften Aussehen, das ihn in der rustikalen Umgebung und Jess' Gesellschaft fast wie einen weltfremden Weichling wirken ließ.
"Ist das nicht ein wenig untertrieben?"
Jess glaubte ihm kein Wort. Zwar kümmerte er sich nicht sonderlich um die geschäftlichen Zusammenhänge, da er mehr für die praktischen Arbeiten war; aber trotzdem verstand er von geschäftlichen Dingen mehr als sein Gesprächspartner umgekehrt von seinen Arbeiten. Daher konnte ihm Kellington nicht weismachen, daß die Geschäfte nur wie immer liefen.
"Aha, ich sehe schon, man kann Ihnen selbst in fremdem Metier nichts vormachen", stellte Kellington anerkennend fest.
"Was heißt vormachen?" Jess hob die rechte Schulter, während ein Feixen sein hageres Gesicht aufhellte. "Von Lincoln Majors weiß ich, daß es allgemein ein gutes Geschäftsjahr war. Wir selbst können uns auch nicht gerade beklagen. Da kaufe ich Ihnen nicht ab, daß ausgerechnet Ihre Geschäfte nur wie immer gehen."
"Sie haben recht", gab Kellington nicht ganz ohne Stolz zu. "Auch die Gesellschaft wird das Jahr mit guter Bilanz abschließen. Allerdings – und das muß ich unbedingt auch noch Slim mitteilen – hat man im Hauptbüro in Erwägung gezogen, die Parallelstrecke zur Eisenbahn wenigstens über die Wintermonate zeitweise nicht zu betreiben. Man will testen, ob es nicht rentabler ist, den Schwerpunkt mehr auf die Nebenstrecken zu verlegen – als Zubringer zu den Bahnstationen, verstehen Sie?"
"Keine schlechte Idee!"
"Aber dann wären Sie hier auch davon betroffen."
"Mr. Kellington, ich will ganz offen sein, aber Slim und ich haben uns schon – sagen wir, indirekt – mit diesem Problem beschäftigt. Es ging dabei weniger um die Rentabilität der Strecke als vielmehr darum, daß es uns allmählich über den Kopf wächst. Die Ranch macht einen Haufen Arbeit auch ohne das Depot. Und da ich zudem für unbestimmte Zeit ausfallen werde, kann es uns also nur recht sein, wenn die Strecke teilweise oder von uns aus auch völlig stillgelegt wird. Aber ich denke, daß das eine Angelegenheit ist, die Sie besser mit Slim bereden. Ich schätze, Sie rennen damit offene Türen bei ihm ein."
"Wenn das so ist, gibt es ja keine Probleme in der Beziehung."
"Ich denke nicht, jedenfalls nicht aus unserer Sicht."
"Dabei wäre mir schon lieb, wenn Sie die Konzession weiterführten. Sollte die momentane Strecke tatsächlich eingeschränkt werden, so wird die Gesellschaft das Depot auf jeden Fall für die Nord-Süd-Route halten wollen. Ihre Ranch als Station liegt äußerst günstig. Es wäre schon von Vorteil …"
"Ich glaube, Mr. Kellington", fiel Jess ihm ins Wort, "das sollten Sie besser mit Slim besprechen. Er ist für diesen Teil unserer Geschäfte der geeignetere Verhandlungspartner. Ich will zwar nicht damit sagen, daß ich mich dafür nicht zuständig fühle, aber er versteht von solchen Dingen mehr als ich."
"Ist das jetzt nicht ein wenig falsche Bescheidenheit von Ihnen?"
"Hat es sich so angehört?"
"Das nicht gerade, aber ganz so unerfahren sind Sie doch nicht. Ich möchte Sie nur an das blendende Geschäft erinnern, das Sie im Frühsommer in eigenem und dem Namen vier weiterer Rancher der Umgebung in Billings abgeschlossen haben. Der enorme Profit, den Sie da erzielt haben, war wie lange in aller Munde!"
"Das war ein Rindergeschäft, vergessen Sie das nicht!"
"Geschäft bleibt Geschäft! Wo soll da ein Unterschied sein?"
"Verlangen Sie jetzt bloß nicht von mir, daß ich Ihnen das erkläre!"
Kellington musterte ihn abschätzend, ehe er zu schmunzeln begann. Dann schüttelte er grinsend den Kopf und hob abweisend beide Hände.
"Keine Sorge! Aber offen gestanden, Ihr Verhandlungsgegner bei solch einem Rindergeschäft möchte ich nicht unbedingt sein."
"Ist halb so wild, aber ich lasse mich von niemandem übers Ohr hauen."
"Und Sie wollen kein Geschäftsmann sein! Sagen Sie jetzt bloß nicht: 'Ich bin Rancher.'"
"Bin ich das denn nicht?"
"Sie betonen das genauso wie Slim. Er hat das auch sehr nachdrücklich von sich behauptet."
"Das stimmt doch auch, oder?"
"Sicher, aber trotzdem knallhart in geschäftlichen Dingen."
"Wenn man einen Ranchbetrieb über Wasser halten will, sollte man das auch sein. Und wenn man irgendwann mal auf einen grünen Zweig kommen will, bleibt einem erst recht nichts anderes übrig. Ich habe zwar von Buchhaltung nicht viel Ahnung, aber soviel weiß ich: um Profit machen zu wollen, muß man auf lange Sicht versuchen, finanziell mehr herauszuholen, als man hineinsteckt. Manchmal ist allerdings der Einsatz sehr hoch. Doch dieses Risiko muß man eingehen, wenn man ein Ziel erreichen will. Das gilt schließlich nicht nur für einen Ranchbetrieb, sondern für alle Bereiche. Oder sehe ich das falsch?"
"Nicht im geringsten! Ich würde sogar soweit gehen und diese Feststellung auf das ganz normale alltägliche Leben beziehen."
Jetzt wird er auch noch philosophisch, dachte Jess, der ein wenig überrascht war über Kellingtons leidenschaftliche Reaktion. Es war gewiß nicht seine Absicht gewesen, ein so tiefsinniges Gespräch über Risikobereitschaft und Grundlagen für erfolgreiche Geschäfte oder gar menschliche Beziehungen generell zu führen. Trotzdem hörte er sich sagen:
"Darauf sogar besonders."
Zum Glück kam Kellington nicht mehr dazu, ihn zu fragen, was oder wie speziell er das meinte. Nicht daß Jess um eine Erklärung verlegen gewesen wäre; vielmehr wäre es Arthur Kellington selbst schwergefallen, die wahre Bedeutung von dem, was er zur Antwort bekam, richtig zu erfassen, denn dafür war er zu oberflächlich.
Die Haustür wurde mit Nachdruck geöffnet, und Slim streckte den Kopf herein.
"Ich will die gemütliche Runde ja nicht stören, aber der Kutscher meint, er müßte weiterfahren, wenn er seinen Fahrplan wenigstens so einigermaßen einhalten soll."
"Immer diese Hetze!" stöhnte Kellington und erhob sich. "Würden Sie ihm bitte sagen, daß er sich keine Gedanken machen soll. Ich übernehme die Verantwortung."
"Ich werd' es ihm ausrichten."
Slims Kopf verschwand, die Tür fiel hinter ihm von allein ins Schloß.
"Dann werde ich wohl gehen müssen", meinte Kellington aufatmend. Es hörte sich ganz so an, als wäre er gern noch ein wenig geblieben.
"Ich werde Sie ein Stück begleiten – bis zur Kutsche", setzte Jess noch hinzu, als ihn der andere beinahe verdutzt ansah.
Jess erwartete ihn an der Haustür, wo er seine Jacke übergezogen hatte. Kellington folgte ihm. Plötzlich verschwand die jungenhafte Unbesonnenheit aus seinem Gesicht. Mit einem Mal war er sogar sehr ernst. Sein Blick fiel aus dem Fenster neben der Tür. Auch ein Laie wie er erkannte, daß die Scheibe relativ frisch verkittet war.
"Von hier hat man einen guten Blick über den Hof", stellte er fast ein wenig geistesabwesend fest, "… und den Verandaaufgang. Gary Morgan hat es genau beschrieben. Hier ist es passiert, nicht wahr? Ich meine, von hier hat dieser Killer auf Sie geschossen. Nicht zu fassen! Mein Gott, wenn ich mir das vorstelle …"
Jess hatte nicht das geringste Bedürfnis, es sich vorzustellen. Für ihn war es allgegenwärtig.
"Der Kutscher wartet", wich er deshalb aus.
"Wie bitte?" Kellington war in Gedanken völlig mit dem Ablauf des Überfalls beschäftigt, daß er im ersten Moment nicht wußte, was Jess meinte. "Natürlich!" nickte er, noch einen letzten Blick durch das Fenster werfend. "Das sind doch nicht mehr als vier oder fünf Yards."
"Ich hab' es nicht nachgemessen. Für mich spielt es auch keine Rolle."
"Daß Sie den Kerl aber auch nicht gesehen haben! Fast zum Greifen nah!"
"Wenn Sie es sich von draußen betrachten, werden Sie sich die Frage selbst beantworten können." Kellington sah ihn abschätzend an. Offensichtlich versuchte er ihn sich vorzustellen, wie er draußen am Verandaaufgang das schwere Geschoß aus nächster Nähe erwischte. "Was ist?" fragte Jess ungehalten. "Sie sehen mich an, als nähmen Sie Maß für meinen Sarg."
"Entschuldigen Sie, aber ich mußte mir gerade vorstellen …"
"Können Sie sich das überhaupt vorstellen?" ging Jess beinahe ungewollt voller Unmut darauf ein. "Fehlt Ihnen dazu nicht die nötige Erfahrung, auf die ich nicht nur an Ihrer Stelle liebend gern verzichten könnte? Bei mir ist es dazu leider etwas zu spät. Ich habe sie nicht zum erstenmal gemacht, aber zum erstenmal in dieser Heftigkeit. – Gehen wir!"
Jess hatte schlichtweg genug. Auch auf die Gefahr hin, daß er unhöflich sein könnte, ging er an Kellington vorbei und öffnete ihm demonstrativ die Tür. Dieser empfand es jedoch ganz und gar nicht als unhöflich. Schließlich hatte er es selbst provoziert.
Sie verließen das Haus. Auf der untersten Stufe des Verandaaufgangs blieb Kellington stehen und blickte über die Schulter zurück. Das Glas des Fensters neben der Tür spiegelte, die Öffnung lag im Dunkeln. Es war kaum möglich, die Gardine, die nicht direkt an der Scheibe, sondern an einer Vorhangschiene über der Fensternische hing, zu erkennen.
"Jetzt verstehe ich, was Sie eben meinten. Tut mir leid, daß ich mich so unüberlegt äußerte."
"Ich wiederhole mich zwar nur ungern, aber die Kutsche wartet!" drängte Jess, schon ein Stück vorausgegangen; Kellingtons Worte hatte er absichtlich überhört.
Der große Mann in dem tadellosen Maßanzug aus dickem, sehr teurem Wollstoff, der ihn mehr als nötig vor den spätherbstlichen, aber nicht winterlichen Temperaturen schützte – ihm mangelte es offensichtlich an entsprechender Abhärtung –, riß sich endlich los und folgte Jess zu der wartenden Kutsche. Nach allem war es doch beruhigend für ihn, daß der Mann, den er sich gerade in seinem Blut vorgestellt hatte, vor ihm herging, zwar nicht in der körperlichen Verfassung, die er von ihm gewöhnt war, aber doch aufrecht und mit einer Geschmeidigkeit, die ihn an einen Berglöwen erinnerte. Sogar Kellington erkannte, daß dies jemand war, der jeden Muskel seines Körpers beherrschen, seine Reaktionen bei Bedarf mit starken Nerven kontrollieren konnte. Selbst der leere Jackenärmel, der an seiner linken Seite im festen Takt seiner Schritte baumelte, tat seinem unerschütterlich wirkenden Erscheinungsbild keinen Abbruch. Daß an seiner rechten Hüfte die Colttasche seine Jacke ausbeulte und fingerlang am Oberschenkel darunter hervorschaute, wirkte nicht als Herausforderung, sondern eher wie ein Attribut, das sein Durchsetzungsvermögen wie beiläufig unterstrich. Dieser Mann strahlte soviel Sicherheit und Entschlossenheit aus, daß sogar eine eher ängstliche Natur – wie Kellington von sich selbst zugeben mußte – an seiner Seite Selbstvertrauen gewinnen konnte.
Jemand mit soviel Durchsetzungskraft und Zähigkeit wäre genau der Richtige für den Auftrag von Majors, ganz zu schweigen von seiner absoluten Zuverlässigkeit, für die er sich jederzeit verbürgt hätte. Aber gerade wegen seiner Entschiedenheit, ja, Unbeugsamkeit hätte es Kellington nicht mehr gewagt, ihn deshalb erneut anzusprechen. Nicht daß er Angst vor einer weiteren Abfuhr hatte; aber er hätte Jess damit ernsthaft verärgern können. Das wollte er unter keinen Umständen riskieren. Schließlich legte er erheblichen Wert auf ein weiterhin gutes bekanntschaftliches Verhältnis.
Fortsetzung folgt
