KAPITEL 25
Wie ein ängstlicher Welpe kauerte Mike zusammengerollt unter dem Schreibtisch auf dem Boden, zuckte bei jeder Salve, die ins Büro schlug, zusammen und preßte wimmernd die Hände gegen die Ohren. Seine Angst war so überwältigend, daß er weder schreien, noch weinen oder sich gar bewegen konnte. Sogar seine Augen hatte er zugekniffen wie jemand, der mit jedem Augenblick seinen Untergang erwartete. Dabei war ihm weniger die Gefahr bewußt, in der er sich selber befand, als vielmehr die, in der sein Pflegevater schwebte. Jeder Schuß, der wie ein scharfer Peitschenknall von der anderen Seite herüberkrachte, jede Kugel, die irgendwo einschlug, könnte genausogut auch ihn treffen. Davor hatte er weitaus mehr Angst als um sein eigenes Leben, weil er es sich viel lebhafter vorstellen konnte, wie Jess da draußen eine Kugel fing. Warum mußte dieser Hal nur hierher zurückkehren und alles von vorn beginnen?
Plötzlich ließ das Schießen nach. Dann fielen noch ein paar einzelne Schüsse. Mit einem Mal herrschte Totenstille. Erst jetzt hörte Mike sich selber schluchzen. Es war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Obwohl sich im Büro nichts regte, wagte er nicht, sich zu bewegen. Als der Federhalter von der Tischplatte rollte und mit gespenstischem Klirren zu Boden kullerte, fuhr der Junge zusammen wie beim Einschlag einer Kanonenkugel.
Sein Schluchzen wurde lauter, er versuchte, sich noch kleiner zu machen, und wünschte sich auf einmal, nur noch in die Arme seines Pflegevaters flüchten zu können. Aber der war wahrscheinlich längst tot.
Ein heftiger Weinkrampf überfiel ihn, daß er von seiner Umwelt nichts mehr wahrnahm. So bekam er nicht mit, daß jemand das Büro betrat und nach ihm rief. Als sich eine Hand auf seinen Rücken legte, zuckte er vor Schreck zurück. Das war sicherlich einer der Verbrecher, der ihn da in seinem Versteck gefunden hatte.
"Mike! Mike, bist du in Ordnung?" fragte die ihm vertraute Stimme seines Pflegevaters. Sie klang in diesem Augenblick so wunderbar, daß Mike sich nicht erinnern konnte, schon jemals etwas Großartigeres gehört zu haben.
In seinen starren Körper kam mit einem Mal das Leben zurück. Wie ein tanzender Kreisel wirbelte er herum. Im nächsten Augenblick klammerte er sich, heftig aufschluchzend, an den Mann, der von dieser Reaktion richtiggehend überfallen wurde und sich mit dem Knie abstützen mußte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Mike erwürgte ihn fast mit seinen eng um seinen Hals geschlungenen Armen, von den Schmerzen in seiner Brust ganz zu schweigen, die ihm der kindliche Körper in seinem Ungestüm zufügte, als er mit vollem Gewicht gegen ihn prallte.
"Jess, ich dachte … ich dachte, du wärst … tot … sie hätten … sie hätten … ich bin so froh, daß … daß du lebst!" stammelte der Junge unter Tränen und preßte sich fester an ihn.
"Vorausgesetzt, du erdrückst mich nicht", erwiderte Jess mit rauher Stimme und konnte seine eigenen Gefühle, die wie eine Riesenwoge in ihm aufwallten, nur mit Mühe im Zaum halten. Daß Mike ihm empfindlich wehtat, registrierte er dabei zunächst nicht. "Beruhige dich! Du brauchst keine Angst zu haben – jetzt nicht mehr! Es ist alles gut!" redete er sanft auf ihn ein, rieb zärtlich über seinen Rücken und drückte ihn an sich, weil er es selbst nicht fassen konnte, daß sie beide dieses Abenteuer mit heiler Haut überstanden hatten. Derweil brodelte es unter seinem Verband wie in einem überhitzten Kochtopf; aber in dieser Sekunde war das Nebensache für ihn. "Bist du unversehrt?"
Mike nickte schluchzend. Es dauerte eine Weile, ehe er sich endlich beruhigte und halb aufrichtete, jedoch nicht aus seiner Umarmung lösen wollte.
"Und du?" fragte er mit dünner Stimme. Seine verheulten Augen waren ganz verquollen.
"Ich bin in Ordnung", versicherte Jess und lächelte ihn trotz seiner Schmerzen an. "Mach dir keine Sorgen!"
Der Junge wischte mit dem Unterarm über sein tränennasses Gesicht und zog die Nase hoch. Erst jetzt konnte er ihn einigermaßen klar erkennen. Jess sah sehr erschöpft aus. Das fiel sogar ihm auf, obgleich er jetzt mehr mit sich selbst beschäftigt war. Aber sein Gesicht war dem seinen so nahe, daß Mike deutlich die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte. Sein Pflegevater schien am Ende seiner Kraft zu sein.
"Wirklich?" kamen ihm deshalb berechtigte Zweifel.
"Wirklich!"
"Und der Sheriff?"
"Der hat es auch überstanden. Er kommt gleich."
"Ist … ist der Mann … ich meine … ist … ist er … tot?" Mike schluckte so geräuschvoll, daß ihm der Kehlkopf wehtat.
"Der ist mausetot! Vor ihm brauchst du keine Angst mehr zu haben."
"Bist … bist du sicher?" Mike konnte sich einfach nicht vorstellen, daß dieser Alptraum zu Ende sein sollte.
"Absolut. Der kann keinem mehr etwas tun. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben."
"Hast du … hast du ihn …"
Jess nickte schwer. Nicht daß es ihm schwerfiel, dies vor dem Jungen zuzugeben! Aber er hatte sich selber nicht ganz frei von diesen Skrupeln gesprochen, die er sich unsinnigerweise meinte vorwerfen zu müssen.
"Ja, ich konnte es nicht verhindern. Er ließ mir keine andere Wahl. Er hätte sonst den Sheriff getötet." Während er das sagte, blickte er dem Jungen geradewegs in die Augen.
Mike kam es gar nicht in den Sinn, seine Aufrichtigkeit anzuzweifeln. Warum auch? Schließlich war er über diese Nachricht richtiggehend erleichtert, freute sich sogar darüber.
"Ich bin so froh! Jess, ich bin so froh!" fing er tatsächlich an zu jubeln. "Ich kann's gar nicht glauben! Jetzt kann er dir nie, nie mehr wehtun, nicht wahr?"
"Ich bin eher froh, daß er dir nicht mehr wehtun kann. Ich wünschte, das wäre ihm auch nie gelungen."
"Keine Angst, jetzt geht es mir gleich viel, viel besser!" seufzte Mike zufrieden auf, umarmte und drückte ihn von neuem.
"Trotzdem solltest du nicht vergessen, daß er ein Mensch war."
"Aber ein ganz fürchterlich böser! Und deshalb bin ich froh, daß er tot ist."
Jess wollte dieses Thema im Moment nicht weiter vertiefen. Mike hätte seine Einwände nicht verstanden – nicht verstehen wollen. Den Jungen interessierte nicht, ob dieser Hal ein Mensch war oder ein Teufel, der zufälligerweise wie ein Mensch aussah. Er wußte nur, daß Hal Thorne demjenigen, der ihm am liebsten auf dieser Welt war, Fürchterliches angetan hatte. Daß es ausgerechnet Jess war, der ihn getötet hatte, empfand er nicht mehr als gerecht. Seiner Meinung nach hatte solch ein Mensch oder Teufel nichts anderes verdient, als durch denjenigen zu sterben, dem er ursprünglich den Tod bringen wollte. Mike hielt dies sogar für ausgesprochen gerecht!
Das Ableben Hal Thornes verlor für Jess schneller an Bedeutung, als ihm lieb sein konnte, denn seine Wunde begann ihm nun ernsthaft zu schaffen zu machen, nachdem sich Mike erneut an ihn preßte.
"Mike, bitte sei etwas vorsichtiger! Ich kann zwar deine Erleichterung verstehen, aber deshalb solltest du doch mehr aufpassen und mich nicht so fest packen!" bat er mit heiserer Stimme und versuchte, sich aus der engen Umarmung zu lösen, weil die Stiche in seiner Brust beinahe unerträglich wurden.
Erschreckt fuhr Mike zurück. In seiner überschwenglichen Freude hatte er total vergessen, daß Jess auf solche stürmischen Umarmungen noch äußerst empfindlich reagierte.
"Ich hab' … hab' dir schon wieder … wehgetan!" stammelte er entsetzt. "Das … das …"
Gleich wollte er wieder in Tränen ausbrechen, aber Jess rieb ihm beschwichtigend über den Rücken.
"Reg dich nicht auf, mein Junge!" versuchte er ihn zu trösten. Mit einem arglosen Lächeln gelang es ihm tatsächlich, seine Schmerzen geschickt zu tarnen. "Du hast mir nicht wehgetan. Weißt du, auch für mich war das alles ein bißchen viel. Nur deshalb piekst es. Bitte, mach dir keine Sorgen, ja?"
"Das ist alles nur meine Schuld!"
"Aber woher denn!"
"Doch! Erst hab' ich dir draußen wehgetan, als ich so fest an deinem Arm gezogen habe. Und dann vorhin, weil ich nicht im Gefängnis geblieben bin, wie du gesagt hast. Da … da hätten sie dich beinahe erschossen. Nur … nur weil ich ungehorsam war. Und jetzt … jetzt …"
"Mike, bitte hör auf, dir solche unsinnigen Vorwürfe zu machen. Sieh mal, wenn du mich auf der Straße nicht zurückgehalten hättest, hätte mich dieser Hal garantiert schneller erkannt als ich ihn, denn ich kannte nur sein Bild vom Steckbrief. Bis ich gemerkt hätte, was mit ihm los ist, hätte er schon längst irgend etwas gegen mich unternommen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß ich das nicht überlebt hätte. Wärst du nicht gewesen … Nun, ich brauche dir nicht zu erklären, was dann passiert wäre. Und vorhin … Na ja, ein bißchen unvorsichtig warst du da schon. Um ein Haar … Du warst in sehr großer Gefahr. Aber deshalb hast du mit deinem Verhalten für mich die Gefahr nicht mehr herbeigeführt, als sie ohnehin schon bestand. Ich hätte sowieso versucht, irgendwie zur Gefängnistür zu kommen. Durch dich mußte ich den Weg nur einmal unterbrechen. Wahrscheinlich hat mir auch dies das Leben gerettet."
"Aber du hast dir dabei wehgetan und das da abbekommen!" beharrte Mike, mit dem Zeigefinger nachdrücklich auf die blutverkrustete Schramme an seinem Hals deutend.
"Anders hätte ich vielleicht eine Kugel gefangen. Und das hätte bestimmt mehr weh getan, das kannst du mir glauben."
"Trotzdem! Ich mache immer alles falsch."
"Das stimmt doch überhaupt nicht! Du hast es schon richtig gemacht. Nur daß du nicht im Gefängnis geblieben bist, war etwas unüberlegt. Stell dir vor, du wärst getroffen worden! Was denkst du, wie weh mir das getan hätte?"
"Es … es tut mir leid, Jess, ich wollte wirklich … ich meine, ich wollte wirklich da hinten bleiben. Aber dann hatte ich plötzlich so furchtbare Angst, allein zu sein. Ich … ich konnte einfach nicht … Bitte, bitte, sei mir deshalb nicht böse! Bitte, bitte!" jammerte Mike, dem sein Ungehorsam auf einmal mit einer Heftigkeit aufs Gewissen drückte, daß er völlig außer sich geriet. "Bist du?"
"Nein, denn ich bin so froh, dich heil wiederzuhaben, daß ich dir noch viel größeren Ungehorsam verzeihen könnte."
"Ich werde so etwas ganz bestimmt nie wieder tun!" gelobte er eifrig.
"Nun", Jess durchwühlte seinen Blondschopf, "ich hoffe, daß du auch nie wieder in eine solch gefährliche Lage kommst. Und jetzt solltest du dir ordentlich die Nase putzen. Du siehst ja fürchterlich aus, wie so ein Straßenbengel, der nicht weiß, wo er hingehört."
Mikes Gesicht begann wieder zu strahlen. Wenn sein Pflegevater so mit ihm redete, war alles gut, das wußte er. Daß es Jess einiges an Kraft kostete, ihn das glauben zu machen, merkte er in seiner kindlichen Unbekümmertheit nicht.
Keine Minute später betrat Mort Cory sein verwüstetes Büro mit schweren Schritten.
"Hier sieht es ja aus, als ob 'ne Bombe eingeschlagen hätte!" bemerkte er wie jemand, der sich von diesem Anblick völlig überrascht fühlte. In Wirklichkeit wollte er sich nur entsprechend bemerkbar machen.
"Was beklagst du dich?" grinste Jess, richtete sich schwankend auf und ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen, nachdem er ihn skeptisch auf seine Standfestigkeit geprüft hatte. "Dein Schreibtisch steht doch noch."
"Das scheint aber auch das einzige zu sein." Mort stampfte zur kleinen Waschkommode in der Ecke. Vom Wasserkrug waren nur noch Scherben übrig, die Blechschüssel lag, mit ein paar Dellen versehen, auf dem Boden, vom Spiegel waren nur noch die Halterungen an der Wand. Wenigstens hing das Handtuch am Haken. Er grapschte danach, knüllte es wie ein Stück Papier zusammen und schob es unter sein Hemd auf die immer noch blutende Wunde. "Wenn Dan nicht bald kommt, bin ich ausgeblutet. Das ist ja 'ne fürchterliche Sauerei!"
"Sieht wirklich scheußlich aus", mußte Jess zugeben.
Sogar Mike verzog das Gesicht.
"I!" machte er. "Das sieht aber schlimm aus! Tut das denn nicht weh?"
"Halb so wild!" winkte Mort leichthin ab. "Das sieht viel schlimmer aus, als es ist. Wolltest du nicht diese Gefängnismeuterei vom letzten Mal beenden?" grinste er statt dessen.
"Schon, aber das eben war viel aufregender als so eine Meuterei!"
"Das kann man wohl sagen. Wenn ihr zwei nicht gewesen wärt, wäre die Bank um einen ganzen Haufen Geld ärmer und diese Stadt auch."
"Mike hat ihn als erstes entdeckt", erinnerte Jess wie beiläufig. "Ohne ihn wäre hier noch einiges mehr passiert."
"Weißt du was, Hilfssheriff, du solltest besser dein Abzeichen anstecken, damit die Leute sehen können, wem sie zu danken haben." Mort fischte aus seiner Schreibtischschublade einen silberglänzenden Stern mit der Aufschrift "Deputy" und drückte ihn Mike in die Hand. "Betritt mir ja nicht mehr dieses Büro ohne dein Abzeichen, sonst kriegst du es mit mir zu tun."
"Heißt das, ich darf … darf ihn behalten?"
"Ich bitte darum! Hiermit bist du Ehrendeputy dieser Stadt. Wehe, es kommt einer und will das anzweifeln!"
"Mann, das ist ja riesig!" Mikes strahlende Augen wurden noch einmal so groß, als er sich die Blechmarke ansteckte. "Wie sehe ich aus?"
"Wie ein richtiger Ehrendeputy", bestätigte Jess, heilfroh, daß der Junge endlich auf andere Gedanken kam. Um seine Anerkennung zu unterstreichen, durchwühlte er seinen Blondschopf. Diese Geste schien er in den letzten zwanzig Minuten noch lieber gewonnen zu haben. "Du solltest dich endlich hinsetzen, ehe du tatsächlich noch ausblutest", meinte er dann wieder etwas ernster an den Sheriff gewandt, der, leicht schwankend, an seinem Schreibtisch lehnte, nach einem Aktendeckel griff, um damit die Scherben vom Tintenfaß und der Lampe auf den Boden zu fegen.
"Ja, ich habe bloß Angst, daß ich dann nicht mehr hochkomme", brummte er und verzog das Gesicht vor grimmigem Unmut über die schwarzblaue Lache auf der Tischplatte. "Hier sieht es wirklich aus wie in einem Saustall!" schimpfte er, befolgte dann aber den Rat des Freundes und sank stöhnend in seinen Drehsessel, der an der Lehne eindeutige Spuren der gerade überstandenen Schießerei trug.
"Wenigstens ist nicht von deinem Blut dabei."
"Ja, bin wirklich froh, daß du mich vorhin zurückgehalten hast. Du hattest recht mit deiner Vermutung, daß die zwei anderen in der Bank waren. Selbst wenn ich diesen Hal geschafft hätte – seine beiden Kampfgenossen hätten mich glatt erwischt. Ich brauche dir also nicht zu sagen, daß du die Lage auf jeden Fall besser eingeschätzt hast als ich."
"Das war reiner Zufall, Mort. Ich hätte damit auch falsch liegen können. Hören wir lieber auf, davon zu reden, was passiert wäre, wenn …"
"Trotzdem ist alles genauso eingetroffen, wie du schon neulich gemeint hast. Die drei haben tatsächlich der Bank einen Besuch abgestattet. Ehrlich gesagt, ich hatte das zwar nicht ganz als unwahrscheinlich abgetan, aber so richtig vorstellen konnte ich es mir trotzdem nicht. Woher hast du das bloß gewußt?"
"Das ist doch Unsinn! Woher sollte ich das gewußt haben? Es war nur so eine Idee."
"Slim war gestern kurz bei mir und sagte mir, du wärst die ganze Woche schon so komisch, nervös, über irgend etwas beunruhigt."
"Ja, schon. Es war wie eine Ahnung. Ich kann dir das nicht erklären. Ich war einfach beunruhigt. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht habe ich es unbewußt gefühlt. Ist doch auch egal. Wahrscheinlich bin ich in der letzten Zeit einfach nur zu nachdenklich und reagiere überempfindlich. Ich weiß es nicht. Ich stecke mit den dreien jedenfalls nicht unter einer Decke, falls du das meinst."
Mort sah ihn etwas fassungslos an, ehe er sich wie beiläufig an den Kopf tippte.
"Du spinnst wohl, was? Wie könnte ich denn auf so was kommen? Slim hatte recht. Du bist wirklich manchmal komisch."
"Ach, komm, vergiß es!" winkte Jess mit einer lustlosen Handbewegung ab. "Wahrscheinlich bin ich nur so bissig, weil …" Er brach ab, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß sie nicht allein waren. Statt dessen rieb er über seine Stirn. "Das war anscheinend ein bißchen zu viel heute. Du hattest recht. Ich bin nicht in der richtigen Verfassung für solche Abenteuer."
"Dafür hast du trotzdem vollen Einsatz geleistet", ging Mort sofort darauf ein. "Ich muß sagen, du hast dir die Belohnung mehr als hart verdient. Bin ehrlich froh, daß sie an dich fallen wird. Würde sie jedenfalls sonst niemandem gönnen."
"Belohnung?" Jess hob verwirrt den Kopf. "Welche Belohnung denn?"
"Na, die für die drei Halunken!" Der Sheriff zog eine seiner Schreibtischschubladen auf und griff nach den obersten beiden Steckbriefen. Sein Bilderbuch, wie er die Sammlung von aktuellen Fahndungsmeldungen scherzhaft zu nennen pflegte, war nach persönlicher Dringlichkeit sortiert. Das Wichtigste lag obenauf. "Das sind zusammen fünftausend Dollar. Ist nicht mehr als gerecht, daß ausgerechnet dir das zusteht. Allein zweitausend für Alexander Owen. Die aus Leavenworth scheinen wirklich große Sehnsucht nach ihm zu haben."
"Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ich werde diese Belohnung nicht annehmen! Ich habe noch nie im Leben für so etwas kassiert. Ich bin doch kein Kopfgeldjäger."
"Ich werde mich hüten, so etwas auch nur im stillen von dir zu denken! Trotzdem solltest du das Geld annehmen."
"Kommt nicht in Frage, Mort!" protestierte Jess nicht nur abweisend, sondern regelrecht entrüstet. "Ich will diese Prämie nicht. Außerdem steht sie mir gar nicht zu. Schließlich war es Mike, der den ersten Hinweis lieferte, und nicht ich."
"Das ist doch bestens! Dann bleibt sie ja in der Familie."
Noch ehe Jess etwas einwenden konnte, antwortete Mike selbst.
"Wenn Jess das nicht will, will ich es auch nicht!" Um seine Solidarität zu unterstreichen, setzte er sich zu ihm auf die Armlehne des unbequemen Holzstuhles und schlang den Arm um seine Schultern. "Für mich ist es Belohnung genug, daß dieser böse Hal nie mehr Jess wehtun kann. Außerdem wüßte ich gar nicht, was ich mit soviel Geld anfangen soll. Solange ich es hätte, müßte ich immerzu daran denken, was … Ich kann … kann es doch … sowieso nicht vergessen."
"Womit die Sache erledigt sein dürfte", ergänzte Jess abschließend. "Außerdem dachte ich, stünde einem Deputy sowieso keine Belohnung zu."
"Das gilt nur für offiziell vereidigte."
"Das gilt anscheinend so, wie du es brauchst."
"Jess, warum stellst du dich bloß so an? Das Geld käme gerade recht …" Mort fiel ein, daß er in Mikes Gegenwart aufpassen mußte, was er sagte. "Schließlich verdankst du einem dieser Halunken deine angeschlagene Gesundheit. In meinen Augen ist es deshalb nicht mehr als recht, daß du die Prämie für ihn und seine zwei sauberen Kumpane bekommst, um diese marode Gesundheit wieder herzustellen, dich ordentlich auszukurieren. Ist das so schlimm?"
"Deshalb bleibt es doch Kopfgeld. Gib dir keine Mühe, Mort! Ich kann das nicht akzeptieren. Es geht ganz einfach gegen meine Prinzipien."
"Wie kann man nur so stur sein!"
"Das hat mit Sturheit nichts zu tun. Ich habe diese zwei Männer nicht zu meinem Vergnügen getötet oder um dafür die Prämie zu kassieren. Ich habe es getan, weil mir nichts anderes übrig blieb, um dein und mein Leben zu retten, weil es die Situation so erforderte. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen. Ich habe lediglich einem Freund geholfen, weil ich es als meine selbstverständliche Pflicht ansehe, so etwas zu tun, wenn ich sehe, daß er meine Hilfe braucht."
"Ein bißchen mehr war das schon. Du hast immerhin einen Bankraub verhindert, der zweifellos in die Annalen der Gemeinde eingegangen wäre. Da waren über hunderttausend Dollar in der Bank, schätze ich, soviel wie noch nie zuvor. Darüber hinaus hast du zwei potentielle Killer zur Strecke gebracht. Das Wie und Warum spielt doch überhaupt keine Rolle. Die wären sowieso an den Galgen gewandert. Dafür hätte jeder noch so milde Richter gesorgt."
"Es hat keinen Sinn, daß wir uns weiter darüber unterhalten. Du kennst meine Antwort."
"Dir ist einfach nicht zu helfen. Ich hoffe bloß, daß ich davon nicht nur die aus Leavenworth, sondern auch unsere Honoratioren überzeugen kann. Gerade die werden das schwer begreifen können."
"Das ist mir gleich! Man kann mich schließlich nicht zwingen. Und jetzt Schluß damit!" wollte Jess, ziemlich ärgerlich, einen Schlußstrich darunter ziehen, obgleich er fürchtete, daß die Frage nach der Belohnung, deren Auszahlung, sein Verzicht darauf und alles, was damit zusammenhing, so leicht nicht aus der Welt zu schaffen war.
Der Gemeinderat von Laramie hatte sich schon in weitaus nichtigeren Angelegenheiten als sehr hartnäckig erwiesen. Eines seiner hartnäckigsten Mitglieder betrat im nächsten Augenblick das Büro: der Vorstand persönlich, Lincoln Majors. Trotz seiner Beule am Hinterkopf und den Kopfschmerzen, die sie verursachte, strahlte er übers ganze Gesicht. Offensichtlich hatte er auch allen Grund dazu.
"Meine Herren", begrüßte er die zwei Männer in überschwenglich freundlicher Höflichkeit, als handelte es sich um seine ganz persönlichen Lebensretter, "das war das Glanzstück des Jahrhunderts!"
"Sie sollten nicht so maßlos übertreiben", versuchte Mort, ihn in seiner Euphorie etwas zu bremsen.
"Übertreiben? Ich habe eher untertrieben!" Er drückte jedem von ihnen ausgiebig die Hand. "Ich habe das Geld zwar noch nicht nachgezählt, aber so wie es aussieht, fehlt kein einziger Cent. Den Schaden, den Sie beide verhindert haben, kann sich wahrscheinlich kein Mensch vorstellen. Ich danke Ihnen, daß es nicht dazu gekommen ist."
"Nun, Linc, der meiste Dank gehört Jess, nicht mir. Wenn er nicht gewesen wäre – ich glaube, ich hätte von dem ganzen Überfall auf Ihre Bank nicht das geringste mitgekriegt. Die drei wären mit dem Geld einfach verschwunden."
"Das ist nicht ganz richtig", korrigierte Jess gleich, beinahe etwas gelangweilt, daß dasselbe Theater noch einmal durchgekaut werden sollte. Seine Wunde machte ihm erheblich zu schaffen, daß er kaum wagte zu atmen; außerdem war er schlichtweg hundemüde. "Wenn Mike den einen, der Wache geschoben hat, nicht sofort und somit rechtzeitig wiedererkannt hätte, wäre ich mit Sicherheit nicht mehr am Leben und der Sheriff wahrscheinlich auch nicht, und das Geld befände sich schon längst auf dem Weg nach Kanada."
"Dann bist du ja unser Held des Tages!" rief Majors und drückte nun auch Mike mit beiden Händen die Rechte, daß der Junge aus Verlegenheit ein rotglühendes Gesicht bekam.
"Aber … aber wieso denn?" stammelte er. "Ich … ich hatte doch nur ganz fürchterliche Angst, daß der Mann … Wenn er Jess zuerst gesehen hätte … Ich hatte wirklich ganz entsetzliche Angst!"
"Auch für einen kleinen Helden ist es keine Schande, Angst zu haben", lächelte Lincoln Majors auf den Jungen herab, der sich vorsichtshalber enger an seinen Pflegevater lehnte. Er mochte es nicht besonders, unter fremden Leuten im Mittelpunkt zu stehen, zudem er sich sehr deutlich daran erinnerte, beinahe vor Angst und Schrecken in die Hosen gemacht zu haben. Was daran so heldenhaft sein sollte, konnte er beim besten Willen nicht erkennen. "Was denkst du, wie groß meine Angst war, als diese zwei anderen plötzlich in der Bank erschienen sind? Die war mindestens so groß wie deine, wahrscheinlich sogar größer."
Mike verspürte wenig Lust, sich mit Lincoln Majors darüber zu streiten, wessen Angst größer war. Wenn er ehrlich sein wollte, wäre er mit Jess am liebsten nach Hause gefahren.
Abenteuer und Aufregung von gerade eben reichten ihm erst einmal für eine Weile. Der Schrecken saß ihm zu tief in den Knochen, als daß er in kindlicher Unbeschwertheit oder gar mit Begeisterung von seinen gerade überstandenen Erlebnissen erzählen konnte oder wollte. In ein paar Tagen sah er das alles gewiß mit anderen Augen. Im Moment sah er nur diesen Hal vor der Bank herumlungern und Jess im Kugelhagel über sich liegen, der ihn mit seinem Körper vor den tödlichen Hornissenschwärmen von Geschossen schützte und sich dabei nur allzu leicht eines davon hätte einfangen können. Nein, mit Lincoln Majors wollte er sich über seine ausgestandene Angst nicht unterhalten!
"Wenn du diesen Kerl zuerst gesehen hast, steht dir auch die ganze Belohnung zu. Weißt du das? Was wirst du denn mit dem ganzen Geld anfangen?"
"Ich will die Belohnung nicht!"
"Haben Sie das gehört, Jess? Da sollten Sie aber ein Machtwort sprechen!" meinte Majors mit erstaunt hochgezogenen Brauen, an den Mann gewandt.
"Nicht nötig", winkte Jess mit einer schwachen Handbewegung ab. "Mike und ich sind einer Meinung."
"Darüber müssen wir aber noch einmal reden, am besten unter vier Augen."
"Es gibt dazu nichts zu sagen, Mr. Majors", erklärte der Mann von der Sherman-Ranch bestimmt, daß der Bankdirektor fast enttäuscht aufseufzte.
"Später …"
"Auch nicht später."
Jess sprach sehr leise; aber für Majors lag gerade in dieser Verhaltenheit ein unmißverständlicher Nachdruck, daß er sehr rasch begriff, dieses Thema nicht weiter breitzutreten. Für einen Moment herrschte peinliches Schweigen. Schließlich begann der Bankier ein verlegenes Lächeln.
"Sie werden schon wissen, was Sie tun", lenkte er ein.
Wer ihn kannte, wußte, daß er hierzu noch nicht das letzte Wort gesprochen hatte. Er verfügte nur über genügend diplomatisches Geschick, die augenblickliche Situation richtig zu erfassen und die leicht gereizte Stimmung zu erkennen, in der sich Jess offensichtlich befand. Es wäre wirklich unklug gewesen, ihm in seiner momentanen Laune, die eindeutig aus seiner Abgespanntheit und völligen Erschöpfung resultierte, zu widersprechen.
In diesem Moment betrat Clem Brittfield, der Hilfssheriff, zusammen mit Doc Higgins das Büro, das in seinem wüsten Zustand gleich überfüllt wirkte.
"Na, endlich!" entfuhr es Mort. "Ich dachte schon, ich müßte hier verbluten."
"So schnell stirbt man nicht. Du siehst noch reichlich munter aus", bemerkte der Arzt trocken und streifte Jess mit einem wenig freundlichen Seitenblick. "Komisch, schon als ich den ersten Schuß gehört habe, sagte mir meine innere Stimme, daß du da mit drin hängst. War das Absicht?"
"Red keinen Unsinn!" fauchte Jess wie ein Kater, dem jemand auf die Schwanzspitze getreten hatte. "Kümmre dich lieber um Mort!"
"Ich habe eher das Gefühl, ich sollte mich besser um dich kümmern. Du siehst um einiges schlimmer aus als er."
"Er hat die Schramme, nicht ich."
"Schramme? Wer redet denn von Schramme? Du siehst aus, als kriegtest du gleich einen Kollaps. Du hast anscheinend mal wieder vergessen, wo du im Grunde eigentlich hingehörst!"
"Dan, bitte! Fang bloß nicht an, auf mir herumzuhacken! Kümmre dich nicht um mich, sondern versorg lieber Morts Wunde!"
"Das werde ich tun, aber du bist gleich danach dran!"
"Der dritte ist auch tot!" meldete Clem in das kurze Streitgespräch. Daß er heute eigentlich seinen freien Tag hatte, hatte er schon längst vergessen. Wenn es sein mußte, war er dienstbereit rund um die Uhr.
"Ja", wurde der Arzt dadurch von seinem Patienten abgelenkt, der ihm zur Zeit die meisten Sorgen bereitete. "Er war schon tot, als ich zu ihm kam."
"Dann brauchen wir uns um den auch nicht mehr zu kümmern", atmete Mort auf, ohne einen Hehl daraus zu machen, daß er für Alexander Owen nicht mehr empfand als für die anderen beiden. Inzwischen machte sich der Arzt an seiner Wunde zu schaffen. "Autsch! Paß doch auf!" schimpfte er und haute seine blutverschmierte Faust auf die Tischplatte. "Herrgott, du hast ja heute ein Gefühl in den Fingern, daß mir gleich die Hand ausfährt!"
"Sei nicht so zimperlich vor all den Leuten!"
"Zimperlich? Ich bin doch kein Ochse!"
"Und ich kein Tierarzt! Ich kann hier die Wunde nicht versorgen. Du mußt dich hinlegen!"
"Hinlegen? Womöglich auf den Tisch, was?"
"Das wäre das beste."
"Hab' ich mir gedacht! Geht es auch im Gefängnis? Ich geniere mich so!" blödelte der Sheriff, allerdings in recht übler Laune.
"Hört euch das an!"
"Ich bin bei Ihrer Wirtin vorbeigegangen und habe Ihnen ein frisches Hemd mitgebracht."
"Danke, Clem, wenigstens einer, der an mich denkt." Mort stand stöhnend auf und griff im Vorbeigehen nach dem Kleidungsstück. "Halten Sie meinen Stuhl warm, suchen Sie sich Papier und Bleistift und fangen Sie mit dem Protokoll an. Sobald mich dieser Pferdedoktor verarztet hat, werde ich mich weiter darum kümmern. Fangen Sie mit den Geschehnissen in der Bank an. Das, was außerhalb passiert ist, weiß ich selber. Und bieten Sie Mr. Majors endlich Platz an! – Jetzt fummle doch nicht laufend an mir herum!" schimpfte er im gleichen Atemzug, als Dan ihn versuchte ins angrenzende Gefängnis zu drängen. "Lassen Sie sich von Jess helfen, wenn Sie sich nicht sicher sind. Er weiß, worauf es ankommt." Endlich setzte er sich Richtung Gefängnis in Bewegung. "Er tut zwar immer so, als hätte er von Polizeiarbeit keine Ahnung, dabei kennt er sich manchmal besser aus als ich", brummte er vor sich hin, während er mit dem Arzt im Zellentrakt verschwand.
Während sich Clem Brittfield mit Jess' Unterstützung um die Formalitäten kümmerte, waren aus dem Gefängnis lautstarke Flüche zu hören, die schließlich in heftigen Protesten endeten, als der Arzt meinte, es wäre das beste für Morts Schramme, wenn er sich zwei, drei Tage ausruhte und möglichst im Bett verbrachte, damit die Wunde Gelegenheit hatte zu heilen und sein Körper sich von dem Blutverlust erholen konnte. Selbst wenn Morts Blutdruck aufgrund der Verletzung niedriger als normal gewesen sein sollte, schnellte er bei diesem Ratschlag sofort in die Höhe, ohne daß er dafür ein Stärkungsmittel benötigte.
"Bist du noch ganz bei Trost!" polterte seine Stimme durch die offene Trenntür ins Büro. "Ins Bett legen! Kommt überhaupt nicht in Frage!"
"Dann wird es doppelt so lange dauern, bis das verheilt ist."
"Ich werde schon dafür sorgen, daß es schneller geht. Jedenfalls werde ich mich dazu nicht ins Bett legen. Für solche Faulenzereien habe ich weder Zeit noch Lust."
"Du bist genauso ein hirnverbrannter Dickschädel wie dein Freund da draußen. Was willst du denn? Die Bankräuber laufen dir schließlich nicht mehr weg."
"Schlag dir das Ins-Bett-Legen aus dem Kopf! Ganz schnell!"
"Dir ist nicht zu helfen!" schimpfte nun auch der Arzt. "Wenn du schon meinst, du müßtest hier herumlaufen, weil es ohne dich nicht geht, dann verzichte wenigstens für ein paar Tage aufs Reiten. Das wirst du hoffentlich können."
"Werd's mir überlegen", knurrte Mort und erschien wieder im Büro, mit frischem Hemd und noch etwas steifbeinig, aber mit durchaus gesunder Gesichtsfarbe. "Nun, wie sieht es aus?" fragte er seinen Hilfssheriff, der bei seinem Erscheinen sofort aufstand und ihm seinen Platz hinter dem Schreibtisch überließ. An Dan Higgins und seinen Einwänden war er nicht länger interessiert.
"Ich bin fast fertig, Sheriff. Jess war wirklich eine große Hilfe."
"Hab's Ihnen doch gesagt", bemerkte Mort mit einem schiefen Seitenblick auf den Mann vor dem Schreibtisch, der im Gegensatz zu ihm sehr mitgenommen aussah.
Jess winkte nur mit einer schwachen Handbewegung ab.
"Wer ist der nächste?" erkundigte sich der Arzt, der hinter dem Sheriff das Büro betrat und zielstrebig auf Jess zusteuerte, als wollte er ihn gleich an Ort und Stelle ausgiebig untersuchen.
"Mr. Majors hat eine gehörige Beule am Hinterkopf, Doktor", erklärte Clem, womit er ihn von Jess ablenkte. "Die sollten Sie sich unbedingt ansehen."
"Ach was! Ist nicht der Rede wert! Mir geht es hervorragend!"
"Davon überzeuge ich mich lieber selbst." Dan untersuchte die Beule, die jedoch wirklich so gut wie harmlos war, gab ihm ein paar Pillen gegen die Kopfschmerzen und riet ihm, kalte Umschläge gegen die Schwellung zu machen. "Und dich will ich in meiner Praxis sehen – heute noch!" sagte er, zu Jess gewandt, während er seine Tasche zuklappte.
"Geh schon vor! Ich komme gleich nach", erwiderte dieser ohne irgendwelche Einwände, daß Dan in helles Erstaunen geriet und ihn daraufhin etwas genauer musterte. Wenn er dieser Aufforderung so kommentarlos zustimmte, mußte es ihm sehr schlecht gehen. Seinem verheerenden Aussehen nach zu urteilen, war dies auch der Fall.
"Bis gleich!" Dan legte ihm im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter zum Zeichen dafür, daß er verstanden hatte, und verließ das Büro.
Tatsächlich bat Jess nur kurze Zeit später, man möge ihn entschuldigen.
"Du kommst doch wieder?" vergewisserte sich Mort, ihn besorgt beobachtend, wie er beim Aufstehen das Gesicht verzog und – das hätte er schwören können! – noch blasser wurde.
"Ich glaube nicht. Wenn ich bei Dan war, fahren wir gleich nach Hause. Ich bin froh, wenn ich daheim bin."
"Ich brauche dich zwar für meinen Bericht, aber das können wir auch später erledigen. Du siehst wirklich nicht gut aus. Schaffst du es allein?"
"Wird schon gehen."
Jess grinste verstohlen, um seine Schmerzen besser verbergen zu können, verabschiedete sich und folgte mit Mike dem Arzt in dessen Praxis.
"Was hat er denn?" wollte Lincoln Majors vom Sheriff wissen, da ihm nicht entgangen war, daß zwischen den beiden ein stillschweigendes Einvernehmen über etwas Ungesagtem bestand.
"Er hat sich bei der Sache anscheinend völlig verausgabt. Sie hätten ihn sehen sollen! Es muß ihn alle Kraft gekostet haben. Und dann dürfen Sie eines nicht vergessen, Linc: Jess ist im Grunde genommen ein todkranker Mann."
"Was soll das heißen?"
"Ich sollte es Ihnen vielleicht nicht sagen, aber Sie sehen ja selbst … Wenn der Arzt recht behält, sind seine Tage gezählt. Er kann hier nicht gesund werden."
"Mein Gott, und das erfahre ich erst jetzt? Kann man denn gar nichts für ihn tun?"
"Nicht viel. Das einzige, was ihm vielleicht etwas helfen könnte, wäre, wenn er in ein anderes Klima käme. Aber auch das wäre keine Garantie."
"Warum mußte dieser Killer aber auch ausgerechnet ihn aussuchen? Einen anständigen Menschen … Mort, können wir ihm denn gar nicht irgendwie helfen? Er hat schon soviel für uns alle getan. Gerade das heute war das beste Beispiel. Wir können ihn doch nicht einfach so seinem Schicksal überlassen! Gott, das hat er nicht verdient."
"Tja, wir können ihm aber leider nicht seine Gesundheit zurückgeben."
"Aber es muß doch etwas geschehen! Sollen wir denn einfach tatenlos zusehen, wie er … Irgend etwas müssen wir doch tun können."
"Ich wollte, ich wüßte etwas. Der Arzt wollte ihn zu einem Studienfreund nach Colorado Springs schicken, der dort ein Sanatorium betreibt."
"Ja, und?"
"Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Jess auf diesen Vorschlag eingehen wird. Immerhin würden sich durch einen Aufenthalt bei diesem Professor seine Überlebenschancen nicht sonderlich verbessern. Jedenfalls schien er davon nicht sehr begeistert. Außerdem dürfte das Ganze eine gewaltige Kleinigkeit kosten."
"Ja, aber warum schlägt er dann die Belohnung aus?"
"Muß ich Ihnen das wirklich erklären?"
Majors starrte den Sheriff ungläubig an. Sein anfängliches Unverständnis wandelte sich allmählich in mißbilligendes Verstehen.
"Nein", sagte er schließlich, "trotzdem sollte ihn die finanzielle Frage …"
"Ich glaube, das ist nicht das Hauptproblem."
"Ja, aber was denn sonst?"
"Wahrscheinlich liegt das in Jess selber, in seinen Vorstellungen von Leben und Sterben, seinem Verantwortungsgefühl anderen gegenüber. Es steht mir keinesfalls zu, über seine persönlichen Ansichten hier zu reden oder gar zu urteilen. Ich weiß nur, daß er einer meiner besten Freunde ist, den ich sehr wahrscheinlich bald auf eine Art und Weise verlieren muß, die mir ganz und gar nicht behagt. Nicht einmal die Tatsache, daß derjenige, dem er diesen Schlamassel zu verdanken hat, schon in der Hölle schmort, ist dabei für mich ein Trost!"
"Vielleicht sollte ich einmal versuchen, mit ihm …"
"Linc, ich glaube, es ist besser, wenn Sie und wir alle ihn in Ruhe lassen. Es betrifft schließlich Dinge, die im Grunde nur ihn, allenfalls noch seine nächsten Angehörigen etwas angehen. Ich persönlich bin Ihrer Meinung, aber ich muß in erster Linie seine Privatsphäre respektieren. Es ist gewiß nicht leicht für ihn. Soviel steht fest. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß es in irgendeiner Weise leichter für ihn wird, wenn wir ihm ständig in den Ohren liegen. Er muß seine Entscheidung selber treffen. Egal, wie sie ausfallen wird, wir müssen es akzeptieren, so schwer es uns auch fällt."
"Trotzdem … ich kann mir nicht vorstellen … Mort, er ist doch ein Mitglied unserer Gemeinde, ein sehr angesehenes sogar. Ich kenne keinen hier, der ihn nicht mag. Wir können ihn doch nicht einfach so seinem Schicksal überlassen", wiederholte Majors, "geradeso, als ginge er uns nichts an. Er ist doch einer von uns."
"Sicher, Linc. Vielleicht genügt es, wenn wir ihm ein bißchen mehr Zeit geben, um mit sich ins reine zu kommen."
"Das verstehe ich nicht."
"Wie gesagt, Linc, es handelt sich um seine ureigene Angelegenheit", betonte der Sheriff noch einmal. "Wir haben nicht das Recht, uns in seine persönlichen Dinge einzumischen. Stellen Sie sich vor, er würde Ihnen vorschreiben, wie Sie Ihre Bank zu führen haben."
"Aber das ist doch etwas anderes!"
"Wirklich?"
"In meinen Augen schon."
Mort erwiderte darauf nichts. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, daß sich Lincoln Majors nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen wollte, bei nächster Gelegenheit mit Jess Harper über verschiedene Dinge zu sprechen, von denen er annahm, daß sie eben nicht nur seine privaten Belange betrafen.
Dan Higgins erwartete seinen Patienten in seinem Sprechzimmer, obwohl er, wollte er ehrlich sein, sich nicht sicher war, ob er überhaupt kam. Wenn Jess nämlich allzu bereitwillig vorgab, seine Anordnungen zu befolgen, konnte das durchaus bedeuten, daß er sie schlichtweg mißachtete. Aber diesmal hatte Jess nicht die geringste Absicht, dies zu tun. Allerdings war es nicht einfach, Mike klarzumachen, daß er nicht mit ins Sprechzimmer kommen sollte.
"Ich verspreche dir, daß ich ihm nichts antun werde!" versicherte Dan, angenehm gerührt über die rege Teilnahme des Jungen. "Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Mrs. Howard wird dir solange Gesellschaft leisten", fügte er hinzu und winkte seiner Haushälterin, damit sie sich des Jungen annahm.
"Ja, sicher", sagte sie freundlich, nahm ihn bei der Hand, und er ließ sich widerstrebend von ihr in den Salon führen. "Wir trinken inzwischen eine leckere heiße Schokolade."
"Ich mag aber keine heiße Schokolade!" wollte Mike widersprechen.
"Mike!" Die Stimme seines Pflegevaters hatte einen deutlichen Anflug von Strenge.
"Na schön", gehorchte er endlich, ohne daß ein weiteres Wort nötig gewesen wäre. "Ich kann die Schokolade ja mal probieren."
"Dieser Lausebengel!" grinste Jess hinter ihm her, als er mit dem Arzt in dessen Arbeitszimmer verschwand.
"Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß er dich von ganzem Herzen liebt."
"Nein, ist wirklich nicht nötig. Ich wollte, er würde es weniger tun", setzte Jess leise und sehr nachdenklich hinzu.
"Das ist hoffentlich nicht dein Ernst!"
"Mein voller! Und ich wünschte, ich selber würde nicht so an ihm hängen. Dann wäre alles viel einfacher, sowohl für ihn als auch für mich."
Jess konnte sich nur mit Mühe seiner Jacke entledigen; er hatte furchtbare Schmerzen.
"Setz dich da rüber! Ich werde erst einmal die Schramme an deinem Hals versorgen. Nachher kriegst du davon noch eine Blutvergiftung."
"Das würde das Ganze nur beschleunigen."
"Fang bloß nicht an, wieder solchen Quatsch zu reden!" Dan versorgte den Kratzer, der wirklich harmlos war, obwohl die dunklen Flecken, die das getrocknete Blut auf seinem Kragen hinterlassen hatte, ungleich gefährlicher wirkten. "Das brennt gleich fürchterlich", warnte er, ehe er die Stelle mit Jodtinktur bepinselte. Er hatte recht. Es brannte wirklich höllisch. "Das beste ist, wenn du weiter nichts machst. In ein paar Tagen wird das von allein abheilen. Ist wirklich nur die Haut."
"Die Kugel hätte um ein Haar Mike erwischt. Ich darf gar nicht daran denken."
"Na ja, allzuviel hat bei dir auch nicht mehr gefehlt. Selbst wenn das nur die Haut ist … ein wenig weiter rüber und sie hätte dir die Halsschlagader zerfetzt."
"Dann wären mit einem Schlag eine Menge Probleme gelöst gewesen."
"Wolltest du es etwa darauf ankommen lassen? Hast du deshalb bei dem Tanz mitgemischt? Immerhin war das eine Gelegenheit."
"Du spinnst ja!" entfuhr es Jess, nicht ganz zu Unrecht; denn merkwürdigerweise hatte er in den Augenblicken, in denen für sein Leben die größte Gefahr bestand, am wenigsten daran gedacht, es leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
"Dann bist du also doch nicht lebensmüde", stellte Dan mit einer gewissen Beruhigung fest.
"Ich …" Jess holte Luft, um etwas Scharfes zu erwidern, besann sich jedoch anders. "Komisch", sagte er nachdenklich, fast sogar etwas erstaunt, "jetzt, wo du davon anfängst … wenn ich es mir recht überlege, habe ich tatsächlich nicht ein einziges Mal daran gedacht, es darauf ankommen zu lassen. Ich glaube, ich hatte sogar ein paarmal richtige Angst", gab er zu und mußte sich im nachhinein selbst darüber wundern.
"Du und Angst?" Dan zog ungläubig die eine Braue hoch, während er ihm half, das Hemd auszuziehen.
"Ja, verdammt! Ziemlich große sogar! Traust du mir so was etwa nicht zu?"
"Offen gestanden – nein!"
"Das beweist doch nur, wie wenig du mich kennst und von solchen Dingen verstehst."
"Wenn ich ehrlich sein soll, will ich gar nichts davon verstehen. Mir reicht es, wenn ich hinterher die kaputten Knochen zusammenflicken muß."
Jess grinste gequält. Eigentlich hatte er nicht die geringste Lust, sich über dieses Thema mit dem Arzt weiter zu unterhalten. Er hatte überhaupt kein Bedürfnis, mit irgendwem über irgend etwas zu reden. Er hatte wahnsinnige Schmerzen, war total erledigt und hätte sich am liebsten in eine stille Ecke zurückgezogen, um es mit Schlafen wenigstens zu probieren. Schon lange hatte er sich nicht mehr so erschöpft gefühlt.
"Was ist? Du bist ja heute so schweigsam", meinte der Arzt etwas verwundert, obwohl er sofort gemerkt hatte, daß sein Patient offensichtlich gegen eine Flut von Schmerzen kämpfte und all seine verbliebene Kraft dafür verwendete, sich möglichst wenig anmerken zu lassen. Aber Dan entging nicht, daß er hin und wieder kaum merklich das Gesicht verzog, die Zähne zusammenbiß und mit dem Unterkiefer mahlte. "Wo bleiben deine zynischen Kommentare?"
"Mir ist heute nicht danach."
"Du hast Schmerzen." Es war eine reine Feststellung und keine Frage.
"Ich bitte dich zwar nur ungern, aber kannst du mir nicht irgend etwas dagegen geben? Ich glaube, ich halte das nicht mehr lange aus."
Dan zog erstaunt die Brauen hoch. Jess mußte wirklich am Ende seiner Kraft sein, wenn er eine solche Bitte äußerte.
"Ich muß dich zuerst untersuchen."
"Wozu? Das hast du doch erst. Denkst du, es ist inzwischen besser geworden?"
"Nein."
"Aber wahrscheinlich schlimmer, was?"
"Möglich – ehrlich gesagt, befürchte ich das tatsächlich. Hast du Probleme beim Atmen?"
"Dämliche Frage!" knurrte Jess kurzatmig. "Denkst du, ich rede nur zum Spaß so leise?"
Higgins zog es vor, darauf nichts zu erwidern, entfernte statt dessen den festen Verband und entdeckte als erstes einen faustgroßen Bluterguß an seiner linken Schulter.
"Woher hast du denn das?" fragte er, verblüfft über den blauen Fleck, der sich sicherlich bald in allen Schattierungen verfärbte.
Jess streifte seine Schulter mit einem müden Blick.
"Muß von vorhin sein", keuchte er. "Bin damit gegen Morts Schreibtisch gestoßen, als ich mit Mike Deckung suchte."
"Dann brauchst du dich über deine Schmerzen nicht zu wundern."
"Tu' ich doch gar nicht." Er keuchte abermals, diesmal heftiger. "Obwohl ich sie schon vorher hatte. Kannst du … kannst du dich nicht ein bißchen beeilen? An dem blauen Fleck werde ich bestimmt nicht sterben."
"Wer redet denn von dem blauen Fleck?"
Dan musterte ihn beinahe angriffslustig, während er sich das Stethoskop in die Ohren steckte und mit wachsendem Unbehagen die vielen Geräusche analysierte. Wie erwartet, gefielen sie ihm heute weitaus weniger als bereits bei der Kontrolle am Montag. Schließlich überfiel Jess am Ende der Untersuchung ein schrecklicher Hustenanfall, der den Schmerzpegel ins Unerträgliche zu treiben drohte. In seinem Auswurf befand sich frisches Blut.
"Seit wann hast du das?"
"Seit …" Jess rang nach Luft. "… gestern." Sein heftiges Keuchen endete in einem erneuten Husten. "Dan, das tut höllisch weh!" stöhnte er. "Wenn du dich nicht beeilst, dann … dann weiß ich nicht mehr, was … ich tu'!"
Der Arzt beeilte sich daraufhin wirklich. Im Nu hatte er die Wunde versorgt und einen neuen Verband angelegt. Dann ging er zum Arzneischrank, mixte ein starkes Schmerz- und Kreislaufmittel zur Stärkung und hielt Jess wortlos den Glasbecher mit einer milchigen, übel riechenden und genauso schmeckenden Medizin vor die Nase.
"Trink das, eh du zusammenklappst!"
Jess gehorchte ohne Kommentar, leerte den Becher in einem Zug und verzog das Gesicht zu einer jammervollen Grimasse.
"War da Laudanum dabei?"
"Nein. Bei dir muß man heute mit stärkeren Geschützen auffahren."
"Dann … dann ist es besser, wenn ich nicht weiß, was drin war. Aber egal, was es war, hoffentlich wirkt es bald."
"Ein paar Minuten dauert es schon." Dan half ihm, das Hemd überzustreifen. "War gestern auch schon soviel Blut dabei?" wollte er dann wissen, während er nach seinem Puls tastete, um die Wirkung des Medikaments zu verfolgen.
"Nein, nur ein bißchen. Kommt wohl von vorhin. Hat mich einiges an Kraft gekostet …"
"Das kann man wohl sagen! Jedenfalls war dieses Theater nicht im geringsten deiner Gesundheit förderlich. Im Gegenteil! Du hättest dich da besser herausgehalten."
"Du hast vielleicht gut reden! Erstens steckte ich von Anfang an mittendrin – ohne daß ich es darauf angelegt habe! –, und zweitens konnte ich Mort nicht ins offene Messer rennen lassen. Oder Mike! Hätte ich deiner Meinung nach zusehen sollen, wie sie ihn abknallen?"
"Reg dich bloß nicht so auf! Wenn du willst, daß das Zeug wirkt, verhalte dich lieber ruhig. Versuche gleichmäßig durchzuatmen und red nicht soviel!"
"Gleichmäßig durchatmen! Du hast vielleicht Nerven! Wenn ich das könnte, ginge es mir wahrscheinlich nicht so dreckig."
Jess mußte keuchen. Der Hustenreiz hatte sich anscheinend noch nicht gelegt. Trotzdem begann sich wenigstens sein Kreislauf allmählich zu erholen. Dan ließ sein Handgelenk los, nachdem er den Puls kräftiger und in ruhigerer Frequenz ertasten konnte.
"Du solltest dem Blei einfach etwas konsequenter aus dem Weg gehen."
"Es war wirklich nicht meine Schuld", versicherte Jess, wesentlich ruhiger, beinahe kleinlaut.
"Natürlich nicht." Der Arzt legte ihm zur Versöhnung die Hand auf die Schulter. "Daß du das überhaupt so lange ausgehalten hast, wundert mich. Du hättest eigentlich schon vor mindestens einer halben Stunde auf der Strecke bleiben müssen."
"Frag mich bloß nicht, wie!" Jess knöpfte endlich mit leicht zitternden Fingern sein Hemd zu. Dann fuhr er sich erschöpft über die Stirn, wo ein paar Schweißperlen glänzten. Jetzt, da die Schmerzen nachließen, merkte er erst richtig, wie fertig er war. "Das vorhin hat mich viel von meiner Zeit gekostet, nicht wahr?"
Der Arzt, der sich hinter seinen Schreibtisch verzogen hatte, starrte ihn sinnend an, ehe er seinem Blick auswich. Da lag wieder diese Melancholie in seinen Augen, die es ihm schwermachte, ihm offen ins Gesicht zu sehen.
"Ja, sehr viel sogar!" nickte er vor sich hin. Endlich blickte er trotz seines Unbehagens auf. "Jess, du kannst auf keinen Fall mehr länger warten!" sagte er dann sehr eindringlich. "Ich werde Tyler heute noch telegrafieren. Du mußt so schnell wie möglich zu ihm."
"Du fragst gar nicht, ob ich überhaupt will."
"Nein, weil mich das nicht interessiert. Ich kann es einfach nicht verantworten, auf deinen Willen oder Unwillen Rücksicht zu nehmen."
"Dann ist es ja gut, daß ich mich trotz allem Hin und Her für Colorado Springs entschieden habe. Ich wollte es dir zwar erst am Montag bei meinem regulären Besuch sagen, aber wenn du so darauf drängst …"
"Jess, es ist wirklich höchste Zeit! Ich wäre sogar froh, wenn du schon dort wärst. Die Entzündung hat sich gefährlich ausgebreitet. Jeder verlorene Tag verschlechtert nur deine Chancen. Am liebsten würde ich dich heute in den Nachmittagszug stecken. Ich tue es nur nicht, weil du aufgrund deiner miserablen Verfassung noch nicht einmal bis Cheyenne kämst, ohne unterwegs zusammenzubrechen. Nach deinem momentanen Zustand dürfte ich dir die Reise generell nicht erlauben. Ich muß es jedoch tun, weil es auf keinen Fall mehr besser werden wird, wenn wir das Ganze verschieben – eher schlechter."
"Ich will ja nicht gerade behaupten, daß ich davon sehr begeistert bin. Und dann klingst du auch noch so ermutigend!" meinte Jess bissig.
"Tut mir leid, Junge, aber so sind die Tatsachen. Je eher du zu Tyler kommst, desto besser. Hast du inzwischen mit Mike darüber gesprochen?"
"Nein!"
"Dann tu es bitte auf dem schnellsten Weg! Tyler wird mit seiner Antwort nicht lange auf sich warten lassen. Ich schätze, sie liegt spätestens morgen mittag auf meinem Tisch."
"Ich wollte ja sowieso am Montag bei dir vorbeikommen."
"Gut. Solltest du bis mittags nicht hier gewesen sein, werde ich zur Ranch kommen."
"Ich werde da sein", versprach Jess, daß sich der Arzt ein wenig wunderte über seine rasche Kapitulation. "Werd' es schon irgendwie schaffen."
"Du solltest besser darauf achten, dich nicht weiter zu übernehmen."
"Ich pass' schon auf."
Dan musterte ihn skeptisch. Immer mehr überraschte ihn dieser plötzliche Stimmungswandel bei dem Mann, der am Anfang der Woche so kontrovers reagiert hatte. Heute war seine Einstellung dazu eher ruhig – sachlich, ja, fast nüchtern. War er über den ersten Schock hinweg, oder verfolgte er mit seiner Zugänglichkeit ein bestimmtes Ziel?
Der Arzt konnte sich nur zwei Gründe vorstellen, weshalb Jess nachgab. Entweder hatte er eingesehen, daß es wirklich das beste für ihn war, und er wollte gehen, um zu versuchen, in Tylers Sanatorium gesund zu werden. Oder aber – und das traute er ihm aufgrund der rapiden Verschlechterung seines Zustandes am ehesten zu – er wollte seinen Angehörigen ersparen, seinen qualvollen Tod mit anzusehen.
Bei diesem Gedanken lief Dan Higgins ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wenn er diese trübe Abgeschlagenheit in seinen müden, fast traurigen Augen nur halbwegs richtig deutete, traf das letztere zu. In seinen Augen konnte Higgins allerdings nicht erkennen, ob er sich selbst endgültig aufgegeben hatte oder nicht. Gewiß wäre ihm wohler gewesen, wenn er diese völlige Absage an sich selbst, das eigene Leben, das Überleben hätte ausschließen können.
"Was ist? Warum siehst du mich so an? Stellst du schon Spekulationen über den Zeitpunkt meines Ablebens an?"
"Über so etwas solltest du keine faulen Witze machen."
"Das war mein voller Ernst. Genauso hast du nämlich ausgesehen."
"Nein, Jess, ich habe mich nur gefragt, wieso du plötzlich so schnell nachgibst."
"Was heißt hier nachgeben? Und von wegen schnell! Hat immerhin eine Weile gedauert. Ich habe doch schließlich das Recht, meine Meinung zu ändern, oder?"
"Selbstverständlich! Es wundert mich halt nur. Das ist alles."
"Sag mir lieber, wie die Kosten aussehen, damit ich weiß, ob ich Mike außer Schulden noch etwas anderes hinterlassen kann."
"Also doch!" entfuhr es Dan.
Mit dieser Bemerkung hatte sich Jess seiner Meinung nach verraten. Er wollte nur von hier weg, um seinen Angehörigen alles Weitere zu ersparen. Es war in erster Linie Flucht und erst in zweiter – vielleicht! – ein Stellen zum Kampf um sein Leben.
"Also doch was?"
"Nichts von Bedeutung!" wich Dan aus.
"Tu bloß nicht so scheinheilig! Ich weiß, was du denkst. Du hast unrecht."
Der Arzt verzog schuldbewußt das Gesicht. Nur für einen Augenblick hatte er vergessen, daß Jess mit seinem feinen Gespür seine Mitmenschen relativ rasch durchschauen und ebenso leicht ihre unausgesprochenen Gedanken erraten konnte, und zwar mit einer Sicherheit, daß es manchmal schon unheimlich anmutete.
"Das beruhigt mich, ehrlich gesagt", ging er nun doch darauf ein, weil es zwecklos war zu leugnen. Jess hätte ihm sowieso kein Wort geglaubt, wenn er es nicht zugegeben hätte. "Also, wie gesagt, ganz billig wird der Spaß nicht. Tyler hat zwar noch kein konkretes Angebot gemacht, weil das bis jetzt nicht relevant war; aber ich schätze, mit zwei- bis dreihundert Dollar die Woche wirst du rechnen müssen für beste Versorgung. Tyler wird dir dafür bestimmt die allerbeste Kategorie bieten, schon allein deshalb, weil wir befreundet sind. Er wird jedenfalls alles für dich tun, was in seiner Macht steht. Soviel ist sicher."
"Dann hoffe ich nur, daß es genug sein wird."
"Tja, Jess, das hoffe ich auch."
"Gut, dann kann ich jetzt ja gehen, oder hast du noch etwas?"
"Nein, nur daß du dich in Zukunft etwas mehr zurückhalten sollst. Dein Zustand hat sich seit deinem letzten Besuch wirklich um einiges verschlechtert. Ich sage dir das, ohne übertreiben oder dir gar Angst einjagen zu wollen. Du gehörst eigentlich ins Bett. Das vorhin war ein ernstzunehmendes Warnzeichen. Dein Kreislauf stand kurz vorm Zusammenbruch. Fordre es bitte nicht noch mehr heraus!"
"Ich werde vorsichtig sein – ich verspreche es!"
Sie erhoben sich beide. Dan beobachtete ihn skeptisch, wie er ein paar Sekunden vor dem Schreibtisch verharrte und sich schwer auf die Tischplatte stützte. Von der raschen Bewegung schwindelte ihn.
"Willst du dich nicht lieber einen Moment hinlegen? Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten."
"Es … wird schon gehen." Jess drückte die Knie durch und straffte die Schultern. Seine Wunde begann zu toben. "Ich fürchte, wenn ich mich jetzt hinlege, werde ich so schnell nicht mehr hochkommen."
"Das kann durchaus passieren. Versprich mir aber, daß du es zu Hause tun wirst."
"Ich verspreche es."
Dan zog die Brauen hoch.
"Ohne Wenn und Aber?"
"Diesmal ohne."
"Na gut." Der Arzt wandte sich halb um und holte aus dem kleinen Medikamentenschrank hinter ihm ein dunkelbraunes, sorgfältig beschriftetes Glas mit Tabletten. "Hier, ich glaube, es ist besser, wenn ich dir die mitgebe. Nimm über den Tag verteilt drei bis vier Stück davon."
Jess begutachtete mißtrauisch das verschlossene Glas, das er ihm in die Hand drückte. Mit den lateinischen Namen auf dem Etikett konnte er nicht viel anfangen.
"Was ist das für ein Zeug? Wenn das Morphiumpillen sind, kannst du sie behalten."
"Sei nicht gleich wieder so kritisch! Das ist kein Morphium, sondern etwas für deinen labilen Kreislauf und dein strapaziertes Herz, das seit Wochen Schwerstarbeit leistet. Du kannst von Glück reden, daß du eines hast wie ein junger Büffel, sonst wärst du längst auf dem Friedhof."
"Hm, danke!" brummte Jess, daß es sich fast wie eine Entschuldigung anhörte, ging zur Garderobe und ließ das Glas in seiner Jackentasche verschwinden.
Dann nahm er seine Jacke vom Haken und war froh, daß ihm der Arzt beim Anziehen behilflich war. Dieser tauschte gleich darauf seinen weißen Kittel gegen den Gehrock.
"Ich komme ein Stück mit. Ich werde am besten gleich das Telegramm an Tyler schicken. Ich habe damit schon viel zu lange gewartet." Dan legte ihm fürsorglich die Hand auf den Rücken. "Wenn du am Montag vorbeikommst, kann ich dir sicherlich Näheres sagen. Mach dich auf jeden Fall darauf gefaßt, daß du irgendwann im Laufe der nächsten Woche fährst. Es ist wirklich höchste Zeit."
"Dann werde ich am Wochenende mit Mike sprechen müssen." Jess atmete auf, während er seine Rechte in der Jackentasche versenkte und dort mit dem Arzneiglas zu spielen begann. "Ich wünschte, ich hätte es schon hinter mir. Nach dem, was heute morgen war, ist es nicht einfacher geworden."
Fortssetzung folgt
