KAPITEL 22
Im Hof der Sherman-Ranch brachte Mike die Pferde vor der Remise zum Stehen, in deren Schiebetür Slim auf die Ankömmlinge wartete.
"Hallo, Slim!" rief Mike, zog ordentlich die Bremse fest, schlang die Zügel darum und sprang in kindlichem Übermut vom Wagen, um seinen Browny zu versorgen, den er am Wagen angebunden hatte.
"Hallo, ihr beide!" erwiderte Slim, nicht ganz so unbeschwert, wie er beabsichtigte; aber dem Jungen fiel es nicht weiter auf, auch nicht, daß Jess nur etwas beim Absteigen vor sich hin brummte.
Während Mike sich um sein Pony kümmerte und dabei außer Hörweite an der Koppel zu tun hatte, warf der Rancher seinem Partner einen fragenden, zugleich erwartungsvollen Blick zu. Jess wich ihm zunächst demonstrativ aus, ja, beachtete ihn nicht weiter.
"Wenn du mit Browny fertig bist, kannst du ins Haus gehen und Daisy ein wenig helfen. Um so schneller gibt es was zu essen!" rief er zu dem Jungen hinüber, löste die Zügel vom Bremsenhebel, klinkte die Gespannketten aus und führte die zwei Pferde zur Koppel auf der anderen Seite der Remise. Selbst diese leichte Arbeit bekam seiner Verletzung nicht, aber er mußte sich in irgendeiner Form Bewegung verschaffen. Slim, ihm mit erstaunt hochgezogenen Brauen nachstarrend, schüttelte verständnislos den Kopf und begann den Wagen abzuladen. "Die Pumpe war noch nicht da", sagte Jess lakonisch und sehr abweisend beim Vorbeigehen.
"Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?"
"Meine Leber dürfte in Ordnung sein." Es hörte sich an wie das Geknurre eines gereizten Hundes. Derweil machte er sich weiter an den zwei Pferden zu schaffen, öffnete die Schnallen der Geschirre und entledigte die Tiere von dem Lederzeug, obwohl seine Wunde bereits heftig zu rebellieren begann. "Jedenfalls hat Dan darüber kein Wort verloren."
Slim verzog das Gesicht wie jemand, der Unangenehmes auf sich zukommen sah, das er selbst zu verantworten hatte, vor dem er nicht ausweichen konnte. Durch einen flüchtigen Blick in die andere Richtung vergewisserte er sich, daß sich Mike tatsächlich außer Hörweite befand und ihnen keinerlei Beachtung schenkte, weil er mit seinem Pony beschäftigt war.
Die Kiste mit den Schmiederohlingen stellte er wieder zurück auf den Wagen. Statt dessen ging er zu den Pferden, an denen Jess mit einer Hand zwar geschickt, jedoch anscheinend unter erheblichem Kraftaufwand hantierte und an dem Rancher nicht besonders interessiert zu sein schien. Dabei kostete ihn seine Ignoranz ihm gegenüber ähnlich viel Kraft wie die Arbeit mit dem Geschirr.
"Dann weißt du also Bescheid?" fragte Slim betreten; sein schlechtes Gewissen erdrückte ihn fast. "Er … er hat mit dir gesprochen?"
"Was du ja nicht von dir behaupten kannst!" erwiderte Jess barsch und zerrte zum Nachdruck wütend an einem der Riemen, daß das Pferd erschreckt den Kopf hochwarf und er, von einem durchbohrenden Stich in die Brust halb in die Knie gezwungen, gegen das Tier taumelte, das seinem Unmut in einem lauten Schnauben Luft machte.
"Jess!"
Mit einem Schlag hatte Slim alles, was mit seinem schlechten Gewissen zu tun hatte, vergessen. Er sah nur, daß der Freund Hilfe brauchte, trat mit zwei raschen Schritten zu ihm und wollte ihn stützen; aber Jess wich vor seiner Berührung zurück.
"Faß mich nicht an!" gebot er energisch mit einer gebieterischen Handbewegung.
"Was ist? Willst du dich mit Gewalt umbringen?"
"Ich bin dabei, darüber nachzudenken."
"Bist du denn recht bei Trost! Du kannst dich ja kaum aufrecht halten. Laß mich dir doch helfen, verdammt noch mal!"
"Ich brauche deine Hilfe nicht!"
Slim, der einen weiteren Versuch machen wollte, ihm den Arm um die Schultern zu legen, zog mit einem Anflug von Enttäuschung seine Hand zurück. Daß er ihn so sehr verletzt hatte, schmerzte ihn.
"Denkst du, das ist die richtige Lösung?"
"Warum nicht? Wahrscheinlich noch nicht einmal die schlechteste."
Jess' Sarkasmus war scharf wie ein Rasiermesser. Seine unwirsche Reaktion tat ihm selber weh, aber er konnte sie nicht verhindern. Es war wie ein Zwang, dem er nicht entrinnen konnte. Seine Ursache lag weniger in der Enttäuschung über das Schweigen des Freundes, sondern vielmehr in seiner eigenen Unsicherheit.
"Kerl, was redest du denn da?" fragte Slim verwirrt über seine zweideutigen Bemerkungen.
Jess, der ihm die ganze Zeit halb den Rücken zugekehrt hatte und mit gegen die Brust gepreßter Hand an das Pferd gekauert lehnte, sammelte all seine Kraft, raffte sich auf und wandte sich mit einem Ruck um, daß er mit den Schulterblättern gegen den wuchtigen Leib des Pferdes stieß. Er verkniff sich die Schmerzen, starrte Slim mit zugekniffenen Augen und leicht verzerrtem Gesicht an. In seinem Blick stand soviel Enttäuschung, Melancholie, Verbitterung und auch Verzweiflung, daß es Slim mitten ins Herz traf.
"Ja, zum Donnerwetter!" stieß er wütend hervor. "Ist das alles, was du zu sagen hast?"
"Herrgott, was willst du denn hören?" brauste nun auch Slim auf, obwohl es ihm im nächsten Augenblick schon wieder leid tat.
"Was ich hören will? Himmel, was habe ich bloß für einen Freund, der nur zu sagen hat, was ich hören will. Ist das deine neueste Art von Hilfe?"
"Jess!" wies Slim ihn hart zurecht. Daß er ihn mit seinem Schweigen so sehr verletzen konnte, hatte er nun doch nicht angenommen. Zuerst wollte er sich rechtfertigen, holte schon Luft; aber noch ehe das erste Wort über seine Lippen kam, merkte er zum Glück, daß er ihn damit nur weiter gereizt, seine Enttäuschung weiter gesteigert hätte. "Verdammt, Jess!" sagte er statt dessen mit beinahe sanfter Stimme und einer unbeholfenen Handbewegung. "Es … es tut mir leid!" entschuldigte er sich, nicht für seine heftige Reaktion – denn dazu bestand seiner Meinung nach kein dringender Grund –, sondern für seine Unaufrichtigkeit, unter der er selbst so gelitten hatte. "Ich weiß, ich hätte … ich meine … ich hätte mit dir reden müssen, aber Dan … verstehst du, er wollte … ich sollte … ich habe ihm versprochen zu schweigen, solange ich … es geht. Es ist mir nicht leichtgefallen. Ich wußte, es war nicht richtig! Du stellst dir nicht vor, wie mich diese Unaufrichtigkeit belastet hat. Ich … ich konnte … Jess, bitte verzeih mir!" Das Schweigen des Freundes verunsicherte Slim noch mehr. Am liebsten wäre er auf der Stelle im Boden versunken. "Kannst du das? Kann … darf ich das überhaupt von dir verlangen? Verdammt, sag endlich was! Schrei mich an, hau mir eine rein oder mach sonst was, aber steh nicht da wie ein Ölgötze, der das Maul nicht aufkriegt und mich bloß anstiert!"
Als endlich wieder Leben in seine starren Augen kam, senkte Jess den Blick, schüttelte verwirrt den Kopf und rieb sich über die Stirn. Es war, als hätte er gerade seine gesamte Vergangenheit, Zukunft und auch Gegenwart innerhalb von Sekunden durchlebt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Er hatte eher das Gefühl, ein Tornado wäre über ihn hinweggefegt.
"Sicher, kannst du das von mir verlangen", sagte er leise, aber mit fester Stimme. Mit einem Mal war er wieder die Ruhe selbst. "Tut mir leid, ich wollte nicht … Ich habe gewußt, daß dich irgend etwas in der Richtung quält. Ich habe es gespürt. Deshalb habe ich auch nicht … Ich habe ja selber so etwas geahnt."
"Ich weiß." Slim trat auf ihn zu und faßte ihm an die Schulter. Diesmal wich er nicht vor seiner Berührung zurück. "Ich habe … wirklich sehr darunter gelitten, daß ich nicht mit dir reden konnte. Aber Dan wollte es so haben."
"Ja, er hat es mir gesagt."
"Du wußtest es schon neulich abend, nicht wahr? Deshalb hast du nicht weiter gefragt."
"Ja, ich habe gefühlt, daß du etwas weißt, was du mir nicht sagen wolltest oder konntest. Ich wollte dich nicht zwingen … Hättest du mich wirklich angelogen?"
Ihre Blicke trafen sich. Keiner von ihnen machte Anstalten, dem anderen auszuweichen.
"Nein!" erwiderte Slim offen, ohne überlegen zu müssen.
"Du hättest dein Wort, das du Dan gegeben hast, gebrochen?"
"Ja, denn unsere Freundschaft bedeutet mir mehr. Außerdem sagte ich ihm, daß ich zwar schweigen würde, aber nur solange ich dich nicht belügen müßte, wobei ich auch das Schweigen als Unaufrichtigkeit … Jess, das … das wird doch nichts zwischen uns ändern, oder?"
"Nein, Partner!" Über Jess' Gesicht huschte der Ansatz eines schwachen Lächelns. "Es hätte alles geändert, wenn es dir leicht gefallen wäre, wenn es dir nichts ausgemacht hätte und wenn du mir dabei in die Augen gesehen hättest – so wie jetzt. Dann wüßte ich, daß ich meine Zeit verschwendet hätte, indem ich über acht Jahre lang dem Falschen vertraute."
"Das hast du gewiß nicht. Du stellst dir nicht vor, wie froh ich bin, daß ich diese Geheimniskrämerei hinter mir habe. Ich bin es so gewöhnt, über alles offen mit dir zu reden, daß ich kaum wußte, wie ich die letzten Tage durchstehen sollte. Verdammt, Jess, ich jammre dir hier die Ohren voll, dabei ist das, was Dan sagte … Du hast es schon immer geahnt, nicht wahr?"
"Ja, du doch auch, oder?"
Slim nickte nur zustimmend mit aufeinandergepreßten Lippen.
"Ich habe es wie du von Anfang an befürchtet", fügte er hinzu, während er sich selten so eng mit dem Freund verbunden fühlte wie gerade in diesem Augenblick. "Und was werden wir jetzt tun?" fragte er ziemlich ratlos, obwohl er mit der Mehrzahl unmißverständlich zeigte, daß Jess in jedem Fall auf seine Hilfe zählen konnte.
"Ich weiß es nicht." Jess machte eine hilflose Geste, rieb sich mit einer fahrigen Handbewegung über Gesicht und Nacken; er sah sehr erschöpft aus. "Ich wollte, ich wüßte es", sagte er mit rauher Stimme. "Dan meint anscheinend, Colorado Springs wäre die Lösung."
"Und du?"
"Ich bin mir nicht so sicher. Ich weiß überhaupt nicht, ob es eine Lösung gibt, bei der ich nicht …" Er sprach den Satz nicht zu Ende. "Ich muß erst einmal über alles in Ruhe nachdenken. Ein bißchen Zeit brauche ich schon dafür."
"Wenn du mit mir reden willst oder mich anderswie brauchst, laß es mich wissen. Ich befürchte zwar, daß auch ich dir nicht helfen kann. Trotzdem sollst du wissen, daß ich …"
"Danke, Partner!" Jess sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an. "Das ist im Moment sogar das einzige, was ich mit Sicherheit weiß." Diese Bemerkung bezog sich ausschließlich auf den Teil des Satzes, den Slim verschluckt hatte. "Und, Slim, laß dir bitte gegenüber Daisy und Mike nichts anmerken."
"Natürlich nicht, nur früher oder später wirst du mit ihnen reden müssen."
"Keine Frage, aber nicht, bevor ich selber nicht weiß, was ich ihnen sagen soll." Jess löste sich mit einem schweren Atemzug von dem Pferd, gegen das er die ganze Zeit lehnte. "Und jetzt gehe ich wohl besser ins Haus. Du bist mir hoffentlich nicht böse, wenn ich dir den Rest der Arbeit allein überlasse."
"Mir wäre sogar lieber gewesen, du hättest von Anfang an die Finger davon gelassen. Nimm es mir nicht übel, aber du siehst ziemlich angegriffen aus. Mir scheint, du hast dich überanstrengt. Du solltest dich vielleicht nach dem Essen etwas hinlegen und ausruhen."
"Vielleicht wird es auch von Daisys gutem Essen schon besser."
Jess sagte dies ohne jede Begeisterung, was Slim zu denken gab.
Vom Essen wurde es nicht besser, worauf sich Jess tatsächlich in sein Zimmer zurückzog und trotz seines nervlichen Aufgerütteltseins fast den ganzen Nachmittag verschlief. Seine Erschöpfung war anscheinend so groß, daß die Müdigkeit siegte und seinem geschwächten Körper den nötigen Schlaf verschaffen konnte.
Trotzdem fühlte er sich nur leidlich besser, als er Stunden später wieder zu sich kam. Die Dämmerung brach bereits herein, aber er blieb in dem rasch dunkler werdenden Raum noch auf dem Bett liegen, ohne Licht zu machen. Mit unter den Nacken geschobenem Arm, bis auf die Stiefel völlig angezogen und nur halb zugedeckt, starrte er an die Zimmerdecke, als gäbe es dort etwas Interessantes zu bestaunen.
Seine Gedanken kreisten um das Gespräch mit dem Arzt, seinen Besuch beim Notar und die Frage, ob und was er selber falsch gemacht hatte, damit es überhaupt erst soweit kommen konnte. Er warf sich Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn vor, obwohl er sich nicht weiter die Mühe machte, dies vor sich selber zu begründen.
Daß er nun die Konsequenzen für seinen nicht gerade biederen Lebenswandel tragen mußte, belastete ihn nicht weiter. Das redete er sich zumindest ein, ebenso die Tatsache, daß der Überfall damals nur eine Art stellvertretendes Symbol für all die vorangegangenen Situationen darstellte, in denen er leichtfertig mit seinem Leben gespielt hatte. Für ihn war es so etwas wie eine Strafe, die ihm das Schicksal verordnete. Das Schlimme war nur, daß er diese Strafe nicht allein tragen mußte, sondern auch die Menschen, die ihm etwas bedeuteten, allen voran Mike.
Genau hierin sah er sein Versagen begründet, denn ihm wollte er eigentlich eine unbeschwerte Kindheit und Jugend garantieren nach seinen sechs Höllenjahren in einem Waisenhaus, das von einem in Erziehung und zu Menschlichkeit unfähigen Heimleiterehepaar geführt wurde, das die Kinder schlimmer behandelte wie Tiere in einem Käfig.
Und gerade jetzt, da der Junge in ein Alter kam, in dem er ihn als väterliche Bezugsperson am meisten brauchte, mußte er ihn sehr wahrscheinlich im Stich lassen, nur weil das – durch Zufall, Vorsehung, Leichtsinn, Gedankenlosigkeit, widrige Umstände oder was auch immer – eingetreten war, was er bisher der Einfachheit halber verdrängt hatte.
Wenigstens hundert andere Situationen wollten ihm einfallen, die er allein in den letzten vier Jahren, seit der Übernahme von Mikes Vormundschaft heraufbeschworen hatte, die manchmal nur um Haaresbreite glimpflich verliefen, weil er offenbar einen wachsamen Schutzengel gehabt hatte. Daß dieser Schutzengel ausgerechnet bei dem einen Mal, bei dem ihn keine primäre Schuld traf, versagte, empfand er als Ironie des Schicksals, als Strafverschärfung.
Wie sollte er sich also entscheiden? Wenn er hier blieb, waren seine Tage gezählt, soviel stand fest. Da brauchte er sich keinerlei Illusionen hinzugeben. Daß sich sein Gesundheitszustand seit dem Wetterumschwung rapide verschlechtert hatte, wußte er ohne ärztliche Untersuchung oder Bestätigung. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis er sich eines Nachts zu Tode hustete oder sich beim leisesten Luftzug eine akute Lungenentzündung holte, die sein jetzt schon erheblich geschwächter Körper unmöglich überstehen konnte. Welche sonstigen Komplikationen sich außerdem einstellten, wollte er sich an dieser Stelle gar nicht weiter ausmalen. Lange würden sie jedenfalls nicht mehr auf sich warten lassen.
Einzige Alternative, die ihm der Arzt hierzu bieten konnte außer einer Reise in den warmen Südwesten, die allerdings schon allein wegen ihrer Beschwerlichkeit und Weite nicht in Frage kam, war ein Aufenthalt in Colorado Springs, wo ihm sein alter Studienfreund optimale medizinische Versorgung gewähren konnte, jedoch ohne irgendeine Garantie auf Erfolg. Im Gegenteil! Auch dort wären seine Überlebenschancen nur unwesentlich höher und die hervorragende ärztliche Obhut ein unerträglicher Aufschub des Unabänderlichen.
Zudem bedeutete es eine enorme finanzielle Belastung. Er müßte seinen Anteil an der Sherman-Ranch beleihen und hinterließe somit seinem Pflegesohn statt einer soliden Grundlage für seinen Start ins Erwachsenenleben einen Berg voll Schulden, nur um ein paar Tage oder Wochen eines fragwürdigen Siechtums herauszuschinden. Sollte er das etwa auch noch verantworten? Vor allen Dingen, wollte er so überhaupt sein Leben beenden?
Plötzlich fiel ihm der Geldtransport ein, der in den nächsten Wochen stattfinden sollte. Vielleicht sollte er sich die Sache in Anbetracht der neuen Situation noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Zwar wäre es nicht nur Lincoln Majors gegenüber unverantwortlich, als todkranker Mann diesen Job zu übernehmen, der vollen Einsatz erforderte; aber immerhin ergab sich damit die ziemliche Wahrscheinlichkeit, bei einem Überfall auf der Strecke zu bleiben. Denn daß es zu einem solchen käme, war bei der bereits stattfindenden Popularität so gut wie sicher.
Wäre es nicht die eleganteste Lösung, bei dieser Gelegenheit als Zielscheibe zu dienen? Er selbst entginge dem, vor dem er eine Heidenangst hatte: langsam dahinzusiechen und den Tod als Erlösung zu empfinden. Und – was das Wichtigste bei dem Ganzen wäre! – seine Angehörigen, wieder allen voran Mike, müßten sein Siechtum nicht auch noch mit erleben. Für sie würde er sterben, wie er gelebt hatte – bei einem seiner gefährlichen Abenteuer. So gesehen, war dieser Geldtransport vielleicht für alle Beteiligten das Nonplusultra überhaupt. Das mußte er unbedingt genauer ins Auge fassen!
Dieser makabre Gedankengang wurde durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen.
"Jess, bist du wach?" Slims Stimme klang verhalten, da er den möglichen Schläfer nicht wecken wollte.
"Komm ruhig rein, du störst mich nicht", erwiderte Jess nicht ganz wahrheitsgemäß.
Er fühlte sich in der Ausarbeitung seines wunderbarsten Einfalls seit langem gestört. Solange die Idee jedoch so unausgegoren war, wollte er sich vor dem Freund – gerade vor ihm, denn er war sich sicher, daß Slim es keinesfalls billigte oder gar so genial fände wie er – davon nichts anmerken lassen.
Jess setzte sich auf und ließ die Beine über die Bettkante baumeln, wobei die hellen Socken an seinen Füßen wie Irrlichter über den dunklen Boden zu tanzen schienen. Slim stand unschlüssig an der unteren Bettlade und beobachtete ihn aufmerksam. Sogar im Halbdunkel merkte er, daß der Freund etwas auf dem Herzen hatte, worüber er mit ihm sprechen wollte.
"Was machen die Schmerzen?" hörte er sich aus lauter Verlegenheit fragen; hinterher dachte er, daß das die dämlichste Frage war, die er stellen konnte.
"Einigermaßen. Habe mich mittlerweile daran gewöhnt, glaube ich." Jess angelte seine Stiefel vom Boden und zog sie an. "Setz dich einen Moment und steh nicht so herum wie jemand, der nicht weiß, wo er mit seinem Hintern hin soll."
Obwohl Jess energisch mit der Hand neben sich aufs Bett schlug, entschied sich Slim für den Stuhl, den er vors Bett rückte, damit sie sich gegenübersaßen. So konnte er ihm besser in die Augen sehen, in denen er ein auffälliges Blitzen bemerkt zu haben glaubte. Vielleicht hatte er sich das im Zwielicht der hereinbrechenden Dämmerung auch nur eingebildet.
"Willst du mit mir reden?"
"Ja, ich muß dir etwas sehr Wichtiges sagen, was Daisy und Mike nicht unbedingt zu hören brauchen. Ich war heute morgen bei Wendridge."
"John Wendridge?"
"Ja." Jess nickte zum Nachdruck. Das Blitzen in seinen Augen war verschwunden.
"Sag bloß, du hast bei Wendridge dein …" Slim brach ab, weil er sich nicht sicher war, ob sich das, was er sagen wollte, nicht taktlos anhörte.
"Tu dir nur keinen Zwang an und sprich dich aus! Über dieses erste Empfindlichkeitsstadium bin ich bereits hinaus."
Zu Slims Erstaunen klangen Jess' Worte nicht bissig dahin geworfen, sondern eher sachlich kühl.
"Na ja, hast du … ich meine, hast du tatsächlich dein Testament bei ihm gemacht?" brachte er endlich seine Frage zusammen. Anscheinend war es ihm unangenehmer, sie zu stellen, als für den Freund, sie zu beantworten.
"Nein, das war gar nicht nötig. Er konnte mir auf Anhieb bestätigen, daß es in der Hinsicht keinerlei Probleme geben wird. Mike würde vor dem Gesetz wie mein eigener Sohn behandelt, wenn es um die Erbfolge geht. Wenigstens ist der Punkt geklärt und braucht mich nicht weiter zu belasten. Ganz anders sieht es allerdings mit der Vormundschaftsregelung aus."
"Jess, ich habe dir versprochen …", fuhr Slim entrüstet auf. Sollte der Freund etwa sein Wort angezweifelt haben? Diese Kränkung sah er fast als noch etwas Schlimmeres an, als er sich mit seinem Schweigen geleistet hatte.
"Bitte, laß mich ausreden!" unterbrach Jess ihn, gefaßter denn je, daß er sich selbst darüber wundern mußte. "Ich habe nicht einen Augenblick an deinem Versprechen gezweifelt. Das hat aber nicht das geringste mit den Rechtsverhältnissen zu tun. Wenn mir etwas zustoßen sollte, sieht das Gericht den Jungen wieder als Vollwaisen an und steckt ihn erst einmal ins nächste Waisenhaus. Dagegen könntest du nichts tun. Du müßtest so wie ich damals gegen diesen Paragraphendschungel und Dilettantismus von Moral predigenden Gesetzesaposteln und Rechtsverdrehern kämpfen, die angeblich alle nur das Beste für den Jungen wollten. Selbst wenn du mit etwas Glück gegen sie gewinnen solltest, wäre Mike ihnen, ihren scheinheiligen Institutionen und ihrer Willkür ausgeliefert. In jedem Fall wäre er der Leidtragende. Ich habe dem Jungen versprochen, daß er nie wieder in ein Waisenhaus muß, egal, was geschieht. Dieses Versprechen will ich unbedingt halten. Aber ich brauche deine Hilfe. Dein Wort mir gegenüber allein genügt leider nicht. Nicht für mich, denn mir genügt es völlig."
"Wie kann ich dir also helfen?" bot sich Slim sofort an; für seine voreilige Reaktion begann er sich fast zu schämen.
"Wendridge wird ein Dokument verfassen, eine Art Erklärung, in der ich dich als Vormund im Falle meines Ablebens benenne. Damit keiner auf die Idee kommen kann, diese Erklärung anzufechten, wird er sie notariell beglaubigen und hinterlegen. Um das Ganze perfekt zu machen, mußt du mit einer Gegenzeichnung dein Einverständnis erklären. Für Mike würde sich dann nichts ändern. Kein Mensch hätte das Recht oder die Möglichkeit, ihn von hier wegzuholen. Wirst du das für mich … für ihn tun?"
"Das ist sehr wenig, was mir zu tun bleibt."
"Du irrst dich! Es ist viel, sehr viel sogar. Wir hätten das schon am Anfang regeln müssen, damals, als Mike hierher kam. Ich muß offen gestehen, daß ich dieses Problem nie so richtig gesehen habe. Wenn ich über diese Fahrlässigkeit nachdenke, treibt sie mir jetzt noch eine Gänsehaut über den Rücken. Ich bin immer davon ausgegangen … Nun, es war falsch, aber ich bin froh, daß ich diesen Fehler im letzten Augenblick korrigieren konnte. Nachdem diese Papiere unterzeichnet sind, kann von mir aus kommen, was will."
"Sieh nicht so schwarz!" versuchte Slim, ihn etwas aufzumuntern. Daß er zuweilen noch schwärzer sah, stand hier nicht zur Debatte. Wenn es galt, dem Freund Mut zuzusprechen, ihm Zuversicht, Hoffnung zu spenden, vergaß Slim sehr schnell seinen eigenen Pessimismus. "Komm jetzt lieber mit hinunter, ehe du hier im Dunkeln anfängst, Trübsal zu blasen. Mike hat schon ein paarmal nach dir gefragt. Oder wolltest du jetzt über mehr mit mir reden?"
"Nein, jetzt nicht! Ich bin noch nicht soweit."
"Laß es mich aber sofort wissen, ja?"
Jess nickte nur.
"Komm jetzt!" drängte Slim.
"Geh ruhig schon vor. Ich komme gleich."
Slim erhob sich und stellte den Stuhl zurück in die Ecke. Es war ihm nicht recht, daß der Freund ihn jetzt wegschickte, aber er verließ doch das Zimmer.
Jess blieb einen Augenblick auf der Bettkante sitzen, ehe er aufstand und zum Fenster ging. Er schob den unteren Teil nach oben und starrte hinaus in die nebliggraue Dämmerung. Die Luft war feuchtkalt und schwer wie Blei. Die Anhöhe hinter dem Haus lag im Dunst.
"Jetzt sollte ich mir allmählich überlegen, auf welchem Hügel und unter welchem Baum er mich begraben soll", murmelte er vor sich hin, als ihn plötzlich fröstelte, nicht von der naßkalten Luft, sondern von seinen eigenen düsteren Gedanken.
Mit einem Ruck schloß er das Fenster, zog das Rollo herunter und stampfte mit schweren Schritten durch den dunklen Raum zur Tür. Was er jetzt brauchte, war die Gesellschaft der Menschen, die seine Familie waren.
Wenn seine Tage schon gezählt waren, dann wollte er sie wenigstens im Kreise seiner Angehörigen verbringen. Daß es sich bei diesen nicht im entferntesten um Blutsverwandte von ihm handelte, war für ihn völlig unbedeutend.
Zwei Tage später hatte John Wendridge die erforderlichen Papiere fertig, so daß Jess, der am Mittwoch bei ihm im Laufe des späten Vormittags auftauchte, nur noch seine Unterschrift daruntersetzen mußte. Allerdings war er erst vollends beruhigt, nachdem Slim die Gegenzeichnung geleistet hatte.
Jetzt, da diese quälende Ungewißheit, diese Furcht, etwas in bezug auf Mikes Zukunft übersehen zu haben, vorüber war, hob sich ein wenig seine Stimmung, daß er nicht gar so wortkarg mehr vor sich hin brütete, wie er dies seit seinem letzten Besuch bei Doc Higgins getan hatte. Die Veränderung fiel sogar Mike auf, der ihn immer wieder fragte, ob oder was er denn hätte, darauf jedoch nur knappe Antworten erhielt, die ihn so ganz und gar nicht zufrieden stellen wollten. Der Junge half sich dann jedesmal selbst damit, indem er sich einredete, für die Logik der Erwachsenen, zu denen sein Pflegevater schließlich zählte, noch zu klein zu sein.
Daisy Cooper mit ihrem feinen weiblichen Gespür für solche Dinge merkte dagegen sehr wohl, daß irgend etwas im Gange war. Jess schien fast völlig seinen gesunden Humor verloren zu haben. Sie vermißte seine übermütigen Späße, die er mit ihr vor allem in der Küche bisher so gerne trieb. Er war ruhig geworden, sie wollte es fast über Gebühr ernst nennen, als bedrückte ihn etwas. Nicht zuletzt verrieten ihn seine traurigen Augen, aus denen dieses schelmische Glitzern, das sie so sehr liebte, verschwunden war. Zu gerne hätte sie den Grund erfahren, aber wenn sie ihn deshalb vorsichtig ansprach, wich er sofort mit auffälliger Arglosigkeit aus, daß sie sich nicht mehr getraute zu fragen. Sie hatte das Gefühl, ihn damit zu quälen.
Da auch Slim wortkarg geworden war und sie die zwei Männer oft beim Austausch von vielsagenden Blicken ertappte, mit denen sie sich stumm zu verständigen schienen, begann sie ihre Schlüsse aus dem ungewöhnlichen Schweigen zu ziehen. Die merkwürdige Atmosphäre brachte sie in unmittelbaren Zusammenhang mit Jess' letztem Arztbesuch.
Auch sie mußte feststellen, daß es ihm seit dem Umschwung des Wetters immer schlechter ging, er viel Zeit mit Schlafen verbrachte, auffallend blaß und hager wirkte und anscheinend häufig mit Atembeschwerden zu kämpfen hatte, obwohl er sich, wenn er nicht gerade wie aus heiterem Himmel von einem heftigen Hustenanfall heimgesucht wurde, die größte Mühe gab, sich nichts von seinem schlechter werdenden Gesundheitszustand anmerken zu lassen.
Daisy war auch heute noch eine viel zu gute Krankenschwester, um diese Symptome eindeutig zu erkennen. Ohne daß ihr jemand etwas gesagt oder auch nur angedeutet hätte, wußte sie mit einem Mal, daß der Mann, in dem für sie ihr im Krieg gefallener Sohn weiterlebte, nicht mehr lange bei ihnen wäre. Sie würde ihn verlieren, wie sie ihren Sohn verloren hatte, nur mit dem furchtbaren Unterschied, daß sie von seinem Tod nicht durch eine lapidare Militärmeldung informiert wurde, sondern sein Sterben mit erleben und mit erleiden mußte.
Diese schreckliche Erkenntnis trieb ihr jede Nacht die Tränen in die Augen, wenn sie vorm Einschlafen darüber nachdachte. Sie wollte diese Gedanken verdrängen, aber wenn sie allein war und von ihrer Arbeit und der Gesellschaft der anderen nicht mehr abgelenkt wurde, stellten sich diese düsteren Visionen zwangsläufig bei ihr ein.
Das Erstaunliche war, daß sie sich tagsüber nichts von alledem anmerken ließ, obwohl sie zumindest von Jess den Verdacht hatte, daß er etwas ahnte. Obwohl ein rauher Bursche mit einer harten Schale als Panzer, womit er sich wie mit einem Schutzwall umgab, konnte er auf der anderen Seite überaus sensibel sein mit einem feinen Instinkt, der ihn untrüglich bis in die Seele seiner Mitmenschen blicken ließ. Ihm in dieser Beziehung etwas vorzumachen, war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.
Im Grunde genommen machten sie sich also alle drei etwas vor, ungeachtet dessen, daß jeder von ihnen wußte, was sie voreinander verbergen wollten: daß der Tod in dieses Haus zurückgekehrt war, ohne ihm seit jenem verhängnisvollen Dienstagvormittag jemals ganz den Rücken gekehrt zu haben.
Fortsetzung folgt
