KAPITEL 21

Am Montagmorgen erschien Jess ausgesprochen früh bei Slim im Stall, wo er ihn bat, den Wagen für ihn anzuspannen.

"Willst du schon wieder in die Stadt?"

"Dan war am Freitag nicht in seiner Praxis. Ich habe bei seiner Haushälterin hinterlassen, daß ich deshalb heute noch mal vorbeikomme. Ich will ihn nicht vergeblich warten lassen."

Slim tat sehr geschäftig mit den Pferden und bemühte sich, den Freund nicht offen anzusehen. Nach allem, was er vom Arzt erfahren hatte, wäre es ihm diesmal sehr schwer gefallen, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er diesen furchtbaren Gedanken nicht loswerden wollte, daß Jess mit ziemlicher Sicherheit genau das ahnte, was er vor ihm zu verbergen suchte. Seine Stimme klang so merkwürdig zweideutig, daß Slim sich fragen mußte, ob er nicht deshalb den Arzt aufsuchen wollte, um sich Gewißheit über das zu verschaffen, was er unbewußt sowieso schon wußte.

Jess entging der merkwürdige Ausdruck in Slims Augen und die auffallend graue Farbe in seinem Gesicht nicht. Offensichtlich belastete oder bedrückte ihn etwas dermaßen, das diese Veränderung bei ihm bewirkte. Schon neulich abend während ihres Rundgangs über den Ranchhof hatte Jess diesen Verdacht. Damals war es dunkel, und er hatte diese sonderbare Stimmung nur instinktiv empfunden. Heute konnte er sein Gesicht sehen, obwohl Slim sich Mühe gab, einen direkten Augenkontakt zu vermeiden. Gerade dieses gezielte Ausweichen verriet ihm, daß er etwas vor ihm verbergen wollte. Jess mit seinem feinen Sinn für solche Dinge erkannte jedoch, wie sehr der Freund darunter litt, was immer es auch sein mochte. Wahrscheinlich war es dasselbe, weshalb er heute unbedingt zu Doc Higgins wollte.

Slim war fertig mit Anschirren und richtete sich auf. Als sich unbeabsichtigt ihre Blicke trafen, wußte Jess, daß es dasselbe war, was sie beide beschäftigte. Um so mehr wollte er versuchen, keine weiteren Anspielungen mehr zu machen.

"Ich bin mit Mike pünktlich zurück." Er ging demonstrativ energisch an dem Rancher vorbei und bestieg den Wagen. Seine Rechte griff nach den Zügeln. "Sag Daisy, Sie soll was Feines kochen! Bis heute mittag!"

Sorgenvoll blickte Slim ihm nach. Er konnte nur hoffen, daß der Arzt endlich mit ihm sprach. Viel länger könnte er jedenfalls nicht mehr so tun, als wüßte er von nichts.

Jess erreichte die Stadt ohne Zwischenfälle. Die Pferde machten ihm keine Schwierigkeiten, sondern liefen willig im Gespann, so daß er kaum Kraft benötigte, sie zu lenken. Trotzdem war er froh, als er den Wagen vor Hansons Eisenwarengeschäft anhalten konnte, wo er als erstes nach der Pumpe fragte, die jedoch noch nicht eingetroffen war, aber vielleicht mit der Fracht am späten Vormittag ankam. Er ließ den Wagen stehen und ging die paar Schritte zu Fuß zu Doc Higgins' Praxis.

Der Arzt, der von seiner Haushälterin von seinem erfolglosen Besuch am Freitag unterrichtet worden war, erwartete ihn bereits in seinem Sprechzimmer. Da er die Praxis heute erst am Nachmittag öffnete, hatte er genügend Zeit für ihn. Obwohl er es nicht für gut heißen konnte, daß Jess bereits wieder mit dem Wagen durch die Gegend kutschierte, war es ihm doch lieber, sich ungestört in seiner Praxis unterhalten zu können, anstatt bei ihm zu Hause. Es würde so zwar auch nicht leichter für ihn sein, aber in seinem Arbeitsraum fühlte er sich dieser Aufgabe besser gewachsen als auf der Sherman-Ranch, wo ihn gleich drei Augenpaare erwartungsvoll angestarrt hätten.

"Jess!" rief er trotz allem erfreut, ihn zu sehen, und eilte auf den Mann zu, noch ehe dieser richtig eingetreten war. "Mrs. Howard sagte mir, daß du am Freitag bereits da warst. Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, dir das schon erlaubt zu haben."

"Hast du auch nicht." Jess grinste verstohlen. Seine Augen nahmen daran nicht teil. "Aber du kennst mich doch. Ich hab' es zu Hause vor Langeweile nicht mehr ausgehalten."

"Glaube ich dir, aber trotzdem solltest du etwas vorsichtiger sein."

"Meinst du denn, das würde etwas ändern?"

Jess schlüpfte für Dans Begriffe erstaunlich geschickt aus seiner Jacke und hängte sie mitsamt dem Revolvergurt an den Haken.

"Setz dich da rüber und zieh dein Hemd aus. Ich gehe mir derweil die Hände waschen."

Keine zwei Minuten später war der Arzt bei der Arbeit, schnitt vorsichtig den alten Verband auf und bat seinen Patienten, still zu sitzen, weil er einmal vor der kalten Schere auf seiner Haut zurückwich. Dan steckte sich das Stethoskop in die Ohren und hörte seinen Rücken und Brustkorb ab. Von dem, was er da hörte, war er wenig begeistert. Vielmehr bestätigte es seinen Verdacht, daß sein Patient ein todkranker Mann war.

"Du hast starke Atembeschwerden und Schmerzen, nicht wahr?" wollte Dan wissen, als er endlich die Wunde, die äußerlich in einer häßlichen Narbe zu heilen begann, versorgte und dann einen frischen Verband anlegte, wobei Jess selbst ihm etwas zur Hand ging.

"Manchmal schon. Vor allem nachts, wenn ich zu tief liege. Seit das Wetter so schlecht geworden ist, kann es aus heiterem Himmel vorkommen, daß ich furchtbar husten muß. Meistens, wenn ich vom Warmen ins Kalte komme oder umgekehrt oder in einen Raum, wo viel geraucht wird. Und heute nacht bin ich plötzlich aufgewacht, weil ich dachte, ich ersticke." Dan half ihm, sein Hemd überzustreifen. "Dan, was soll eigentlich dieses Frage- und Antwortspiel? Ich denke, du hast genug durch dein Hörrohr da festgestellt. Ich kann dir auch so sagen, daß irgend etwas nicht mit mir stimmt."

"Wie meinst du das?"

"Ach, komm, hör auf! Tu nicht so scheinheilig! Denkst du vielleicht, ich wüßte nicht, was mit mir los ist?"

Der Arzt kehrte ihm den Rücken und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. In seinem wuchtigen Ledersessel wirkte der kleine Mann mit dem schütteren Haar und den hellen, gutmütigen Augen fast ein wenig verloren. Nichtsdestotrotz verfügte er über ein beachtliches medizinisches Können. Wollte man es an seiner umfangreichen Bibliothek messen, mußte es sogar sehr beachtlich sein. Einer derjenigen, die ihm dies sofort bescheinigt hätten, setzte sich gerade ihm gegenüber vor seinen Schreibtisch. Jetzt begann Dan etwas verlegen mit dem Federhalter zu spielen.

"Hat Slim mit dir gesprochen?"

"Worüber soll er denn mit mir gesprochen haben?" wurde Jess hellhörig – und nachdenklich, sehr nachdenklich. "Er war also doch bei dir!"

"Nein, nicht direkt. Wir haben uns zufällig unterwegs getroffen, als er in der Stadt war."

"Dann hat er wenigstens damit nicht gelogen. Ich hatte gleich irgendwie den Verdacht, daß etwas nicht stimmte mit ihm. Ich frage mich nur, warum er nichts davon gesagt hat."

"Weil ich ihn darum gebeten habe."

"Meinst du nicht, daß du es mir auch sagen könntest? Ich denke, es betrifft mich, oder?"

"Ja."

"Herrgott noch mal! Laß dir doch nicht so die Würmer aus der Nase ziehen!" fuhr Jess ungewollt auf; aber Dans Verschlossenheit reizte ihn geradezu, aus der Haut zu fahren, obwohl er im Grunde genau wußte, weshalb der Arzt so herumdruckste. "Wenn du mir sagen willst, daß ich sehr wahrscheinlich nicht wieder gesund werde, brauchst du dich nicht so anzustellen! Zu diesem Schluß bin ich schon lange gekommen, sogar von ganz allein. Oder bildest du dir ein, ich wüßte nicht, was da drinnen los ist!" Zum Nachdruck deutete er mit dem Daumen auf seine Brust. "Ist es das, was du mir nicht sagen kannst? Nun gut!" Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Dann habe ich das ja jetzt für dich übernommen. Nicht genug, daß es mein bester Freund nicht für nötig hält, offen mit mir zu reden, nein! da muß sich mein Arzt auch noch anschließen!"

"Bist du jetzt endlich fertig?"

Jess warf den Kopf in den Nacken, schloß die Augen. Einen Moment brauchte er, um zu sich zu kommen.

"Entschuldige!" sagte er wesentlich ruhiger, senkte aufatmend den Kopf und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Stirn. "Ich sollte mich nicht so gehenlassen. Es tut mir leid! Du hast mir das Leben gerettet. Ich … ich habe nicht das Recht, so mit dir zu reden."

"Schon gut", winkte Dan verständnisvoll ab. "Ehe wir weiterreden, tu mir bitte den Gefallen und mach Slim keinen Vorwurf. Ich nehme an, es war nicht leicht für ihn."

"Das habe ich gemerkt."

"Im Grunde genommen ist es meine Schuld. Ich habe mir von ihm versprechen lassen, nichts zu sagen. Aber er hätte dich nie belogen."

"Nein, das hat er tatsächlich nicht, weil ich ihm nicht die Möglichkeit dazu gegeben habe. Ich wußte, daß er … ich habe es ihm angesehen, daß ihn etwas bedrückt. Und ich wußte auch, was es war. Wir kennen uns schon viel zu lange, als daß ich das nicht bemerkt hätte. Verdammt, was hast du ihm eigentlich gesagt?"

"Daß …" Dan fiel es schwer, offen zu sein. Er biß sich auf die Lippe und senkte den Blick. Es tat ihm weh, als Arzt und mehr noch als Freund dem Mann die Wahrheit zu sagen und ihm dabei auch noch unverwandt in die Augen zu sehen.

"Es sieht schlecht aus, nicht wahr?" half Jess ihm, obwohl die Tatsache, daß sie hier über ihn und seine Zukunft redeten, nicht sehr zu seinem Wohlbefinden beitrug. Aber schließlich war es nichts gravierend Neues für ihn, daß er mit allem rechnen mußte, faßte er doch nur seine Gedanken der letzten Tage und Wochen in einfache Worte. "Willst du mir das sagen?"

Der Arzt zögerte, ehe er endlich kaum merklich vor sich hin nickte.

"Ja", sagte er leise. "Ja, Jess – ja!" bekräftigte er, als bestünde sein Wortschatz nur aus dieser einen Silbe.

Jess schluckte geräuschvoll. Auch ihm begann es zunehmend unangenehm zu werden in seiner Haut, aber schließlich war er hauptsächlich deshalb hergekommen, um sich endlich Gewißheit zu verschaffen. Derweil brannte es unter seinem Verband wie Feuer.

"Wie ernst ist es?"

"Sehr ernst … zu ernst sogar!"

"Das hört sich so an, als ob ich …" Jetzt, da er endlich Gelegenheit hatte, mit seinem Arzt zu sprechen, fiel es ihm schwer, seine düsteren Gedanken in Worte zu fassen. "Was immer es ist, ich werde daran krepieren, richtig?"

"Himmel, tu mir den Gefallen und red nicht so!"

"Verdammt, wie soll ich nach deiner Meinung denn sonst reden? Wenn du dir schon alles vorkauen läßt, kannst du mir auch die Wahl der Worte überlassen. Oder denkst du, es wäre einfacher oder weniger schlimm, wenn ich mich gewählter ausdrückte?"

Dan machte nur eine kurze verneinende Kopfbewegung. Seine Kehle fühlte sich entsetzlich trocken und geschwollen an, daß er kein Wort sagen konnte. Er hätte nicht gedacht, daß ihm diese Aussprache soviel Schwierigkeiten bereitete. Mit einem Mal wünschte er sich, seinen Patienten nicht so gut zu kennen. Dann wäre ihm bestimmt alles viel leichter gefallen.

Vergeblich wartete Jess darauf, daß Dan ihn ansah. Schließlich senkte er selbst ebenfalls den Blick. Plötzlich fühlte er sich hundeelend. Mit einem Schlag wurde ihm bewußt, daß sie hier von ihm selbst sprachen, nicht von einem Dritten. Der Unterschied zwischen einer Ahnung zu haben und Gewißheit zu erfahren konnte enorm sein. Mehr denn je spürte er, wie sehr er im Grunde an seinem Leben hing, obwohl er oft genug so leichtfertig damit umgegangen war – seiner jetzigen Ansicht nach viel zu oft!

"Wie lange noch?" fragte er leise mit sehr heiserer Stimme, kaum verständlich.

"Das … das kommt womöglich auf dich selber an", kam die ebenso leise Antwort.

"Auf mich selber? Vielleicht erklärst du mir das mal genauer! Sag mir jetzt bloß nicht, ich müßte nur wollen! Seit fast drei Monaten will ich! Du läßt mich gegen den Teufel kämpfen, nur um mir heute mitzuteilen, daß ja sowieso alles sinnlos ist. Vielen Dank, kann ich da nur sagen!" Jess wunderte sich über sich selbst, daß er soviel redete. Offensichtlich tat er dies aus reiner Unsicherheit, weil er nicht wußte, wie er sonst reagieren sollte.

"Mach es mir doch nicht so schwer!" beklagte sich Dan, obgleich er es eigentlich war, der ihn mit seiner Wortkargheit reizte. "Ist dir überhaupt klar, worüber wir hier reden?"

"Sehr genau sogar! Über mein Todesurteil, über was sonst? Ich bitte um Entschuldigung, wenn dir die Wahl meiner Worte wieder nicht gefällt. Aber im Moment ist es doch so, daß hauptsächlich nur ich rede und du dich in souveränes Schweigen hüllst. Aber bitte, vielleicht kannst du es mir besser erklären. Nur zu! Mich kann so gut wie nichts mehr erschüttern."

"Du redest, als ob du es nicht abwarten könntest. Dabei fragst du noch nicht einmal, ob es irgendeine Möglichkeit gibt …"

Dan machte eine etwas zu lange Pause, weil er nicht wußte, wie er sich am besten ausdrücken sollte. Während er noch überlegte, ob er nicht neu beginnen sollte, warf Jess ungeduldig ein:

"Also schön, ich tu' dir den Gefallen und frage dich. Gibt es eine?"

"Du bist unmöglich, weißt du das?"

"Ja, sag mal, was erwartest du eigentlich von mir? Daß ich mich darüber freue, mich irgendwann zu Tode zu husten? Ich nehme an, daß es so kommen wird, nicht wahr?"

Als Dan vor ein paar Tagen mit Slim gesprochen hatte, hatte er nicht diese unüberwindlichen Hemmungen, die Dinge so darzulegen, wie sie standen. Aber nun, wo es darum ging, mit seinem langjährigen Bekannten über dessen weitere Zukunft zu sprechen, brachte er es nur mühsam fertig, seiner Pflicht als Arzt nachzukommen und seinen Patienten über sein Schicksal aufzuklären.

"Wenn du hierbleibst, wird das auf jeden Fall über kurz oder lang geschehen."

"Wie meinst du das, wenn ich hierbleibe?"

"Du müßtest in ein anderes Klima."

"Das wäre?"

"Am besten der Südwesten, New Mexico oder Arizona. Dort ist es warm und vor allem trocken."

"Dort ist es auch staubig."

"Du sollst dort ja keine Rinder treiben."

"Hab' ich auch nicht angenommen. Soll mich da aber vielleicht von einem Gila-Monster beißen lassen, was?"

"Jess, das war nicht als Witz gedacht."

"So habe ich das auch gar nicht verstanden. Du meinst also, das würde helfen?"

"Das könnte helfen."

"Aber eine Garantie ist es nicht."

"Nein, höchstens eine fünfzigprozentige Chance – allerhöchstens! –, mehr nicht. Tut mir leid!"

"Dann schlag dir das ganz schnell aus dem Kopf! Ich mache keine Reise von tausend Meilen oder mehr, nur um irgendwo in der Wüste Arizonas zu verrecken. Das kann ich hier einfacher haben, denke ich."

"Jess, wenn du hierbleibst, wirst du diesen Winter nicht überleben. Begreif das doch!"

"Ob du es glaubst oder nicht, aber das habe ich begriffen!"

"Dann verstehe ich dich nicht. Das naßkalte Wetter hier wird dich umbringen. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust, das mit anzusehen. Du hast jetzt schon eine chronische Entzündung. Die kann hier unmöglich ausheilen, das durch die Verletzung geschädigte Gewebe wird nicht vernarben. Bei nächstbester Gelegenheit holst du dir eine akute Pneumonie, die du keinesfalls überleben wirst. Willst du es denn unbedingt darauf ankommen lassen?"

"Habe ich denn eine andere Wahl?"

"Du könntest es wenigstens probieren. Immerhin ist eine geringe Chance besser als gar keine."

"Bildest du dir etwa ein, daß ich diese Tausendmeilenreise überstehen würde? Doch wohl kaum!"

Dan antwortete nicht gleich. Statt dessen starrte er ihn sinnend an. Wenn er ehrlich war, bezweifelte er sogar, daß er selbst eine Reise von nur zweihundert Meilen überstehen könnte, nicht bei den Verkehrsverhältnissen im Südwesten des Landes.

"Na also!" zog Jess den Schluß aus seinem Schweigen. "Wenn dir nichts Besseres einfällt, werde ich lieber hier auf mein Ende warten, wenn es denn schon unbedingt sein muß."

"Das werde ich nicht zulassen!"

"Und wie bitte schön willst du das verhindern? Du kannst mich schließlich nicht zwingen, eine Reise anzutreten, deren Ziel ich nie erreiche. Dann bleibe ich lieber zu Hause. Wer weiß, vielleicht verpasse ich diese nächste Gelegenheit, um mir was Akutes einzuhandeln."

"Bei unserem Klima ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Ich will dich nicht noch mehr beunruhigen oder dir gar Angst machen, aber spätestens zum Jahreswechsel …"

"… bin ich fällig", vollendete Jess sehr bissig den Satz.

"Himmeldonnerwetter! Fang nicht schon wieder diese Tour an! Du tust ja geradeso, als könntest du es nicht mehr abwarten."

"Sicher, ich bin ganz wild darauf, ins Gras zu beißen, nachdem ich fast drei Monate vergeblich versucht habe, mühsam wieder auf die Beine zu kommen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, gleich am Anfang das Handtuch zu werfen. Leichter gefallen wäre es mir damals allemal." Jess fuhr sich übers Gesicht, als müßte er dort etwas wegwischen, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Dann blickte er Dan lange an, ohne sich dessen bewußt zu sein oder ihn gar zu sehen. Er wirkte wie abwesend, sah müde und erschöpft aus. Schließlich deutete seine Rechte eine unbeholfene Geste an. "Tut mir leid, Dan", entschuldigte er sich, wesentlich entspannter, und auch seine Stimme klang gefaßter. "Du hast recht, ich bin unmöglich. Anstatt mich hier so aufzuführen, sollte ich lieber die Nerven behalten und vernünftig bleiben – oder zumindest so tun als ob."

Der Arzt sah ihn forschend an. Tatsächlich schien er sich allmählich in die Gewalt zu bekommen und seine Fassung wiederzufinden.

"Ist schon gut." Versöhnend versuchte er ein Lächeln. Es sah aus wie das Bild auf einem Zerrspiegel. "Ich möchte nicht wissen, wie ich an deiner Stelle reagierte. Wahrscheinlich genauso, eher sogar noch schlimmer."

"Das ist ein schwacher Trost für mich." Jess hob die Mundwinkel; dadurch wirkte der melancholische Ausdruck seiner Augen noch intensiver. "Es ist schon merkwürdig. Die ganze Zeit ahnte ich, daß du mir so etwas sagen wolltest, und dachte, es könnte mich nicht mehr umhauen. Und jetzt, wo ich es endlich weiß, erschlägt es mich fast. Hätte nicht gedacht, daß ich so darauf reagiere."

"Ist nur verständlich."

"Besteht sonst eine Möglichkeit, diese Misere in den Griff zu kriegen, oder soll ich Däumchen drehen, während ich auf mein Ende warte?" Um ein Haar klang es wieder eine Spur zu bissig.

"Es gibt eine andere Möglichkeit, allerdings mit einer wesentlich geringeren Chance auf Erfolg als ein Aufenthalt im Südwesten."

"Wie gering?"

"Zwanzig, dreißig Prozent – höchstens!"

"Das ist nicht viel."

"Nein, aber immer noch mehr, als wenn du hierbleibst."

"Das heißt also, auch da müßte ich von hier weg."

"Auf jeden Fall! Allerdings nicht so weit."

"Wie weit?"

"Colorado Springs."

"Was soll da unten anders sein als hier?"

"Einiges! Zunächst einmal ist in der Gegend das Klima wesentlich trockener als hier, auch im Winter. Zwar klirrend kalt mit viel Schnee, aber die Luft ist trocken und klar."

"Und zum anderen?" fragte Jess, mißtrauisch die Brauen zusammenziehend, daß sich zwischen ihnen über seiner Nasenwurzel eine steile Furche bildete. Fast kam es ihm so vor, als hätte sein Arzt schon beschlossen, ihn nach Colorado Springs zu verfrachten.

"Ich habe einen alten Studienfreund, der sich auf Lungenkrankheiten spezialisierte, inzwischen einen Haufen Erfahrung gesammelt, in allen großen Städten des Ostens Vorlesungen gehalten hat und sogar einige Zeit in Europa verbrachte. Wir hatten uns lange aus den Augen verloren, aber vor kurzem konnte ich ihn ausfindig machen. Vor zwei oder drei Jahren hat er sich in Colorado Springs niedergelassen, wo er eine Art Sanatorium eingerichtet hat, hauptsächlich wohl für die Minenarbeiter, die zunehmend unter Atemwegserkrankungen leiden."

"Ein Sanatorium?"

"Ja, so eine Art Heilstätte."

"Ein Krankenhaus für Schwindsüchtige", bemerkte Jess voller Unbehagen.

"Nun werde nicht gleich wieder so bärbeißig!"

"'tschuldige, ist mir gerade so eingefallen." Abweisend hob er die Hand. "Red nur weiter! Bin ganz Ohr."

"Du nimmst das anscheinend nicht ernst."

"Das täuscht. Ich nehme das sogar sehr ernst. Also, fahr fort!"

"Wie gesagt, er hat dieses Sanatorium eingerichtet und schon einige beachtliche Erfolge erzielt. Er ist wirklich eine Kapazität. Glaube mir, wenn dir überhaupt jemand helfen kann, dann nur er. Er hatte viel Gelegenheit, Erkenntnisse auf den Schlachtfeldern während des Sezessionskrieges zu sammeln, konnte diese Erfahrungen in Europa fortsetzen und erweitern. Wahrscheinlich hätte er dir diese Kugel etwas eleganter aus der Brust geschnitten. Wer weiß, vielleicht hättest du dann heute diese Probleme nicht."

"Ich finde, du hast das elegant genug gemacht."

"Danke!" Ein flüchtiges Lächeln unterstrich Dans Dankbarkeit für diese unumstößliche Anerkennung. Jess hatte manchmal eine etwas ruppige Art, seine Bewunderung auszudrücken oder gar Komplimente zu machen. Aber es war immer ehrlich gemeint und nicht nur als Schmeichelei gedacht. Deshalb wußte Dan um den Wert seiner Worte, die er mehr schätzte als überschwengliches Gerede, was meist auch nicht mehr als pures Gerede war. "Nun denn, wie dem auch sei", fuhr er fort, "ich habe mit ihm schon vor einer ganzen Weile deinetwegen Kontakt aufgenommen und mir den einen oder anderen Rat geholt."

"Du hast das nie erwähnt. Warum nicht?"

"Ich wollte dich nicht beunruhigen. Außerdem wollten wir, das heißt Jonathan Tyler und ich, keine voreiligen Schlüsse ziehen. Dazu ist diese Angelegenheit zu ernst. Ich mußte abwarten, wie sich die Symptome bei dir entwickeln, und auch Jonathan mußte sich erst einmal ein einigermaßen genaues Bild machen."

"Und was ist dabei herausgekommen? Daß er mir womöglich auch nicht helfen kann."

"Das ist nicht gesagt. Er würde es zumindest gerne versuchen. Jess, er ist wirklich der fähigste Spezialist, den ich kenne. Ich habe weder das Wissen noch die Möglichkeit, deinen Zustand in irgendeiner Weise zu verbessern. Das einzige, was ich noch für dich tun kann, ist, dir eine Flasche mit Laudanum in die Hand zu drücken, damit du deine Schmerzen betäuben kannst und im Endstadium so wenig wie möglich von allem mitkriegst. Ist es vielleicht das, was du willst?"

"Du kennst meine Antwort und weißt, wie ich dieses Zeug verabscheue."

"Eben! Abgesehen davon, wäre das auch keine echte Hilfe. Jess, es ist ein Wunder, daß du noch lebst. Tritt es nicht mit Füßen, indem du diese Chance nicht nutzt."

"Das muß ich mir erst überlegen."

"Überleg nicht zu lange, denn du hast nicht mehr viel Zeit, vergiß das nicht!"

"Ich muß das erst einmal richtig verarbeiten, verdammt noch mal! Soviel Zeit nehme ich mir ganz einfach! Außerdem muß ich vor allem mal mit Slim darüber reden, auch wenn er es mit mir nicht getan hat. Dann muß ich auch Mike … ich meine, ich muß doch auch an ihn denken, ganz besonders sogar! Ich darf da nichts überstürzen."

"Gerade wenn du an ihn denkst, hast du eigentlich keine andere Wahl. Jess, bitte, tu mir den Gefallen und hör auf mich – in deinem Interesse! Ich möchte keinen guten Freund verlieren, nicht auf diese Art und Weise. Entscheide dich so schnell wie möglich und geh nach Colorado Springs!"

"Und für wie lange?"

"Das läßt sich vorab nur sehr schwer sagen."

"Doch bestimmt für einige Wochen."

"Rechne lieber für Monate, zumindest über Winter. Die Entzündung muß völlig ausheilen, sonst nützt das alles nichts."

"Für Monate?" wiederholte Jess. "Das ist unmöglich, Dan! Wie stellst du dir das vor? Wir haben eine Ranch zu unterhalten. Ich kann Slim doch nicht einfach so mit der ganzen Arbeit sitzenlassen!"

"Im Moment kannst du ihm sowieso nicht helfen. Und wenn du nicht gehst, wirst du ihm nie mehr helfen können."

"Du hast selbst gesagt, daß meine Chancen auch anders gering sind. Warum sollte ich all diese Strapazen auf mich nehmen, und nachher war alles umsonst? Und dann nehme ich an, daß das auch eine Kleinigkeit kostet."

"Das ist richtig, jedoch sollte das kein Grund sein, diese Chance nicht zu nutzen."

"Du bist vielleicht gut! Denkst du, mein Konto oder das der Ranch läuft über? Bestimmt nicht für einen monatelangen Aufenthalt in diesem Sanadingsda, von dem ich höchstwahrscheinlich nicht zurückkehren werde."

"Bist du dir eigentlich darüber im klaren, daß, wenn du nicht gehst, du bis Jahresende sehr wahrscheinlich unter der Erde liegst?" erinnerte Dan auf ziemlich brutale Art, weil er der Meinung war, sein Patient hätte dies vergessen.

"Keiner kann mir garantieren, daß das nicht auch der Fall sein wird, wenn ich nach Colorado Springs gehe."

"Ich begreife einfach nicht, wieso dir deine Gesundheit dieses Risiko und Opfer nicht wert ist. Ich dachte immer, du gehörst nicht zu denen, die so leicht aufgeben, einfach resignieren, weil es das Bequemste ist. Und ich dachte, du wolltest unbedingt wieder gesund werden – nicht deinetwegen, sondern wegen der Menschen, die dir etwas bedeuten, allen voran Mike. Und dann schmeißt ein Kämpfer wie du einfach so die Flinte ins Korn, wenn die ersten Schwierigkeiten auftauchen. Willst du mich unbedingt enttäuschen? Schön, du bist mir schließlich keine Rechenschaft schuldig. Tu, was du willst! Aber denke daran, auch andere werden enttäuscht sein; aber am schlimmsten ist, daß es Mike sein wird. Hast du ihm nicht versprochen, du würdest alles versuchen?"

Dans Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Mit seiner Moralpredigt hatte er im wahrsten Sinne des Wortes Jess' empfindlichste Stelle getroffen – Mike. Jess biß die Zähne zusammen und mahlte mit dem Unterkiefer. Seine Lippen waren nur ein schmaler Strich.

"Du wußtest genau, wo du mich erwischen kannst, nicht wahr?" sagte er mit leiser Stimme.

"Du hast mir keine andere Wahl gelassen."

"Du hast recht", gab Jess zu, wich aber seinem Blick aus. "Trotzdem, ob du es gern hörst oder nicht, wünschte ich gerade wegen des Jungen, daß ich damals die Augen nicht mehr aufgemacht hätte. Unmittelbar nachdem es passiert war, wäre es für ihn leichter gewesen. Da rechnete er damit, daß ich … Aber heute … Mein Gott, Dan, wie soll ich ihm das nur begreiflich machen?"

"Komm erst einmal mit dir selbst ins reine. Wahrscheinlich ergibt sich dann alles Weitere wie von ganz allein. Vielleicht versteht Mike dann alles leichter, als du erwartest."

"Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?"

"Nein, Jess! Ich wünschte, es wäre anders. Ich erwarte auf dem schnellsten Weg deine Entscheidung bezüglich Colorado Springs, damit ich Jonathan Tyler verständigen kann."

"Du gehst anscheinend hundertprozentig davon aus, daß das bereits beschlossene Sache ist, was?"

"Ist es das denn nicht?"

"Für dich und deinen Studienfreund vielleicht, aber noch lange nicht für mich. Bisher kann ich da keinen großen Unterschied feststellen zwischen einem Ende hier und einem in diesem Krankenhaus, oder was immer es ist. Der einzige Unterschied, den ich momentan sehe, ist der, daß es hier vielleicht etwas schneller vorbei sein wird. Ob es mir in Colorado Springs leichter fallen wird, den Löffel zu schmeißen, möchte ich bezweifeln. Auf der anderen Seite spricht für diese Reise, daß es dann Mike wenigstens nicht mit erleben muß. Aber ob es deshalb leichter für ihn sein wird?"

"Jetzt hör mal, auch wenn deine Chance noch so gering ist, solltest du nicht grundsätzlich davon ausgehen, daß ja sowieso alles keinen Sinn hat."

"Es ist so ähnlich wie russisches Roulette, zwar mit nur einer Kugel, aber dafür mit sechsmal abdrücken. Vielleicht sollte ich mal russisches Roulette spielen. Ist vielleicht kein schlechter Zeitvertreib."

"Jetzt fängst du wohl an zu spinnen! Denkst du, das wäre eine Lösung?"

"Warum nicht? Wahrscheinlich noch nicht einmal die schlechteste. Auf jeden Fall ginge das schneller und wesentlich schmerzloser. Ich würde schon dafür sorgen, daß ich die richtige Stelle erwische."

"Weißt du eigentlich, was du da für einen Blödsinn redest?"

"Ich weiß sehr gut, was ich da rede, aber Blödsinn ist es garantiert nicht!"

"Du solltest dir lieber über meinen Vorschlag Gedanken machen, anstatt solchen Schwachsinn von dir zu geben! Bisher hatte ich eigentlich angenommen, daß du ein sehr vernünftiger Mensch bist! Ich möchte meine Meinung über dich nicht unbedingt ändern müssen."

"Wer weiß, Dan, wozu mich die Schmerzen treiben werden, sollten sie noch schlimmer werden. Ich werde sie jedenfalls nicht in Laudanum ertränken, denn ich lege keinen Wert darauf, mein Gehirn in einen Dämmerzustand zu bringen. Meinen Verstand möchte ich, wenn es irgendwie geht, behalten."

"Dabei redest du, als wärst du gerade dabei, ihn zu verlieren."

"Wenn dem so wäre, könnte ich längst nicht mehr hier sitzen und mich mit dir darüber unterhalten. Eines solltest du jedoch wissen: ich trage meine Kanone nicht bloß zur Zierde. Ich weiß sehr genau, wie man mit so einem Ding umgeht. Und das Recht, sie im entscheidenden Moment zu benutzen, um der Quälerei ein Ende zu machen, werde ich mir von niemandem nehmen lassen. Von niemandem! Merke dir das! Merke dir das sehr gut!"

"Du machst mir Angst, Jess!"

"Ach ja? Komisch, Slim hat neulich genau das gleiche behauptet. Ich hätte nicht gedacht, daß ich so gefährlich aussehe, es sei denn, du fürchtest dich vor Gespenstern, die am Tag durch die Gegend geistern."

"Jetzt fang nicht auch noch an, dich darüber lustig zu machen!"

"Wenn du wüßtest, wie ernst mir das alles ist, würdest du erst so richtige Angst kriegen. Ach, komm, Dan, lassen wir das lieber!" versuchte Jess, seine Äußerungen etwas zu entschärfen. Im nachhinein fand er sogar selbst, daß er einen damit ohne weiteres erschrecken konnte. Zuweilen erschreckte es ihn sogar selbst. "Was ich da laut vor mich hin gedacht habe, braucht dich wirklich nicht weiter zu beunruhigen oder gar zu bedrücken, was jedoch nicht bedeuten soll, daß es nicht mein Ernst war."

"Jess, ich habe das Gefühl, ich muß hier ein für allemal etwas klarstellen, denn du scheinst einen wichtigen Punkt völlig falsch verstanden zu haben."

"Hab' ich das? Ich bin an sich der Meinung, daß dem nicht so ist. Du hast dich für meine Begriffe jedenfalls sehr deutlich in allem ausgedrückt."

"Trotzdem muß ich noch einmal betonen, daß du nicht nach Colorado Springs gehen sollst, um dort …" Dan besann sich, um den Nachsatz neu zu beginnen. "… um von dort nicht wiederzukehren, sondern um gesund zu werden."

"Was aber, gemessen an den Chancen, sehr unwahrscheinlich sein dürfte", erinnerte Jess bissig. "Ich bin zwar kein Rechengenie, aber soviel kriege ich noch zusammen, um zu wissen, was eine zwanzig- oder höchstens dreißigprozentige Chance bedeutet. Wir können dieses Thema also abhaken."

"Soll das etwa heißen, daß du es noch nicht einmal versuchen willst?" vergewisserte sich der Arzt, sichtlich enttäuscht über die offensichtliche Resignation seines Patienten; er hatte ihn wirklich anders eingeschätzt.

Die Enttäuschung bezog sich dabei nicht nur auf ihn, sondern in gleichem Maße auf sich selber. Daß er sich so in ihm getäuscht hatte, ließ ihn beinahe an seiner sonst ganz gut entwickelten Menschenkenntnis zweifeln.

"Ich …" Jess hielt inne und wandte sich abrupt ab.

Der Arzt wollte schon fragen, ob es ihm nun die Sprache verschlagen hätte, erkannte aber zum Glück, daß jetzt nicht der geeignete Moment für Sticheleien war.

"Nein, Dan", sagte Jess leise mit einer wegwerfenden Handbewegung, verwirrt über sich selbst und seine widersprüchlichen Reaktionen. "Aber ich brauche etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten, damit ich möglichst sachlich darüber nachdenken kann. Diese Ungewißheit belastet mich mehr, als wenn ich klipp und klar wüßte, wie das alles enden wird. Ich glaube, ich habe Angst. Ich weiß nicht genau, wovor, nicht vorm Sterben und auch nicht vorm Tod, aber … möglicherweise vor mir selber … und davor, bei … bei Mike zu versagen … irgend etwas zu übersehen, was wichtig und für sein weiteres Leben entscheidend sein könnte. Es wäre alles viel leichter für mich, wenn ich nicht wüßte, wie sehr er mich braucht."

"Ich kann dir das nachfühlen. Trotzdem solltest du jetzt – und gerade jetzt! – in allererster Linie an dich selbst denken. Nimm dich bitte – von mir aus nur dieses eine Mal – selber in eigenem Interesse als das Wichtigste. Wenn ich dir eine Überdosis Egoismus verschreiben könnte, würde ich es glatt tun, denn ob du es glaubst oder nicht, aber ein gesundes Maß Egoismus fördert unheimlich den Selbsterhaltungstrieb. Und genau das scheint dir im Moment zu fehlen. Du zerbrichst dir den Kopf darüber, was aus anderen wird, und vergißt dabei dich selbst."

"Dan, Mike ist wie mein eigener Sohn. Es ist meine Pflicht, in erster Linie an ihn zu denken."

"Sicher, aber deshalb mußt du nicht dich selber aufgeben. Das wäre ein schlechtes Pflichtbewußtsein und ein falsch verstandenes obendrein. Du hast so lange gekämpft – erfolgreich gekämpft! –, du darfst jetzt nicht aufgeben, sonst hast du am Ende tatsächlich nicht nur verloren, sondern versagt."

"Ich habe kaum noch Kraft zum Kämpfen. Mit jedem Mal merke ich, wie mein Widerstand schwächer wird. Wahrscheinlich, weil alles so sinnlos ist."

"Eines mußt du dir sehr genau merken, Jess! Widerstand gegen das Sich-selber-Aufgeben ist niemals sinnlos, egal, ob sich das Blatt positiv oder negativ wendet. Bisher dachte ich eigentlich, daß du das wüßtest und das deine Einstellung zum Leben ist. Sollte ich mich wirklich so in dir getäuscht haben? Das kann ich nicht glauben! Du bist doch kein unerfahrener Grünschnabel, der vom Leben und seinen Regeln keine Ahnung hat! Und ich möchte wirklich nicht wissen, wie oft dich dein Widerstand, selbst wenn er vielleicht noch so sinnlos erschien im ersten Augenblick, letztendlich davor bewahrte, vor die Hunde zu gehen. Ich rede jetzt nicht nur von den letzten paar Wochen, sondern von all den Jahren davor. Und plötzlich willst du – ausgerechnet du! – mir weismachen, du hättest keine Kraft mehr? Läßt du dich da nicht von deiner momentanen körperlichen Schwäche irritieren? Die Kraft, die du für deinen Kampf brauchst, kommt nicht von den Muskeln, sondern von hier oben." Dan tippte sich seitlich an die Stirn. "Du hast vorhin selbst betont, wie sehr du auf einen klaren Verstand Wert legst. An dem deinen habe ich noch nie gezweifelt, auch wenn ich da vorhin ein wenig boshaft reagiert habe. Also, erzähle mir hier nichts über keine Kraft mehr haben und sinnlosen Widerstand!"

"Es ist verdammt unfair von dir, daß du mich ständig mit meinen eigenen Waffen schlägst, weißt du das?" beschwerte sich Jess, ehrlich darum bemüht, die immer düsterer werdende Spannung zu entzerren.

Es war schon fast ein Augurenlächeln, was da über Dans Gesicht huschte; aber seine hellglänzenden Augen ruhten mit wohlwollender Teilnahme und Anerkennung auf seinem um so viele Jahre jüngeren Gegenüber, hatte Jess ihm doch gerade in seiner altvertrauten nonchalanten Art bestätigt, daß er sich nicht getäuscht hatte.

"Läßt du mir denn eine andere Wahl?"

Dem hatte Jess nichts entgegenzusetzen.

"Nun gut", sagte er statt dessen abschließend, mit dem Handballen zum Nachdruck auf die Armlehne des Stuhles schlagend, ehe er sich erhob. "Jedenfalls danke ich dir, daß du endlich so offen mit mir geredet hast. Ich verspreche dir, daß ich ernsthaft über alles nachdenken werde. Sobald sich meine unausgegorene Zerfahrenheit etwas gelegt hat, hoffe ich, die richtige Entscheidung zu treffen. Dann lasse ich es dich sofort wissen."

"Wie gesagt, Jess, warte damit nicht mehr zu lange. Es wäre schade um die Zeit. Sie ist wirklich kostbar", erinnerte Dan eindringlich, stand ebenfalls auf und begleitete ihn zur Tür.

"Ich weiß. Muß ich sonst etwas beachten?"

"Nein, nichts, was du nicht bereits weißt. Sieh zu, daß du ausreichenden Schlaf kriegst und laß dich von Mrs. Daisy weiterhin verwöhnen. Vermeide, wenn es geht, schlecht gelüftete Räume und große Menschenansammlungen. Aber davon bist du ja sowieso kein Freund."

"Nein. Es ist merkwürdig, ich kann mich nicht erinnern, schon jemals so gesund gelebt zu haben wie im Moment. Trotzdem war ich noch nie so krank in meinem Leben."

Sie verließen das Sprechzimmer und gingen schweigend den langen Gang mit den Wartebänken für die Patienten entlang. An der Haustür drückte der Arzt lange seine Hand zum Abschied.

"Ich erwarte dich bald mit einer Antwort, Jess. Ich weiß, du triffst die richtige Entscheidung."

Ein wehmütiges Lächeln huschte über Jess' Gesicht.

"Bis dann", sagte er nur noch, ehe er das Haus verließ.

Der Arzt sah ihm sinnend nach, bevor er bedächtig die Tür schloß und sich gedankenversunken in sein Arbeitszimmer zurückzog, wo er sehr gewissenhaft die Ergebnisse seiner jüngsten Untersuchung notierte. Mehr denn je wünschte er sich, auf der Krankenakte stünde ein anderer Name, am liebsten von jemandem, den er überhaupt nicht kannte.

Jess kam zurück zur Hauptstraße. An der Ecke blieb er stehen und starrte unschlüssig die Gebäudefronten entlang, die sich zu beiden Seiten der bescheidenen Hauptverkehrsader der sich in den letzten Jahren stattlich entwickelnden Gemeinde aneinanderreihten wie bunte Perlen an einer Kette. Ein bleigrauer Himmel wölbte sich wie eine Glocke über das Häusermeer mit den falschen Fassaden und den überdachten Gehsteigen davor.

Diese Stadt, die ihm in den letzten Jahren zu einer Art Heimat geworden war, die er hatte wachsen sehen aus ihren bescheidenen Anfängen, die ihm so vertraut war wie sonst kein Ort, in der er jeden Winkel kannte, in deren Straßen er sogar schon als Vertreter des Sheriffs kämpfen mußte, kam ihm plötzlich irgendwie fremd vor, so, als hätte er auf ihre Details nie richtig geachtet. War es bisher Oberflächlichkeit oder Gewohnheit, oder begann er die Dinge nur mit anderen Augen zu sehen? Er wunderte sich, daß ihm das ausgerechnet jetzt auffiel, wo er doch eigentlich andere Sorgen haben müßte.

Die Uhr vom Turm der kleinen Kirche, die am Ende des großen freien Platzes stand, dort, wo sich die Junction Road mit der Main Street kreuzte und zusammen mit drei weiteren Seitenstraßen eine sternförmige Fläche bildete, in deren Mitte der Stadtbrunnen mit seiner anmutig wirkenden Frauenstatue im Sommer für angenehme Erfrischung sorgte, schlug halb zwölf. Das unscheinbare Glockenspiel des Uhrwerks schien Jess aus seinen Gedanken zu reißen, denn er wandte sich abrupt um, als hätte ihn jemand gerufen.

Verwirrt über sich selber und seine Geistesabwesenheit, schüttelte er kaum merklich den Kopf. Langsam setzte er sich Richtung Stadtmitte in Bewegung. Bis der Schulunterricht zu Ende war und er Mike abholen konnte, hatte er mehr Zeit, als ihm im Moment lieb war. Um sie nicht gar so nutzlos zu vergeuden, wollte er Mort Cory einen Besuch abstatten. Vielleicht tat es ihm gut, mit ihm zu reden.

Auf seinem Weg die geschäftige Hauptstraße entlang kreisten seine Gedanken immer mehr um Mike. Andauernd fragte er sich, ob er wirklich genug für den Jungen vorgesorgt hatte. Auf dem schnellsten Weg mußte er sich Gewißheit verschaffen. Er hatte zwar Slims Wort, das er bei Gott nicht anzweifeln wollte, aber so viele widrige Umstände könnten zu ungeahnten Schwierigkeiten führen, die er alle auszuschließen gedachte, sofern es dafür eine noch so geringe Möglichkeit gab. Sicherlich konnte ihm dabei Mort Cory behilflich sein. Plötzlich erschien ihm sein Besuch bei ihm nicht mehr als pure Notlösung zur Überbrückung von nutzloser Wartezeit.

Kurz bevor er das Sheriffbüro erreichte, fiel sein Blick zufällig auf ein Schild, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite über einer Tür baumelte. Er konnte nicht sagen, warum es seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war jedoch dankbar dafür; denn es brachte ihn auf eine weitaus bessere Idee. Es war das Praxisschild von John Wendridge, seines Zeichens Anwalt und Notar, der ihn schon damals, vor vier Jahren bei seinem Kampf gegen Amtsschimmel und Paragraphenwahn tatkräftig unterstützt hatte. Ohne John Wendridge hätte er es jedenfalls nicht geschafft, das Sorgerecht für Mike zu bekommen. Sicherlich konnte ihm der Advokat die nötige Gewißheit verschaffen, mit der er seiner mehr als düsteren Zukunft begegnen mußte.

Entschlossen überquerte er die Straße. Keine Minute später war er in Wendridges Büro, wo ihn der Anwalt, ein vertrauenserweckender Mann Anfang Fünfzig, mit scharfen Augen und einem Backenbart, der ihm eine unumstößliche Würde verlieh, freudig begrüßte.

"Jess! Jess Harper!" rief er erfreut und eilte auf ihn zu, um ihn herzlich zu begrüßen. "Das ist aber eine Überraschung, daß Sie sich einmal in mein tristes Büro verirren. Sie waren ja schon eine Ewigkeit nicht mehr bei mir!"

"Ganz ehrlich ist mir auch lieber, wenn ich Sie nicht in Anspruch nehmen muß", gab Jess ohne Umschweife zu.

"Das klingt ja geradeso, als hätten Sie unsere Zusammenarbeit in schlechter Erinnerung."

"Nein, bestimmt nicht! Ganz im Gegenteil sogar! Aber es sind halt doch meistens unangenehme Dinge, die mich zu Ihnen führen."

"Gewiß, aber schließlich bin ich doch da, damit ich den Leuten bei solchen Dingen helfen kann." Wendridge machte eine einladende Handbewegung. "Nehmen Sie doch Platz! Darf ich Ihnen etwas anbieten?"

"Nein, danke!" lehnte Jess ab, während er sich in dem bequemen Besucherstuhl vor dem mit Akten und Büchern beladenen Schreibtisch niederließ.

"Ich bin wirklich froh, Sie zu sehen. Nach dem, was ich in Gary Morgans Zeitung gelesen und an Gerüchten in der Stadt gehört habe, befürchtete ich, das könnte nie wieder der Fall sein." Wendridge verzog sich hinter seinen Schreibtisch. "Man sieht Ihnen richtig an, daß Sie schlimme Zeiten hinter sich haben. Wollte da einer eine alte Rechnung begleichen?"

"Nein, mit Sicherheit nicht. Es war reiner Zeitvertreib eines notorischen Killers."

"Ein entsetzlicher Zeitvertreib, der fürchterliche Spuren hinterlassen hat! Entschuldigen Sie, wenn ich so offen bin, aber Sie sehen wirklich arg mitgenommen aus. Ihre Gesundheit scheint sehr angegriffen zu sein."

"Mir reicht es."

"Daß die ausgerechnet Sie erwischen mußten …"

"Das war purer Zufall und läßt sich nicht mehr ändern. Mr. Wendridge, ich …"

"Schon gut!" wehrte der Notar ab. "Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie sind garantiert nicht gekommen, um sich mit mir über diese Halsabschneider zu unterhalten."

"Genau", bekräftigte Jess; daß Wendridge nicht weiter auf diesem Thema herumreiten wollte, sprach für ihn.

"Was kann ich also für Sie tun? Ich sehe Ihnen an der Nasenspitze an, daß Sie etwas ernsthaft bedrückt."

"Ich hätte nicht gedacht, daß man das so leicht erkennen kann."

"Na ja, ganz so leicht ist es nicht. Wenn ich ehrlich bin, ist Ihr ansonsten – entschuldigen Sie, wenn ich das sage! – ziemlich verheerendes Aussehen etwas irritierend. Aber es gehört zu meinem Beruf, Menschen genau zu beobachten und möglichst richtig einzuschätzen. Worum handelt es sich also?"

Auf diese direkte Frage konnte Jess nur ebenso direkt antworten. Er war froh darum, daß es Wendridge ihm so leicht machte.

"Um Mike, genauer gesagt um das, was aus ihm wird, für den Fall, daß mir etwas zustößt."

"Nach dem, was passiert ist, machen Sie sich Sorgen, nicht wahr?"

"Ja. Ich hätte das schon viel früher erledigen müssen. Aber ehrlich gesagt, mir ist jetzt erst so richtig bewußt geworden, daß es da möglicherweise offene Punkte gibt, die ich unbedingt klären muß."

"Verständlich", nickte Wendridge bedächtig. Das Verantwortungsbewußtsein seines Klienten bestätigte ihm, daß er vor vier Jahren die richtige Entscheidung getroffen hatte, in seinem Bemühen für den Jungen voll hinter ihm zu stehen. "Aber ich glaube, da kann ich Sie beruhigen. Vor dem Gesetz hat Mike die gleiche Stellung wie ein leibliches Kind. Das heißt, daß er Sie auch ohne ausdrückliche Testamentsverfügung voll beziehungsweise gleichberechtigt mit einem leiblichen Kind, wäre dies vorhanden, beerben würde. Sollte Ihnen etwas zustoßen, was ich bei Gott nicht wünsche, fiele also zum Beispiel Ihr Anteil an der Sherman-Ranch automatisch an ihn. Insofern brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen."

"Das war es eigentlich auch gar nicht, was mich beunruhigt." Jess nagte an seiner Unterlippe. "Was mich weitaus mehr beschäftigt, ist die Frage, was aus ihm werden würde. Gesetzt den Fall, ich hätte diese Sache nicht überlebt, wie sähe dann seine Zukunft aus? Slim hat mir zwar versprochen, sich um ihn zu kümmern, falls ich es nicht mehr könnte. Nun, ich habe nicht den geringsten Grund, sein Wort anzuzweifeln. Aber wie sieht es mit der rechtlichen Lage aus? Wir sind schließlich nicht miteinander verwandt oder verschwägert. Vor dem Gesetz hätte er demnach keinerlei Rechte an dem Jungen. Das ist doch richtig, nicht wahr?"

"Vollkommen."

"Das würde bedeuten, daß man Mike erst einmal wieder in ein Waisenhaus steckte und Slim gar keine Chance hätte, sein Versprechen einzulösen."

"An sich ja. Er müßte so wie Sie damals einen Antrag auf Vormundschaft stellen. Je nachdem, wer den Fall bearbeitet, wäre mit entsprechenden Schwierigkeiten zu rechnen, oder sagen wir einmal, sie wären nicht auszuschließen."

"Und Mike wäre der Leidtragende."

"Mit Sicherheit."

"Ich habe dem Jungen versprochen, daß er niemals wieder in ein Waisenhaus muß, egal, was passiert. Dieses Versprechen möchte ich unter allen Umständen halten. Nicht meinetwegen, damit ich glaubwürdig bleibe und nicht mein Gesicht verliere. Das ist mir nicht so wichtig. Mir liegt vielmehr daran, daß Mike sein Zuhause nicht verliert. Und ich möchte auch nicht, daß Slim deshalb irgendwelche Schwierigkeiten kriegt. Er und Daisy Cooper würden sich genauso wie ich um den Jungen kümmern. Mike ist Slim zugetan wie einem Onkel, eigentlich mehr noch, wie einem großen Bruder, und Mrs. Cooper ist heute schon seine Tante Daisy. Wenn man ihn aus dieser Familie herausreißen würde – er zerbräche daran."

"Ich verstehe." Wendridge musterte seinen Besucher skeptisch. "Nur erlauben Sie mir eines zu sagen: wenn ich Sie so reden höre, habe ich das Gefühl, Sie wüßten mit Sicherheit, daß in absehbarer Zeit dieses Problem akut wird. Ich täusche mich da hoffentlich, aber die Art, wie Sie das alles so betonen, läßt mich Schlimmes ahnen."

"Ich will nur vorbeugen, sonst nichts!" hielt Jess seine Erklärung sehr allgemein. "Wenn ich mir vorstelle, daß all die Jahre dieser entscheidende Punkt nicht einwandfrei geklärt war, werde ich im nachhinein noch nervös. Es gab zu oft Gelegenheiten, bei denen dieses Problem hätte entstehen können. Ganz abgesehen davon brauche ich nachher, wenn ich Ihr Büro verlasse, nur ungeschickt vor ein Fuhrwerk zu laufen und unter die Räder zu geraten. Was dann? Es muß schließlich nicht unbedingt gleich einer mit dem Schießeisen herumfuchteln. Menschen haben nun einmal die Angewohnheit, früher oder später zu sterben. Meistens tun sie das sogar ganz von allein ohne äußere Gewalteinwirkung."

"Das ist allerdings ein wahres Wort. Trotzdem wundert es mich, daß ein junger Mann in Ihrem Alter sich so intensiv damit befaßt."

"Das hier", Jess deutete beiläufig auf seine linke Brustseite, "läßt mir keine andere Wahl. Außerdem ist mein sonstiges Leben schließlich auch nicht gerade ungefährlich. Bei der Arbeit können tausend Dinge passieren, die mein Leben vorzeitig beenden. Vergessen Sie das nicht!"

"So gesehen, haben Sie natürlich recht."

"Was kann ich also tun, um Mike im Ernstfall von vornherein vor dem Zugriff der Behörden zu schützen?"

"Die Sache ist wahrscheinlich einfacher, als Sie sich vorstellen können." Ein zuversichtliches Lächeln erschien auf Wendridges Gesicht. "Sie müßten anhand einer schriftlichen Verfügung einen Vormund – in diesem Fall Slim Sherman oder Daisy Cooper oder beide – benennen. Um ganz sicher zu gehen, daß es im Falle Ihres …" Der Notar schluckte geräuschvoll, ehe er das Wort aussprach. "… Ihres Ablebens zu keinerlei Schwierigkeiten seitens Dritter kommt, wäre es von Vorteil, wenn die in Frage kommende Person die Vormundschaft im voraus akzeptiert. Dieses läßt sich ganz leicht mit einer entsprechenden unterzeichneten Erklärung erreichen. Das Ganze müßte natürlich notariell beurkundet sein. Dann könnten Sie absolut sichergehen, daß der Junge kein Waisenhaus mehr von innen sehen muß, es sei denn, der bestellte Vormund nähme im nachhinein seinen Anspruch an dem Jungen zurück."

"Die Gefahr bestünde weder bei Slim Sherman noch bei Daisy Cooper."

"Dann brauchen Sie sich deshalb auch keine weiteren Sorgen zu machen. Wenn Sie möchten, werde ich ein entsprechendes Dokument verfassen, das Sie nur noch unterschreiben brauchen. Für den zu benennenden Vormund werde ich die äquivalente Erklärung vorbereiten. Ich werde beides beglaubigen und amtlich verwahren, bis der akute Fall eintreten sollte."

"Das ist genau das, was mir vorschwebte!" sagte Jess zufrieden – erleichtert war das richtige Wort. "Wie schnell könnten Sie so ein Dokument aufsetzen?"

"Wenn Sie wollen, komme ich morgen damit zur Ranch. Allerdings müßte die notarielle Beurkundung in meinen Praxisräumen vorgenommen werden."

"Das wäre mir sowieso lieber. Auf der Ranch könnte Mike etwas davon mitkriegen. Das möchte ich vermeiden."

"Jess, ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?" vergewisserte sich der Notar und sah ihn durchdringend an. Er wurde einfach dieses unbestimmte Gefühl nicht los, daß sein Klient das alles nicht nur auf die Zukunft allgemein, sondern auf einen Zeitpunkt in nicht allzu weiter Ferne bezog. "Daß Sie sehr krank aussehen, dürfte für Sie nichts Neues sein. Nach allem, was geschehen ist, ist das wohl auch verständlich. Aber darüber hinaus machen Sie irgendwie einen erschreckend deprimierten Eindruck auf mich. Wir haben uns zwar eine ganze Weile nicht gesehen, aber so habe ich Sie nicht in Erinnerung. Eine solche Niedergeschlagenheit bin ich nicht von dem Mann gewöhnt, der mir vor vier Jahren die Hölle wegen eines sechsjährigen Jungen heiß machte, dem er unbedingt seinen Namen geben wollte, den Mike übrigens auch behielte – nur ganz nebenbei erwähnt."

"Mit mir ist nichts, glauben Sie mir! Ich bin nur etwas müde und abgespannt. Möglicherweise habe ich mir mit der Fahrt in die Stadt etwas zuviel zugemutet. Ich sollte mich mehr schonen, das ist alles."

"Vielleicht sollten Sie einmal zum Arzt gehen, wenn Sie schon in der Stadt sind."

"Von dort komme ich gerade." Mit seinem schwermütigen Grinsen konnte Jess ihn ganz und gar nicht überzeugen. Im Gegenteil! Es bestätigte nur seine Vermutung. "Doc Higgins kann mir auch nicht helfen."

Fast hegte Wendridge den Verdacht, daß er bei seinem letzten Satz ein entscheidendes Wort weggelassen hatte, das "mehr" hinter dem "nicht".

"Auch auf die Gefahr hin, aufdringlich zu sein … aber was bedrückt Sie? Sind es nur gesundheitliche Probleme, oder sind sie gar seelischer Natur? Wenn Sie mich ließen, würde ich Ihnen sehr gerne helfen, sofern ich es könnte."

"Das haben Sie bereits getan, mehr sogar, als Sie ahnen. Ansonsten sollten wir es dabei belassen."

Aus seiner Stimme klang unverkennbarer Nachdruck heraus, daß Wendridge nicht wagte, weiter in ihn zu dringen.

"Wie Sie wollen, aber sollten Sie Ihre Meinung ändern, wissen Sie, daß Sie auf mich zählen können."

"Vielen Dank, mir reicht es jedoch wirklich, wenn Sie nur dieses Dokument aufsetzen. Nur noch eine Frage – müssen Slim und ich gemeinsam erscheinen, oder reicht es, wenn wir getrennt kommen? Ich frage nur deshalb, weil wir im Moment schlecht beide die Ranch und ihre übrigen Bewohner allein lassen wollen."

"Zur Beurkundung wäre es schon besser, wenn Sie beide gleichzeitig erschienen, aber ich denke, daß ich da eine Ausnahme machen kann. Es geht ja nicht um eine Streitfrage. Schließlich nehme ich an, daß Sie sich in diesem Fall einig sind."

"Ich muß zwar noch mal mit Slim deshalb ausführlich sprechen, aber das heißt nicht, daß wir geteilter Meinung sind."

"Das habe ich auch nicht angenommen."

"Was würde aber geschehen, wenn mich nun tatsächlich ein Wagen überrollte, noch ehe diese Beurkundung erfolgt ist?"

"Sie denken wirklich an alles."

"Ich hoffe, daß ich das tue, obwohl ich mir manchmal nicht ganz sicher bin."

"Ich wußte schon immer, daß Sie ein umsichtiger Mann sind, von dem manch anderer eine Menge lernen könnte, der ständig betont, dies zu sein. Das ist mir schon damals vor vier Jahren aufgefallen."

"Ich fürchte, jetzt überschätzen Sie mich gewaltig, Mr. Wendridge. Ich würde mich eher als leichtsinnig bezeichnen, weil ich damit erst heute zu Ihnen gekommen bin, anstatt schon vor vier Jahren daran zu denken und die Sache zu regeln. Nicht auszudenken, was inzwischen schon alles hätte geschehen können! Was wäre also, wenn mich ein paar durchgehende Pferde direkt vor Ihrer Bürotür gleich nachher niedertrampelten?"

"Ich würde eine einstweilige Verfügung beantragen und irgendwie durchboxen, daß der Junge bleibt, wo er ist. Es wäre nicht einfach, aber Sie könnten sich auf mich verlassen. Im übrigen bitte ich Sie eindringlichst, durchgehenden Pferden aus dem Weg zu gehen und das nicht nur vor meiner Bürotür!"

"War ja nur als Beispiel gedacht. Aber schließlich habe ich die Erfahrung gemacht, daß man in diesem Paragraphendschungel jede Kleinigkeit berücksichtigen muß, wenn man nicht in die eigene Falle tappen will."

"Wenn dem nicht so wäre, hätten Anwälte und Notare gar keine Daseinsberechtigung", versuchte es Wendridge mit einem kleinen Scherz.

"Das ist allerdings wahr", mußte Jess zugeben und erhob sich. "Trotzdem bin ich froh, daß ich in Ihnen einen Mitstreiter habe, wenn es darauf ankommt."

"Das haben Sie!" versicherte der backenbärtige Mann mit beruhigender Zuversicht, erhob sich ebenfalls und begleitete Jess zur Tür. "Ich erwarte Sie und Slim in den nächsten Tagen", sagte er zum Abschluß.

"Das können Sie!" bekräftigte Jess und ergriff die gepflegte Advokatenhand zum Abschied. "Vielen Dank, jetzt fühle ich mich wesentlich besser als vorhin."

"Das sieht man Ihnen tatsächlich an, und wenn Sie das noch so sehr abstreiten wollen. Passen Sie gut auf sich auf, Jess, und werden Sie vor allen Dingen recht bald gesund. Vielleicht hilft es Ihnen, daß ich Ihnen wenigstens die Sorge um Ihren Jungen abnehmen konnte, oder sagen wir besser, helfe zu tragen. – Auf Wiedersehen!"

"Wiedersehen, Mr. Wendridge!"

Vor der Anwaltskanzlei blieb Jess auf dem Bürgersteig stehen. Tatsächlich fühlte er sich bedeutend wohler, seit er diesen ungewissen Faktor klären konnte und die enorme Last nicht mehr mit voller Wucht auf seine Schultern drückte. Irgendwie fühlte er sich freier. Diese Freiheit benötigte er dringend, um weitere Entscheidungen fällen zu können. Vor allem empfand er dieses beklemmende Gefühl der Angst nicht mehr so intensiv. Sogar das Brennen seiner Wunde hatte nachgelassen. Ob es nun von dem seelischen Druck herrührte, von dem John Wendridge ihn etwas entlasten konnte, oder von Doc Higgins' Untersuchung, sei dahingestellt. Jedenfalls empfand er es als angenehm, daß es sich unter seinem Verband nicht mehr anfühlte, als hätte der Arzt ein Stück glühende Holzkohle mit einbandagiert.

Er überquerte die Straße und ging auf der gegenüberliegenden Seite weiter, bis er endlich das Büro des Sheriffs erreichte.

"Jess!" rief Mort erfreut, wenn auch ein wenig überrascht. "Na, da hast du aber Glück! Ich wollte gerade noch einen Spaziergang durch die Stadt machen, ehe ich zum Essen gehe."

"Dann komme ich ja ungelegen."

"Ach, woher denn!" winkte Cory ab und hängte seine Jacke wieder an die Garderobe. "Ich glaube nicht, daß jemand die Stadt in der Zwischenzeit klauen wird, wenn ich meinen Rundgang verschiebe. Ehrlich gesagt, ich setze mich lieber ins Warme und plaudre ein wenig mit dir, anstatt meinen Stern mehr oder weniger sinnlos spazierenzutragen. – Ich würde dir gern eine Tasse Kaffee anbieten, aber ich habe leider keinen mehr. Von dem Satz, der noch in der Kanne ist, würde ich höchstens einem Gefangenen welchen zumuten."

"Laß nur, von deinem Kaffee würde mir sowieso schlecht werden." Jess zog seine Jacke aus und warf sie über einen leeren Stuhl. Dann ließ er sich etwas schwerfällig auf dem seiner Meinung nach bequemsten der beiden Besucherstühle nieder. "Ich habe mich zwar schon gesetzt, aber wenn ich dich von der Arbeit abhalte, brauchst du keine Notiz von mir zu nehmen."

"Woher denn! Du weißt doch ganz genau, daß ich mich immer freue, wenn du vorbeikommst." Mort ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf den bequemen Drehstuhl fallen. "Du siehst heute allerdings ziemlich fertig aus."

"In gewisser Weise bin ich das auch." Jess lehnte sich zurück, warf den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. "Du müßtest dein Büro unbedingt mal wieder streichen", stellte er beiläufig fest.

Mort folgte nur flüchtig seinem Blick und faßte ihn dann etwas schärfer ins Auge. Die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen endete weit oben auf seiner Stirn.

"Nimm es mir nicht übel, aber ich kaufe dir nicht ab, daß du nur gekommen bist, um mir das zu sagen."

"Nein", redete Jess an die Decke.

"Du hast doch irgend etwas. Ich möchte fast sagen, du siehst ziemlich bedrückt aus."

Jess nahm den Blick von der Decke und sah den Gesetzeshüter unverwandt an, wobei er spöttisch den einen Mundwinkel hochzog.

"Ich habe das Gefühl, je mehr ich das vertuschen will, desto mehr verrate ich mich."

"Du warst bei Doc Higgins, nicht wahr?"

Erstaunt hob Jess eine Augenbraue.

"Wie kommst du darauf?" fragte er lauernd.

"Ist mir nur so eingefallen."

Jess drehte den Kopf etwas zur Seite, als wollte er angestrengt an einer Tür lauschen, kniff die Augen zusammen und musterte den Sheriff argwöhnisch.

"Das hört sich so an, als ob du Bescheid weißt. Weißt du?"

"Was heißt, Bescheid wissen?" Mort wich seinem durchbohrenden Blick aus. "Slim hat mir davon erzählt, als er bei mir war letzte Woche."

"Dann wußte es wohl jeder außer mir, was?"

"Ach, komm, red nicht so ein dummes Zeug! Slim hatte Dan unterwegs getroffen. Nachdem er es erfahren hatte, mußte er unbedingt mit jemandem reden. Der Ärmste war völlig fertig, zudem Dan ihm das Versprechen abnahm, dir gegenüber vorerst zu schweigen. Du kannst weder ihm noch mir einen Vorwurf machen – und Dan auch nicht!"

"Mach' ich auch nicht! Ich frage mich nur, ob sich von all denen, die es vor mir wußten, einer die Mühe machte, es aus meiner Sicht zu sehen."

"Jess, du tust uns Unrecht! Denkst du, das ist ein Thema, über das deine besten Freunde herziehen wie über billigen Stadtklatsch? Denkst du das wirklich von uns?"

"Nein!" sagte er leise, mit einer schwachen Handbewegung abwinkend. "Natürlich nicht!"

"Dazu hast du auch keinen Grund. Du stellst dir nicht vor, wie Slim das getroffen hat, mich natürlich auch, aber er war völlig aus dem Häuschen. Er mußte einfach mit jemandem reden, von dem er wußte, daß er damit nicht hausieren geht. Also ist er zu mir gekommen." Mort sah ihn lange, beinahe sogar erwartungsvoll an, aber Jess erwiderte seinen Blick nicht, sondern starrte grimmig vor sich hin. "So wie du heute zu mir gekommen bist", fügte er leise hinzu, um damit die Spannung bei ihm zu lösen. "Du bist doch deshalb gekommen?"

"Hauptsächlich, ja." Jess hob endlich die Lider. "Aber wenn du schon alles weißt …"

"Ich bezweifle, daß ich alles weiß. Aber selbst wenn dem so wäre, sollte dich das nicht hindern, mit mir darüber zu reden, wenn du es loswerden willst. Vielleicht fühlst du dich dann besser. Ich meine, dafür sind Freunde doch da, daß man mit ihnen reden kann, wenn man das Bedürfnis hat."

"Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob ich darüber reden will oder überhaupt kann. Hat man dir schon einmal gesagt, daß du keine Chance mehr hast?"

Mort biß die Zähne zusammen. Eines stand für ihn fest: es war leichter gewesen, als Slim auf dem Stuhl saß, auf dem Jess heute hockte, nur auf den ersten Blick lässig zurückgelehnt, in Wirklichkeit jedoch eher völlig verkrampft. Es war immer einfacher, sich mit jemandem über einen Dritten zu unterhalten als mit dem, den das Problem unmittelbar betraf.

"Nein", kam endlich die undeutliche Antwort.

"Dann kannst du dir auch nicht vorstellen, wie mir zumute ist."

"Vielleicht doch."

"Möglich." Jess machte eine längere Pause. "Ich habe es die ganze Zeit gewußt oder von mir aus nur geahnt", fuhr er schließlich sinnend fort. "Ich habe es vermutet – befürchtet – von Anfang an, seit ich zum erstenmal klar darüber nachdenken konnte. Trotzdem hat es mich beinahe umgehauen, als es mir Dan vorhin offen sagte. Nie im Leben hätte ich angenommen, daß …" Er brach ab und begann von neuem. "Dan sagte, ich sollte zu einem Studienfreund von ihm nach Colorado Springs mit einer Chance von vielleicht vier, eher fünf zu eins; aber hier würde ich den Winter nicht … Verdammt, Mort, je mehr ich darüber nachdenke und rede, desto miserabler fühle ich mich!"

"Ist das ein Wunder? Ich wäre sogar enttäuscht von dir, wenn dem nicht so wäre." Mort gelang es einfach nicht, seinen Blick zu fangen. "Was wirst du tun?"

"Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht." Nervös rieb Jess mit dem Daumennagel über die Stuhllehne. "Als erstes über alles in Ruhe nachdenken, sofern das überhaupt möglich ist. Zumindest werde ich es versuchen."

"Gibt es da denn faktisch etwas zum Nachdenken?"

"Ha, wie du das sagst!"

"Entschuldige, aber nachdenken ist hoffentlich nicht das einzige, was du tun willst."

"Was denn sonst?"

"Jess, du wirst doch da hingehen, nicht wahr? Ich meine, wenn man dir diese Möglichkeit bietet, solltest du sie auch wahrnehmen."

"Dan wollte das nicht hören, aber ich sage dir, daß das eine Reise ohne Rückfahrkarte ist. Ich werde von dort nicht zurückkommen, höchstens in einer Holzkiste. Soviel steht fest!"

"Das ist doch Unsinn! Kerl, du redest ja noch schlimmer als Slim!"

"Kein Wunder! Schließlich handelt es sich ja auch um mich und nicht um ihn."

"Du redest, als hättest du bereits kapituliert. Tut mir leid, aber das kannst du mir nicht erzählen wollen! Nicht du, Jess! Jeder andere sofort, aber nicht du!"

"Nicht zu fassen!" Jess schlug klatschend auf die Armlehne. "Als ob ich was Besonderes wäre!"

"Nein, aber du bist derjenige, der nie aufgeben will, der immer behauptet, es gäbe Hoffnung auf ein Vorwärts, eine Zukunft, man dürfe nur niemals resignieren oder an sich selber zweifeln, man müsse die Zähne zusammenbeißen und so lange kämpfen, wie ein Funke Hoffnung besteht. Und jetzt plötzlich, wo diese Einstellung für deine Zukunft von so großer Bedeutung ist, willst du den Löffel wegschmeißen, bloß weil es so bequemer ist!"

"Du redest genauso wie Dan."

"Ja, begreifst du denn nicht, daß man mit dir so reden muß? Zum Donnerwetter noch mal! Aber du kannst einem eine Höllenangst einjagen! Weißt du das?"

"Dan war der gleichen Ansicht."

"Gibt dir das nicht zu denken? Jess, wenn ich nicht wüßte, daß du einen gesunden Menschenverstand hast und mit beiden Beinen fest im Leben stehst, mit einem überaus klaren Blick für die Realität, würde ich glatt annehmen, aus dir spräche ein gedankenloser Schlendrian, der bei den ersten kleinen Schwierigkeiten kalte Füße kriegt."

"Nun ist aber gut, ja!" fuhr Jess ihn hart an. "Auch Dan hat gemeint, er müßte so mit mir reden, um mich zur Vernunft zu bringen. Ich weiß nicht, kann das oder will das keiner verstehen, daß ich mir hier über meine Zukunft den Kopf zerbrechen soll, man mir aber gleichzeitig klarzumachen versucht, mich ebenso um meine Beerdigung zu kümmern. Anfangs dachte ich auch, es würde mir nichts ausmachen. Aber auf einmal muß ich feststellen, daß es ein himmelweiter Unterschied ist, ob ich mir nur etwas zurechtphantasiere oder aus einer Ahnung plötzlich Gewißheit wird. Jeder versucht mir hier eine überragende Stärke anzudichten und übersieht dabei völlig, daß ich schlicht und einfach Angst habe. Ist das so schwer zu begreifen? Das merkst du doch schon allein daran, daß ich viel zuviel rede", setzte er kleinlaut hintenan.

"Ist das etwa eine Schande?" gab Mort ihm auf seine Art recht, daß Jess zuerst etwas verwirrt den Kopf hob und ihn dann kaum merklich schüttelte.

"Nein." Er machte eine schwache, wegwerfende Handbewegung. "Es ist auch nicht so, daß es die Angst vorm Tod selber ist. Dazu ist er mir schon zu oft begegnet."

"Das habe ich auch nicht von dir angenommen", warf Mort ein, sichtlich froh, daß sein junger Freund sich einigermaßen gefaßt hatte.

"Zuerst war es die Angst wegen Mike", fuhr Jess fort, ohne die Bemerkung des Sheriffs zu beachten; er hatte sich wirklich wieder unter Kontrolle und wirkte mit einem Mal sogar ausgesprochen ruhig. "Aber nachdem ich inzwischen bei John Wendridge war und dort alles Nötige in die Wege geleitet habe, fühle ich mich wenigstens von dieser Last befreit. Was geblieben ist, ist eine ganz fürchterliche Angst vor einem langsamen, unabänderlichen Dahinsiechen. Es entspricht weder meinen Vorstellungen vom Leben noch denen vom Sterben."

"Wer sagt denn überhaupt, daß es so kommen wird? Ist diese Schlußfolgerung nicht ein wenig übereilt?"

"Du brauchst mich nur anzusehen, dann kannst du dir diese Frage selbst beantworten. Du hättest Dans Gesicht sehen sollen, als er mich vorhin untersuchte. Ich möchte wirklich nicht wissen, welche Notizen er sich anschließend gemacht hat. Wenn ich seinen medizinischen Kauderwelsch verstünde, kriegte ich garantiert die schlimmsten Alpträume, noch schlimmere, als ich sowieso schon habe."

"Du redest, als ob du etwas dagegen unternehmen wolltest, das nichts mit einer Reise nach Colorado Springs zu tun hat."

"Hört sich das tatsächlich so an?"

"Irgendwie schon, obwohl das, woran du bestimmt schon gedacht hast, nicht ganz zu dir passen würde."

"Wie meinst du das … das, woran ich bestimmt schon gedacht habe?"

"Komm, Jess, jetzt tu nicht so! Trotzdem kann ich mir dich einfach nicht dabei vorstellen, wie du das Ding da", Mort nickte bezeichnend in Richtung der Waffe an seiner rechten Hüfte, "gegen dich selber … Verdammt, so verrückt wirst du doch hoffentlich nicht sein!"

Jess senkte den Blick und streifte damit über die schwarzbraune Ledertasche bis über den Walnußholzgriff des sechsschüssigen Colts. Mit einer unauffälligen Bewegung löste er die Sicherungsschlaufe über dem Hahn, zog das Schießeisen nur mit dem Zeigefinger aus dem Holster, und im nächsten Augenblick lag die Waffe in seiner rechten Faust. Während er den Lauf nach oben an die Decke gerichtet hielt, spielte er daran herum, daß der Sheriff bei jedem anderen nervös geworden wäre.

"Was hast du jetzt vor? Mir ohne Umschweife zu demonstrieren, daß du es doch bist – daß du es doch tun kannst?"

"Ein gefährliches Spielzeug", sinnierte Jess, zu auffällig vorgebend, sich voll auf die Waffe in seiner Hand zu konzentrieren. "Und absolut tödlich, wenn man damit umzugehen und den richtigen Punkt zu treffen versteht", setzte er mit makaber klingender Stimme hinzu, während er sich mit dem Korn des Revolverlaufs über den Haaransatz an der Schläfe rieb.

"Sag mal, würde es dir vielleicht etwas ausmachen, dich mit was anderem zu kratzen?"

"Warum, macht es dich nervös?" Der mattglänzende, blaugraue Lauf wanderte ein paarmal über seine Stirn. Dabei machte Jess ein Gesicht, als liebkoste ihn eine zärtliche Frauenhand. "Keine Sorge!" Mit einem Ruck nahm er die Waffe herunter, wirbelte sie einmal um den Zeigefinger und ließ sie ins Holster am Gürtel gleiten, daß es so aussah, als fände sie ihren Weg wie von allein. "Noch bin ich nicht soweit, was jedoch nicht heißen soll, daß ich es nicht tun könnte, wenn die Zeit gekommen ist. Manchmal geht so etwas schneller, als einem lieb ist."

"Können wir nicht von was anderem reden? Du machst mir einfach Angst, wenn ich dich da sitzen sehe, wie du mit deinem Schießprügel herumspielst und merkwürdiges Zeug faselst."

"Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Wenn, dann würde ich es bestimmt nicht hier vor deinen Augen tun. Damit möchte ich niemanden belasten, wenn es geht."

"Mein Gott, wie du redest! Davon wird mir ganz anders! Und da soll ich keine Angst haben? Nun, wenn es dich beruhigt, vor dir habe ich keine, genausowenig wie vor dem Schießeisen, mit dem du dir so genüßlich am Kopf herumfummeln mußt. Ob du es letztendlich tun würdest, kann ich mit einem Mal nicht mehr beurteilen. Nein, ich habe keine Angst, daß es jetzt passieren könnte. Aber wenn ich in deine Augen sehe, dann rutscht mir das Herz in die Hose. Da ist ein mir völlig fremder Ausdruck in ihnen, der mir den Atem stocken läßt."

"Jetzt fängst du aber an zu phantasieren!" versuchte Jess es ins Lächerliche zu ziehen und Arglosigkeit vorzutäuschen. "Tut mir leid, wenn ich dich mit meiner schwarzäugigen Freundin erschreckt habe. Konnte schließlich nicht wissen, daß du so schwache Nerven hast."

"Die muß man in deiner Gesellschaft kriegen, das kann ich dir sagen!" Mort sah ihn etwas ärgerlich an. Diesen Zwischenfall wollte er jedenfalls so schnell wie möglich vergessen. Allerdings befürchtete er, daß er mit dem Vergessen nicht aus der Welt geschafft war. Dieses befremdliche Blitzen in den tiefblauen Augen seines jungen Freundes ließ ihn einfach nicht los. "Sag mal, Jess", fing er plötzlich in väterlichem Ton an, "warum versuchst du eigentlich nicht einfach, das Beste daraus zu machen, und tust, was Doc Higgins dir geraten hat? Ich meine, du kannst doch dabei nichts verlieren, sondern nur gewinnen. Bist du dir diesen Versuch denn nicht schuldig?"

"Ich glaube nicht, daß ich mir etwas schuldig bin."

"Es macht mich stutzig, wie du das betonst."

"Das bildest du dir ein!"

"Na schön, dann tu es eben nicht für dich, sondern für – Mike, wenn dir das leichter fällt. Für ihn kannst … wirst du hoffentlich bereit sein, dieses kleine Opfer zu bringen. Sieh es doch einfach als eine Art Urlaub an, den du nach allem weiß Gott nötig hättest, sozusagen ein Erholungsaufenthalt, was es im Grunde auch ist; das Ganze sogar verbunden mit erstklassiger ärztlicher Betreuung. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß da ein Erfolg ausbleiben wird. Du bist doch ansonsten ein kerngesunder Bursche, bei dem ein Arzt glatt verhungern könnte. Merkwürdigerweise denkst du aber immer nur ans Sterben. Wie wäre es, wenn du statt dessen mehr das Leben in den Vordergrund rücktest? Ich denke, du willst leben. Oder soll ich mich da getäuscht haben?"

Jess zögerte mit der Antwort länger, als Mort erwartet hatte, was seiner Meinung nach ein gutes Zeichen war. Offensichtlich beschäftigte ihn diese gutgemeinte, in umsichtige Gelassenheit verpackte Moralpredigt dermaßen, daß er sich zum erstenmal anstrengte, sein Dilemma nüchtern zu sehen, ohne gleich einen persönlichen Aufstand daraus zu machen.

Der Sheriff beobachtete ihn, wie er mit dem ausgestreckten Mittelfinger unsichtbare Figuren auf seine Stirn malte. Es war nicht zu erkennen, ob sein Zögern nun ernsthaftes Überlegen bedeutete oder ganz einfach nur, daß er darauf keine passende Antwort wußte und sich auch nicht bemühte, eine zu finden.

"Du hast dich nicht getäuscht!" kam es zu Morts größter Überraschung dann leise, aber bestimmt. Mit einem Ruck hob er den Kopf und nahm den Finger aus dem Gesicht. "Mach dir keine Sorgen, Mort. Ich werde gründlich darüber nachdenken. Wenn es manchmal den Anschein haben sollte, daß ich bereits aufgegeben habe, dann ist das nur eine Reaktion von, sagen wir, verzweifelter Hilflosigkeit. Ich fürchte, ich habe keine Kraft mehr, wobei diese körperliche Schwäche allmählich auf meine Psyche übergreift und meinen geistigen Widerstand zerfrißt. Ich ertappe mich selber immer häufiger dabei, wie ich ein Verlangen anstrebe, meine Lebensverhältnisse zu ordnen, damit ich ruhigen Gewissens gehen kann. Dann wieder verachte ich diesen inneren Schweinehund in mir, der es sich gar zu einfach machen will. Manchmal erkenne ich mich selber nicht mehr. Und dann habe ich plötzlich Angst vor diesem Jess Harper, der mir selbst so fremd zu werden scheint. Verstehst du das?"

"Wenn ich jetzt 'sehr gut' sage, wirst du mir wahrscheinlich nicht glauben. Ist es denn nicht verständlich, wenn man berücksichtigt, was du durchgemacht hast?"

"Ich gebe mir die größte Mühe, das nicht als Ausrede zu benutzen."

"Ausrede? Als ob du es nötig hättest, nach Ausreden zu suchen!"

"Vielleicht wäre alles nicht ganz so schlimm, wenn ich mir nicht so nutzlos vorkäme, ja, ich möchte fast sagen, überflüssig."

"Wann hast du denn das ausgebrütet?"

"Das brauche ich nicht auszubrüten, das ist ganz einfach Tatsache! Schon bei der geringsten Anstrengung oder der kleinsten falschen Bewegung kriege ich sofort die Quittung präsentiert. Ich bin nun mal nicht der Typ Mensch, der für längere Zeit untätig herumhocken kann und es als angenehm empfindet, andere die Arbeit verrichten und sich obendrein noch bedienen zu lassen. Ich muß mit beiden Händen zupacken können, etwas bewegen. Ich langweile mich zu Tode. Eigentlich dürfte ich noch nicht einmal in die Stadt fahren. Das brauchst du Slim und Daisy nicht zu sagen und auch Dan nicht, aber die Fahrt heute hierher hat mich ganz schön angestrengt, obwohl ich unterwegs keine Probleme mit den Pferden hatte. Ich frage mich, was wohl passiert wäre, wenn die Gäule plötzlich versucht hätten durchzugehen. Trotzdem werde ich in Zukunft auf diese Fahrten nicht verzichten. Ich halte diese Herumhockerei zu Hause einfach nicht mehr aus!"

"Wäre es dann schon allein aus diesem Grund nicht ganz gut, wenn du nach Colorado Springs gingst – einfach alles mal hinter dir lassen, Abstand gewinnen, auch räumlichen, vielleicht den sogar besonders?"

"Ich bezweifle, daß ich ausgerechnet dort Abstand gewinnen könnte."

"Du solltest es auf alle Fälle versuchen, Jess! Wie gesagt, was hast du dabei schon groß zu verlieren? Komm, stell dich nicht so an! Ich weiß, du wirst es schaffen, wenn du das mit jeder Faser deines Herzens und deines Verstandes möchtest. Du kannst mir hier erzählen und weismachen wollen, was du lustig bist, aber du kannst mich nicht davon überzeugen, daß du dein Leben einfach so wegwerfen willst, bloß weil der Weg ans Ziel steinig ist. Das ist schließlich nichts Neues für dich. Nachdem du damals die Kugel erwischt hast, hat jeder damit gerechnet, daß du das niemals überleben wirst. Aber du bist einfach über alle Hürden gestiegen, manchmal wahrscheinlich auch nur gekrochen. Daß das nicht leicht oder gar ein Sonntagsspaziergang war, brauchst du keinem ausdrücklich zu sagen, der das mit erleben mußte. Jedenfalls gebe ich offen zu, daß ich damals der festen Überzeugung war, du würdest nie wieder die Augen aufmachen. Und heute kann ich mich sogar schon wieder über deinen Starrsinn ärgern, über diesen sturen texanischen Dickschädel, der dir einfach nicht auszutreiben ist. Ich wette mit dir, spätestens, wenn wir uns nächstes Jahr zur Unabhängigkeitsfeier die Hucke vollaufen lassen, lachen wir über dieses ewige Geplänkel, soll ich oder soll ich nicht."

"Da würde ich gerne mitlachen, das kannst du mir glauben."

"Ich gehe fest davon aus, daß du derjenige sein wirst, der am lautesten lacht. Mir fällt kein plausibler Grund ein, warum du das nicht können solltest."

"Mir dafür eine ganze Menge."

"Setz jetzt bloß nicht wieder deine Trauermiene auf! Es liegt mir wirklich fern, den Ernst dieser Angelegenheit herunterspielen zu wollen. Gott im Himmel, das kannst du mir glauben! Ich weiß sehr wohl, daß du schwere Zeiten hinter dir hast, verdammt schwere sogar; aber weder du noch der Doc können mir erzählen, daß die, die vor dir liegen, schwerer sein sollen. Du hast die vergangenen hinter dich gebracht, du wirst auch die zukünftigen schaffen. Für mich besteht da jedenfalls kein Zweifel. Es ist mir ziemlich gleich, ob du mir das abkaufst. Den Teufel werde ich mich darum scheren! Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß dieser halsstarrige Texaner, der du immer noch bist, uns alle am nächsten 4. Juli wieder unter den Tisch saufen und anschließend den grausigsten Kater im ganzen Territorium haben wird."

"Deinen Optimismus möchte ich haben! Du träumst vom 4. Juli, dabei denke ich an eine ganz andere Feier, die sehr wahrscheinlich auf dem Friedhof stattfinden wird und auch nicht erst am 4. Juli. Tut mir leid, wenn es wieder über mich kommt, aber es läßt mich nun mal nicht los."

"Allmählich kriege ich das Gefühl, du findest Gefallen an diesem Selbstmitleid, das du seit neuestem pflegst wie eine welkende Pflanze und nicht dabei merkst, daß es nur Unkraut ist. Ich verstehe zwar nicht viel von Gartenarbeit; aber soviel weiß ich, daß man Unkraut jäten muß, bevor es den anderen Pflanzen die Nahrung wegnimmt und die dann anfangen zu kümmern", meinte Mort, ohne seinen aufblühenden Sarkasmus verstecken zu wollen. Jess sollte ruhig merken, daß ihm dieses leidige Thema langsam, aber sicher zuwider wurde.

"Ich bitte dich, Mort, lassen wir das! Es hat wirklich keinen Sinn, es länger breitzutreten. Wahrscheinlich bin ich einfach noch nicht so weit, um nüchtern genug darüber nachzudenken und zu einem vernünftigen Schluß zu kommen. Trotzdem, ob du es glaubst oder nicht, hat es mir ganz gut getan, mit dir zu reden. Merkwürdigerweise hilft es mir, eine gewisse Ruhe wiederzufinden, sachlicher die Dinge zu sehen, so, als ob sie mich weniger beträfen. Ich weiß, daß es mit Reden allein nicht getan ist. Probleme löst man damit jedenfalls keine. Aber vielleicht gewinne ich allein schon dadurch eine Art Abstand. Ich glaube, wenn ich jetzt noch mit Slim gesprochen habe, werde ich frei genug sein, eine Entscheidung zu treffen, die hoffentlich die richtige sein wird."

"Davon bin ich überzeugt", war Mort auf jeden Fall zuversichtlicher als sein junger Freund. "Bleibst du zum Essen in der Stadt?" fragte er prompt etwas anderes, um ganz eindeutig zu zeigen, daß auch er dieses leidige Thema abgeschlossen hatte für heute.

"Nein", reagierte Jess entsprechend. "Ich werde nur noch Mike von der Schule abholen. Dann fahren wir nach Hause. Ich bin froh, daß er auf dem Rückweg kutschieren kann. Mir wäre das jetzt zuviel." Beim Aufstehen drückte er unwillkürlich die Hand gegen seine Brust. Seine Wunde schmerzte immer noch ein wenig. "Dan war heute aber auch besonders grob bei der Untersuchung."

"Wenn du willst, kann ich Clem Bescheid sagen, daß er dich nach Hause fährt. Ist vielleicht besser, falls du unterwegs Hilfe brauchst."

"Danke, Mort, ist nicht nötig! Mike ist schon sehr sicher beim Fahren. Wir werden bestimmt wohlbehalten nach Hause kommen. Mach dir keine Sorgen!"

"Na schön, dann werde ich dich aber wenigstens ein Stück begleiten. Wo hast du den Wagen stehen?"

"Bei Hanson. Wir warten auf eine Pumpe. Die in Daisys Waschküche ist im Eimer. Hanson rechnet stündlich mit der Anlieferung der neuen. Bestellt ist sie schon seit einer Ewigkeit."

"Dann komme ich mit zu Hanson. Ich wollte mir ja sowieso noch ein wenig die Beine vertreten vorm Essen. Muß mich mal wieder auf der Straße zeigen. Ich hocke schon den ganzen Morgen hier und arbeite Berichte auf. Ich sage dir, Jess, die Arbeit eines Sheriffs besteht zu achtzig Prozent aus Papierkram, zehn Prozent aus lästigen Kontrollgängen, fünf Prozent aus sonstigen unangenehmen Dingen und höchstens zu fünf Prozent aus echter Polizeiarbeit."

Jess grinste breit und griff nach seiner Jacke.

"Und da wolltest du mich für den Polizeidienst ködern! Ich weiß schon, warum ich mich dazu nicht überreden lasse. Schreibarbeiten wären genau das Richtige für mich, um mich ins Irrenhaus zu bringen. Ich vergreife mich noch nicht einmal an den Ranchbüchern." Er zog seine Jacke über und knöpfte sie zu, während er weitersprach. "Sehr zu Slims Vorteil, würde ich sogar behaupten." Sein Grinsen reichte bis zum Haaransatz, aber seine Augen nahmen daran nicht teil. "Denn sonst wäre er reif für die Klapsmühle, wenn er unsere Buchhaltung wieder auf Vordermann bringen müßte."

Mort lachte belustigt auf. Nach ihrem ernsten Gespräch schien ihm das alberne Gerede ebenso gutzutun wie Jess.

"Ich glaube, das behauptest du bloß, damit keiner auf die Idee kommen kann, dir irgendwelchen Papierkram aufzuhalsen", lachte er, legte ihm die Hand auf den Rücken und ging mit ihm zur Tür.

Sie verließen das Büro. Der Sheriff begleitete ihn bis zu Hansons Eisenwarenhandlung.

Das Fuhrwerk, das regelmäßig zwischen der Bahnstation und dem Geschäft verkehrte und die bestellten Güter zulieferte, brachte heute zwar eine umfangreiche Ladung vom Bahnhof, aber die erwartete Pumpe war nicht dabei. Hanson hatte nur eine weitere Kiste mit Schmiederohlingen und ein paar Werkzeuge auf den Wagen der Sherman-Ranch geladen.

"Ich frage mich, was Slim mit diesen Unmengen von Schmiederohlingen vorhat. Sieht fast so aus, als wollte er Pierce Konkurrenz machen. Hoffentlich kommt Kellington nicht mal auf die glorreiche Idee, daß wir regulär Schmiedearbeiten übernehmen könnten, nachdem er das auf der Milford-Station eingestellt hat."

"Ich denke, die Postkutschengesellschaft will den Verkehr einschränken über Winter."

"Hoffentlich nicht nur über Winter. Die zusätzliche Belastung mit dem Depotunterhalt wächst uns langsam über den Kopf. Für die sich ständig ausweitenden Rancharbeiten ist es ein wahrer Hemmschuh, daß immer einer da sein muß für den Stationsbetrieb. Uns wäre es eigentlich recht, wenn die Ost-West-Route eingestellt werden würde. Aber selbst wenn das geschähe, liebäugelt Kellington weiterhin mit unserem Depotbetrieb für die Nord-Süd-Strecke. Ich hoffe, Slim kann ihm das bei nächster Gelegenheit ausreden."

"Ihr wolltet doch das Stück Land südlich des Flusses erwerben."

"Ja, vielleicht im Frühjahr. Wenn wir dann auch noch die Herde vergrößern, sehe ich schwarz für Kellington und Co."

Mort registrierte es mit gewisser Beruhigung, wie Jess von der Zukunft der Ranch sprach. Anscheinend völlig unbewußt hatte er sich selbst in diese Zukunft mit eingeplant, denn immerhin sprach er eindeutig in der Mehrzahl "wir" und nicht allein von seinem Partner. Im Moment war Jess offensichtlich dermaßen abgelenkt, daß von Resignation nichts mehr bei ihm zu spüren war.

"Na, ganz allmählich scheint bei euch der Wohlstand einzukehren", bemerkte der Sheriff, nicht ohne Anerkennung.

"Davon sind wir noch weit entfernt, wobei ich zugeben muß, daß auch keiner von uns beiden besonderen Wert darauf legt. Aber es ist gut zu wissen, daß das Land endlich schuldenfrei ist."

"Dafür habt ihr auch viele Jahre geschuftet."

"Aber es hat sich gelohnt!" Jess band die Pferde los und bestieg etwas schwerfällig den Wagen. "Tja, Mort, ich muß mich beeilen, sonst verpasse ich vielleicht Mike."

"Wann kommst du wieder mal vorbei?"

"Bald, schätze ich. Ich habe noch dringend was bei Wendridge zu erledigen. Bis dahin halt die Ohren steif, Mort, und laß dir das Essen schmecken."

"Ich werde einfach so tun, als ob es schmeckt. Bis dann!"

Der Sheriff hob zum Abschied die Hand, während Jess die Pferde antrieb und zur Schule am entgegengesetzten Stadtausgang fuhr, wo er gerade rechtzeitig kam, um Mike nicht zu verpassen.

Fortsetzung folgt