KAPITEL 23

Am Donnerstagabend zog sich Slim sofort nach dem Essen in sein Arbeitszimmer zurück, wo er vorgab, wichtige Buchhaltungsarbeiten erledigen zu müssen. In Wirklichkeit hatte er jedoch gemerkt, daß Jess nach einer Gelegenheit suchte, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Zwar hatte er nichts in der Beziehung erwähnt, aber Slim kannte seinen Freund gut genug, um dies ohne viele Worte zu merken. Der beste Platz, wo sie ungestört in Klausur gehen konnten, war das kleine Büro, in dem sie schon so manchen Plan geschmiedet oder Probleme gelöst hatten oder einfach nur den Tag bei einer Tasse Kaffee, manchmal auch mit einem alten Bourbon ausklingen ließen.

Slim saß hinter dem schweren, alten Schreibtisch, von dem aus schon sein Vater die Geschicke der Ranch geführt, was er selbst jedoch erst im Laufe der Zeit, genau genommen seit acht Jahren, gelernt und auch mit der erforderlichen Akribie getan hatte, seit dem Zeitpunkt nämlich, seit er wußte, daß sich so ein Anwesen nicht von alleine bewirtschaftete.

Auf den ersten Blick schien er konzentriert in die Bücher vertieft zu sein. Wie wenig dies allerdings zutraf, bewies die Tatsache, daß er sofort erwartungsvoll aufblickte, als Jess, ohne zu klopfen, das Zimmer betrat. Jeder Außenstehende hätte angenommen, sie hätten sich hier verabredet. In gewisser Hinsicht war dies auch der Fall, wenn diese Verabredung auch anders stattgefunden hatte, als man für gewöhnlich vermutete. Sie war stumm, ohne daß ein einziges Wort zwischen den beiden gefallen wäre, erfolgt, nur mit Blicken und für jeden Dritten mit unscheinbaren Gesten, die jeder von ihnen aufgrund ihrer langen, freundschaftlichen, ja, brüderlichen Verbundenheit mit Selbstverständlichkeit beherrschte und vom anderen verstand, ohne daß es ihnen selbst bewußt gewesen wäre.

"Hast du einen Moment Zeit?" fragte Jess, mehr als einführende Worte gedacht denn als echte Frage. Er wußte, daß der Freund auf ihn wartete und die Frage an sich völlig überflüssig war. "Ich … ich würde gern mit dir reden, das heißt, ich wollte es zumindest probieren."

"Ich weiß. Deshalb bin ich hier reingegangen."

"Dann hatten wir ja dieselbe Idee."

"Die hatten wir schließlich nicht das erste Mal."

Nach diesem im Grunde nichtssagenden Wortwechsel, von beiden offensichtlich hauptsächlich aus Verlegenheit geführt, ließ sich Jess etwas schwerfällig auf dem wuchtigen Ledersessel nieder, der das Gegenstück zu dem auf der anderen Seite des Schreibtisches war, in dem Slim hockte. Jess lehnte sich zurück, schloß die Augen und begann das Gespräch mit einem ausgedehnten Schweigen, das Slim zunächst nicht stören wollte.

"Hat das bei Wendridge heute morgen geklappt?" wollte er dann wissen, obwohl er nicht annahm, daß es bei Slims Besuch in der Anwaltskanzlei zu irgendwelchen Schwierigkeiten gekommen war.

"Ja, er hat sein Siegel – habe vergessen, wie er es genau nannte – darunter gesetzt. Er sagte, er wollte das Dokument im Gerichtsarchiv hinterlegen und zur Sicherheit bei sich die beglaubigte Abschrift im Tresor lassen. Somit wäre alles amtlich, und du müßtest dir keine Sorgen mehr deshalb machen."

"Hauptsache, für Mike wird sich nichts ändern! Und ich wollte auch nicht, daß du irgendwelche Scherereien deshalb kriegst. Das mit den Sorgen machen ist allerdings nicht so leicht aus der Welt zu schaffen."

"Kann ich mir vorstellen."

Jess fuhr sich übers Gesicht und rieb sich ein paarmal über die Stirn, ehe er aufblickte und Slim geradewegs in die Augen sah, die geduldig auf ihm wie auf einem wesentlich jüngeren Bruder ruhten, für den er die Verantwortung trug. Der Rancher war zwar wirklich der ältere von beiden, aber auf dem Kalender machte es nur knapp zwei Jahre aus. Was die Lebenserfahrung betraf, war Jess eindeutig im Vorteil und auf jeden Fall der reifere.

"Slim, was soll ich nur tun?" fragte er ziemlich ratlos.

"Ich wollte, ich wüßte auf deine Frage die alleinig richtige Antwort. Ich weiß noch nicht einmal, ob es so etwas wie eine Antwort gibt – geben kann."

"Dan ist der festen Überzeugung, es gibt nur eine Lösung – Colorado Springs."

"Das klingt, als ob du das anders siehst."

"Ich weiß nicht, ob ich da überhaupt etwas sehen kann! Ich habe Stunden, Tage darüber nachgegrübelt. Es ist eine Rechnung, die einfach nicht aufgeht. Das Ergebnis bleibt für mich immer negativ, egal, ob ich hierbleibe oder gehe. Der einzige Faktor, der sich in meinen Augen dabei ändert, ist die Zeit. Und gerade die macht mir Probleme. Auf der einen Seite hätte ich gern noch ein wenig mehr Zeit, aber auf der anderen Seite will ich meinen Abgang so schnell wie möglich hinter mich bringen. Jeder Aufschub ist reine Zeitverschwendung und sinnlose Quälerei. Ich denke dabei weniger an mich … Aber was ist mit Mike? Mit Daisy? Und auch mit dir? Ich kann euch nicht noch mehr zumuten. Ich wünschte, ich hätte damals nie mehr die Augen aufgemacht. Es wäre für uns alle besser gewesen."

"Du lieber Himmel! Hör auf, so zu reden! Das klingt ja, als könntest du es … Herrgott, ich krieg' davon 'ne fürchterliche Gänsehaut!"

"Slim, wenn du sachlich darüber nachdenkst, mußt du mir recht geben."

"Dann werde ich nicht sachlich darüber nachdenken! – Jess, so wie ich Dan verstanden habe, sieht er in einem Klimawechsel eine gute Chance für dich."

"Nennst du zwanzig, höchstens dreißig Prozent gute Chance? Mehr konnte er mir nicht zugestehen, und selbst das hat sehr fraglich geklungen."

"Das ist immerhin besser als gar keine. Sag bloß, du willst diese Chance nicht packen? Versuch es doch einfach! Bitte!"

"Hast du dir schon mal überlegt, daß das Ganze eine Kleinigkeit kosten würde?"

"Na und? Die Ranch ist schuldenfrei. Hast du das vergessen? Soviel wird sie ja wohl abwerfen, daß diese Reise zu finanzieren wäre. Und wenn nicht, wird eben eine Herde verkauft. Was macht das schon?"

"Jetzt, wo die Fleischpreise unten sind?"

"Was spielt denn das in diesem Zusammenhang für eine Rolle? Außerdem kann es nur von Vorteil sein, wenn über Winter ein paar weniger von diesen ewigen Wiederkäuern durchzufüttern sind. Was interessiert es mich, ob auf dem Land wieder eine Hypothek liegt, wenn es um deine Gesundheit geht? Wir werden die Bilanzzahlen schon wieder ins Schwarze kriegen."

"Wir?"

"Ja, denkst du, ich will allein hier weiterschuften? Noch sind wir doch Partner, oder?"

"So meinte ich das nicht." Jess senkte den Blick. Sein hohlwangiges Gesicht konnte nicht ernster werden. "Aber du wirst dich bald nach einem Ersatz umsehen müssen."

"Ersatz umsehen!" wiederholte Slim und tippte sich an die Schläfe. "Ich brauche keinen Ersatz! Du wirst hier gebraucht, kein Ersatz! Ich rede nicht von deiner Arbeitskraft, die zwar schwer zu ersetzen sein dürfte; aber darüber mache ich mir die geringsten Gedanken. Nur, was ist mit dir? Denkst du, man kann einen Freund einfach so ersetzen, wie man ein Rad an einem Wagen austauscht? Meinst du, für Mike ist es damit getan, daß er mich anstatt dich zum Vormund hat? Mein Gott, hast du Nerven!"

"Du würdest dich wundern!" murmelte Jess halblaut vor sich hin, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. "Ganz abgesehen davon", redete er beinahe monoton vor sich hin, "wird dieses Problem früher oder später auftauchen."

"Du tust ja geradeso, als ob du dabei nachhelfen wolltest, weil du es nicht mehr abwarten kannst. Eines sag' ich dir! Komm ja nicht auf solche Gedanken!"

"Slim, wenn Mike nicht wäre, hätte ich diese Gedanken schon längst in die Tat umgesetzt."

"Du bist verrückt! Du sagst das mit … einer Gelassenheit, daß mir das kalte Grausen kommt. Menschenskind! Du bist doch kein achtzehnjähriger Hitzkopf mehr, dem ein fragwürdiger Weidekodex im Hirn herumspukt und den Blick für die Realität versperrt."

"Mein Blick für die Realität war noch nie so klar." Wie zum Beweis öffnete er die Augen und sah den Freund unverwandt, beinahe durchdringend an. Merkwürdigerweise blieb seine Stimme dabei ruhig und sehr bestimmt, daß fast etwas Drohendes, wie ein fernes Donnergrollen, mitklang. "Tatsache ist und bleibt, daß man mir eine Kugel zwischen die Rippen gejagt hat und ich daran früher oder später verrecken werde. Ob das nun hier sein wird oder in Colorado Springs oder sonst wo, bleibt sich letztendlich gleich. Und du hast recht! Ich habe wirklich schon daran gedacht, die Sache mit etwas mehr Würde zu beenden, als mich erwartet, wenn ich mich an eine Hoffnung klammre, von der zwar jeder wunderbar träumt, die es aber von der reinen Logik her gesehen gar nicht geben kann."

"Du gibst also auf, ja? Habe ich das richtig verstanden?" vergewisserte sich Slim. In jedem seiner Worte stand sowohl Enttäuschung als auch die Anklage.

"Was heißt aufgeben? Das kann man nur, wenn man eine Wahl hat. Habe ich die?"

"Du könntest es immerhin versuchen, anstatt gleich von vornherein zu resignieren."

"Ich habe es versucht. Seit zwölf Wochen versuche ich es. Und was hat es gebracht?"

"Du bist immerhin noch am Leben."

"Was für ein Leben ist das schon? Ich bin todkrank und zu nichts nutze. Ich habe euch allen Fürchterliches zugemutet, und meine Tage sind gezählt. Was ist so ein Leben deiner Meinung nach wert?"

"Jess, ich kann es nicht zulassen, daß du dich selber oder dein Leben als nutzlos bezeichnest. Ein Freund ist niemals nutzlos! Und was denkst du, wie dich Mike sieht? Meinst du, für ihn bist du auch nutzlos?"

"Nein." Jess senkte den Blick.

"Na, Gott sei Dank sind wir uns wenigstens in diesem Punkt einig. Ich habe das Gefühl, mit dir muß man manchmal in diesem Ton reden, damit du zu dir selbst findest."

"Möglich." Jess nahm seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger und zog die Brauen zusammen. "Ich weiß, ich bin ein fürchterliches Nervenbündel, aber ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll." In einer hilflosen Geste hob er den Kopf. "Ich sollte es dir nicht sagen, aber ich habe tatsächlich schon daran gedacht, zu Majors zu gehen, um ihm zu sagen, daß ich seinen Transport übernehmen werde."

"Du bist verrückt!"

"Ich weiß, aber überleg mal! Wäre es nicht die sauberste Lösung?"

"Jess, das ist keine Lösung, sondern heller Wahnsinn! Wenn du es darauf anlegst, dich umbringen zu lassen, dann tu es lieber selbst. Abgesehen davon bist du überhaupt nicht in der Verfassung, diesen Job zu übernehmen. Das … Sag mal, hast du heute lauter solche merkwürdigen Ideen?"

"Ich habe überhaupt keine Idee!" fuhr Jess auf, war dabei aber etwas zu heftig, denn während er das Gesicht verzog und die Lippen aufeinanderpreßte, schnellte seine Rechte spontan gegen seine Brust.

"Was ist denn los mit dir? Mir fällt schon eine ganze Weile auf, daß du so leise redest. Hast du schon Schmerzen beim Sprechen?"

"Seit ein paar Tagen habe ich Schwierigkeiten, wenn ich … Ach, ich weiß es nicht!" Nach einem Keuchen warf er den Kopf nach hinten und starrte an die Decke, als müßte er sich dort auf einen bestimmten Punkt konzentrieren, um Herr über seine Schwäche zu werden. "Ich komme mir manchmal vor wie ein Blasebalg, bei dem die Luft durch ein falsches Loch entweicht. Wahrscheinlich ist das sogar ein ganz guter Vergleich."

"Du siehst schlecht aus, weißt du das?"

"Ja, wenn ich ehrlich sein soll … es geht mir auch schlecht. Hinzu kommt … Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll … Irgend etwas beunruhigt mich."

"Ist das nicht verständlich?"

"So meinte ich das nicht."

"Wie denn?"

"Ich … ich weiß es nicht." Jess sah den Freund ratlos an. Sein Blick wirkte regelrecht zerfahren. "Ich kann das nicht erklären. Es ist wie eine Ahnung, aber ich weiß nicht … ich … ich kann sie nicht zuordnen. Verstehst du? Ich habe das Gefühl, daß irgend etwas auf mich zukommt, aber ich kann es nicht klar erkennen. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein. Wahrscheinlich sogar!"

"Wolltest du etwa deshalb, daß ich heute auf Mike nach der Schule warte?"

"Ja! Ist das nicht verrückt? Ich mache mir auf einmal Sorgen, wenn er allein unterwegs ist."

"Dann laß ihn doch mit der Kutsche fahren."

"Nein, ich glaube, das würde mich noch mehr beunruhigen. Es ist nicht so, daß ich mir seinetwegen richtige Sorgen mache. Versteh mich nicht falsch! Ich bin einfach nur beunruhigt und kann den Grund dafür nicht erklären."

Slim schüttelte ratlos den Kopf.

"Du bist ein einziges Rätsel, weißt du das?"

"Sehe ich genauso, aber ich kann es nicht ändern. Wenn ich wüßte, was mit mir los ist, könnte ich vielleicht etwas dagegen unternehmen."

"Manchmal habe ich das Gefühl, du willst gar nichts dagegen unternehmen."

"Hat keinen Sinn, das abzustreiten. Ich bin mir selbst ein Rätsel. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich weiß ja noch nicht einmal, was ich will – leben oder sterben. Einmal will ich beides, dann wieder beides nicht. Ich wünschte, ich fände endlich eine Antwort."

"Ich kenne nur eine."

"Ja, ich weiß: Colorado Springs."

"Wenn die Sprache darauf kommt, habe ich jedesmal das Gefühl, du hast so etwas wie eine regelrechte Abneigung dagegen."

"Ach, woher denn! Das bildest du dir ein. Ich kann mich halt bloß nicht dazu überwinden, diese Möglichkeit so optimistisch zu sehen wie du und Dan und auch Mort. Wenn ihr davon redet, hört sich das ja wie ein wahrer Gesundbrunnen an. Dabei kann ich mir kaum etwas vorstellen, was dort anders sein soll als hier. Ich kenne die Gegend, bin ein paarmal in der Richtung gewesen, zwar nicht im Winter, aber das spielt wohl keine Rolle. Dort unten sieht es nicht viel anders aus als hier, außer daß es im Sommer mörderisch heiß und trocken ist. Da muß man am Tag mindestens eine Gallone Wasser trinken, damit man nicht austrocknet. Was an so einem Klima gesünder sein soll als an unserem, muß ich mich allen Ernstes fragen."

"Du vergißt diesen Professor Tyler und sein Sanatorium."

"Ach, so heißt das! Mir war dieses Wort entfallen. Ist ja auch egal, wie es heißt. Für mich ist und bleibt es ein Krankenhaus für Schwindsüchtige. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso ich ausgerechnet dort gesund werden soll. Nur der Gedanke daran macht mich schon krank."

"Ich glaube, du machst dir über dieses Sanatorium und Dans Studienfreund falsche Vorstellungen. Ich habe mich heute morgen noch einmal bei ihm erkundigt darüber. So wie ich das verstanden habe, scheint das Haus für seine Privatgäste ziemlich komfortabel zu sein. Dieser Tyler will seinen Patienten, die er mehr als seine Gäste betrachtet, nur das Beste vom Besten bieten, vor allem, was Komfort und Technik angeht. Für seine Privatgäste stehen vollklimatisierbare Zimmer zur Verfügung. Und die medizinische Versorgung muß geradezu bahnbrechend sein. Ich kenne mich da zwar genausowenig aus wie du, aber Dan ist von Tyler und seiner Arbeit überzeugt."

"Voll klimatisierbar? Was soll denn das sein?"

"Frag mich nicht! Anscheinend haben die da ein ausgeklügeltes Heizungs- und Belüftungssystem eingebaut. Jedenfalls hättest du dort nicht diese Schwierigkeiten mit überheizter Raumluft oder naßkaltem Nebel und so."

"Wenn ich dich so reden höre, dann kommt es mir fast so vor, als wolltest du dort unbedingt mal ein paar Tage Urlaub machen."

"Warum nicht? Wäre bestimmt keine schlechte Idee. Was einem Kranken guttut, kann einem Gesunden nicht schaden."

"Dann schlage ich vor, du machst ein paar Tage Urlaub und ich bleibe hier. Wenn du zurück bist, sehen wir weiter."

"Soll das ein Witz sein oder ist das eine deiner sonderbaren Ideen?"

"Weder noch, sondern mein voller Ernst."

"Ich verstehe dich nicht, Jess! Tut mir leid, ich verstehe dich wirklich nicht!" In hilfloser Ratlosigkeit schüttelte Slim den Kopf. Es war schon beinahe Verzweiflung, die da mit ins Spiel kam und auf seinem Gesicht erschien. "Ich meine, was hält dich davon ab, es wenigstens zu probieren? Doch hoffentlich nicht die finanzielle Seite?"

"Nicht nur, aber auch. Ich habe keine Lust, Mike als Vermächtnis einen Berg voll Schulden zu hinterlassen für nichts und wieder nichts. Denn wenn ich das, wofür wir beide in den letzten acht Jahren geschuftet haben, für etwas verpfänden will, das ich von vornherein als sinnlos betrachten muß, dann ist das Unsinn, egal, um was es sich dabei handelt."

"Sinnlos? Wieso denn sinnlos? Selbst wenn Dan nur von einer Chance eins zu zehn gesprochen hätte, wäre es nicht sinnlos. Ja, selbst eine von eins zu hundert wäre es immer noch wert, sie zu nutzen. Manchmal frage ich mich, ob du mit deiner Sturheit … Starrsinnigkeit einen bestimmten Plan verfolgst! Allmählich kommt mir jedenfalls der Verdacht. Ich kann mir zwar weiß Gott keinen plausiblen Grund vorstellen, aber dir traue ich mittlerweile alles zu. Auf der einen Seite willst du es herausfordern, bei diesem Geldtransport auf der Strecke zu bleiben; auf der anderen Seite willst du aber nicht versuchen, dein Leben zu retten, indem du diese Reise nach Colorado Springs machst. Da muß man ja den Eindruck gewinnen, daß du überhaupt nicht mehr an deinem Leben interessiert bist. Irre ich mich, oder willst du tatsächlich sterben? Das kann ich nicht glauben, nicht nach allem, was du hinter dich gebracht hast, wie du gekämpft und dich selbst nicht von einem gierig lauernden Tod hast unterkriegen lassen. Und jetzt erzählst du mir, daß du keine Lust mehr hast. Gerade du, der niemals eine Sache von vornherein als sinnlos oder hoffnungslos angesehen hat? So schnell kann ein Mensch doch nicht seine grundlegende Einstellung zum Leben ändern."

"Warum nicht?"

"Machst du es dir da nicht zu einfach? – Jess, Resignation war für dich schon immer ein Fremdwort. Erzähl mir nicht ausgerechnet jetzt, daß es deine neue Lebensphilosophie ist. Das kaufe ich dir beim besten Willen nicht ab."

"Hast du dir schon einmal überlegt, daß es einfach nur Angst vor einem schleichenden Tod ist, der mich hier vor den Augen meiner Mitmenschen langsam zerfrißt? Mir graut davor, wenn ich mir vorstelle, irgend jemandem – egal wem; ob das nun du oder Daisy oder jemand Fremdes ist – zur Last zu fallen und mich dabei womöglich dermaßen zu verändern, daß ich mich selbst nicht mehr erkenne. Ob du es glaubst oder nicht, aber dann lass' ich mich lieber bei einem möglichen Überfall auf diesen Geldtransport erschießen oder jag' mir – wie du gemeint hast – am besten gleich selber 'ne Kugel durch den Kopf. Daß wir uns nicht mißverstehen! Ich habe keine Angst vorm Tod, aber ich habe Angst davor, so unwürdig zu verrecken. Jedem kranken Tier räumt man da mehr Rechte ein und erlöst es vorher von seinen Qualen."

"Du scheinst zu vergessen, daß wir hier nicht von einem Tier reden, sondern von dir. Wenn das für dich kein Unterschied ist – für mich schon! Und zwar ein gewaltiger!"

"Dann ist es halt einer. Nur – was habe ich davon?"

Slim starrte ihn entgeistert an. Mit dieser Kaltschnäuzigkeit hatte er nicht gerechnet. Da lag soviel Gleichgültigkeit in der Stimme des Freundes, daß er sich fragen mußte, ob dies tatsächlich derselbe Mann war, den er seit über acht Jahren kannte, mit dem er bisher alles in brüderlicher Kameradschaft geteilt hatte. Sollte ihn diese furchtbare Tragödie so verändert haben? War seine bisher positive, ja, optimistische Lebenseinstellung, die er während dieser ganzen Zeit so bewundert hatte, nur falsche Makulatur? Oder verriet diese plötzliche phlegmatische Dickfelligkeit tatsächlich seine Angst, seinem Schicksal machtlos ausgeliefert zu sein?

Ein Blick in seine Augen, und Slim wußte Bescheid. Sie hatten genau den gleichen Ausdruck wie damals, als Jess ihm nach einem fiebrigen Alptraum gestand, Angst zu haben und nicht zu wissen, wovor oder vor wem. In ihnen lag jener stumme Schrei der Verzweiflung, der inständigen Bitte nach Hilfe, der Angst vor dem ohnmächtigen Ausgeliefertsein an einen übermächtigen Gegner, gegen den er zwar allein kämpfen mußte, aber sich nur mit Unterstützung seines besten Freundes behaupten konnte. Offen blieb nur die Frage, was er mehr fürchtete: einen qualvollen Tod oder sich selbst, den Kampf oder das eigene Versagen, seine Unzulänglichkeit oder gar die eigene Courage.

"Jess, sag mir eines: was um alles in der Welt hindert dich daran, diese Chance, die sich dir da bietet, zu nutzen? Warum willst du sie nicht wahrnehmen? Warum?"

"Weil es in meinen Augen keine richtige Chance ist, sondern nur ein Aufschub, deshalb!"

"Es könnte aber genausogut deine Rettung sein." Slim beugte sich, mit beiden Ellbogen auf die Platte gestützt, weiter über seinen Schreibtisch. Irgendwie hatte er das Gefühl, der harte Verputz begann langsam zu bröckeln. Die ersten Risse glaubte er jedenfalls schon zu erkennen. "Sicher, es gibt keine Garantie dafür, daß dieser Tyler dir helfen kann. Dann hast du halt, ziemlich brutal ausgedrückt, Pech gehabt und obendrein Recht behalten. Aber es wäre bei Gott nicht auszudenken, wenn er dir nur deshalb nicht helfen könnte, bloß weil du die Chance nicht wahrgenommen und deshalb verpaßt hast, oder ich es zugelassen habe, daß du sie einfach ignorierst. Das würde mich bis an mein Lebensende verfolgen. Das würde mich sogar schlimmer bedrücken als meine Mitschuld an dem Ganzen."

"Jetzt fang nicht wieder diese Leier an!"

"Ich sollte es vielleicht tun, damit du endlich zur Vernunft kommst. Hör endlich auf, dich selbst so zu quälen! Wenn du das nicht kannst – nun gut! Aber merkst du nicht, daß es für deine Mitmenschen eine noch schlimmere Tortur ist, deine selbstzerstörerischen Ansichten zu ertragen? Deine unausgegorene Wankelmütigkeit dir selbst gegenüber ist kaum zum Aushalten. Auf der einen Seite schreist du um Hilfe, aber auf der anderen Seite machst du es jedem unmöglich, es auch nur zu versuchen, dir beizustehen. Ich weiß, daß du Furchtbares durchmachst und wahrscheinlich noch Schlimmeres durchmachen wirst – von dem, was bereits hinter dir liegt, ganz zu schweigen! Aber denkst du, für mich oder Daisy und Mike ist das alles nur eine Kleinigkeit? Es ist für uns gleichermaßen schlimm." Slim machte eine kurze Pause, in der er den Freund eindringlich ansah und wartete, ob und wie er reagierte. Aber Jess hüllte sich in tiefes Schweigen, was der Rancher als weiteres Zeichen einer beginnenden Zugänglichkeit deutete. "Merkst du denn gar nicht, was du dir und uns mit deinem urplötzlichen schwermütigen Nihilismus antust? Wenn du dich wider deine Natur aufgeben willst oder gar bereits aufgegeben hast, dann ist das schlimm genug, aber letztendlich deine Entscheidung, die du offensichtlich aus reiner Bequemlichkeit getroffen hast. Verlang jedoch nicht von mir, daß ich das billige oder gar tatenlos mit ansehe, wie mein bester Freund vor die Hunde gehen will und mir dabei einredet, daß seine Selbstaufgabe das beste für alle ist, ausgerechnet mein bester Freund", wiederholte Slim, um den Dolch noch tiefer zu stoßen, "der mir vor langer, langer Zeit beibrachte, niemals aufzugeben, solange ein Funken Hoffnung besteht, zu kämpfen, wofür es sich zu kämpfen lohnt, auch und gerade wenn es um das eigene Leben geht, es nicht leichtfertig wegzuwerfen. Wo ist nur dein Optimismus geblieben, dein Kampfgeist, dein Lebenswille, dein Selbstvertrauen? Machst du es dir nicht zu einfach, indem du den Tod suchst, anstatt den Kampf um dein Leben weiterzuführen? Verdammt, was muß ich dir denn noch sagen, damit du endlich aus deiner Lethargie aufwachst?" war Slim anscheinend am Ende seiner Weisheit und auch seiner Geduld angelangt; er wußte wirklich nicht mehr weiter.

Die Antwort war zunächst ein mittlerweile entsetzlich ausuferndes Schweigen. Es dauerte endlose Minuten, in denen Jess verdrossen vor sich hin starrte.

"Du brauchst nichts mehr zu sagen", murmelte er auf einmal vor sich hin, so leise, daß er kaum zu verstehen war. "Du hast alles gesagt, mehr sogar, als jeder andere hätte sagen dürfen." Aufatmend lehnte er sich zurück und schloß wieder die Augen. "Verflucht noch mal! Du hast recht! Du hast ja recht!" wiederholte er mit bewegter Stimme.

"Und ich hatte schon befürchtet, gegen eine undurchdringliche Wand von Verbohrtheit zu reden", seufzte Slim erleichtert auf, was außer ihm jedoch niemand beachtete. Es war ihm egal, denn er sagte es sowieso mehr zu sich selbst.

Währenddessen schien Jess in einem stummen Gebet zu verharren, bis ihn ein schon einige Zeit unterdrücktes Keuchen aus der Versunkenheit riß. Obwohl es nicht so schlimm war, reichte es, daß er augenblicklich in die Wirklichkeit zurückfand.

Slim beobachtete ihn besorgt, voll ehrlichem Mitgefühl, schmerzerfüllt über die Erkenntnis, daß er ihm im Grunde gar nicht helfen konnte, untätig zusehen zu müssen, wie er litt, sich quälte, sowohl körperlich als auch seelisch. Jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, ihn schon jemals in einem solch zerfahrenen Zustand gesehen zu haben. Als Jess mit müden Augen aufblickte, stand totale Erschöpfung in ihnen. Er schien in jeder Beziehung völlig ausgelaugt, am Ende seiner Kräfte zu sein.

"Slim, ich habe Angst!" bekannte er leise mit einer brüchigen Stimme, so rauh wie ein Reibeisen. "Ich habe eine Höllenangst vor genau alledem, was du gesagt hast."

"Ich weiß. Schließlich bin ich dein Freund. Es wäre ein wahres Armutszeugnis, wenn ich es nicht gemerkt hätte, und ich würde dir kein Wort glauben, wenn du das geleugnet hättest."

"Vor dir kann man anscheinend nichts verbergen."

"Wolltest du das denn?"

"Nein!" Zum Nachdruck schüttelte Jess den Kopf. "Nein, warum sollte ich? Ich glaube nicht, daß es eine Schande ist, so etwas vor einem Freund zuzugeben."

"Allmählich fängst du wieder an, so zu reden, wie ich es von dir gewöhnt bin. Einen Augenblick lang fürchtete ich, dich verloren zu haben."

"Keine Sorge, so schnell und so einfach wirst du mich nicht los." Jess grinste verstohlen, aber seine Augen behielten ihren traurig-ernsten Ausdruck.

"Dann bin ich ja beruhigt. Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir gestehe, daß auch ich Angst habe."

"Nicht viel, aber es beruhigt mich komischerweise ebenfalls."

"Vielleicht schaffen wir es, mit diesem Makel gemeinsam das zu meistern, was uns die Zukunft bringen wird."

"Vorausgesetzt, es gibt überhaupt eine."

"Es gibt immer eine Zukunft, Jess! Wie sie aussehen wird, liegt nur an uns."

"Kommt mir irgendwie bekannt vor. Könnte fast von mir sein."

"Zugegeben", schmunzelte Slim vertrauensvoll, "das ist von dir!"

Noch ehe Jess etwas darauf erwidern konnte, klopfte es etwas zaghaft an der Tür und Mike streckte den Kopf zu einem schmalen Spalt herein.

"Jess, spielst du nicht noch ein bißchen Dame mit mir? Ich lass' dich auch gewinnen."

"Ist das nicht großartig!" fuhr Jess zu ihm herum. Von seiner Zerrüttetheit ließ er sich dem Jungen gegenüber nicht das geringste anmerken. "Das ist doch ein Bengel! Hast du da Töne! Er läßt mich auch gewinnen!" wandte er sich kopfschüttelnd an den Freund.

Slim, sichtlich erleichtert über seinen Stimmungswandel, spielte das Spiel mit, zuckte arglos mit den Schultern und meinte nur:

"Aus ihm spricht ganz und gar dein Pflegesohn."

"Sag doch, Jess! Spielen wir noch ein bißchen? Nur ein Spiel!"

"Nein, Mike, heute nicht", erwiderte Jess trotz seiner etwas besseren Laune ziemlich knapp, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, sein Ablehnen genauer zu erklären.

"Und du auch nicht, Slim?" wandte sich Mike hoffnungsvoll an den Rancher, den er jedoch ebenfalls nicht für eine Partie gewinnen konnte.

"Nein, Mike." Im Gegensatz zu seinem Partner fügte er hinzu: "Weißt du, Jess und ich wollen uns noch ein wenig unterhalten."

"Na schön."

"Hast du denn deine Schularbeiten alle gemacht?" wollte Jess statt dessen wissen.

Das war wirklich ein Wink, nicht mit dem üblichen Zaunpfahl, sondern schon beinahe mit einem Telegrafenmast. Jess wußte genau, daß er sie gemacht hatte, hatten sie sie am Nachmittag doch gemeinsam in Angriff genommen.

"Du hast mir doch selber dabei geholfen. Na ja, macht nichts, dann geh' ich eben zu Bett und les' noch ein bißchen. Aber du kommt doch noch und sagst mir gute Nacht?"

"Natürlich", versprach Jess. "Und, Mike! Lies bitte nicht wieder irgendwelche Gruselgeschichten von deinem einäugigen Piratenkapitän vorm Einschlafen. Nachher kriegst du bloß wieder Alpträume."

"Nein, heute nicht. Heute les' ich von Sir Christopher."

"Sir Christopher? Wer ist denn das?"

"Das Burggespenst von Richwood Castle."

"Du lieber Himmel! Das hört sich ja noch schlimmer an!"

"I wo! Sir Christopher ist ein liebes Gespenst. Er lebt in einem alten Schloß in Schottland."

"In Schottland?"

"Ja, da laufen die Männer alle in karierten Röcken herum."

"Das muß ja lustig aussehen."

"Ja, so wie Sir Christopher! Wenn du willst, les' ich dir von ihm vor. Aber da mußt du dich beeilen, sonst schlafe ich vielleicht schon."

"Na, dann geh schon vor. Ich komme gleich nach. Fang schon mal an mit Lesen."

"Aber ganz bestimmt kommst du!"

"Ja, du Nervensäge!"

"Gute Nacht, Slim!" wandte sich Mike an den Rancher, der schmunzelnd dem Gespräch gefolgt war.

"Gute Nacht, mein Junge, und sag Sir Christopher, er soll aufpassen, daß er sich in seinem Rock nicht erkältet."

Mike zog eine Grimasse und verschwand.

"Warum kann er eigentlich nicht was von Cooper lesen oder so was in der Richtung wie andere Kinder auch? Sir Christopher aus Schottland im Faltenröckchen! Da stehen einem ja die Haare zu Berg!"

"Wart nur, wenn er erst anfängt, sich für Mädchen zu interessieren, gerät sein Burggespenst schnell in Vergessenheit."

"Sicher, aber da werde ich erst so richtig schlaflose Nächte kriegen. Wahrscheinlich rege ich mich dann über seinen ersten Liebeskummer mehr auf als er."

"Jetzt redest du wieder wie ein richtiger Vater."

"Ich weiß. Es fragt sich nur, ob ich alt genug werde, seine erste große Liebe zu erleben. Wahrscheinlich reicht es nicht einmal zu erfahren, ob sich Sir Christopher in seinem Faltenröckchen erkältet oder nicht", wurde Jess mit einem Schlag wieder todernst.

"Bist du es dem Jungen nicht schuldig, deine Chance in Colorado Springs zu nutzen? Wenn du es schon für niemanden sonst tun willst, dann tu es wenigstens ihm zuliebe."

"Und was ist, wenn ich nicht zurückkomme?"

"Was ist, wenn du nur nicht zurückkommen kannst, weil du gar nicht gegangen bist? Was soll ich ihm dann sagen? Denkst du, für ihn ist es damit getan, daß du bei Wendridge alles geregelt hast? Sicher, Mike würde mich als Vormund zur Not akzeptieren, aber er braucht den Mann, dessen Namen er trägt! Nur er kann ihm diese väterliche Geborgenheit geben, nicht ich. Ich bin nur ein guter Onkel für ihn, allenfalls vielleicht so etwas wie ein großer Bruder. Du bist mehr für ihn. Du bist nicht nur Ersatz für einen unbekannten Vater. Du bist sein Vater. Er braucht dich! Deshalb mußt du den Kampf um dein Leben weiterführen. Auch wenn du am Ende verlieren solltest, darfst du trotzdem niemals aufgeben. Mike zuliebe mußt du weiterkämpfen. Nur seinetwegen bist du doch überhaupt noch am Leben, oder etwa nicht?"

"Ja, wahrscheinlich – ich bilde es mir zumindest ein", gab Jess mit gesenktem Blick zu. "Meinst du wirklich, daß dieser Professor Tyler mir helfen könnte?"

"Ich hoffe es! Ich bete zu Gott, daß er es kann, wenn ich ansonsten auch nicht viel mit dem lieben Gott zu schaffen habe. Gib Tyler und dir die Chance, es zu beweisen – oder wenigstens zu versuchen!"

"Wird mir nicht viel anderes übrigbleiben, was?"

"Heißt das, du gehst?"

"Ich werde es wohl müssen, denn ich fühle wahrhaftig, daß ich hier nicht mehr älter werden kann. Ich fürchte sogar, daß es nicht bis Weihnachten dauern wird, bis ich … bis ich unter der Erde liege", vollendete er doch den Satz, obwohl er zuerst lieber abbrechen wollte; aber es hatte keinen Sinn, um die Tatsachen herumzureden. Dadurch wurden sie nicht aus der Welt geschafft. "Seit ein paar Tagen merke ich, daß es unaufhaltsam zu Ende geht."

"Du hast starke Schmerzen, hm?"

"Ja, mal mehr, mal weniger, aber seit ein paar Tagen hören sie überhaupt nicht mehr auf. Und der Husten wird immer schlimmer. Slim, es dauert keine vier Wochen mehr."

"Ein Grund mehr, dich so schnell wie möglich zu entscheiden."

"Wenn ich gehe, tust du mir dann einen Gefallen?"

"Wenn ich kann – keine Frage!"

"Falls mir dieser Professor Tyler auch nicht helfen kann und ich in Colorado Springs sterben sollte, holst du mich dann heim und … und begräbst mich auf der Ranch? Bitte!"

"Jess, eigentlich will ich dich nirgendwo begraben, weder hier noch sonstwo. Aber wenn es dich beruhigt, wird mir dein Wunsch Befehl sein, wenn es irgendwann einmal in weiter Zukunft soweit sein sollte."

"Danke!" Das Wort war ein einziges zufriedenes Aufseufzen. "Und bitte versprich mir noch etwas! Egal, was geschieht, mach dir um Gottes willen keine Vorwürfe! Ich weiß genau, daß du dir einen Großteil Schuld an dem Ganzen selbst gibst. Immer noch, auch wenn du es schon lange außer heute abend nicht mehr ausdrücklich gesagt hast. Vergiß nicht, dich trifft nicht mehr oder weniger Schuld als in deinen Augen mich selbst. Versprich mir, daß du zumindest versuchen wirst, das einzusehen, und auch Mike gegenüber niemals etwas in der Richtung erwähnen wirst. Er würde es nicht verstehen, sowenig wie ich es verstehe."

"Das kann ich dir nicht versprechen!"

"Dann versprich es mir wenigstens in bezug auf Mike!"

"In Ordnung, das verspreche ich dir!" kam es nach einigem Zögern. "Nimm es mir nicht übel, aber jetzt redest du wieder, als gäbe es aus Colorado Springs kein Zurück mehr."

"Nein!" widersprach Jess ruhig; er wirkte erstaunlich gefaßt, beinahe gelassen, aber seine müden Augen waren voller Melancholie. "Ich will nur vorher alles geregelt wissen, weil mir später keine Zeit, keine Gelegenheit mehr bleibt. Ich werde gehen, um für mein Leben zu kämpfen. Genausogut weiß ich jedoch, daß dieser Kampf ziemlich aussichtslos sein wird und ich ihn verlieren werde. Trotzdem werde ich ihn aufnehmen – für Mike, für dich und Daisy –, auch auf die Gefahr hin, daß es eine Enttäuschung wird, werden muß."

"Das glaube ich nicht. Ich bin sicher, in zwei, drei Monaten wissen wir alle mehr."

"Es wird nicht so lange dauern. Und das, was wir dann wissen werden, wird nichts anderes sein, als wir heute schon wußten."

"Hoffentlich irrst du dich!"

"Ja, das wünsche ich mir auch."

"Wann wirst du Dan Bescheid sagen? Gleich morgen?"

"Nein."

"Jess, du darfst nicht mehr so lange warten!"

"Ich weiß, aber ich muß vorher erst mit Mike sprechen. Das kann ich heute abend nicht mehr. Ich fürchte, dazu fehlt mir die nötige Kraft. Ich hoffe, daß sich am Wochenende eine Gelegenheit bietet."

"Das hoffe ich auch, denn du hast wirklich keine Zeit mehr zu verlieren."

"Mach dir darüber keine Gedanken. Spätestens am Montag werde ich mit Dan reden. Und Daisy muß ich es auch irgendwie beibringen. Obwohl ich bei ihr das Gefühl habe, daß sie es längst weiß, zwar nicht die Sache mit Colorado Springs, aber das andere. Es würde mich sehr wundern, wenn es nicht so wäre. Sie wäre sonst nicht die hervorragende Krankenschwester, für die ich sie bisher gehalten habe."

"Dann kommt ja dieses Wochenende einiges auf uns zu."

"Das Schlimmste steht mir noch bevor."

"Das wäre?"

"Lebwohl zu sagen."

"Auf Wiedersehen, Jess, nicht Lebwohl", korrigierte Slim sofort.

"Vergiß nicht, die Chancen stehen bestenfalls eins zu vier. Es ist anzunehmen, daß es ein Abschied für immer sein wird. So gesehen, wünschte ich, ich hätte es schon hinter mir – in jeder Beziehung."

Slim wollte ihn lieber nicht fragen, was genau er damit meinte. Er wäre sowieso nicht mehr dazu gekommen, denn es klopfte auffällig laut an der Tür, die seit Mikes kurzer Störung einen schmalen Spalt offengestanden hatte, ohne daß es einem von ihnen aufgefallen wäre.

Was sie auch nicht wußten, war, daß Daisy, die kurz nach Mikes Rückzug zu Sir Christopher sich erkundigen wollte, ob noch jemand eine Tasse Kaffee möchte, das meiste des folgenden Gespräches mehr oder weniger unfreiwillig mitgehört hatte.

Die Stimmen hinter der angelehnten Tür klangen so ernst und leise, daß sie ihre Hand in dem Augenblick zurückzog, als sie gerade nach dem Türknopf greifen wollte. Dann hörte sie Jess irgend etwas sagen von alt genug werden und zu erleben und Slim erwiderte etwas von schuldig sein und Chance in Colorado Springs zu nutzen. Von da an hörte sie fast jedes Wort mit, auch wenn sie manchmal Schwierigkeiten hatte, besonders Jess zu verstehen, der sehr verhalten sprach. Dafür klang seine Stimme um so bedrückter, zitterte sogar hin und wieder.

Die Frau wollte gewiß nicht lauschen, aber sie konnte sich von dem Gespräch beim besten Willen nicht losreißen. Es war ein regelrechter Zwang, der sie da an der nicht geschlossenen Tür hielt, die Mike absichtlich hatte offenstehen lassen, weil er annahm, Jess würde ihm bald in sein Zimmer folgen.

Jetzt wünschte sich Daisy, nicht auf die Idee gekommen zu sein, noch einmal wegen des Kaffees fragen zu wollen, obgleich sie auf der anderen Seite froh war, nun endlich Bescheid zu wissen. Sicher, Jess hätte gewiß irgendwann mit ihr gesprochen, aber selbst von Slim hätte sie nie alle Einzelheiten erfahren, die sie so zwar auch nicht alle kannte, dafür jedoch Jess' düstere Gedanken, die ihr die Tränen in die Augen trieben.

Als das Gespräch einen Punkt erreichte, an dem sie es nicht mehr länger ertragen konnte, wischte sie sich hastig mit ihrer Schürze übers Gesicht und wollte es auf der Stelle beenden, anstatt sich diskret zurückzuziehen. Dabei hoffte sie, daß ihre leicht geröteten Augen sie nicht verrieten. Sicherlich würde ihr das gedämpfte Licht der Petroleumlampe helfen. Allerdings fragte sie sich, für wie lange sie ihr Geheimnis des Wissens für sich behalten konnte.

Ihr war jämmerlich zumute, als sie laut klopfte und sich anschickte, so zu tun, als käme sie gerade aus der Küche.

"Slim! Jess!" rief sie betont arglos, während sie die Tür aufdrückte – wenn sie es selbst tat, merkte wenigstens keiner der beiden Männer, daß sie offenstand –, daß es fast auffiel. "Möchte jemand von Ihnen noch eine Tasse Kaffee? Sie waren ja so sparsam heute abend."

Sie wußte, daß sie sich einen ungelegenen Moment für diese Frage ausgesucht hatte, aber sie spürte deutlich, wie sie mit ihrem überraschenden Auftritt die unerträgliche Spannung in dem trauten, wie eine kleine Bibliothek wirkenden Zimmer löste.

"Danke, Daisy, für mich nicht. Ich hatte schon meine drei Tassen. Eine mehr und ich mach' die ganze Nacht kein Auge zu", lehnte Slim ab. Er bemerkte nicht ihre leicht geröteten Augäpfel, wohl aber, daß Jess die Frau ein paar Sekunden zu lange forschend musterte, ehe er antwortete.

"Für mich gilt das gleiche, obwohl ich heute nur zwei Tassen hatte."

"Ich habe Sie hoffentlich nicht bei etwas Wichtigem gestört?"

"Nein, wir haben nur ein wenig geplaudert."

"Ich wollte sowieso gerade gehen und nach Mike und Sir Christopher sehen", schwindelte Jess und erhob sich schwerfällig.

"Sir Christopher?"

"Ja, Mikes Nachtgespenst aus Schottland. Trägt ein Faltenröckchen", erklärte er so sachlich, daß es schon wieder neckisch klang.

"Ein Faltenröckchen?"

"Ja, tragen alle Männer in Schottland." Daisy sah ihn von oben bis unten an, wie er einen Augenblick lang neben dem Ledersessel stand und sich auf die hohe Rückenlehne stützte, um sein leichtes Schwanken besser verbergen zu können. "Sehen Sie mich nicht so an, Daisy! Ich bin kein Schotte."

"Ihnen würde ein Faltenröckchen auch gar nicht stehen. Ich habe Sie eigentlich mehr deshalb angesehen, weil Sie so unsicher auf den Beinen sind."

"Keine Angst, ich bin nicht betrunken."

"Das habe ich auch nicht angenommen. Aber Sie sehen sehr müde aus. Geht es Ihnen nicht gut?"

"Machen Sie sich keine Sorgen!" Im Vorbeigehen berührte Jess sie kurz am Arm. "Es wird schon wieder."

Der zweite Teil seiner Antwort paßte mehr zu dem, was sie gehört hatte, und auch die Art, wie er es sagte, machte die Frau stutzig. Ob er etwas bemerkt hatte? Ihm traute sie es jedenfalls zu, hatte er doch ein untrügliches Gespür für solche Dinge. Verwirrt sah sie ihm nach, wie er steifbeinig zur Tür ging.

"Jess, was ist denn?" warf sie ihm hinterher, um ihm eine Möglichkeit zu geben, sich ihr anzuvertrauen; aber er wich nur nichtssagend aus.

"Nichts weiter! Ich bin nur steif vom Herumhocken. Mir fehlt die Bewegung, das ist alles."

Er verließ das Zimmer, um nach oben zu gehen und nach Mike zu sehen. Plötzlich hatte er das Gefühl, ihn schon viel zu lange warten zu lassen.

"Slim, was hat er denn?" wandte sich Daisy an den Rancher, der gerade nach dem Herdenbuch greifen und wenigstens so tun wollte, als hätte er dringende Eintragungen vorzunehmen.

"Was soll er schon haben?" antwortete Slim etwas zu abweisend; diese Art paßte nicht zu ihm, aber er wollte nicht in Gefahr laufen, sich von der Frau festnageln zu lassen. Außerdem wollte er seinem Partner nicht vorgreifen. "Sie haben ihn doch gehört."

"Sicher!" Sie kam näher an den Schreibtisch, vergewisserte sich jedoch durch einen Blick über die Schulter davon, daß Jess tatsächlich den Raum verlassen hatte, ehe sie weitersprach. Sie hielt es nicht länger aus und mußte ihre Karten auf den Tisch legen. "Ich habe aber noch mehr gehört?"

"Mehr?"

Sie wollte ihn schon anfahren, daß er nicht so scheinheilig tun sollte; aber die Situation verlangte mehr Taktgefühl.

"Ja, die Tür war nicht ganz geschlossen. Ich wollte gewiß nicht lauschen, aber ich konnte einfach nicht …" Jetzt begann ihre Stimme zu zittern. Beinahe hätte sie die Fassung verloren. "Slim, ich habe gehört … Himmel, ich wünschte, ich hätte es nicht gehört!"

"Dann wissen Sie Bescheid?"

Sie nickte stumm mit glasigen Augen. Dann schwankte sie zu dem Sessel, von dem Jess aufgestanden war, und sank schluchzend hinein. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Je mehr sie es versuchte, desto mehr verspürte sie den Drang ihrer Tränen, aus den Augen zu quellen.

Slim kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ließ sich bei ihr auf der Sessellehne nieder, schlang den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich, um sie zu trösten.

"Bitte, hören Sie auf zu weinen! Das hilft doch niemandem."

"Ich weiß, aber vielleicht hilft es wenigstens mir", sie schneuzte sich heftig, "mich mit dem Gedanken vertraut zu machen …" Sie brach ab. Ihre Stimme versagte ihren Dienst.

Notgedrungen mußte Slim einsehen, daß es das beste war, sie sich ausweinen zu lassen. Es dauerte eine lange Weile, ehe sie sich endlich etwas beruhigte, sich kräftig schneuzte und die Tränen aus dem Gesicht wischte.

"Entschuldigen Sie bitte, ich wollte mich nicht gehenlassen", schniefte sie wie jemand, der unter einem starken Katarrh litt, "aber ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Das … das war einfach zuviel!"

"Deshalb brauchen Sie sich nicht zu schämen. Denken Sie, in mir sieht es anders aus? Ich könnte glatt einen Heulkrampf kriegen, wenn ich bloß anfange, darüber nachzudenken, obwohl ich so etwas von Anfang an befürchtet habe. Und das schlimme ist, Jess hat es die ganze Zeit geahnt, wenn nicht sogar gewußt, ohne daß es ihm jemand sagen mußte."

"Ja, seine Andeutung neulich in der Nacht …" Daisy sah an dem großen Mann neben sich auf, der ein ziemlich betretenes Gesicht machte. Etwas zaghaft legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm, wie um ihn auf sich aufmerksam zu machen. "Slim, was genau hat der Arzt gesagt? Wird Jess … ich meine, wird er … wird er … sterben?"

Slim atmete tief auf. Seine Stimme zitterte, als er antwortete.

"Wenn er hierbleibt, mit Sicherheit."

"Was soll das heißen, wenn er hierbleibt?"

"Hier ist es zu feucht und zu kalt. Dan meint, wenn er in ein anderes Klima käme, könnte er es vielleicht schaffen. Aber hier würde er den Winter keinesfalls … überleben."

Der Druck ihrer Finger auf Slims Arm verstärkte sich, wurde fast zu einem Krampf.

"Aber wo soll er denn hin? Ich habe etwas von Colorado Springs gehört. Stimmt das?"

"Ja."

"Aber da ist es über Winter doch auch kalt."

"Schon, aber die Luft ist klar und trocken. Außerdem hat Doc Higgins einen alten Studienfreund ausfindig gemacht, der sich auf so etwas spezialisiert hat und da unten ein Sanatorium betreibt. Dan meint, wenn Jess jemand helfen könnte, dann nur dieser Professor Tyler."

"Dann muß er auf dem schnellsten Weg dorthin! Slim, er wird doch gehen, nicht wahr?"

"Ich denke, ja, obwohl er zuerst nicht besonders davon begeistert zu sein schien."

"Aber wieso denn nicht?"

"Ich weiß es nicht, Daisy." Slim zuckte ein wenig ratlos mit den Schultern. "Aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen. Ich glaube, er wollte lieber …" Er verschluckte den Rest des Satzes. Zu seinem Erstaunen beendete Daisy ihn.

"… lieber hier sterben? Sagen Sie, ist es das, was er … was er beabsichtigte?"

Slim biß sich auf die Unterlippe und nickte schwer.

"Ich glaube, ja. Er wollte, daß ich ihn …"

"Ich habe es gehört!" fiel sie ihm ins Wort. "Bitte sprechen Sie es nicht aus! Es tut so schon weh genug."

"Wir sollten uns vielleicht nicht so verrückt machen", lenkte er plötzlich ein, womit er nicht nur ihr, sondern sich selbst gleichermaßen Zuversicht einreden wollte. "Bestimmt wird alles gut, wenn er den Rat des Arztes befolgt."

"Glauben Sie das?"

"Ich hoffe es."

"Soll ich Ihnen etwas sagen? Jess weiß genau, daß er auch in Colorado Springs nicht gesund werden kann. Er geht nur dorthin, damit wir es nicht … Slim, er wird nicht zurückkommen!"

"Verdammt, Daisy, jetzt reden Sie genauso miesepeterig wie er! Dabei ist es gar nicht allzu lange her, daß Sie mir meine Schwarzseherei austreiben wollten."

"Ich weiß, aber da wußte ich nicht, was ich heute weiß. Selbst wenn ich das vorhin nicht gehört hätte, wüßte ich, daß er sterbenskrank ist. Ich mußte schon zu oft den Tod kommen sehen, als daß ich nicht wüßte, wie er sich ankündigt. Die ganze Zeit habe ich gehofft, Jess wäre stark genug, ihn zu besiegen, aber er hat einfach keine Kraft mehr. Er wird jeden Tag schwächer, und es wird gewiß nicht mehr lange dauern, bis er vor seinem Gegner kapitulieren muß. Das weiß er, deshalb wird er gehen. Er will es uns ersparen."

"Daisy, ich sollte es nicht zugeben, aber ich fürchte, Sie haben recht", gestand Slim. "Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß dieser Professor Tyler etwas für ihn tun kann. Und wenn nicht, kann er ihm vielleicht wenigstens helfen, daß er es leichter haben wird als hier. Hier quält er sich doch nur herum, vergeudet seine Kraft damit, es vor uns zu verstecken."

"Ich weiß. Gerade vorhin hat er so getan … Slim, er muß fürchterliche Schmerzen haben. Er versucht das zu verbergen, aber seine Augen verraten ihn. Vielleicht kann dieser Professor wenigstens die etwas lindern. Damit wäre sogar mir ein wenig geholfen; denn es tut mir so entsetzlich weh, wenn ich … Slim, er muß wieder gesund werden!" stieß sie plötzlich hervor. "Hören Sie!" Sie begann, heftig an seinem Arm zu zerren und schüttelte ihn energisch. "Er muß! Mike … wir brauchen ihn doch!"

"Ja, deshalb hoffe ich, daß er nicht nur nach Colorado Springs geht, um nicht vor unseren Augen … um nicht wiederzukommen, sondern um tatsächlich um sein Leben zu kämpfen, wie er sagte. Wenn er dabei weiterhin so verbissen ist wie die ganze Zeit … Daisy, dann hat er meiner Meinung nach ganz gute Aussichten. Er darf sich nur nicht aufgeben. Dann schafft er es. Das weiß ich, das heißt, ich hoffe es von ganzem Herzen, sonst würde ich den besten Freund verlieren, den ich jemals hatte und haben werde. Und das möchte ich nicht – nicht auf diese Weise und auch auf keine andere!"

"Können wir ihm denn nicht irgendwie helfen?"

"Ich fürchte, nein. Das einzige, was wir tun können – müssen! –, ist, es ihm nicht zusätzlich unnütz schwerer zu machen. Es sind Höllenqualen für ihn. Ich meine damit nicht allein seine körperlichen Schmerzen. Die muß er leider selbst ertragen."

"Ich weiß, was Sie meinen", nickte sie schwer. "Es sind auch Höllenqualen für uns", fügte sie leise mit weinerlicher werdendem Ton hinzu.

"Wem sagen Sie das! Ich frage mich nur, wie Mike das alles verkraften soll."

"Ich habe gehört, daß Jess bei Mr. Wendridge war."

"Ja, wegen der Vormundschaftsregelung im Falle seines …" Er verschluckte das Wort in dem Moment, als es über seine Lippen kommen wollte. "Die Sache ist geklärt. Eine Sorge weniger, die er … die wir haben."

"Sie waren heute morgen bei ihm, nicht wahr?"

"Ja, ich habe die Gegenzeichnung geleistet. Damit ist sichergestellt, daß der Junge auf alle Fälle hierbleiben kann, egal, ob … Herrgott, Daisy!" fuhr Slim niemand Bestimmtes an, sprang von der Armlehne auf und stampfte mit polternden Schritten auf und ab. "Was red' ich denn da! Natürlich wird er von Colorado Springs zurückkommen! Wie kann ich nur einen Augenblick daran zweifeln! Diese Sache bei Wendridge wird hoffentlich überflüssig gewesen sein. Er kann doch nicht einfach die ganze Verantwortung auf mich abwälzen, nur damit er seelenruhig bei diesem Professor sterben kann!"

"Slim!" wies sie ihn energisch zurecht und starrte ihn entgeistert an. "Das ist nicht Ihr Ernst! Wie können Sie so etwas von Jess behaupten!"

"Ich …", wollte er aufbrausen, drehte sich abrupt zu ihr um und sank merkwürdig in sich zusammen, wie ein Ballon, aus dem ein Teil der Luft entwich. Kopfschüttelnd griff er sich an die Stirn. "Tut mir leid", entschuldigte er sich, weniger bei ihr als unbewußt bei dem nicht anwesenden Freund. "Himmel, wie komm' ich dazu, so etwas zu sagen? Ich sollte mich schämen, so etwas überhaupt zu denken. Das muß die Verzweiflung sein." Verwirrt von seinen beinahe diffamierenden Gedanken über ausgerechnet den Menschen, der ihm so nahestand, wie es ein Bruder nicht könnte, fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht und durch die Haare. "Ich muß verrückt geworden sein, so etwas in den Mund zu nehmen."

"Sie sind sehr abgespannt, Slim. Da kann so etwas schon einmal passieren", versuchte sie ihm seine ausfallenden Worte nachzusehen.

Beschämt wandte er sich ab und stützte sich, ihr den Rücken zugekehrt, mit beiden Fäusten schwer auf die Schreibtischplatte.

"So etwas darf nicht passieren! Wie kann ich gerade ihm nur so etwas unterstellen? Dabei … dabei trifft mich selbst doch an allem die größte Schuld."

"Fangen Sie bitte nicht wieder von dieser unsinnigen Schuld an! Nicht jetzt!" beherrschte sie, im Moment sogar gefaßter als er. "In diesem Haus reichen die Sorgen auch ohne Ihre Selbstvorwürfe schon bis unters Dach. Daß Sie mich damit aufregen, braucht Sie nicht weiter zu bedrücken. Aber nehmen Sie bitte etwas mehr Rücksicht auf Jess. Sie wissen genau, wie er darüber denkt – mit Recht, kann ich nur sagen! Belasten Sie ihn damit nicht auch noch! Schließlich hat er schon genug zu tragen. Gerade eben haben Sie selbst gesagt, daß wir es ihm nicht noch zusätzlich schwerer machen dürfen. Gilt das für Sie etwa nicht?"

"Es gilt vor allem für mich", kam nach einigem Zögern die leise Antwort, daß Daisy ihn kaum verstehen konnte. Immer mehr verlor er ihr gegenüber seine gefaßte Haltung, je weiter die nackten Tatsachen in sein Bewußtsein vordrangen und die Realität zu nichts anderem als Realität wurde. "Manchmal denke ich, wir träumten alle nur", murmelte er unverständlich vor sich hin, "wir wären nur Zerrbilder in einem Alptraum und hätten es versäumt, im richtigen Augenblick aufzuwachen. Wenn ich es mir überlege, erscheint auf einmal alles so absurd, daß es gar nicht wahr sein kann. Und die größte Absurdität bin ich selber. Als Jess vorhin so unausgegoren herumgefaselt hat, nahm ich mir das unverschämte Recht heraus, ihn zurechtzuweisen. Und was mache ich jetzt? Ich quatsche noch schlimmeres Zeug zusammen. Das beste ist, wenn Sie nicht mehr hinhören."

Sie stand auf und trat neben ihn. Zaghaft legte sie ihm die Hand auf den Rücken, um ihm ihre Verbundenheit, ihr Verständnis und aufrechtes Mitgefühl zu zeigen, vielleicht auch, weil sie selbst einen Halt benötigte, weil es ihr guttat, in diesem Augenblick nicht allein zu sein.

"Slim, wir sollten eines nicht vergessen. Solange Jess lebt und bereit ist, für sein Leben zu kämpfen, wird es eine Hoffnung geben, egal, wie ernst oder aussichtslos die Lage sein sollte oder im Moment aussieht. Sicher, ich habe vorhin selbst nicht sehr optimistisch geklungen und bin es auch jetzt, ehrlich gestanden, nicht in dem Maße, wie ich es eigentlich sein sollte. Wahrscheinlich liegt das daran, daß ich in der Beziehung schon zu viele schreckliche Erfahrungen sammeln konnte und mußte. Es kann manchmal von Nachteil sein, wenn man über bestimmte Dinge zu gut Bescheid weiß." Sie griff nach seinem Arm und blickte den Mann durchdringend von der Seite her an, obwohl er ihr konsequent auswich. "Aber was ich auch sage oder tue oder weiß – eines ist gewiß: ich werde Jess niemals aufgeben! Dazu bedeutet er mir zuviel. Und Ihnen doch auch, denke ich!"

Ihre letzte Bemerkung wirkte wie ein Schlagwort, daß er den Kopf zu ihr herumriß und sie anstarrte wie einen Geist. Dann wurden seine Züge weicher, er tätschelte ihre Hand auf seinem Arm und versuchte sogar ein reichlich verunglücktes Lächeln.

"Mehr als irgend jemand sonst auf dieser Welt, das wissen Sie! Was meinen Sie, weshalb es mir so dreckig geht, weshalb ich mir diese Vorwürfe und Sorgen mache? Selbst wenn er mir nur ein Bruchteil dessen bedeutete, wie ich für ihn empfinde, könnte ich keine Ruhe finden. Wenn man mit einem Menschen schon so lange alles teilt, zählt er mehr als das eigene Leben. Ich habe es früher immer bedauert, keine Geschwister zu haben. Durch Jess darf ich erfahren, was Bruderliebe heißt. Ich weiß nicht, was wird, wenn ich ihn auf diese schreckliche Weise verlieren muß."

"Noch haben Sie … wir ihn nicht verloren. Und ich bete zu Gott, daß es nicht soweit kommt, nicht heute, nicht morgen, nicht hier und auch nicht in Colorado Springs."

"Vielleicht nützt es was, wenn ich Sie ein wenig dabei unterstütze."

Sie lächelte ihn traurig mit feucht schimmernden Augen an.

"Es kann gewiß nichts schaden. Ich nehme zwar nicht an, daß Gott schwerhörig ist, aber zwei Stimmen sind besser zu hören als eine."

"Ja, bestimmt!" Er hob den einen Mundwinkel und drückte nochmals ihre Hand auf seinem Arm. "Lassen Sie Jess trotz allem nicht merken, daß Sie Bescheid wissen, bis er sich Ihnen anvertraut. Sie wissen ja, wie empfindlich er sein kann. Wir sollten da vielleicht etwas zusätzliche Rücksicht auf ihn nehmen. Nicht daß wir etwas vor ihm zu verheimlichen suchten, aber er würde sich nur wieder in abstrusen Grübeleien verlieren."

"Machen Sie sich darüber keine Gedanken! Es wird mir zwar nicht leichtfallen, aber ihm zuliebe könnte ich Schlimmeres auf mich nehmen."

"Danke."

"Das ist nicht nötig!" mischte sich eine leise, nur allzu vertraute Stimme in ihrer beider Rücken ein.

Erschrocken starrten sie sich sekundenlang an und wandten sich dann gleichzeitig um. Jess stand im Rahmen der Tür, blaß und hager, von schwerer Krankheit gezeichnet, im Licht der Petroleumlampe noch gebrechlicher wirkend, obwohl er sich wie immer die größte Mühe gab, seine Schwäche zu verbergen.

"Jess!" rief Daisy, unsicher, wie sie reagieren sollte, und eilte auf ihn zu. "Ich habe … wir wollten … nicht daß Sie denken … Bitte!" stammelte sie, unfähig, einen Satz zustande zu bringen, und griff mit beiden Händen nach seinem Arm.

"Beruhigen Sie sich, Daisy!" versuchte er sie zu trösten. Wenn er gezwungen war, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, vergaß er oberflächlich seine eigenen Sorgen. "Das, was Sie befürchten, denke ich bestimmt nicht. Im Gegenteil!" Er legte den Arm um sie und drückte sie an sich. "Wenn Sie schon alles wissen, brauche ich mich nicht damit herumzuquälen, wie ich es Ihnen am schonendsten beibringen soll."

"Ach, Jess, das ist alles so furchtbar! Warum mußte es nur ausgerechnet Sie treffen?" seufzte sie weinerlich.

"Machen wir uns nichts vor! Sie wissen so gut wie ich, daß so etwas längst überfällig war. Wenn ich es mir hätte aussuchen können, hätte ich es mir nur ohne viel Aufhebens gewünscht, damit ich es wenigstens Ihnen und Mike ersparen könnte."

"Warum sagen Sie nur so etwas Schreckliches?"

"Weil es die Wahrheit ist."

Sie löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn durchdringend an. In seinen traurigen Augen lag etwas Geheimnisvolles; sie wollte nicht gerade behaupten, etwas Unheimliches, aber es beunruhigte sie.

"Sie werden den Rat des Arztes befolgen und nach Colorado Springs gehen, nicht wahr?"

"Ich verspreche mir zwar nicht viel davon, aber Ihnen und Mike zuliebe werde ich gehen."

"Hast du mit ihm gesprochen?" mischte sich Slim ein, der die ganze Zeit mit vor der Brust verschränkten Armen schweigend auf der Schreibtischkante hockte.

"Nein, nicht heute abend. Ich habe es nicht fertiggebracht", erwiderte Jess an Daisy vorbei.

"Je früher du das hinter dich bringst, desto besser!"

"Ich weiß, verdammt, aber deshalb mußt du mir nicht ständig in den Ohren damit liegen. Denkst du, das ist eine Kleinigkeit für mich?"

"Ich will nur nicht, daß du es vergißt."

"Du warst schon einmal geistreicher, weißt du das?" konnte Jess nicht umhin, seinem Freund ziemlich aufgebracht vorzuhalten.

"Nun benehmen Sie sich doch nicht wie zwei dumme Schuljungen!" fuhr Daisy energisch dazwischen. "Damit meine ich Sie alle beide!" Mit einem ärgerlichen Blick wies sie besonders Slim zurecht. "Heben Sie sich Ihren kindischen Kleinkrieg lieber für wann anders auf! Auf der anderen Seite muß ich Slim recht geben, Jess!" wandte sie sich wieder an den Mann vor ihr, in den durch den kurzen heftigen Wortwechsel eine seltsame Art von Leben gekommen war.

"Sicher, ich weiß, aber trotzdem müssen Sie mir ein klein wenig mehr Zeit geben, ja? Ich werde das schon hinbringen – auf meine Art! Soviel werden Sie mir hoffentlich zugestehen!" entgegnete er gereizt.

"Natürlich!" lenkte sie rasch ein. "Deshalb brauchen Sie sich nicht gleich so aufzuregen!"

"Wer regt sich denn hier auf?" kam es spitz zurück; er schien tatsächlich verärgert zu sein, möglicherweise am meisten über sich selbst, daß er überhaupt so ungehalten reagierte.

"Jess, bitte!"

Übellaunig starrte er sie an. Plötzlich wurde ihm jedoch sein grantiges Verhalten bewußt, daß er beschämt ihrem Blick auswich.

"Tut mir leid", entschuldigte er sich und rieb sich mit einer fahrigen Handbewegung übers Gesicht. "Sie dürfen nicht alles auf die Goldwaage legen, was ich von mir gebe. Ich fürchte, ich bin mit den Nerven ziemlich am Ende. Ich wollte Sie nicht so anfahren. Können Sie mir noch einmal verzeihen?"

"Es gibt doch nichts zu verzeihen. Ich glaube, das alles ist für jeden von uns ein wenig zuviel. Vielleicht sollten wir versuchen, es gemeinsam zu tragen. Dann wird es für den einzelnen zwar nicht unbedingt einfacher, aber bestimmt etwas leichter. Jess, Sie werden sehen, Sie gehen nach Colorado Springs, und dann wird alles gut. Es muß einfach wieder gut werden. Ich will ganz fest daran glauben! Wenn Sie das auch tun, dann werden Sie es schaffen."

"Das wird auf jeden Fall eine ziemliche Weile dauern, fürchte ich."

"Es ist doch egal, wie lange es dauert! Hauptsache, Sie kommen gesund wieder!"

"Sind Sie davon tatsächlich überzeugt, oder ist da nicht der Wunsch mehr Vater Ihrer Gedanken? Ich habe Ihnen mehr Realitätsnähe zugetraut bei Ihrer medizinischen Erfahrung."

"Was heißt schon Erfahrung? Vor so vielen Wochen wollte mir meine Erfahrung einreden, daß Sie nie wieder die Augen aufschlagen."

"Vielleicht wäre es das beste gewesen. Aus heutiger Sicht betrachtet, möchte ich das sogar fest behaupten."

"Werden Sie nicht gleich wieder so zynisch! Meinen Sie, davon wird irgend etwas besser?"

"Er suhlt sich wieder in seinem bitteren Sarkasmus, daß mir schon schlecht davon wird", bemerkte Slim aufatmend, stand von der Tischplatte auf und stampfte zum dunklen Fenster, um griesgrämig hinauszustarren, obwohl er durch die spiegelnde Scheibe außer Dunkelheit nichts erkennen konnte.

"Halt du dich da raus!"

Slim hob abweisend beide Arme, ohne sich jedoch umzudrehen.

"Es fällt mir schwer, Partner, aber ich versuche einfach nicht mehr hinzuhören."

"Geht das schon wieder los?" schimpfte Daisy. "Haben wir denn nicht bereits genug Probleme, auch ohne daß Sie beide sich so aufführen?"

"Ich habe hier die Probleme, nicht Sie!" korrigierte Jess, erneut bärbeißig in seine üble Laune verstrickt, obwohl Daisy mit Ihrer Frage niemand Bestimmtes angesprochen hatte und auch gar keine Antwort erwartete.

"Jess!" herrschte sie ihn an. "Wie können Sie nur so reden!"

"Das ist Galgenhumor", sagte er bissig. "Meine Henkersfrist macht mich so kaltschnäuzig."

"Daß du mit mir so redest, will ich dir weiß Gott nicht ankreiden", redete Slim aus dem Fenster, weil er es einfach nicht mehr für sich behalten konnte. "Aber du könntest dich wenigstens vor Daisy ein wenig mehr zusammenreißen!"

Jess starrte ihm ein Loch in den Rücken, so groß wie eine Grizzlypranke. Plötzlich wandte er sich abrupt ab und stampfte entschlossen zur Tür.

"Wo wollen Sie denn hin?" rief Daisy ihm besorgt nach. Jetzt begann sie sich Vorwürfe zu machen, weil sie nicht mit etwas mehr Verständnis auf ihn eingegangen war.

"Ich brauche frische Luft!" schnappte er.

"Warte, ich komme mit!" rief Slim ihm nach, drehte sich hastig um und wollte ihm nacheilen; aber Jess erwiderte nur abweisend, ohne innezuhalten:

"Nein!"

"Jess, du solltest …"

"Slim, bitte!" Für einen Moment blieb er stehen und spannte seine Schultern so gut es ging, ohne sich Schmerzen dabei einzuhandeln. "Ich brauche keine Amme – noch nicht! Ich möchte für ein paar Minuten allein sein. Das dürfte doch nicht so schwer zu begreifen sein."

"Dazu kannst du auch im Haus bleiben."

"Ich sagte, ich brauche frische Luft!"

"Jess, Slim hat recht. Draußen ist es scheußlich kalt und naß. Wollen Sie denn mit Gewalt … Der kalte Nebel ist Gift für Sie!"

"Schlimmer kann es davon kaum werden", brummte Jess.

"Daisy, es hat keinen Sinn! Lassen Sie ihn! Diesem Hornochsen ist nicht zu helfen."

"Ach, Sie sind auch nichts anderes!"

"Danke."

"Ich sehe", rief Jess von der Haustür, wo er seine Jacke überzog und den breiten Ledergürtel mit dem Holster umschnallte, "wir sind uns alle einig. Ich bin gleich wieder da. Ich gehe nur bis zur Einfahrt und kontrolliere die Tore. In zehn, fünfzehn Minuten bin ich zurück."

"Spätestens!" bestimmte Slim, der es offensichtlich nicht lassen konnte zu sticheln. "Wenn du in einer Viertelstunde nicht wieder durch diese Tür trittst, werde ich dir nachgehen."

"Ich habe keine Uhr dabei. Sei vorsichtig, wenn du mir nachschleichst! Im Dunkeln bin ich schreckhafter als sonst. Ich möchte nicht bei dem Nebel aus Versehen auf dich schießen."

"Jetzt ist er völlig aus den Fugen geraten!" stellte Slim überraschend sachlich fest, tippte sich dabei aber ausgiebig an die Schläfe. "Von mir aus kannst du da draußen in die Jauchegrube fallen und darin ersaufen!"

"Ich werde mich bemühen, es nicht zu tun, nur um dich zu ärgern."

"Verbohrter Dickschädel!" schimpfte Slim hinterher, als die Haustür hinter dem Freund ins Schloß fiel.

"Slim, so tun Sie doch etwas!"

"Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun? Mit ihm in die Jauchegrube fallen?"

"Reden Sie keinen Unsinn! Halten Sie ihn lieber zurück! Er wird sich da draußen den Tod holen."

"Ich hoffe nicht, daß das so schnell geht". Er lächelte sie zuversichtlich an. "Machen Sie sich nicht so viele Sorgen um ihn. Ganz so schlimm ist es wohl nicht. Er hat recht, ich kann ihm nicht überall hin nachsteigen. Er ist schließlich kein kleiner Junge und weiß, was er tut."

"Sind Sie da sicher?"

"Aber, Daisy, Sie kennen ihn doch!"

"Ja, genau, und das bereitet mir Kopfzerbrechen! Haben Sie seine Augen gesehen? Slim, er macht mir Angst."

"Mir zuweilen auch. Trotzdem glaube ich, daß er vernünftiger ist, als wir annehmen. Mike oder sein Verantwortungsgefühl für den Jungen wird hoffentlich den entscheidenden Einfluß ausüben. Ich will nicht übertreiben, aber ich möchte behaupten, ohne den Jungen hätten wir Jess schon längst verloren."

"Dennoch mache ich mir Sorgen um ihn. Ich finde, er ist so anders als sonst. Sie können mir erzählen, was Sie wollen, aber ich meine, er hätte sich verändert."

"Das bilden Sie sich wirklich nur ein. Sicher, die ganze Geschichte macht ihm natürlich zu schaffen, zerrt an seinen Nerven. Aber uns geht es schließlich wenig anders."

"Ob er sich geärgert hat, weil ich einen Teil Ihres Gespräches mithörte?" vermutete sie.

"Das glaube ich nicht." Mit seinem Lächeln versuchte er sie zu trösten. "Ich glaube eher, daß ihm das im nachhinein tatsächlich gelegen kam, genauso wie er sagte. Insofern besteht also kein Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen."

Daisy war sich nicht sicher, ob er das wirklich ernst meinte oder nur sagte, um sie zu beruhigen, ließ es jedoch dabei bewenden. Eines merkte sie jedoch überdeutlich: so gelassen, wie Slim vorgab zu sein, war er bei weitem nicht. Es hätte sie gewundert, wenn ihn das alles so wenig berührte.

Fortsetzung folgt