KAPITEL 24
Am nächsten Morgen bat Jess seinen Freund nicht nur mit unverkennbarer Unruhe anzuspannen, sondern er wirkte regelrecht nervös.
"Sag mal, was brennt denn dir unter den Nägeln?" konnte Slim nicht umhin festzustellen.
"Red nicht soviel, spann lieber an!"
"Na, hör mal! Es ist zehn Uhr. Selbst wenn Mike früher Schluß hat, wird es übrig reichen, damit du ihn nicht verpaßt. Du bist ja richtig kribblig heute!"
"Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Vielleicht ist das Wetter dran schuld."
"Ich weiß, daß du deswegen", Slim deutete unbestimmt auf seine linke Schulter, "ziemlich empfindlich geworden bist, aber deshalb ist es bei dir nie eine Frage der Nerven gewesen. Ist es wegen Mike, wegen der ausstehenden Aussprache?" vermutete Slim, den die Unrast des Freundes an diesem Morgen mehr beschäftigte, als beiden lieb war.
"Nein. Deshalb sollte ich vielleicht nervös sein, bin es aber nicht. Jedenfalls nicht so, daß du es merken würdest." Slim sah ihn von unten heraus an, während er sich am Geschirr der beiden Gespannpferde zu schaffen machte. "Du brauchst mich deshalb nicht so anzugucken! Es ist wieder diese Ahnung!" Ungehalten schritt Jess am Wagen auf und ab, sich gedankenversunken über die Brust reibend. "Diese Ahnung, die ich nicht erklären kann. Vielleicht bin ich schon verrückt. Würde mich jedenfalls nicht wundern."
Slim schüttelte den Kopf, verschnallte den letzten Riemen und richtete sich auf.
"Geh bitte noch einmal bei Hanson vorbei. Er sagte gestern, er hätte eine feste Lieferzusage für heute. Es wäre ein wahrer Segen, wenn diese verfluchte Pumpe endlich einträfe."
"Werde ich machen", versprach Jess beim Aufsteigen. "Sonst noch etwas?"
"Nein, es sei denn, Daisy hätte noch etwas."
"Hat sie." Jess grinste gequält vom Wagen, während er den Einkaufszettel, den Daisy ihm in die Hand gedrückt hatte, halb aus seiner Jackentasche zog und gleich wieder darin verschwinden ließ. "Auseinandergefaltet ist das Ding so lang wie mein Arm."
"Versteh' ich nicht. Sie war doch erst letzte Woche einkaufen."
"Du kennst doch Daisy."
"Ja." Slim verzog amüsiert den Mund. "Fahr vorsichtig! Der Nebel hat sich zwar gehoben, aber die Straße dürfte teilweise noch recht schlickig sein."
"Du traust mir hoffentlich zu, daß ich den Wagen auf der Straße halten kann."
"Manchmal weiß ich nicht genau, was ich dir zutrauen soll."
Jess erwiderte nichts darauf. Wahrscheinlich wäre es nur wieder zu einem sinnlosen Wortgefecht ausgeartet; ob ernsthaft oder neckisch, spielte dabei keine Rolle. Es hätte auf jeden Fall unnütz Zeit gekostet.
"Bis heute mittag!" sagte er statt dessen nur und trieb die Pferde an, daß der Wagen holpernd vom Hof rollte.
Die Straße war wirklich in keinem besonders einladenden Zustand, daß Jess über eine Stunde brauchte, ehe er endlich die Stadt erreichte.
In Burke Hershels Kolonialwarengeschäft lieferte er Daisys Einkaufsliste ab, ließ den Wagen dort stehen und ging zu Fuß in Hansons Eisenwarenhandlung, um sich nach der Pumpe zu erkundigen. Der Ladeninhaber versicherte ihm, daß sie heute mit dem Mittagszug einträfe. Von seinem Lieferanten in Cheyenne hatte er die telegrafische Bestätigung erhalten, daß sie dort verladen worden war.
"Wurde allmählich Zeit!" brummte Jess seinen Kommentar dazu, ehe er den Laden wieder verließ. "Der Wagen steht bei Burke", sagte er noch über die Schulter. Dann schloß sich hinter ihm die Ladentür mit lautem Glockengebimmel.
Die Kirchturmuhr schlug leise und unscheinbar. Es mußte Viertel vor zwölf sein. Um Mort Cory einen Besuch abzustatten, bevor er zur Schule ging, war es bereits zu spät. Wenn Mike tatsächlich früher Unterrichtsschluß hatte, würde er ihn eventuell verpassen. Also verschob er seinen Besuch auf später. Hätte ihn nicht seine Unrast getrieben, hätte er genausogut beim Sheriff warten können. Denn dort hatten sie sich für den Fall, daß sie sich verpaßten, verabredet. Aber Jess hätte jetzt nicht den Nerv gehabt, sich seelenruhig ins Sheriffbüro zu setzen.
Das Gefühl, daß Gefahr in der Luft liegen könnte, war in der Stadt um einiges stärker geworden. Dabei fand er es selbst nahezu albern, sich so etwas überhaupt einzureden. Nicht das geringste deutete auf Gefahr hin.
In Laramie herrschte der übliche Freitagsmorgenverkehr, nicht mehr oder weniger als sonst; es lungerten keine finsteren Gestalten auf der Straße herum, und auffallend viele Fremde oder gar Leute, die sich irgendwie merkwürdig benahmen, konnte er auch nicht entdecken. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl wie schon lange nicht mehr.
"Ich bin wirklich verrückt!" murmelte er vor sich hin, als er sich gemächlich auf den Weg zur Schule machte, jedoch mit einer gesteigerten Wachsamkeit, die ihm fast unangenehm wurde. Aber er konnte sie nicht unterdrücken. Dazu war dieses instinktive Gefühl zu stark.
Die kleine Sackgasse mit dem flachen Schulgebäude am Ende lag in spätherbstlichem Frieden. Dahinter tummelten sich die Ponys der Kinder auf der Weide. Jess streifte am Schulzaun entlang wie ein Wachhund, der seine Runde drehte oder sein Terrain abschritt. Dann trieb er sich bei den Pferden herum, daß ihn jemand, der ihn von weitem beobachtete und nicht erkannte, für einen potentiellen Ganoven hätte halten können, der sich nur nicht entschließen konnte, welches der Tiere er zuerst stehlen sollte. Seine wachsamen Augen tasteten die Büsche entlang der kleinen Koppel ab, als befürchtete er, daß sich in ihnen diese unbekannte Gefahr versteckt hielt. Merkwürdigerweise war er dabei die Ruhe selbst. Von seiner Nervosität war jedenfalls nichts mehr festzustellen. Offensichtlich beruhigte es ihn, daß er in Mikes Nähe war. Sollte da im Verborgenen tatsächlich irgendeine Gefahr lauern, konnte er den Jungen wenigstens davor schützen. Dieser Gedanke war völlig absurd. Trotzdem kreiste nichts anderes in seinem Kopf.
"Ich muß verrückt sein", redete er mit sich selbst, das "muß" besonders betonend, jedoch mit wenig Einfluß auf sein sonderbares Verhalten.
Die Zeit des Wartens vertrieb er sich mit seinen Hirngespinsten, wobei seinen geschärften Sinnen nicht das geringste entging, lungerte am Koppelzaun herum und ließ sich auch durch Brownys Anwesenheit nicht ablenken. Das zierliche Pferd mit den temperamentvollen Augen hatte ihn erkannt und trottete auf ihn zu. Es hängte den Kopf über den Zaun und beschnupperte ihn und vor allem seine Jackentaschen, in denen er manchmal Zucker versteckt hatte. Als Browny übermütig seinen Kopf gegen seine Brust drücken wollte, machte Jess einen Schritt zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Seiner Wunde hätte es gewiß nicht gutgetan.
Lange brauchte er nicht mehr zu warten, bis die Schulglocke bimmelte, die normalerweise um diese Zeit die letzte Stunde einläutete. Statt dessen öffnete sich die Tür, und die Kinder strömten mit johlendem Geschrei einem vorzeitigen Wochenende entgegen. Miss Finch hatte ihnen tatsächlich die letzte Stunde geschenkt, offiziell wegen ihrer aller hervorragenden Mitarbeit, inoffiziell weil sie übers Wochenende eine Freundin besuchen wollte. Ihren Schülern war es letztendlich egal, weshalb sie früher nach Hause durften. Daß ihre Lehrerin recht sparsam mit Hausaufgaben gewesen war, erhöhte die Freude auf das bevorstehende Wochenende.
Mike war bei den ersten, die zur Koppel rannten. Schon als er den Kopf aus der Tür streckte, bemerkte er den Mann bei seinem Browny. Wenn an solch einem erfolgreichen Start ins Wochenende sein Pflegevater und sein Pferd auf ihn warteten – was konnte da die Welt etwas anderes als in Ordnung sein! Winkend rannte er über den Hof und schien das übrige Treiben um ihn herum völlig vergessen zu haben.
Miss Finch, die an der Tür stehen geblieben war, als zählte sie ihre Sprößlinge, um sicher zu sein, daß auch wirklich alle den Weg nach draußen fanden – obwohl sie genau wußte, daß sie sich darüber keine Gedanken zu machen brauchte –, blickte ihm kopfschüttelnd nach, wie er davonfegte. Am Koppelzaun entdeckte sie gleich darauf Jess Harper, nickte ihm freundlich zu und war beinahe übertrieben angetan von seiner ebensolchen Erwiderung des Grußes. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf ihre Schüler, um ihr Herz vor diesem unkontrollierten Hüpfen zu bewahren, dessen sie in seiner Gegenwart nur mit Mühe Herr werden konnte. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn die Kinder etwas davon bemerkt hätten.
Auch Jess nahm sich auffallend viel Zeit für seine stumme Begrüßung, worunter sogar vorübergehend seine Wachsamkeit litt.
"Hallo, Jess! Das finde ich riesig, daß du gekommen bist!" rief Mike, daß der Mann seine Begrüßungsblicke in eine andere Richtung lenkte. Nicht daß er sich vor dem Jungen geniert hätte, aber er wollte Miss Finch vor ihren Schülern nicht kompromittieren.
"Ich hab's dir doch so gut wie versprochen."
Mike folgte seinem Blick, sah gerade noch, wie sich Miss Finch rasch abwandte, und strahlte ihn spitzfindig an.
"Für 'ne Lehrerin ist sie sehr nett. Das kannst du mir glauben!"
"Du Lausebengel!" grinste Jess, griff über den Zaun und fuhr ihm neckend übers Gesicht. "Beeil dich lieber! Ich denke, du willst bei Mort Cory im Gefängnis noch für Ruhe und Ordnung sorgen, ehe wir zurückfahren."
"Darf ich das wirklich?"
"Klar! Mort weiß zwar nichts von seinem Glück, aber er wird es noch früh genug erfahren."
"Bist du noch nicht bei ihm gewesen?"
"Nein, ich bin erst hierhergekommen. Ich wollte dich doch nicht verpassen." Mike war im Nu fertig, grapschte die Zügel und rannte, Browny hinter sich her ziehend, zum Tor und zu seinem Pflegevater. "Wir müssen vorher zu Burke Hershel. Dort steht der Wagen. Außerdem will ich noch mal bei Hanson vorbeisehen. Er sagte vorhin, daß unsere Pumpe heute mit dem Mittagszug kommt. Hast du Hunger?"
"Eigentlich nicht."
"Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen." Sie machten sich zurück auf den Weg zur Stadt. Jess schlang den Arm um seine Schultern. "Mal sehen, vielleicht gibt es bei Burke 'ne Kleinigkeit, ein Sandwich oder so. Wer weiß, wie lange wir auf das Fuhrwerk vom Bahnhof noch warten müssen."
"Das ist wirklich nicht nötig. Ich halt' es bestimmt aus, bis wir zu Hause sind."
"Das werden wir sehen, wenn wir zu Burke kommen", schmunzelte Jess, der sich kaum vorstellen konnte, daß Mike an der kleinen Imbißtheke im General Store von Burke Hershel vorbeifand, ohne Hunger zu verspüren.
"Na ja, ich kann ja wenigstens mal gucken, was er so alles hat heute", räumte Mike mit langsam wachsendem Appetit ein.
"Wußte ich's doch!" Wie zur Bestätigung wühlten Jess' Finger in seinem Blondschopf. "Du hättest mich sonst glatt enttäuscht."
Mike sah mit einem zugekniffenen Auge zu ihm auf, als wollte er prüfen, ob das sein Ernst war.
"Du nimmst mich ganz schön auf den Arm!" beklagte er sich.
"Woher denn! Du bist mir viel zu schwer!"
In Burke Hershels Laden gab es wirklich sehr leckere Sandwiches heute, an denen Mike unter keinen Umständen ungeachtet vorbeigehen konnte. Eines mit kaltem Huhn lachte ihn besonders an.
"Was gibt es eigentlich heute zum Mittagessen?" wollte er wissen, nachdem von dem Sandwich nichts mehr übrig war.
"Keine Ahnung, habe vergessen zu fragen. Aber so wie ich Daisy kenne, bestimmt etwas Gutes. Warum? Willst du noch eins?" fragte Jess verblüfft, als er bezahlte. "Du, wenn du zu Hause nichts mehr essen kannst, werden wir aber was zu hören bekommen!"
"Wie wäre es denn mit einem Nachtisch?" meinte Burke Hershel hinter der Theke, nahm das große Bonbonglas und hielt es dem Jungen vor die Nase.
Sich dagegen zu wehren, war sinnlos.
"Dein Magen muß das aushalten, nicht meiner", war Jess' Kommentar, als der Junge ihn, stumm um Erlaubnis fragend, ansah.
Mike fand, daß sein Magen das verkraften konnte.
"Vielen Dank, Mr. Hershel!" sagte er artig und zog seine Hand, gefüllt mit etwas Klebrigem, aus dem Glas.
"Besser, wir gehen, ehe du auf die Idee kommst, hinterher noch 'ne saure Gurke zu verdrücken."
"Keine schlechte Idee!"
Jess verdrehte die Augen.
"Und mir wird gleich schlecht! So etwas kann man anscheinend nur runterkriegen, wenn man in deinem Alter ist."
"Woher denn! Schmeckt gut! Möchtest du mal probieren?"
"Lieber nicht!" lehnte der Mann ab, während er mit ihm den Laden verließ und draußen den halbvollen Wagen bestieg, an den Mike sein Pferd gebunden hatte. "So wie das Zeug aussieht, zieht es einem glatt die Zähne raus. Fang ja nicht an, über Zahnschmerzen zu jammern! Ich krieg' schon welche, wenn ich mir das bloß vorstelle."
"Ach du! – Darf ich fahren?"
"Nachher. Das kurze Stück bis zu Hanson schaffe ich gerade noch."
"Tut … tut es wieder weh?" fragte Mike, auf einmal sehr besorgt, daß er beinahe vor Schreck den ganzen Karamelklumpen in seinem Mund verschluckt hätte.
"Nein. Ich möchte allerdings, daß das so bleibt. Deshalb ist mir schon recht, wenn du auf dem Rückweg fährst." Beruhigt über diese Versicherung, begann sich Mike die klebrigen Finger zu lecken. "Du solltest dir die Finger waschen, sonst bleibst du irgendwo hängen und kommst nicht mehr los."
Mike versetzte ihm mit dem Ellbogen einen Knuff in die Seite. Jess grinste in sich hinein, wendete den Wagen und fuhr in die Seitenstraße, in der Hansons Eisenwarenhandlung lag. Trotz aller Unbeschwertheit in Mikes Gesellschaft hatte seine Wachsamkeit nicht nachgelassen, obwohl er auf der Straße keinerlei Anzeichen von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten feststellen konnte, die diese gesteigerte Aufmerksamkeit rechtfertigten.
Vor Hansons Geschäft sprang Mike vom Wagen und sorgte an der Tränke als erstes dafür, daß seine Finger nicht mehr klebten. Es wurde ihm selbst unangenehm. Im Laden erfuhr Jess, daß der Zug Verspätung hatte, die Pumpe aber spätestens in einer Stunde auf seinem Wagen verstaut wäre.
"Ist die Pumpe da?" empfing Mike ihn draußen am Wagen, wo er gewartet hatte und den Knoten kontrollierte, mit dem sein Pony festgebunden war.
"Noch nicht."
Jess blieb mit dem Rücken zur Ladentür stehen und blickte an dem Jungen vorbei die Seitenstraße entlang, als ob er auf etwas Bestimmtes wartete oder suchte. Dabei streifte er wie nebenbei den diesigen Himmel, durch den eine milchige Vorwintersonne zu blinzeln begann. Ein kalter Wind hatte den Nebel etwas aufgerissen, daß es sofort freundlicher wirkte.
Während er da vor dem Geschäft stand, unschlüssig, seine Aufmerksamkeit aufs höchste gespannt, rieb Jess sich gedankenversunken über die Brust. Unter seinem Verband kribbelte und brannte es, als hätte sich ein Ameisenvolk darunter verkrochen.
"Jess, was hast du denn?" riß Mike ihn aus seinen Gedanken, die er, hätte ihn jemand danach gefragt, nicht erklären konnte.
"Es ist nichts", erwiderte er nur und bemühte sich um ein argloses Lächeln.
"Du hast doch keine Schmerzen, oder?"
"Nein. Mach dir keine Sorgen!"
Er hatte dabei nicht einmal gelogen, denn als Schmerzen konnte er dieses merkwürdige Beißen und Stechen unter der festen Bandage nicht gerade bezeichnen, jedenfalls nicht im üblichen Sinn, wie er es gewöhnt war. Trotzdem war es ein unangenehmes Gefühl, das sogar seine Atmung beeinträchtigte. Jeder tiefere Atemzug wurde zu einer Tortur; aber vor Mike ließ er sich nicht das geringste anmerken, zudem er die Ursache für dieses Gefühl weniger in seiner Wunde sah als vielmehr in seinen über Gebühr gespannten Nerven. Wenn sich gleich ein Feuerball durch die Straße gewälzt hätte, hätte seine Unruhe nicht größer sein können.
"Wir wollen zum Sheriff gehen, damit er dir endlich einen Stern anheften kann", meinte er leichthin, trat auf den Jungen zu und legte den Arm um seine Schultern. "Unsere Pumpe kommt erst in etwa einer Stunde."
Als sie Richtung Hauptstraße aufbrachen, ließ er sich von seiner inneren Gespanntheit nichts mehr weiter gegenüber seinem Pflegesohn anmerken. Aber seine Augen schienen überall gleichzeitig zu sein, ohne daß er sie deshalb viel bewegen mußte. Unter seinen leicht zugekniffenen Lidern tasteten sie jeden Hauseingang, jede Nische, jedes Fenster und sogar die Balkone und Dächer ab, als könnte dort jemand lauern. Diesen warnenden Instinkt wollte er nicht ignorieren. So manches Mal hatte ihm seine anfangs übertrieben erscheinende Ahnung das Leben gerettet. Hier sah zwar nichts nach Gefahr aus, aber das hatte auch Slim von jenem Augenblick behauptet, als ihm Hal oder Gregory Thorne vor so vielen Wochen direkt vor der eigenen Haustür diese Kugel verpaßte.
"Jess, spielst du heute ein wenig den Gefangenen und läßt dich von mir einsperren?"
"Und dann verlierst du den Schlüssel, was?"
"Ganz bestimmt nicht", versprach Mike und sah ihn treuherzig an. Er wurde einfach dieses Gefühl nicht los, daß mit seinem Pflegevater etwas nicht stimmte. Obwohl er prompt auf seine Frage eingegangen war, schien er mit seinen Gedanken wo ganz anders zu sein. "Bitte!"
"Aber nur, wenn mir Mort einen zweiten Schlüssel gibt. Dir trau' ich nicht über den Weg."
"Du bist gemein!" beschwerte sich Mike und versetzte ihm einen übermütigen Puff in die Seite.
"Und du ein Folterknecht. Bald habe ich einen blauen Fleck neben dem anderen. Wenn mich Doc Higgins das nächste Mal untersucht, wird er denken, ich habe mich geprügelt."
Sie erreichten die Einmündung zur Hauptstraße. Ehe sie hier nach rechts einbogen, verhielt Jess seinen Schritt, daß Mike erstaunt zu ihm aufblickte.
"Ist irgendwas?" wollte er verdutzt wissen. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
"Ich weiß nicht", murmelte Jess so abwesend, daß er doppelt soweit entfernt schien wie sowieso schon die ganze Zeit.
Seine Augen waren nur ein schmaler Spalt, als er über seine kranke Schulter die Hauptstraße entlang starrte. Es war jetzt nicht mehr soviel Verkehr wie vorhin, als er in der Stadt angekommen war. Auch waren kaum Leute auf der Straße. Einige Geschäfte hatten über Mittag geschlossen, und man war entweder beim Mittagessen oder wenigstens dorthin unterwegs.
Ein paar Müßiggänger hatten die dürftigen Sonnenstrahlen zum Anlaß genommen, sich auf nach Süden ausgerichteten Brettergehsteigen in Korbstühlen oder auf Bänken zu einem belanglosen Plausch einzufinden und auf ihre Art die Zeit totzuschlagen. Es gab also nichts Außergewöhnliches, was Jess' Argwohn gerechtfertigt hätte. Allerdings kam der Mann nicht dazu, sich von der Harmlosigkeit der Lage in der Richtung zu überzeugen, die sie einschlagen mußten, um zum Sheriffbüro zu gelangen.
Urplötzlich packte Mike mit beiden Händen seinen Arm, der auf seinen Schultern ruhte, und zog ihn mit aller Kraft, seinen ganzen Körper als Gegengewicht zu dem viel schwereren Mann einsetzend, in die Seitenstraße zurück, daß Jess, von diesem Verhalten völlig überrumpelt, zwei stolpernde Schritte halb nach hinten machen mußte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Ruck war so gewaltig, daß er beinahe in die Knie ging, weil er dachte, der heftige Schmerz, den der Junge mit seinem Zerren auslöste, würde ihn genau in der Mitte auseinanderreißen.
"Bist du noch zu retten?" stieß er mühsam hervor, riß sich mit einer energischen Bewegung los und preßte die Rechte gegen seine Brust. Wenn es eine Möglichkeit gab, die Engel singen zu hören, hatte er sie gerade gehört.
"Komm da weg!"
Die Stimme des Jungen hörte sich schrill, fast hysterisch an. Noch einmal packte er mit beiden Händen seinen Arm, riß ihn zu sich und zwang den Mann, zwei weitere Schritte zurück in die Seitenstraße zu machen.
"Verdammt noch mal!" entfuhr es Jess, sich diesmal weitaus erboster losreißend über diese nicht gerade zimperliche Methode des Jungen, auf sich oder was auch immer aufmerksam zu machen. "Willst du es unbedingt darauf anlegen, daß mir die Hand ausfährt?" Jess mußte die Luft anhalten und die Zähne zusammenbeißen, ehe sich seine tobende Wunde einigermaßen beruhigte.
"Jess … ich … ich wollte dir nicht wehtun, aber … aber ich habe … habe ihn gesehen!" schluckte Mike verstört, mit weit aufgerissenen Augen. Nacktes Entsetzen stand in seinem bleichen Gesicht.
"Wen zum Teufel?" ächzte Jess.
"Na, ihn!"
"Wen ihn? Herrgott, Mike, stell dich nicht so an! Sag mir, wen hast du gesehen! Wenn du jetzt sagst, den Weihnachtsmann, leg' ich dich hier mitten auf der Straße übers Knie! Bist du dir eigentlich darüber im klaren, daß du mir diesmal ganz schön wehgetan hast?" wies er ihn, mühsam nach Luft schnappend, zurecht. "Was ist denn in dich gefahren?"
"Aber ich habe ihn doch gesehen!"
"Mike, nimm dich zusammen!" herrschte Jess ihn ungehalten, ärgerlich an. "Wenn du nicht willst, daß …", wollte er schon ein Donnerwetter loslassen, besann sich aber im letzten Moment. Mikes ungewöhnliche Reaktion mußte schließlich eine Ursache haben, denn ohne triftigen Grund hätte er sich nicht so verhalten. Und keinesfalls hätte er so unüberlegt gehandelt, daß er ihm aus einer seiner Kindereien heraus Schmerzen zugefügt hätte. Sein verschrecktes Gesicht deutete jedenfalls nicht auf eine fahrlässige kindische Albernheit hin. "Sieh mal, du hast mir wirklich sehr wehgetan", sagte er deshalb etwas versöhnlicher gestimmt, aber immer noch schwer atmend und aschfahl. "Was ist also los? Wen hast du gesehen?"
"Den … den Mann!"
"Welchen Mann?" drängte Jess. In seinem Gesicht vollzog sich eine seltsame Veränderung. Eine schreckliche Ahnung stieg in ihm hoch. Seine Schmerzen begannen Nebensache zu werden. "Mike, welchen Mann?" wiederholte er eindringlich.
"… der … der auf dich geschossen hat … diesen Hal …", stammelte Mike, völlig verstört, vor Angst und Schrecken wie gelähmt, Verzweiflungstränen in den Augen.
"Bist du sicher?"
Der Junge nickte stumm, mit aufgerissenen Augen und aufgesperrtem Mund. Am liebsten hätte er Jess bei der Hand genommen und wäre mit ihm davon gerannt, so weit wie möglich. Nur hier weg! Wenn es sein mußte, bis ans Ende der Welt, damit dieser Hal sie nicht finden konnte. Zu seinem Unbehagen machte Jess nicht die geringsten Anstalten zum Weglaufen.
"Wo ist er?" wollte er statt dessen mit auffallend ruhiger Stimme wissen. "Mike!" rief er etwas energischer, um in den starren Ausdruck des Kindergesichts wieder Leben zu bringen. "Reiß dich zusammen!" Er legte ihm fest die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn sanft. "Hab keine Angst! Ich sorge schon dafür, daß er weder dir noch mir etwas tun kann. Aber du mußt mir sagen, wo er ist, damit er mich nicht noch einmal überraschen kann. Also!"
"Ich habe aber Angst!" Mike zitterte am ganzen Körper. "Diesmal wird er dich töten!"
"Mit Sicherheit nicht, denn diesmal weiß ich, daß er da ist. Also, wo genau ist er?"
"Laß uns doch von hier weggehen. Bitte! Er hat dich vielleicht schon gesehen und dann …"
"Nichts und dann! Mike, der Mann wartet ganz gewiß nicht auf mich. Das würde er jedenfalls nicht mitten in der Stadt tun. Er kennt mich nur von dem einen Mal. Aber auch da wartete er nicht auf mich. Wenn wir jetzt weglaufen, kann so etwas wie damals immer wieder passieren, nicht nur mit mir, sondern auch mit Slim oder Daisy und auch mit dir."
"Aber mich kennt er doch gar nicht."
"Das spielt keine Rolle. Dieser Mann ist gefährlich, das weißt du genau. Er schießt am liebsten auf Menschen ohne besonderen Grund. Bitte, Mike, du mußt mir jetzt helfen! Oder willst du, daß ich ein zweites Mal in seine Kugel laufe? Sag mir, wo er ist!"
"Er … er …" Mike schluckte und wischte sich die Tränen aus den Augen. "Er sitzt schräg gegenüber vom … vom Sheriffbüro … auf unserer Seite … da rechts hoch …"
"Wo genau?"
"Ich … ich weiß nicht mehr … nicht sehr weit …"
"Nicht sehr weit", dachte Jess laut vor sich hin. In Sekundenbruchteilen projizierte er das Bild der Hauptstraße vor sein geistiges Auge. Im Nu hatte er die einzig mögliche interessante Adresse auf dieser Seite der Hauptstraße gefunden: die Bank, die tatsächlich schräg gegenüber dem Sheriffbüro lag. "Vor der Bank etwa?" vergewisserte er sich.
"K… kann sein! Ich … ich weiß es wirklich nicht. Es … es ging so schnell."
"Hast du nur ihn gesehen oder den anderen auch?"
"Nur ihn, aber … aber vielleicht ist der andere auch da. Sie werden dich töten!"
"Das wird dank dir hundertprozentig nicht passieren. Das verspreche ich dir!"
Vorsichtig kehrte Jess bis zur Straßenecke zurück. Er wußte genau, wie weit er sich vor wagen durfte, ohne daß er von dem Platz aus, den er vermutete, gesehen werden konnte. Gebannt lugte er die breite Straße entlang, die hier einen leichten Bogen machte.
"Bitte, Jess, geh nicht! Er wird dich sehen!" rief Mike ihm nach und wollte ihn am Arm zurückhalten; aber diesmal schüttelte Jess die Kinderhände gleich von sich. "Komm doch zurück, bitte!" flehte Mike weinerlich und bildete sich ein, jeden Augenblick den Schuß zu hören, der seinen Pflegevater zu Boden warf.
"Hab keine Angst, Mike! Sei nicht so laut und bleib, wo du bist, verstanden!" befahl Jess und hob zum Nachdruck beschwichtigend die Hand hinter seinem Rücken, während er sich an die Wand des Eckhauses drückte und den Mann, der da in dem Korbstuhl seitlich von der Bank hockte, mit zusammengekniffenen Augen fixierte. Wenn er ihn mit seinen Blicken hätte durchbohren können – er hätte ihn direkt an die Mauer des soliden Bankgebäudes genagelt.
Der Mann wirkte wie einer dieser gelangweilten Müßiggänger, der da in dem verwitterten Korbstuhl vor sich hin döste, wenn auch das Wetter für ein Nickerchen an der frischen Luft zu kalt war. Seine zerschlissene, schmutzige Kleidung ließ auf einen Herumtreiber schließen, der hier nichts weiter als seine Zeit verbummeln wollte, vielleicht sogar in der Hoffnung, von jemandem zu einem Glas Bier eingeladen zu werden. Ein schäbiger Hut beschattete sein Gesicht; aber Jess war sich sicher, das Profil wiederzuerkennen. Es gehörte dem Reiter, den er vor einer Woche kurz im Spiegel in Tonis Friseurladen gesehen hatte, der ihm damals irgendwie bekannt vorkam, den er jedoch keiner vertrauten Person zuordnen konnte. Heute empfand er es als sträfliche Nachlässigkeit und bodenlosen Leichtsinn, seinem Gefühl nicht sofort nachgegangen zu sein und – schlimmer noch! – diese Begegnung sogar zu vergessen.
Wahrscheinlich war dieser Hal letzte Woche in der Stadt gewesen, um die Lage auszukundschaften. Über die Dreistigkeit, am hellichten Tag zuerst mitten durch die Stadt zu reiten und dann heute provokativ fast direkt gegenüber vom Büro des Sheriffs zu hocken, mußte Jess erst einmal einen beinahe bewundernden Fluch loslassen. Gleichzeitig stieg in ihm ein äußerst bitteres Gefühl hoch, daß er sich sehr zusammennehmen mußte, die Situation nicht rigoros für sich auszunutzen. Immerhin saß da vorne, vielleicht zwanzig Schritte von ihm entfernt, der Mann, der ihm aus lauter Langeweile diese Kugel verpaßt hatte, die für sein ganzes Dilemma und Mikes gestörten Seelenfrieden verantwortlich war. Zu allem Überfluß war der Vorteil heute auch noch auf seiner Seite, denn er hatte ihn gesehen, wußte also, daß er in seiner Nähe war, der Mann jedoch dasselbe nicht von ihm.
Jess riskierte einen weiteren Blick, als wollte er die günstige Gelegenheit nutzen, diesen verrückten Heckenschützen eingehender zu betrachten. Der Kerl paßte wirklich zu keinem, den er kannte oder dem er jemals wissentlich begegnet war. Nur aufgrund des Steckbriefes kam er ihm nun, da er wußte, um wen es sich handelte, beinahe vertraut vor. Aber auch jetzt konnte er sich nicht erinnern, den Mann in dem Augenblick gesehen zu haben, als er auf ihn schoß.
Seine Rechte fiel, ohne daß ihm dies wahrscheinlich bewußt wurde, beinahe sanft auf den Walnußholzkolben seines Sechsschüssers, der im Holster tief an seinem Oberschenkel baumelte. Mit einer unscheinbaren Bewegung löste er die Sicherungsschlaufe über dem Hahn. Die Versuchung war wirklich sehr groß! Aber im Gegensatz zu seinem Widersacher hatte er ein Gewissen, das ihm selbst jetzt nicht erlaubte, unfair zu handeln. Hätte er es gekonnt – er hätte sich mit diesem Hal auf eine Stufe stellen müssen.
Statt dessen überlegte er fieberhaft, wie er vorgehen sollte, um diesmal nicht derjenige zu sein, der trotz seines Vorteils auf der Strecke blieb. Eines stand fest: wenn alle drei Halunken in der Stadt waren – daß sie das waren, bezweifelte er eigentlich keinen Augenblick lang –, konnte er es unmöglich mit allen dreien – und das womöglich gleichzeitig – aufnehmen.
Sicherlich waren die zwei anderen in der Nähe. Er vermutete sie, ehrlich gesagt, in der Bank oder zumindest auf ihrem Weg dorthin. Das ergäbe jedenfalls einen Sinn. Schließlich lag dort zur Zeit ein ganzer Haufen Geld, zudem sich ein solches Gerücht wie von alleine vor einiger Zeit schon verbreitet hatte. Sollten die drei nicht davon erfahren haben, verstünden sie ihr Geschäft nur sehr mangelhaft. Diese Unfähigkeit traute er ihnen keinesfalls zu.
Ein Zufall konnte es also nicht sein, daß diese Kerle ausgerechnet heute daran dachten, ihre Finanzen aufzufrischen. Es war Freitag vor Thanksgiving, Farmer und Rancher sowie die Geschäftsleute in der Stadt hatten Kassensturz gemacht und ihre Gewinne zur Bank gebracht. Der geplante Geldtransport bestätigte nur die Tatsache, daß der Tresor bis oben hin voll war.
Jetzt brauchten Leute wie dieser Hal und seine Kumpane nur noch vorbeizukommen und zu kassieren. Natürlich am hellichten Tag, direkt vor der Nase des Gesetzes! Dabei konnte kein Zweifel bestehen, daß der Sheriff, sollte er sein Büro verlassen oder weil er zum Mittagessen gehen wollte, der erste war, der von Hal gebührend begrüßt wurde. Es konnte auch kein Zufall sein, daß ausgerechnet der schießwütige Hal Wache hielt. Der würde garantiert niemandem eine Chance geben, seine zwei Gefährten bei ihrem einseitigen Bankgeschäft zu stören.
Ein grimmiges Grinsen huschte über Jess' angespanntes Gesicht. Er hatte sie also von vornherein richtig eingeschätzt. Genau das, was er vermutet hatte, war nun eingetroffen. Trotz der überall kursierenden Steckbriefe besaßen diese drei die Unverfrorenheit, mitten am Tag sich auf offener Straße zu produzieren, in die Bank zu spazieren und Kasse zu machen.
Jetzt konnte er auch diese instinktive Ahnung erklären, die er schon seit Tagen hatte. Es war, als hätte er unbewußt ihre Nähe, ihre Anwesenheit in der Umgebung gespürt, als hätte sich bei ihm ein besonderer Sinn entwickelt, der ihn solche Dinge unterschwellig fühlen ließ. Daß dieser Instinkt bei ihm nicht funktionierte, als auf ihn aus dem Hinterhalt geschossen wurde, konnte er nur damit erklären, daß er sich durch die unmittelbare Nähe seines Zuhauses zu sehr ablenken ließ.
Jess spähte die Straße in beide Richtungen entlang. Der Verkehr hatte weiter nachgelassen; es waren kaum noch Leute unterwegs. Um so besser! dachte er, denn je weniger auf der Straße waren, desto weniger konnten in Gefahr kommen, dem mordgierigen Hal oder einem seiner Begleiter vor den Lauf zu geraten. Irgendwie mußte er verhindern, daß die drei entkamen und bei ihrem Abgang womöglich ein Blutbad unter den wenigen Passanten oder in der Bank anrichteten.
Vielleicht waren sie gar nicht in dem Gebäude, ja, noch nicht einmal in der Stadt, und dieser Hal hockte nur zu seinem Vergnügen da. Vielleicht wollte er sicherheitshalber erst noch einmal das Terrain abklopfen. Vielleicht wollte er auch nur den Sheriff bei günstiger Gelegenheit ins Jenseits befördern, nur damit sie es hinterher leichter hatten, die ganze Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen. Mindestens ein Dutzend weitere Möglichkeiten wollten Jess einfallen, ehe er diese Zweifel einfach beiseite räumte. Für ihn stand fest, daß sein spezieller Freund nicht dort in dem Korbstuhl herumlungerte, nur um die Aussicht zu genießen.
Aber egal, was die drei vorhatten – eines war sicher: er brauchte Hilfe, um es zu verhindern und sie festzunageln. Der einzige, der dafür in Frage kam, war der Sheriff. Aber der konnte nicht einmal die Nase aus seinem Büro strecken, ohne gleich handfest behelligt zu werden. Wie sollte er, Jess, dann unbemerkt über die Straße und in sein Büro gelangen? Der Bluthund Hal hätte ihn wahrscheinlich sofort wiedererkannt. Irgendwie mußte er an ihm vorbeikommen, ohne daß dies geschah. Jess löste sich von der Hauswand und kam zu Mike zurück. Schon nach zwei Schritten wußte er die Lösung, wie sie zu Mort Cory kommen konnten, ohne von dessen "Wächter" überrascht zu werden.
Der Junge verharrte wie angewurzelt an der gleichen Stelle und zitterte am ganzen Körper vor Aufregung, vor Angst. Noch kurz zuvor hatte er sich auf ein harmloses Spiel im Gefängnis gefreut, wo es in seiner Phantasie zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen und Gesetzeshütern kam. Mit einem Schlag war alles kein Spiel mehr. Jetzt war es nackte Wirklichkeit, in die, wie schon einmal vor Wochen, sein Pflegevater verwickelt wurde. Sein Gegner war wieder dieser Mann, der ihn bereits damals beinahe das Leben kostete. Sollte sich jetzt alles in etwas abgewandelter Form wiederholen? Eine grauenvolle Vorstellung für den Zeugen vom ersten Mal! Der Schock von jenem Dienstagmorgen saß ihm auch heute noch in den Gliedern. Zwar hatte er ihn oberflächlich ganz gut überwunden, aber in dem Augenblick, als er diesen Hal sah, kehrte der Schrecken mit voller Intensität zurück. Einigermaßen beruhigt konnte er wahrscheinlich erst sein, wenn dieser Hal mausetot war.
"Ha… hast du ihn … gesehen?" stotterte er eine Frage zusammen. Seine Kehle fühlte sich so trocken und geschwollen an, daß es ein Wunder war und er überhaupt einen Ton herausbrachte.
Zum Glück schien wenigstens Jess die Ruhe selbst zu sein. Die ganze Zeit hatte sich Mike gewundert, was mit seinem Pflegevater sein könnte, weil er irgendwie, zwar nicht direkt nervös, aber doch nicht so gelassen wie sonst schien. Jetzt wunderte er sich über seine nahezu stoische Erhabenheit, mit der er offensichtlich über der Situation stand.
"Ja", kam es mit sonorer Stimme zurück, die es sogar fertigbrachte, Mikes unerträgliche Spannung zu lösen. "Er sitzt am Ende des Bankgebäudes, schräg gegenüber von Mort Corys Büro. Du hattest recht."
"H… hat er dich … auch gesehen?"
"Nein, keine Sorge! Das ist allein dein Verdienst. Dir habe ich es zu verdanken, daß er mich nicht wieder überraschen konnte. Gott sei Dank hast du so schnell reagiert!"
"Aber ich habe … habe dir wehgetan!" jammerte Mike, was ihm anscheinend im nachhinein erst richtig bewußt wurde.
"Doch nicht absichtlich! Es war bei weitem nicht so schlimm wie das, was sicherlich gleich passiert wäre, wenn du mich nicht zurückgehalten hättest. Wahrscheinlich verdanke ich dir sogar mein Leben."
"Im Ernst?"
"Mit Sicherheit!"
"Warum … warum hast du ihn denn nicht … nicht erschossen?"
"Wolltest du denn wirklich, daß ich das tu'?"
Mike sah ihn betreten an. Sein Blick rutschte an seinem rechten Arm herunter, nahm zuerst seine Hand, dann seine im Holster steckende Waffe in Augenschein, wanderte wieder nach oben und blieb auf seinen dunklen Augen haften, die geduldig auf ihm ruhten. Obwohl Jess wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte, wenn er diese Sache zu einem guten Ende führen wollte, nahm er sich die kurze Zeit, um dem Jungen seine Angst zu nehmen.
"Ich … ich …"
"Wenn ich das getan hätte, wäre ich nicht besser als er. Meinst du nicht?"
"Aber er ist böse! Er wird … er wird …"
"Er wird gar nichts! Im Moment sitzt er nur da und tut nichts von dem, was du befürchtest. Und wenn er noch so böse ist, habe ich nicht das Recht, ihn einfach über den Haufen zu schießen. Er ist doch ein Mensch."
"Aber … aber …"
"Nichts aber!" entschied Jess, schlang seinen Arm um seine Schultern und zwang ihn, mit ihm tiefer in die Seitenstraße zurückzugehen. "Komm jetzt! Wir haben einen ziemlichen Weg vor uns."
"Wo … wo gehen wir denn hin? Willst … willst du ihn einfach so da sitzen lassen?"
Vor kurzem wollte Mike noch zusammen mit ihm weglaufen, weil dies seiner Meinung nach das Vernünftigste gewesen wäre. Jetzt, da Jess ihn zum Gehen drängte, war er fast enttäuscht, daß er das Feld räumen wollte, ohne etwas gegen diesen Hal zu unternehmen.
"Im Moment bleibt mir nichts anderes übrig. Außerdem könnte dir etwas zustoßen, wenn es tatsächlich zu einem Zusammenstoß kommt oder die beiden anderen auf der Bildfläche erscheinen."
Ein gutes Stück, bevor sie den Wagen vor Hansons Geschäft erreichten, überquerte Jess mit ihm die Straße und bog in eine kleine Gasse, die an ein paar Hinterhöfen entlang, parallel zur Hauptstraße verlief.
"Wo gehen wir denn hin?" wollte der Junge verwirrt wissen, während Jess ihn fester an sich drückte und halb vor sich her schob. Sollte irgend etwas passieren, konnte er ihn so besser mit seinem Körper decken.
"Dahin, wohin wir die ganze Zeit wollten."
"Zum Sheriff?"
"Ja."
"Aber das ist doch die falsche Richtung!"
"Wir sind schon richtig. Keine Angst!"
"Aber wir kommen doch nie unbemerkt zur Tür rein, solange dieser Hal gegenüber sitzt. Er wird dich sehen und dann … dann … Jess, laß uns lieber nach Hause gehen. Dann wird er uns bestimmt nicht sehen. Wenn wir zum Sheriff gehen, wird er … wird er wieder auf dich schießen. Bitte! Ich will gar nicht mehr, daß ihn der Sheriff fängt und auch nicht, daß du ihn erschießt. Bitte, laß uns gehen! Bitte!" flehte er weinerlich und versuchte, ihn aufzuhalten.
"Beruhige dich!" Jess schob ihn mit sanftem Druck weiter die Gasse entlang. "Wir werden hinten herum gehen. Das Gefängnis hat doch einen Hinterausgang. Wenn wir diesen Block umgehen und da vorne zur Hauptstraße zurückkehren, können wir sie überqueren, ohne daß uns der Kerl sieht. Auf der anderen Seite gehen wir die Parallelstraße zurück und werden mit etwas Glück zur Hinterseite vom Gefängnis gelangen. Wenn der Bursche bis dahin noch vor der Bank sitzt, gibt es nur eine gefährliche Stelle, und das ist der Seitenweg, der neben dem Gefängnis vorbeiführt und den er direkt im Blickfeld hat. Wenn es uns gelingt, den unbemerkt zu überqueren, haben wir es geschafft."
"Und wenn nicht?"
"Wir werden! Vertrau mir! Er ist ja höchstens nur drei Schritt breit. Na ja, sagen wir, für dich sind es vier."
"Ich hab' aber trotzdem Angst."
Jess hätte ihm jetzt sagen können, daß er sich auch nicht ganz wohl dabei fühlte, vor allem, wenn er versuchte sich vorstellen, wie es weiterging, nachdem sie das Sheriffbüro erreicht hätten. Aber das behielt er lieber für sich, nicht weil er sich vor dem Jungen schämte, ehrlich zu sein, sondern weil er ihn nicht beunruhigen wollte. Statt dessen beschleunigte er seinen Schritt, daß sie bald die nächste Ecke erreichten, wo sie wieder nach rechts zur Hauptstraße hin einbogen, die sie tatsächlich außer Hal Thornes Sichtweite unbehelligt überqueren konnten.
Bereits bevor sie die breite Main Street erreicht hatten, meldete sich mit ziemlicher Heftigkeit Jess' Wunde. Die raschen Bewegungen forderten mehr Sauerstoff, den seine Lunge nur aufgrund von tieferen Atemzügen zur Verfügung stellen konnte. Er ignorierte das schlimmer werdende Stechen in seiner Brust und schaffte es mit eiserner Willenskraft, seine voranschreitende Atemnot und den aufkommenden Hustenreiz unter Kontrolle zu halten. Jetzt hatte er keine Zeit, sich um diese Warnzeichen seines geschwächten Körpers zu kümmern. Wahrscheinlich würde er, sofern er das, was eventuell auf ihn zukam in den nächsten paar Minuten, überhaupt lebend überstand, hinterher einfach vor Erschöpfung zusammenbrechen, weil er seine dürftigen Kraftreserven in dieser Zeit völlig aufgezehrt hatte. Aber das war ihm egal! Im Augenblick konnte er sich keine Schwäche leisten.
"Jess, was machen wir denn, wenn der Sheriff gar nicht in seinem Büro ist?" meldeten sich bei Mike plötzlich schlimme Bedenken, obwohl er mittlerweile von selbst schnell genug ging, beinahe sogar schon rannte, daß der Mann ihn nicht mehr drängen mußte.
"Frag mich nicht!" erwiderte Jess kurzatmig. "Nehmen wir einfach an, er ist da."
Insgesamt waren sie vielleicht zwei Minuten forsch gegangen, als sie nach ihrer Wanderung um zwei weitere Blocks den Seitenweg neben dem Gefängnis erreichten. Hier mußte Jess trotz aller Willenskraft erst einmal für ein paar Sekunden verschnaufen. Mit dem Rücken warf er sich gegen die Hauswand, preßte die Rechte gegen die schmerzende Brust und verzog trotz aller guten Vorsätze das Gesicht. Das Pochen war kaum zu ertragen.
"Jess, kannst du noch?" fragte Mike besorgt, zaghaft an seiner Jacke zupfend, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
"Es geht gleich wieder!" keuchte er. Seine Behinderung brachte ihn schon bei weitaus geringerer Anstrengung außer Atem.
"Du hast schlimme Schmerzen, nicht wahr?"
"Halb so wild!" Jess biß die Zähne zusammen, wischte sich mit dem Handrücken ein paar Schweißperlen von der Stirn und raffte sich mühsam auf. "Das ist jetzt nicht so wichtig." – Mike hingegen fand schon, daß das wichtig war, für ihn jedenfalls wichtiger, als möglichst rasch zum Sheriff zu kommen. – "Wir sind ja gleich da. Nur noch über den Weg und die paar Schritte zur Tür. Das haben wir im Handumdrehen geschafft!"
Der Mann versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Es wirkte zwar etwas verzerrt; trotzdem fiel es zuversichtlicher aus, als er selbst angenommen hatte. Dann riskierte er einen Blick. Fast direkt gegenüber hockte Hal in dem Korbstuhl, mit von der Hutkrempe beschattetem Gesicht und seine Fingernägel mit der Messerspitze säubernd. Er war also anderweitig beschäftigt, obwohl Jess nicht annahm, daß er deshalb seinen Wachposten vernachlässigte. Wahrscheinlich hätte dieser Mann sogar auf einen streunenden Hund geschossen, wenn er von seinem Schatten überrascht worden wäre.
"Wir haben einen Vorteil: er muß gegen die Sonne gucken. Sie scheint zwar nicht richtig durch den Nebel, aber es reicht, um vom Gegenlicht etwas geblendet zu werden", meinte Jess, wieder wesentlich ruhiger. Die Stiche in seiner Brust waren jetzt nicht mehr gar so spitz wie Lanzen, also erträglicher – das redete er sich zumindest ein.
"Ich wollte, wir wären schon auf der anderen Seite", wünschte Mike. Ihm war äußerst mulmig zumute.
"Keine Angst, der stochert mit dem Messer an seinen Fingernägeln herum. Damit ist er hoffentlich beschäftigt genug, bis wir drüben sind. Geh auf meiner linken Seite, damit ich dich decken kann, falls es ihm einfallen sollte, verrückt zu spielen. In zwei Sekunden haben wir es geschafft." Jess spähte noch einmal zu dem Korbstuhl hinüber. "Bist du soweit? Ich zähle bis drei. Bei 'Jetzt!' gehen wir rüber, nicht zu langsam, aber auch nicht gerannt! Halt dich ja in meiner Deckung, hörst du? Auch wenn es nur zwei Sekunden sind … Kann es losgehen?"
"Ja!" krächzte Mike.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Zwei Sekunden, dachte er, die müssen wahnsinnig lang sein!
Später vermochte Mike nicht zu erklären, wie sie diese zwei Sekunden heil überstehen konnten. Das war wohl reines Glück gewesen! Aber jetzt waren sie vorerst in Sicherheit, denn sie befanden sich an der solide gemauerten Rückwand des Gefängnistraktes. Nach wenigen Schritten standen sie vor der geschlossenen Hintertür, die Mike an die massive Tür zum Burgverlies von Richwood Castle erinnerte, wo Sir Christopher hauste. Wieso er ausgerechnet jetzt an diese Gespenstergeschichte denken mußte, war ihm schleierhaft, war sie gegen diese alptraumhafte Realität nicht mehr als ein albernes Kindermärchen.
Jess pochte möglichst nicht so geräuschvoll, aber doch eindringlich gegen die mächtige Holztür mit den schweren Eisenbeschlägen und der vergitterten Sichtluke. Erst nach dem zweiten Klopfen öffnete sich die Klappe, und Mort Corys verdutztes Gesicht erschien hinter den Gitterstäben.
"Was zum Teufel … Jess!" rief er erstaunt. "Seit wann kommst du durch die Hintertür?"
"Frag nicht soviel! Schließ auf! Leise, wenn's geht!"
Mort schüttelte verwirrt den Kopf, schloß die Klappe und schob den Riegel zurück.
"Was soll denn diese Geheimniskrämerei?" fragte er ziemlich konfus, als er die zwei Besucher hereinließ.
"Mach die Tür zu und schieb den Riegel wieder vor!" war Jess kurz angebunden, während er Mike vor sich her in den Zellengang schob. "Beeil dich!" Er stampfte voraus ins Büro. "Du bleibst da hinten in Deckung!" befahl er dem Jungen so bestimmt, daß dieser zuerst wie angewurzelt in der Trenntür zum Gefängnis stehenblieb, sich später allerdings, als er von den zwei Erwachsenen unbeobachtet war, weiter vor ins Büro traute.
"Was soll denn das heißen – in Deckung?" Mort verstand überhaupt nichts mehr.
"Sieh mal da rüber, aber bleib vom Fenster weg! Seitlich vor der Bank … der Mann in dem Korbstuhl … Kommt der dir bekannt vor?"
"Das könnte …" Morts Blick wanderte aufgeregt zwischen dem Mann auf der anderen Straßenseite und dem Bild auf dem Steckbrief am Anschlagbrett an der Wand hinter seinem Schreibtisch hin und her. "Tatsächlich! Das könnte …"
"Nicht könnte, sondern ist!"
"Hast du ihn erkannt? Kannst du dich an ihn erinnern?"
"Nein, aber Mike hat ihn erkannt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich irrt. Diese Visage verfolgt ihn schließlich lange genug."
"Menschenskind! Der hockt ja da wie auf dem Präsentierteller. Den brauche ich bloß einzusammeln!" freute sich Mort und war schon auf dem Weg zur Tür.
"Bist du verrückt!" konnte Jess ihn gerade noch zurückhalten. "Meinst du, der hat Angst vor deinem Abzeichen? Sobald du die Nase zur Tür rausstreckst, knallt er dich ab. Der hockt doch nicht zu seinem Vergnügen da!"
"Soll ich ihn mir vielleicht aus Jux betrachten? Den werd' ich mir kaufen!"
"Das wirst du eben nicht tun! Du bist wohl lebensmüde! Die beiden anderen werden in der Nähe sein. Ich vermute, sie statten der Bank einen lohnenden Besuch ab. Entweder sind sie schon drinnen, oder sie sind unterwegs."
"Na, großartig! Soll ich deiner Meinung nach von meinem Logenplatz aus zusehen, wie sie diese Stadt bis auf den letzten Cent plündern?"
"Red keinen Unsinn! Wir müssen nur warten, bis wir sie alle drei zusammen schnappen können. Solange wir die anderen nicht sehen und nicht genau wissen, wo sie stecken, wäre es glatter Selbstmord, etwas zu unternehmen. Außerdem würden wir, wenn sie schon drüben sind, die Leute in der Bank gefährden. Wer weiß, vielleicht sind noch Kunden drin. Majors auf alle Fälle und der Kassierer wahrscheinlich auch. Wenn ich mich irren sollte, dieser Hal alleine ist und nur aus Langeweile da drüben seine Nagelpflege erledigt, können wir ihn auch noch in dem Moment erwischen, wenn er verschwinden will."
"Du hast dir das schon alles ausgerechnet, was?"
"Woher! Ist mir gerade erst eingefallen."
"Und was heißt hier 'wir'? Bildest du dir etwa ein, du bist mit dem da einsatzfähig? Ich werde es nicht zulassen …"
"Du redest zuviel!" schnitt Jess ihm das Wort ab. "Ich werde mich einen feuchten Kehricht darum scheren, was du zulassen willst und was nicht. Denkst du vielleicht, ich dreh' Däumchen, während diese drei Halsabschneider versuchen, dich vor meiner Nase aus dem Weg zu räumen? Außerdem, falls du es vergessen hast: ich bin ausgesprochener Rechtshänder. Meine schwarzäugige Freundin krieg' ich schon noch aus dem Holster, besser jedenfalls, als du denkst", setzte er grinsend hinzu.
"Was ich denke, behalte ich lieber für mich. So wie du einen anguckst, traue ich dir alles Mögliche zu." Mort ging zum Gewehrschrank, holte eine Winchester und die dazugehörige Munition. "Brauchst du auch eine?"
"Nein, ist mir nur hinderlich mit einer Hand. Aber ein paar Patronen wären nicht schlecht."
Der Sheriff griff nach einer Schachtel mit fünfundvierziger Patronen und warf sie Jess zu, der sich nicht von der Stelle rührte und die gegenüberliegende Straßenseite im Auge behielt. Mit einer unscheinbaren Bewegung fing er die Schachtel, ließ den Deckel aufschnappen und leerte den Inhalt in seine Jackentasche, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
"Tut sich da draußen was?" fragte Mort, während er das Magazin der Winchester füllte und die restlichen Patronen einsteckte.
"Nichts, außer daß er seine Maniküre beendet hat."
"Diese Warterei ist ja nervenaufreibend!"
"Wem sagst du das?"
"Ob er dich gesehen hat?"
"Bestimmt nicht, oder bildest du dir ein, der würde dann so ruhig da hocken? Zumindest hätte er versucht, das zu beenden oder nachzuholen, was ihm damals nicht gelungen ist."
Mort musterte ihn skeptisch.
"Na, hoffentlich gelingt es ihm nicht heute. Nimm es mir nicht übel, aber du siehst wirklich nicht danach aus, als ob du es mit ihm aufnehmen könntest. Du scheinst zu vergessen …"
"Kümmre dich nicht um mich! Mir ging es schon lange nicht mehr so gut."
"Wer's glaubt, wird selig."
"Mort, bitte! Für solches Gewäsch ist jetzt weder der rechte Augenblick noch die Zeit. Da drüben hockt ein gemeingefährlicher Killer, und zwei nicht weniger gefährliche Kumpane von ihm treiben sich wahrscheinlich irgendwo in der Nähe herum, heben in diesem Augenblick vielleicht sogar die Bank aus. Wir sollten uns lieber den Kopf darüber zerbrechen, wie wir sie kriegen können, ohne daß sie die halbe Stadt dabei zusammenschießen."
"Du hast recht", mußte der Sheriff zugeben und starrte nun auch aus dem Fenster. "Waren viele Leute unterwegs?"
"Nicht besonders. Die scheinen alle beim Mittagessen zu sitzen. Ist auch gut so. Wo treiben sich eigentlich deine zwei Deputies herum?"
"Phil ist nach Eltham Junction geritten, sich um einen Ladendiebstahl kümmern. Clem hat heute seinen freien Tag. Sein Dienst fängt erst heute abend an."
"Jedesmal, wenn ich nach ihm frage, hat er seinen freien Tag. Hat der überhaupt mal tagsüber Dienst?"
"Er ist 'ne Nachteule, schläft gern in den Tag hinein. Wir haben uns darauf geeinigt, daß ich dafür die meisten Nächte unter die Bettdecke kriechen darf." Der Sheriff wurde zunehmend ungeduldig, während Jess nach wie vor die Ruhe selbst war. "Also, wenn jetzt nicht bald was passiert, knöpf' ich mir diesen Hal auch ohne Sondervorstellung vor. Verlaß dich drauf!"
"Das wirst du bleibenlassen! Weißt du, ob Majors die Bank heute mittag schon fürs Wochenende geschlossen hält?"
"Keine Ahnung!" Mort zuckte die Achseln. "Manchmal tut er es, manchmal nicht. Wie es ihm gefällt. Das weißt du doch selbst. Warum?"
"Weil dann sein Kassierer hundertprozentig auch drüben und der Tresor noch offen ist, bis die zwei den Wochenabschluß gemacht haben. Leichter könnte das Spiel wirklich nicht sein. Hast du niemanden rein- oder rausgehen sehen?"
"Woher denn! Hab' den ganzen Tag nicht einmal da rüber geguckt, außer seit du da bist. Ich kann dir noch nicht einmal sagen, ob Majors heute morgen pünktlich aufgeschlossen hat. Warum auch? Habe besseres zu tun, als ihn zu kontrollieren und seine Kunden zu zählen. Ist schließlich seine Sache. – Komisch, ich kann gar keine Pferde in der Nähe sehen, noch nicht einmal ein einzelnes, was unserem Freund gehören könnte."
"Die werden schon irgendwo warten. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß der oder die zu Fuß unterwegs sind. Die Bank hat doch einen Seitenausgang. In der Gasse dort werden die Gäule stehen."
"Ist das nicht unpraktisch für den Burschen da?"
"Du fragst vielleicht ein Zeug! Woher soll ich das wissen? Ich war schließlich nicht dabei, als sie ihren Plan ausbaldowerten."
"Und wenn sie durch die Seitenstraße verschwinden?"
"Ohne ihren Leibwächter? Das glaubst du ja selbst nicht! Spätestens wenn in den Bewegung kommt, wird es Zeit für uns."
"Ich wollte, ich hätte deine Nerven", brummte Mort mit einem schiefen Seitenblick auf den jüngeren Mann.
Das einzige, was sich an diesem bewegte, waren seine Augen. Von seinem übrigen Körper schien er jeden Muskel unter Kontrolle zu haben, ohne daß er deshalb verkrampft wirkte. Im Gegenteil! Er sah sehr entspannt aus, die Rechte gelassen auf dem Revolverknauf, nicht weil er sie in der Nähe oder möglichst an seiner Waffe wissen wollte, sondern weil dies eine Angewohnheit von ihm war.
"Sei froh, daß du sie nicht hast!" Ein gehässiges Grinsen huschte über sein schmales Gesicht, daß es unnatürlich hart wirkte. "Ich freue mich auf den Augenblick, wenn mein Freund da drüben feststellen muß, daß wir es diesmal sind, die ihn überraschen, und nicht umgekehrt. Schätze, der wird gleich fürchterlich dumm aus seiner schmutzigen Wäsche gucken."
"Hoffentlich sind es nicht wir, die das tun!"
"Verdirb mir bloß nicht die Schadenfreude mit deiner Miesmacherei!"
"Du legst es darauf an, gegen ihn ziehen zu müssen?"
"Nein!" kam die kurze Antwort, spontan und vor allen Dingen so entschieden, daß Mort sich hütete, dieses "Nein" für einen Augenblick anzuzweifeln.
"Dann ist es gut, sonst hätte ich dich doch da hinten einsperren müssen."
"Verlang aber nicht von mir, daß ich ihm auch noch die andere Seite hinhalte!" fügte Jess scharf hinzu, was Mort eindeutig signalisierte, seine Absichten in dieser Richtung besser nicht weiter zu erforschen.
"Was werden wir eigentlich tun, wenn die tatsächlich auftauchen?"
Jess schielte zu ihm hinüber, als wollte er wissen, ob diese Frage sein Ernst war.
"Räuber und Sheriff spielen, was sonst?"
"Ich sag' ja – deine Nerven! Und dabei hast du Glück, daß du mich überhaupt noch angetroffen hast hier im Büro. Ich wollte nämlich gerade losgehen und einen kleinen Rundgang durch die Stadt machen vorm Essen."
"Ich würde eher sagen, du hast Glück gehabt, daß ich dich rechtzeitig daran gehindert habe. Oder bildest du dir ein, der da drüben würde dir erlauben, durch die Stadt zu spazieren, bloß weil du so 'ne Blechmarke anstecken hast? Wohl kaum!"
"Du hast recht", mußte Mort mit einem sehr merkwürdigen Gefühl in der Magengegend zugeben. "Schätze, ich verdanke dir mein Leben."
"Nicht mir, Mort, sondern Mike und dem Zufall. Und jetzt wollen wir davon nicht mehr reden! Wir werden gleich Wichtigeres zu tun kriegen."
"Und der Zufall trägt ausgerechnet deinen Namen."
Jess ignorierte diese Bemerkung. Statt dessen straffte sich seine abgezehrte Gestalt, steigerte sich seine Aufmerksamkeit, obgleich dies kaum möglich war.
"Da tut sich was!" stellte er, aufs höchste konzentriert, fest, wobei seine Hand immer noch locker auf dem Knauf seiner Waffe ruhte.
Tatsächlich erhob sich Hal von dem verwitterten Korbstuhl und ging, beinahe gelangweilt wirkend, bis zu den zwei Stufen, die von der Straße auf den Brettergehsteig direkt vorm Haupteingang der Bank führten. Am Vordachpfosten machte er eine halbe Drehung, daß er nun mit seinem Körper seine Rechte und das sehr tief am Oberschenkel baumelnde Revolverholster verdeckte. Vom Sheriffbüro aus war dadurch nicht zu sehen, was er mit der Waffe oder seiner Hand tat.
Im selben Augenblick bogen zwei Reiter, offensichtlich in keinerlei Eile, um die Ecke aus der Seitenstraße neben der Bank, ein lediges Pferd mit sich führend. An jedem der drei Sättel hing ein gut gefüllter Proviantsack. Daß da allerdings nur Zwieback und Dörrfleisch verstaut waren, wollten die zwei Männer im Sheriffbüro bezweifeln.
Die drei vor der Bank bewegten sich mit einer Gemächlichkeit, daß es richtiggehend provozierend wirkte. Dabei konnte kein Zweifel bestehen, daß es sich bei den zwei Reitern um die beiden anderen Kerle handelte, von denen zwar überall die Steckbriefe hingen, die aber trotzdem die Unverfrorenheit besaßen, am hellichten Tag, vor den Augen des Sheriffs ihre kriminellen Geschäfte zu tätigen und es dabei nicht eilig hatten.
In der Bank, in Lincoln Majors Büro eingesperrt, lagen der Bankdirektor und sein Kassierer, mit dem Revolverknauf ziemlich brutal außer Gefecht gesetzt, vor dem offenen Tresor, in dem sich nur noch die Wertpapiere und Münzgeld befanden, wofür die wählerischen Gewalttäter kein Interesse zeigten. Sie waren durch die Seitentür zwei Minuten nach zwölf eingedrungen und hatten in aller Seelenruhe Kasse gemacht, ohne die geringste Spur von Hektik zu zeigen. Das bestätigte nur ihre Abgebrühtheit.
Jetzt tummelten sie sich genauso seelenruhig vor dem Bankgebäude, daß es keinen verwunderte, wenn sie anfingen auszupacken und die Beute gleich vor Ort zählten. Da konnte sich Mort Cory nicht mehr beherrschen. Mit vorgehaltenem Gewehr stürmte er aus seinem Büro, gerade in dem Moment, als Hal sein Pferd besteigen wollte.
"Keine Bewegung! Sie sind verhaftet!" erscholl seine Stimme im Gesetzeshütertonfall über die Straße.
Obwohl er die drei tatsächlich in ihrem schwächsten Augenblick überraschte, zeigten sie sich nicht besonders beeindruckt, weder von seinen Worten noch von der entsicherten Winchester in seinen Händen. Während Ron McPherson, der den zweiten Reiter halb verdeckte, zunächst so tat, als gäbe er auf, eröffnete Alexander Owen sofort das Feuer.
Mort ließ sich fallen. Sein Gewehr donnerte über die Straße. Wie eine feuerspeiende Walze rollte er zur Seite, hinter dem Wasserfaß, das die Regenrinne an seiner Büroecke aufnahm, vor den Kugeln Schutz suchend. Blindlings schoß er auf die andere Straßenseite, traf jedoch niemanden. Dafür erschreckte er die Pferde der drei, die sich wild gebärdeten.
Hal, der nur mit einem Fuß im Steigbügel hing, flog als erster unfreiwillig durch die Luft und krachte unsanft auf den Brettergehsteig vor der Bank. Sein scheuendes Pferd bockte aus der Schußlinie. Für seinen Besitzer war es als Fluchttier wertlos geworden.
Ron McPhersons Wallach stieg, schrill wiehernd, und warf seinen Reiter gegen das Geländer vor dem Brettergehsteig, das durch sein Gewicht zerbarst, blieb jedoch in der Nähe tänzelnd und schnaubend stehen.
Alexander Owen konnte sich am längsten im Sattel halten, wild um sich schießend, während er sein Pferd im Kreis herumriß, ehe es von einer verirrten Kugel getroffen wurde, zur Seite taumelte und Owen in den Sand der Straße setzte. Das verendende Tier als Deckung benutzend, schickte er Kugel um Kugel aus seiner Winchester in das Sheriffbüro, so daß Jess keine Gelegenheit erhielt, einen gezielten Schuß anzubringen, ohne in Gefahr zu laufen, sich ein Stück Blei einzuhandeln.
Die beiden anderen beschäftigten derweil den Sheriff, der sich selbst verfluchte, nicht längst ein größeres Faß aufgestellt zu haben, wie er dies während des letzten Regens vorhatte.
Aus den Augenwinkeln gewahrte er einige Passanten, die weiter oben schreiend die Straße überquerten und in einem Hauseingang verschwanden. Irgendwo knallten Türen, eine Frau schrie hysterisch auf, ein Kind quengelte weinerlich. In einem Hinterhof kläffte ein Hund, ein anderer antwortete aus entgegengesetzter Richtung. Nach ein paar weiteren Schüssen schien die Stadt ausgestorben zu sein. Wenigstens konnte dann keiner ihrer Einwohner als Unbeteiligter mit in dieses Schauspiel verwickelt und womöglich sogar getroffen werden.
Jess, von Alexander Owen in seiner dürftigen Deckung festgenagelt, verfluchte seine schmerzende Wunde und die Tatsache, daß er seinen linken Arm nicht gebrauchen konnte. Auf diese Weise war er erheblich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, was ihm zusätzlich zur Gefahr werden konnte. Er hatte sich gegen den schmalen Mauerstreifen zwischen Tür und Fenster gepreßt und versuchte, Alexander Owen zu erwischen, der jedoch hinter seinem toten Pferd in guter Position lag. Die beiden anderen konnte er von dieser Stellung aus überhaupt nicht unter Beschuß nehmen.
Als er das Feuer unterbrechen mußte, weil die Trommel seines Revolvers leer war, schlug ein Stakkato von Schüssen durch das Fenster hinter ihm neben der Tür, daß die einzige noch heile Scheibe des Büros als kleinkrümeliger Glasregen zu Boden prasselte.
Plötzlich fuhr Jess zusammen, weil er in seinem Rücken etwas hörte, was das Blut in seinen Adern beinahe gefrieren ließ. Entsetzt starrte er in das verwüstete Büro zurück, in dem Papier und Akten auf dem Boden verstreut lagen und das zerschossene Tintenfaß auf dem Schreibtisch eine schwarzblaue Lache hinterlassen hatte.
"Mike!" schrie er wie von Sinnen.
Der Junge stand vor dem Schreibtisch, vor Angst und Schrecken wie gelähmt, als eine Kugel den Schirm der Petroleumlampe neben ihm zerschmetterte und der Fuß mitsamt Zylinder von der Tischplatte gefegt wurde, daß er am Boden zersplitterte und das Petroleum verschüttete.
Mikes verstörter Aufschrei, seine vor Angst aufgerissenen Augen, sein aufgesperrter Mund und die furchtbare Tatsache, daß er sich mitten in der Schußlinie befand, vor Entsetzen keiner Bewegung fähig, ließen Jess alle Vorsicht vergessen. Obwohl eine weitere Salve in das Büro schlug, verließ er seine Deckung, hastete in geduckter Haltung zu dem Jungen und riß ihn mit zu Boden, während er unter dem Schreibtisch vor dem Hornissenschwarm von Geschossen Deckung suchte. Mit der linken Schulter stieß er dabei mit voller Wucht an den einen Tischsockel, daß er im ersten Moment dachte, er wäre getroffen. Leicht benommen von den heftigen Schmerzen in seiner Brust, spürte er einen Luftzug an seiner rechten Schläfe, wo ein Schuß ein paar Haarspitzen streifte. Ein weiterer hinterließ auf seinem Hals, direkt unter seinem linken Ohr, eine brennende Schramme, was er zunächst gar nicht bemerkte, wohl aber, daß diese Kugel Mike getroffen hätte, stünde er noch dort vor dem Schreibtisch.
Jetzt lagen beide auf dem Boden, eingerahmt von den zwei massiven Tischsockeln des wuchtigen Schreibtisches, in Sicherheit vor den Geschossen, die mal mehr, mal weniger von der Straßenseite jaulend hereinzischten und sich klatschend in Wände und Schränke bohrten.
Mike wimmerte wie ein gequälter Hund und klammerte sich an seinen Pflegevater, der, halb über ihm kauernd, ihn mit seinem Körper schützte und jeden Augenblick damit rechnete, daß eine der Kugeln sich schmerzhaft in seinen Rücken fraß.
"Bist du in Ordnung, Mike?" fragte Jess voller Sorge. Warum er nicht im Gefängnistrakt in Deckung geblieben war, wollte er gar nicht wissen.
Der Junge, halb unter ihm liegend, nickte verschreckt.
"Ich … ich glaub' schon", schluckte er und getraute sich nicht zu bewegen. Seine Arme hatte er um Jess' Hals geschlungen und seine Hände krampfhaft in seinem Rücken vergraben. Am liebsten hätte er ihn gar nicht mehr losgelassen.
"Bist du sicher?" vergewisserte sich der Mann und versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu lösen, ohne dabei zu weit aus der Deckung zu geraten und eine Kugel zu fangen.
"Bestimmt", versicherte Mike, sich allmählich beruhigend, aber am ganzen Körper zitternd und mit soviel Angst in den Augen, daß sie ihm beinahe den Verstand raubte.
"Gott sei Dank!"
Jess drückte ihn an sich. Daß der Junge mit heiler Haut davon gekommen war, ließ ihn die fürchterlichen Schmerzen vergessen, die in seiner Brust tobten und ihn beinahe außer Gefecht setzten.
"Bist … bist du getroffen?" wollte Mike mit stockender Stimme wissen, der am Rande mitbekommen hatte, wie Jess heftig zusammenzuckte, als er mit der Schulter gegen den Tischsockel prallte.
"Nein, nichts passiert! Ist gerade noch mal gut gegangen." Jess lockerte seine Umarmung, drehte sich halb um die eigene Achse und lehnte mit dem Rücken gegen den Tischsockel, während er begann, sein Schießeisen neu zu laden. "Mach dir keine Sorgen."
"Aber du … du blutest ja!"
"Ach was! Wo denn?" Von dem aufgeregten Jungen ließ er sich von der Arbeit nicht abhalten.
"Am Hals … da!"
Mike deutete auf die Schramme unter seinem Ohr. Achtlos wischte Jess mit dem Handrücken darüber, entdeckte das Blut und verzog das Gesicht zu einem arglosen Grinsen.
"Ist nicht schlimm!" Mit einem Harmlosigkeit vortäuschenden Lächeln versuchte er den Jungen zu beruhigen. "Ist nur ein Kratzer." Er schob die letzte Patrone in die Kammer und schloß die Trommel. "Hab' ich gar nicht gemerkt."
"Ist alles meine Schuld!"
"Unsinn!" Mit unverkennbarem Nachdruck schob er den wieder geladenen Colt ins Holster. "Mike, du bleibst hier unten und rührst dich nicht von der Stelle, hörst du? Hier bist du sicher, aber du mußt unten bleiben!"
"Wo … wo willst du denn hin?" fragte der Junge mit allergrößtem Unbehagen, als Jess Anstalten machte, etwas gegen den unaufhörlichen Beschuß der Gegenseite zu unternehmen.
"Ich werde versuchen, durchs Gefängnis nach draußen zu gelangen. Mort kann sich vor der Tür nicht mehr lange halten, und ich bin hier keine Hilfe für ihn."
"Bitte, bleib hier! Sie werden dich töten! Bitte, Jess! Ich hab' so schreckliche Angst! Du darfst nicht gehen! Bitte!"
"Mike, ich muß! Ich kann mich hier nicht verkriechen, während sie den Sheriff da draußen abknallen. Was würdest du dann von mir denken?"
"Ist doch egal! Hauptsache, dir geschieht nichts!"
"Ich pass' schon auf! Mach dir keine Sorgen um mich. Aber du mußt mir versprechen, daß du hier unten bleibst, egal, was passiert!"
"Jess …"
"Dein Ehrenwort, Mike!"
"Mein … Ehrenwort", stammelte der Junge heiser.
"Du kommst erst wieder hoch, wenn der Sheriff oder ich es dir erlauben. Hast du das verstanden?" schärfte er ihm ein; Mike nickte stumm. "Gut!"
Jess durchwühlte seinen Blondschopf und verabschiedete sich mit einem anerkennenden Lächeln.
Während einer Feuerpause gelangte er ungeschoren zu der offenstehenden Trenntür zum Gefängnis. Mit lautem Knall warf er sie hinter sich ins Schloß, als auch schon wieder eine Salve herüberpfiff und ein Teil der Geschosse in die massive Tür schlug.
Dahinter mußte er erst einen Augenblick verschnaufen. Nun, da er allein war, konnte er seine Schmerzen nicht mehr länger verbergen. Sie trieben ihm Schweißperlen auf die Stirn. Aber er hatte jetzt keine Zeit, sich um seine pochende Wunde zu kümmern.
Vor dem Büro lag der Sheriff unter heftigem Beschuß, und auf der anderen Straßenseite hatten sich drei gemeingefährliche Killer verschanzt.
Mit zusammengebissenen Zähnen raffte er sich auf, hetzte den Zellengang entlang und warf den Riegel an der Hintertür zurück. Mit einem kräftigen Ruck riß er die schwere Tür auf und stand im nächsten Augenblick an der Rückfront des Gebäudes, den schweren Revolver in der rechten Faust. Das vertraute Gewicht seiner Waffe verlieh ihm plötzlich ein Gefühl der Zuversicht, daß er mit einem Mal wußte, aus diesem Kampf nicht als Verlierer hervorzugehen. Da konnte ihn das Brennen und Stechen in seiner Brust noch so sehr warnen!
An der Ecke wagte er einen vorsichtigen Blick. Die Schießerei fand direkt vor dem Sheriffbüro statt. Mort Cory hatte die drei bis jetzt mit seinem mehr oder weniger gezielten Gewehrfeuer ebenso festgenagelt wie sie ihn. Während er mit den zwei anderen beschäftigt war, mußte es Ron McPherson gelungen sein, zu seinem Pferd und in den Sattel zu kommen.
Jedenfalls hörte Jess Hufgetrappel auf sich zukommen. Dann – halb aus seiner Deckung an die hintere Seitenwand des Gefängnisses gedrückt, wollte er einen Blick wagen – bog ein Reiter um die Ecke, wild um sich schießend. Jess sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde. Es reichte gerade, um ihn zu erkennen und einen ungezielten Schuß aus der Hüfte in seine Richtung abzufeuern. Er hatte noch nicht einmal Zeit genug, sich zu vergewissern, ob seine Kugel überhaupt irgendein Ziel erreichte. Statt dessen mußte er vor Rons wahllos verschossenen Kugeln an der Gefängnisrückseite in Deckung gehen.
Ein reiterloses Pferd galoppierte an ihm vorbei, machte ein paar verschreckte Bocksprünge, daß der Proviantsack am Sattel auf und ab hüpfte, und tänzelte den Seitenweg entlang. Gleichzeitig hatte Ron McPherson aufgehört zu schießen.
Erneut spähte Jess um die Hausecke. Ein paar Schritte von ihm entfernt lag der Mann ausgestreckt auf dem Gesicht und regte sich nicht mehr. Da Jess nicht wußte, wo und ob sein ungezielter Schuß überhaupt getroffen hatte oder Ron sich nur verstellte, mußte er sich erst vergewissern, daß von diesem keine Gefahr ausging und er ihm nicht mehr in den Rücken fallen konnte.
Schon als er sich vorsichtig mit vorgehaltener Waffe näherte, sah er das Blut an seinem Hinterkopf und Genick. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend schob er mit dem Fuß zuerst das Schießeisen aus der Reichweite von Rons rechter Hand und drehte ihn dann auf den Rücken. Seine Kugel war ihm von schräg unterhalb des Kiefers in den Hals gedrungen und hatte ihm beim Austritt den halben Hinterkopf weggerissen.
Daß er sich über diesen Volltreffer besonders freute, konnte Jess nicht gerade behaupten. Er gehörte nicht zu jenen, denen es nichts ausmachte, einen Menschen zu töten, auch nicht in Notwehr. Die einzige Erleichterung, die er beim Anblick des Toten verspürte, war in der Tatsache begründet, daß es jetzt nur noch zwei gegen zwei stand.
Indessen ging auf der Vorderseite des Sheriffbüros das Schießen ohne Unterbrechung weiter. Mort, der hinter dem leergelaufenen Regenfaß, das mit Einschußlöchern nur so bespickt war, kaum noch Schutz fand, mußte sich allmählich nach einer anderen Deckung umsehen, denn jetzt, wo das Faß kein Wasser mehr enthielt, schlugen die Geschosse durch, wenn sie nicht gerade auf eines der Eisenbänder trafen, die es noch zusammenhielten.
Zuvor konnte er einen kleinen Erfolg verzeichnen. Alexander Owen war hinter dem toten Pferd zusammengezuckt und schoß jetzt nur noch vereinzelt. Offensichtlich hatte er ihn getroffen, zwar nicht ganz außer Gefecht gesetzt, aber doch in seiner Schießwut etwas gebremst.
Beim nächsten Schuß gab die Winchester nur ein metallisches Klicken von sich. Mort versuchte ein weiteres Mal durchzuladen, aber das Magazin war leer. Das wollte Hal Thorne, der sich an der Ecke des Bankgebäudes in guter Deckung verschanzt hatte, ausnutzen, um diesen lästigen Gesetzeshüter endlich loszuwerden.
Aus dem Sheriffbüro schien, wer immer sich da versteckt gehalten hatte, keine Gefahr mehr zu erwarten zu sein. Anscheinend war der sich darin befindliche Widersacher bei dem schweren Beschuß im wahrsten Sinne des Wortes durchsiebt worden. Jedenfalls wurde hinter dem Sheriff schon seit einer Weile nicht mehr geschossen.
Hal sprang mitten auf die Straße, um ein besseres Ziel zu haben. Mort, mit dem Nachladen seines Gewehres beschäftigt, hatte weder Zeit, seinen Revolver aus dem Holster zu reißen noch Gelegenheit, sich in Deckung zu bringen. Selbst wenn er eine günstigere Position gefunden hätte, hätte sie ihm nichts genützt, weil er Hal viel zu spät sah. Einzig und allein die Tatsache, daß Jess die Situation von der Hausecke aus im Blick hatte, rettete dem Sheriff das Leben.
"Paß auf, Mort!" schrie der Freund, riß im gleichen Augenblick die Rechte hoch und feuerte.
Sein Schuß war eins mit dem des anderen, vielleicht sogar den winzigen Bruchteil einer Sekunde früher. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Sheriff zusammenzuckte und die Winchester fallen ließ.
Hal krümmte sich und preßte die Linke in die Magengrube, während er mit der anderen Hand die Waffe hob. Er torkelte vorwärts und schoß dabei weiter, jedoch ungezielter in Richtung Hausecke. Trotzdem heulte eine Kugel haarscharf an Jess' Kopf vorbei. Eine weitere klatschte in die Hauswand neben seinem Gesicht, peitschte Splitter und Verputz gegen seine Wange, ehe Jess endlich einen zweiten Schuß abfeuern konnte, der den Amoklauf beendete.
Hal Thorne richtete sich kerzengerade auf, wurde nach hinten gerissen und kippte dann rücklings auf die Straße, auf halbem Weg zwischen den auf der Diagonale liegenden Hausecken. Bei seinem Sturz schleuderte sein noch rauchender Colt weit über die Straße.
Auch hinter dem toten Pferd wurde nicht mehr geschossen. Alexander Owen, vom großen Blutverlust geschwächt, hing völlig entkräftet mit dem Oberkörper über dem Kadaver, unter sich den prallen Proviantsack. Die Waffe entglitt seiner Rechten und kullerte über den Leib des toten Tieres, wo sie für einen schnellen Zugriff unerreichbar für ihn war. Allerdings schien er sowieso das Bewußtsein verloren zu haben, so daß von ihm keine Gefahr mehr ausging.
Nach der heftigen Schießerei, die nicht einmal fünf Minuten gedauert hatte, wirkte die plötzliche Stille geradezu unheimlich.
In die zusammengekauerte Gestalt hinter dem leeren Regenfaß kam endlich wieder Leben. Mühsam richtete Mort seinen Oberkörper auf und lehnte sich für einen Moment mit dem Rücken gegen die Wassertonne.
Jess, argwöhnisch das Schlachtfeld im Auge behaltend und den Colt mit gespanntem Hahn in der Rechten, huschte um die Ecke und war mit wenigen Schritten bei dem Gesetzeshüter, der mit verzerrtem Grinsen zu ihm aufblickte.
"Alles in Ordnung, Mort?" fragte er nach einem letzten Blick über die Straße, wo sich jedoch nichts regte, sicherte die Waffe und ließ sie ins Holster gleiten, während er neben dem Gesetzeshüter in die Hocke ging und ihm fürsorglich die Hand auf die Schulter legte.
"Alles bestens! Ist gerade noch mal gutgegangen. Danke!"
"Nichts zu danken. Hat es dich schlimm erwischt?" wollte er wissen und schob seine Jacke zur Seite. Morts Hemd war auf der rechten Seite blutig.
"Nein, ist nur 'ne Schramme. Könnte schlimmer sein. Was ist mit dir?"
"Alles in Ordnung. Kommst du hoch?"
"Sicher." Mort rappelte sich auf die Beine und preßte die Linke gegen seine rechte Körperseite, wo Hal Thornes Kugel knapp unterhalb der Rippen eine brennende Furche in die Haut gezogen hatte, die so stark blutete, daß ihm das Blut über die Hand lief und auf den Boden tropfte. Die Wunde selbst schien Gott sei Dank nicht gefährlich zu sein. "Wir sollten uns mal um die Überreste kümmern. Was ist mit dem dritten?"
"Der liegt mausetot da gleich um die Ecke. Hat versucht abzuhauen." Jess deutete unbestimmt Richtung Seitenweg. "Kommst du zurecht?"
"Klar! Hab' mich noch nie so großartig gefühlt!" versicherte Mort mit einem erleichterten Grinsen, obwohl er sich etwas schwankend in Bewegung setzte, um die Straße zu überqueren.
Jess blickte ihm mißtrauisch nach, aber der Sheriff hatte so wie er anderes zu tun, als sich um die eigene Schwäche zu kümmern.
Bei dem Pferdekadaver vergewisserte sich Mort, daß von Alexander Owen tatsächlich keine Gefahr mehr ausging. Er zerrte den reglosen Körper auf den Rücken.
Statt sich weiter um den schwerverletzten Mann zu kümmern, bückte er sich nach dem Proviantsack und riß ihn auf. Er war prall gefüllt mit Geldscheinen aus der Bank.
Der Pulverrauch hatte sich noch nicht verzogen und stand trotz des Nordostwindes beißend zwischen den Hauswänden, als auch schon die ersten Schaulustigen auf der Straße erschienen.
"Holt mal einer den Arzt!" fuhr Mort die Neugierigen mürrisch an, die um ihn herum standen und anscheinend nicht wußten, was sie tun sollten.
Tatsächlich sprang einer davon in Richtung Doc Higgins' Praxis. Dann wurde die von innen verschlossene Tür der Bank geöffnet, und Lincoln Majors stolperte zusammen mit seinem ebenfalls noch sehr benommenen Kassierer heraus. Sie hatten sich aus dem Büro befreien können, wo sie angesichts des leeren Tresors und der heftigen Schießerei, die vor der Bank stattfand, nur hoffen konnten, daß die zwei Bankräuber, die ihnen aufgrund der Steckbriefe sehr bekannt vorkamen, vom Sheriff oder wem auch immer aufgehalten wurden, sonst wäre genau das eingetroffen, was Lincoln Majors und die Bank nicht verkraftet hätten: ein Versicherungsfall, bei dem die Versicherung wegen Überhöhung der Einlagen das Risiko zu tragen abgelehnt hätte, womit Majors persönlich für den Schaden haftbar gemacht worden wäre – sein völliger Ruin, nicht nur in finanzieller Hinsicht.
Majors wankte aus der Tür, die eine Hand gegen die Beule an seinem Hinterkopf gedrückt. Erstaunlich schnell überblickte er die Lage und sank mit einem lauten Seufzer der Erleichterung in den Korbstuhl, in dem Hal Thorne Wache gehalten hatte. Hier mußte er sich erst einmal von seinem Schreck erholen.
Währenddessen trat Jess zu der reglosen Gestalt von Hal Thorne, der mitten auf der Straße lag. Seine Rechte ruhte dabei auf dem Walnußholzgriff seines Schießeisens, diesmal weniger aus Gewohnheit denn als Vorsichtsmaßnahme. Obwohl er gesehen hatte, daß beide seiner Kugeln getroffen hatten, war er gerade Thorne gegenüber besonders mißtrauisch.
Hal blutete unter dem linken Rippenbogen. Eine zweite Einschußstelle befand sich direkt neben seinem Brustbein. Jess dachte schon, der Mann wäre tot, aber da schlug Hal die Augen auf und verzog das graue Gesicht zu einem seiner niederträchtigen Grinsen, daß es seinem Opfer von damals eine Gänsehaut über den Rücken trieb. Er hatte Jess sofort erkannt, schon als er ihn vorhin an der Hausecke gesehen hatte.
"Ausgerechnet Sie!" stöhnte er.
"Tja …"
"Hätte nicht gedacht, daß wir uns noch mal begegnen", sagte Hal mit schwacher Stimme, aber in einem Redefluß. Dabei starrte er Jess mit seinen Augen an, in denen auch jetzt noch soviel von seiner heimtückischen Wesensart zu erkennen war, daß es den Mann von der Sherman-Ranch schauderte. "Hab' noch nie so verflucht miserabel getroffen."
"Es hat gereicht", hörte sich Jess trocken sagen.
"Ja!" Hals Grinsen wurde breiter. Blut quoll ihm aus Mund und Nase, aber er grinste immer noch. Er sah gespenstisch aus. "Zu dumm, daß ich vor Ihnen in der Hölle sein werde." Er spuckte Blut und keuchte. "Aber keine Angst!" ächzte er. Schadenfreude breitete sich in seinem eingefallenen Gesicht aus. "So wie Sie aussehen, werden wir uns dort bald wieder treffen. Ich werd' am Eingang auf Sie warten. Dann … dann schieß' ich nicht mehr daneben!" prophezeite er und verließ diese Welt mit einem gehässigen Grinsen, das zur widerwärtigen Grimasse auf seinem fahlen Gesicht gefror. Seine gebrochenen Augen stierten Jess an, als wollten sie ihn gleich mitnehmen zur Hölle.
Eine ganze Weile stand er reglos da und starrte auf den Toten hinab. Wenn er seine Gefühle beschreiben wollte, die bei seinem Anblick in ihm hochstiegen, hätte er es nicht fertiggebracht. Mitleid war gewiß nicht dabei, eher Verachtung und Abscheu, vielleicht sogar so etwas wie Genugtuung.
Wer wollte ihm das verdenken. Immerhin lag vor ihm der Mann, der ihn vor zwölf Wochen aus dem Hinterhalt ohne besonderen Grund über den Haufen geschossen hatte, nur weil er gerade Lust dazu verspürte, Zielübungen statt auf leere Flaschen und Konserven auf einen Menschen zu machen, hatte ihn dabei so schwer verletzt, daß ihm womöglich ein langsamer, qualvoller Tod bevorstand, und hatte nebenbei zu allem Überfluß das kindliche Gleichgewicht seines Pflegesohnes empfindlich gestört und dessen kleine heile Welt aus den Fugen geraten lassen. Nein, Mitleid konnte Jess mit diesem Mann nicht haben! Daß Hal ausgerechnet an seinen Kugeln sterben mußte und tatsächlich vor ihm zur Hölle fuhr, empfand er nicht mehr als gerecht. Wiedergutmachen konnte er damit jedoch nichts.
Wenigstens konnte sich Jess von der Schuld freisprechen, ihn aus purer Vergeltungssuche getötet zu haben. Es war wirklich reine Notwehr gewesen und um den Sheriff zu retten. An Rachegedanken in dem Moment, als er abdrückte, konnte er sich jedenfalls nicht erinnern, selbst wenn er sich vor seinem Gewissen noch so schlecht machen und niedrige Gelüste in der Beziehung vorwerfen wollte. Daß er hinterher über das Resultat eine gewisse Befriedigung verspürte, konnte ihm keiner – auch er selbst nicht! – verübeln. Das Recht der plötzlichen inneren Erleichterung stand ihm ganz einfach zu nach allem, was dieser Mann ihm angetan hatte, was er seinetwegen durchmachen mußte und vielleicht noch auf ihn wartete. Dabei lag es ihm fern, über den Mann vor sich zu richten oder gar leichtfertig zu behaupten, er hätte den Tod verdient. Ungeachtet dessen fiel es ihm allerdings schwer, irgend etwas anderes zu sehen, was er verdient haben könnte. Hal Thorne hatte über viele Menschen Schmerzen und Leid gebracht, Tod und Elend.
Allein, daß sich Jess so viele Gedanken über sein Ableben machte, war für ihn Quälerei genug. Wenn Hal Thorne das erfahren hätte, wäre sein letztes Grinsen mindestens doppelt so breit ausgefallen. Auch wenn er trotz allem ein Mensch gewesen war, war er es weder jetzt noch zu Lebzeiten wert, daß sich ein aufrichtiger Mann wie Jess Harper Vorwürfe machen mußte, leichtfertig seinen Tod herbeigeführt zu haben.
Plötzlich stand Mort Cory neben ihm und legte ihm schwer die Hand auf seine rechte Schulter, ohne daß Jess von dem Toten aufsah. Sein ernstes Gesicht verriet, daß er in tiefe Gedanken versunken war. Leichtfertig hatte dieser Mann gewiß niemanden getötet!
"Das war knapp, was?" meinte der Sheriff und warf einen ziemlich verächtlichen Blick auf den Toten. Er sah keinen Anlaß, ihn zu bedauern.
"Tja, das kann man wohl sagen."
"Hat der Kerl noch irgendwas von sich gegeben?"
"Nichts von Bedeutung, nur daß er in der Hölle auf mich wartet."
"Du machst dir über so eine Bemerkung hoffentlich keine Gedanken?"
"Nein", kam die knappe, bestimmte Antwort; trotzdem wurde Mort das Gefühl nicht los, daß irgend etwas an der Sache seinen jungen Freund über Gebühr beschäftigte.
"Mach dir keine Vorwürfe, Jess! Du hattest keine andere Wahl", betonte er nachdrücklich, den Druck seiner Hand auf Jess' Schulter zu einem festen Griff verstärkend.
"Sicher! Ich wünschte nur, es hätte sich dadurch etwas geändert."
"Sehr viel hat sich da sogar geändert! Da es Owen auch nicht mehr lange macht, laufen immerhin drei Galgenvögel weniger auf dieser Welt herum, die mit wahrer Freude auf ihre Mitmenschen losgeballert haben. So gesehen hat sich also sehr viel geändert."
"Das meinte ich nicht!"
Endlich blickte Jess zu ihm auf. Sein Gesicht war sehr ernst. Er selbst sah müde und abgekämpft aus. Anscheinend begann sich jetzt, nachdem die außergewöhnliche nervliche Belastung allmählich nachließ, eine totale Erschöpfung bemerkbar zu machen. Daß er sich während der letzten paar Minuten völlig verausgabt hatte, konnte er jedenfalls nicht leugnen. Eher müßte er sich wundern, daß er überhaupt soviel Kraft aufbringen konnte, das alles durchzustehen, ohne schon gleich zu Anfang vor lauter Schwäche auf der Strecke zu bleiben. Auch fingen die Schmerzen in seiner Brust wilder denn je an zu toben. Jetzt, wo körperliche Spannung und Konzentration wichen, rebellierte sein ausgelaugter Körper um so mehr gegen diese enorme Überanstrengung.
"Ich weiß", nickte Mort verständnisvoll. "Im übrigen hast du als mein Hilfssheriff gehandelt, falls jemand dumme Fragen stellen sollte."
"Ich habe nichts zu verbergen."
"Ich weiß", sagte der Gesetzeshüter abermals. "Trotzdem wird es auch so in meinem Bericht stehen. Macht sich besser! Manchmal kommen die Leute auf die verrücktesten Ideen. Das weißt du ja. Was mich betrifft, brauch' ich dir nicht ausdrücklich zu sagen, daß ich trotz meiner anfänglichen Einwände deswegen", er nickte bezeichnend wegen seiner Verletzung, "heilfroh war, dich an meiner Seite zu wissen anstelle einer meiner Deputies. Schätze, dann würde ich nicht mehr leben."
Jess verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen, weniger über Morts Feststellung als vielmehr über seinen Gehilfen Clem Brittfield, der eigentlich seinen freien Tag hatte, jetzt aber außer Atem die Straße entlang gerannt kam.
Die zweite Nachthälfte und den Vormittag hatte er bei seiner Freundin in deren Zimmer in einer Pension am entferntesten Stadtausgang verbracht, als ihn die Schießerei aus den süßesten Träumen und ihren Armen riß. Soviel Diensteifer mußte man ihm zugestehen; denn immerhin hatte er sich so schnell es ging in seine überall in dem abgedunkelten Raum verstreuten Kleider geworfen und sich auf den Weg zum Ort des Geschehens gemacht, zu Fuß, weil sein Pferd ungesattelt im Stall stand und er in seiner Aufregung kein anderes Reittier finden konnte, obwohl er auf der langen Strecke die Hauptstraße entlang mindestens an einem halben Dutzend gesattelter Pferde vorbeispurtete.
"Immerhin kommt Clem da gerade angaloppiert – zu Fuß –, trotz seines freien Tages."
Mort blickte zurück auf die Straße hinter ihm. Auch er mußte bei seinem Anblick grinsen.
"Du hast recht, zwar etwas spät, aber immerhin!"
Zur gleichen Zeit kam auch Gary Morgan herbeigeeilt, Notizblock und Bleistift bereits in der Hand.
"Und unsere Zeitung ist auch schon unterwegs."
"Dabei sollte ich erst einmal die Beute sicherstellen."
"Überlaß das Clem! Nicht daß er denkt, er wäre überflüssig. Und du solltest mit deiner Schramme besser zum Arzt gehen, eh du ausblutest." Jess deutete ein wenig besorgt auf Morts linke Hand, die er gegen seine Seite gepreßt hielt und über die das Blut, klebrig glänzend, rann. "Das hört ja überhaupt nicht mehr auf."
"Dan kommt hoffentlich sowieso gleich – wegen unseres Freundes da drüben. Der Kerl hat noch gelebt. Vielleicht braucht er auch bereits den Leichenbestatter. Schätze, die aus Leavenworth werden sich freuen, wenn sie das hören."
"Kann es keinem verdenken", brummte Jess, schon halb zum Gehen gewandt.
"Wo willst du denn hin?"
"In dein wüstes Büro, nach Mike sehen. Ich fürchte, der Ärmste ist vor Angst schon tausend Tode gestorben."
"Na, im Gefängnis war er wenigstens sicher."
"Wenn er dort geblieben wäre."
"Wieso? Ist er nicht …"
"Nein, er stand plötzlich vor deinem Schreibtisch mitten im Kugelhagel."
"Du lieber Himmel! Hoffentlich ist ihm nichts passiert!"
"Gerade noch mal gutgegangen. Ich glaube, die hier", Jess deutete auf die Schramme an seinem Hals, "war für seinen Kopf bestimmt. Wenn er dort geblieben ist, wo ich ihn zurückgelassen habe, war er in Sicherheit – Gott sei Dank!"
"Hm, ich komme gleich nach."
Jess ließ ihn stehen und kehrte in das übel zugerichtete Büro des Sheriffs zurück.
Gary Morgan erreichte Mort Cory als erstes, noch vor Clem Brittfield, dem offensichtlich die anstrengende Nacht zu schaffen machte.
"Sheriff, das war ja ein Höllenspektakel!" rief er schon von weitem und nahm beim Näherkommen sofort den toten Hal Thorne in Augenschein. "Das ist ja tatsächlich einer der Kerle von unserem Steckbrief!"
"Ja, und die zwei anderen sind auch Freunde von uns."
"Meine Güte!" Gary überblickte abschätzend die Straße, auf der sich in dicken Trauben die Leute tummelten, jedoch respektvollen Abstand zu Mort Cory hielten, da sie alle wußten, daß er für solche Menschenaufläufe wenig Verständnis zeigte; aber solch ein Schauspiel wollte sich keiner entgehen lassen, kam es schließlich nicht gerade häufig vor, daß man ihre Bank ausrauben wollte und der Sheriff die Räuber beinahe auf frischer Tat stellen konnte, das Ganze auch noch garniert mit einer gewaltigen Schießerei. "Das gibt 'ne Wahnsinnsstory!" entfuhr es dem Zeitungsmann vor Begeisterung. "Ich werde eine Extraausgabe drucken."
"Von mir aus! Bloß, Gary, bleiben Sie bitte auf dem Boden!"
"Aber, Sheriff!" Morgan fuhr ein wenig entrüstet zu ihm herum. "Sie kennen mich doch und wissen, daß ich nur Tatsachen berichte."
"Klar, Gary, ich wollte Sie ja nur erinnern – zur Sicherheit."
"Ich habe doch auch Jess Harper gesehen, oder irre ich mich da? Wo …"
"Bitte, Gary, geben Sie uns ein wenig Zeit, die Dinge zu regeln, ja? Kommen Sie nachher in mein Büro oder in das, was davon übrig ist. Sagen wir, in zwei Stunden etwa?"
"Einverstanden", nickte Morgan bereitwillig, denn er wußte, wenn ihn Mort Cory offiziell zu sich bestellte, konnte er mit erstklassigen Informationen aus allererster Hand rechnen. Dafür war er gerne bereit, sich zwei Stunden, wenn es sein mußte, auch länger zu gedulden.
"Nur tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie Jess in Ruhe damit. Für ihn wird es garantiert nicht leichter, wenn er das alles noch einmal durchkauen soll."
"Aber er ist doch in Ordnung, nicht wahr? Ich meine, es ist ihm hoffentlich …"
"Keine Sorge! Heute ist er Gott sei Dank mit ziemlich heiler Haut davon gekommen."
"Aber Sie hat es erwischt", bemerkte Gary mit einer hinweisenden Kopfbewegung in Richtung Morts blutender Wunde, wobei er das Gesicht verzog, als wollte ihm der Dentist einen eitrigen Zahn ziehen.
"Wie gesagt, Gary, in zwei Stunden", erinnerte Mort.
"Natürlich. Darf ich diese drei Halsabschneider fotografieren?"
"Ist mir egal. Machen Sie das mit dem Leichenbestatter aus."
"In Ordnung. Wo ist eigentlich der dritte?"
"Der müßte da irgendwo in dem Seitenweg liegen." Morgan wollte schon fragen, was dieses "müßte" zu bedeuten hatte, aber der Sheriff setzte hinzu: "Keine Angst, der wird Ihnen nichts mehr tun."
Irgendwie paßten diese beiden Aussagen nicht zusammen, aber Gary Morgan zwang sich, seine Neugierde unter Kontrolle zu halten und darauf zu beschränken, die Lokalitäten zu besichtigen. In zwei Stunden würde er ganz gewiß die Einzelheiten erfahren.
Völlig ausgepumpt traf endlich Clem Brittfield ein. Er war ein junger, kräftig gebauter, rothaariger Bursche mit lustigen Grübchen auf den Wangen, die ihm ein beinahe lausbubenhaftes Aussehen verliehen. Wenn er nicht gerade seinen freien Tag bei seiner leichtlebigen Freundin verbrachte – sie war Animiermädchen in einem der Tanzlokale –, erwies er sich als recht zuverlässiger Mann, der seine Arbeit als Hilfssheriff sehr ernst nahm. Ihm fehlte zwar oftmals das gewisse Etwas, das ihn über eine knifflige Situation stellen sollte, aber er war durchaus lernfähig, so daß er in ein paar Jahren gewiß über die nötige Erfahrung und Courage verfügte, die ihm im entscheidenden Moment genügend Selbstvertrauen gab.
"Sheriff, was in drei Teufels Namen war denn hier los?" begrüßte er seinen Vorgesetzten, der sich eigentlich endlich in sein Büro zurückziehen wollte, weil sich eine allmähliche Schwäche aufgrund des Blutverlustes bemerkbar machte.
"Erzähl' ich Ihnen nachher. Sammeln Sie als erstes mal die drei Proviantsäcke ein und bringen Sie sie zu Majors in die Bank. Das eine Pferd muß da in dem Seitenweg sein, das andere steht da vorn am Brunnen, das dritte liegt da drüben. Dann soll sich der Leichenbestatter um die Toten kümmern. Und der Abdecker soll den Pferdekadaver von der Straße schaffen. Sagen Sie Majors, ich erwarte ihn in meinem Büro, wenn er das Geld wieder im Tresor verstaut hat. Wenn endlich Doc Higgins auftaucht, soll er mal nach dem Kerl da drüben sehen. Der hat vorhin noch gelebt. Keine Angst!" hielt er seinen nervös gewordenen Deputy zurück, der meinte, er müßte sich als erstes darum kümmern, daß sich Alexander Owen nicht aus dem Staub machen konnte. "Der läuft garantiert nicht mehr weg. Sollte er noch leben, schaffen Sie ihn ins Gefängnis, wenn der Arzt bei ihm war. Wenn nicht, soll der Leichenbestatter drei Kisten mitbringen. Und Doc Higgins soll bei mir vorbeikommen und dafür sorgen, daß diese Sauerei da aufhört." Er lockerte etwas den Griff seiner Linken, deren Handfläche genauso blutig war wie sein Hemd. "Sagen Sie ihm, daß es sonst seine Schuld ist, wenn ich an diesem harmlosen Kratzer verblute."
"Es hat Sie aber ganz schön erwischt. Brauchen Sie Hilfe? Soll ich …"
"Sie werden als erstes nach den Proviantsäcken sehen. Daß mir ja keiner abhanden kommt! Ich mache Sie dafür verantwortlich, Clem!"
"Ja, Sir!"
"Wenn Sie alles erledigt haben, jagen Sie die Leute auseinander und kommen ins Büro."
"Ja, Sir!"
Mort sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er tatsächlich als erstes in dem Seitenweg neben dem Gefängnis verschwand, wo er beinahe über den toten Ron McPherson und Gary Morgan gestolpert wäre, der die Leiche ausgiebig begutachtete und dabei ein besseres Gefühl im Magen zu haben schien als Jess beim Anblick des halb zerfetzten Schädels.
Als Clem bald darauf im Laufschritt um die Ecke zurückkam und das Pferd des Toten mitsamt vollem Proviantsack am Zügel hinter sich her zog, wußte der Sheriff, daß sein Deputy die Situation voll im Griff hatte. Beruhigt kehrte er in sein Büro zurück. Er war froh, wenn er sich endlich hinsetzen konnte.
Fortsetzung folgt
