KAPITEL 26
Der Fahrer der Mittagskutsche brachte die Neuigkeit auf die Sherman-Ranch. Slim, der gerade den einen Karabinerhaken der Gespannkette öffnete, entglitt sie vor Schreck, daß sie mit Gerassel zu Boden fiel und das ihm am nächsten stehende Pferd neugierig den Kopf hob.
"Sag das noch mal!" schluckte er, sich rasch aufrichtend und den Kutscher, der ihm auf der anderen Seite zur Hand ging, entsetzt anstarrend.
"Du kannst den Mund ruhig wieder zumachen!" grinste der Mann. "Du hast dich nicht verhört. Ich sage dir, das war ein Mordsspektakel. So etwas hat es hier noch nie gegeben! Kann mich jedenfalls nicht erinnern. Gott sei Dank, wieder drei weniger, die einem das Leben zur Hölle machen könnten."
"Und Jess?"
"Keine Sorge! Der war noch quicklebendig, als ich losfuhr."
"Bist du sicher, daß es sich bei den dreien um diese Kerle handelte?"
"Absolut! Ich hab' es nicht selbst gesehen, aber man sagt, Jess selbst hätte zwei von ihnen erledigt, auch den, der ihm damals das Ding verpaßte. Manchmal verhilft der Zufall wohl doch der Gerechtigkeit zum Sieg. Bin jedenfalls froh, daß das abgehakt ist. Es fährt sich viel sorgloser, ohne die drei Halsabschneider in der Gegend zu wissen. Außerdem liegt es mir jetzt nicht mehr ganz so schwer im Magen, was man damals mit Jess anstellte."
"Ich wollte, mir ginge es ebenso", murmelte Slim mit verschlossener Miene, während er sich wieder an die Arbeit machte.
Nach wie vor warf er sich vor, bei der ersten Begegnung mit zwei der drei Galgenvögel versagt zu haben, was seinen Freund beinahe das Leben gekostet hatte und heute mehr denn je bedrohte. Daß dieser ihm nun auch noch die Gelegenheit genommen hatte, die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft zu ziehen, entbehrte in seinen Augen jeder Logik. Er hatte seinen besten Freund nicht nur vor so vielen Wochen in dem Augenblick im Stich gelassen, als er seine Hilfe am meisten benötigte, sondern auch heute, als er die Möglichkeit gehabt hätte, sein Versagen von damals wenigstens teilweise wiedergutzumachen. Das redete er sich jedenfalls ein. Daß er von dem, was in der Stadt vorgefallen war, keine Ahnung hatte – haben konnte! –, war keine Entschuldigung, allenfalls eine Ausrede. Jess war dem Teufel zum zweitenmal begegnet und mußte zusehen, daß er dieses Zusammentreffen ohne seine Unterstützung heil überstand. Mit dem Ende dieses Alptraums wurde die Schuld, die sich Slim vorwarf, nicht geringer. Im Gegenteil! In seinen Augen hatte sie sogar beängstigende Ausmaße angenommen, blieb ihm doch nun die Chance verwehrt, sie in irgendeiner sinnvollen Weise abzutragen.
"Was ist? Du bist ja so schweigsam?" meldete sich der Kutscher von der anderen Seite. "Sag bloß, es hat dir die Sprache verschlagen!"
"Du sagst es! Wenn ich mir vorstelle, was dabei hätte passieren können …"
"Du solltest es mehr von der positiven Seite sehen. Jess ist schließlich kein Anfänger. Soweit ich es beurteilen kann, hatte er die Situation von Anfang an voll im Griff. Ist doch schließlich nicht das erste Mal, daß er in so was verwickelt wird."
"Genau das ist das Problem."
"So wie man dich reden hört … Slim, du denkst doch nicht, er hätte es herausgefordert?"
"Sollte ich das denken?"
"Das ist nicht dein Ernst! Du wärst wirklich ein schlechter …"
"Hab' ich vielleicht was gesagt?" fiel Slim ihm unwirsch ins Wort.
"Hat es etwas gegeben zwischen euch? Ich meine, es könnte doch sein … Hat es?"
"Was soll es denn deiner Meinung nach gegeben haben?"
"Na ja, es könnte doch sein …"
"Es ist bestimmt nicht das, was du denkst." Slim richtete sich auf. "Es ist ganz und gar nicht das, was du denkst!" bekräftigte er zum Nachdruck. "Stan, er ist todkrank. Ich mache mir Sorgen um ihn. Das ist es – und nur das!"
Als der Kutscher in sein aufgewühltes Gesicht sah, wagte er nicht mehr, etwas anderes zu vermuten.
"Tut mir leid, Slim!" entschuldigte er sich, beschämt über seine Annahme, der Rancher könnte eventuell nicht hinter dem Handeln des Freundes stehen. "Und ich Esel dachte …" Betreten senkte er den Blick. "Das wußte ich nicht."
"Ist nicht deine Schuld", wich Slim aus, führte das Gespann zur Koppel, von wo er das frische mitbrachte, und wollte sich nicht weiter darüber auslassen, was denn nun genau wessen Schuld war.
Der Kutscher hütete sich davor, irgend etwas in der Beziehung weiter ergründen zu wollen. Slim erweckte heute ganz den Eindruck, ihm sonst an die Gurgel zu springen.
Bald darauf fuhr die Kutsche weiter. Sie ließ zwei zutiefst besorgte Ranchbewohner zurück.
Daisy Cooper, die etwas Vages von den Fahrgästen erfahren hatte, als sie sich bei ihr mit Kaffee und Keksen versorgen ließen, fand Slim vorm Verandaaufgang, wo er beinahe sehnsüchtig Richtung Laramie stierte. Anscheinend war er am Überlegen, ob er nicht sein Pferd satteln sollte, um dem Wagen entgegenzureiten.
"Slim, stimmt das?" sprach sie ihn an, daß er sich bei seinen düsteren Vorstellungen von dem, was der Kutscher nicht berichtet hatte, ertappt fühlte. "Die Fahrgäste haben irgend etwas von einer fürchterlichen Schießerei erzählt, die es heute in der Stadt gegeben haben soll. Wissen Sie etwas davon?"
"Ja, der Kutscher hat es berichtet. Unsere drei Freunde haben versucht, die Bank zu plündern."
"Jess ist mit Mike noch nicht zurück. Er wird doch nicht …"
"Doch, Daisy! Und so wie es Stan geschildert hat, muß er bis zum Hals da mit drin gehangen haben."
"O mein Gott!" Entsetzt nahm sie ihr Gesicht in beide Hände. "Slim, ist … Lieber Himmel, es … es ist ihm doch nichts geschehen?"
"Nein, so wie Stan sagt, nicht. Er ist ihm bei der Abfahrt in der Stadt begegnet. Jess wartete noch auf unsere Pumpe, wollte bis halb drei hier sein."
Daisy stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. Wenn er eben etwas anderes gesagt hätte, wäre sie vor Aufregung in Ohnmacht gefallen. Das hätten ihre Nerven nicht verkraftet.
"Gott sei Dank!" atmete sie auf. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie ihre Hände aus dem Gesicht nahm. "Wenn ihm wieder etwas zugestoßen wäre, ich glaube, das hätte ich nicht überlebt. Was hat sich denn da nur abgespielt? Wie konnte es überhaupt soweit kommen? Und warum um alles in der Welt mußte ausgerechnet Jess … Slim, die sind doch nicht seinetwegen zurückgekommen, oder?"
"Nein, Daisy, so wie es aussieht, nicht." Slim stand immer noch unschlüssig vorm Treppenaufgang. Der Drang, in die Stadt zu reiten, beschäftigte ihn nach wie vor, obwohl ihn die Tatsache, die Befürchtungen der Frau entschärfen zu müssen, etwas ablenkte. "Und selbst wenn, hätten sie dies gewiß nicht in der Stadt getan. Schließlich wußten sie, wo sie ihn finden konnten. So wie ich die Sache sehe, wollten die tatsächlich nur die Bank erleichtern. Daß sie dabei ausgerechnet von Jess gestört wurden, ist wohl reiner Zufall. Stan wußte nichts über den Ablauf der Dinge, aber die drei Kerle sind auf alle Fälle auf der Strecke geblieben. Schätze, etwas Genaues werden wir erst von Jess erfahren. Dabei kann ich mir gar nicht vorstellen, daß er für so ein Theater in der richtigen Verfassung war. Aber er muß eine Ahnung gehabt haben."
"Eine Ahnung? Wie meinen Sie das?"
"Ich wollte, ich könnte es erklären. Wahrscheinlich kann er das nicht einmal selbst. Er war die letzten paar Tage ziemlich unruhig, heute morgen sogar richtig nervös. Er machte sich Sorgen um Mike. Darum ist er auch jeden Tag in der Stadt gewesen, obwohl es ihm besser getan hätte, zu Hause zu bleiben. Ich dachte zuerst, das hinge einzig und allein mit seinem Besuch bei Doc Higgins am Montag zusammen. Aber gestern, als ich in der Stadt war, hat er mich ausdrücklich darum gebeten, auf Mike nach der Schule zu warten. Wahrscheinlich hat er diese Gefahr instinktiv gefühlt. Er hat ja manchmal ein seltsames Gespür für so etwas, wie eine innere Stimme, ein sechster Sinn. Ich wünschte nur, er hätte es auch damals gehabt, als ich ihn in diese Kugel hab' rennen lassen."
"Slim!" wies sie ihn scharf zurecht.
"Ist doch wahr!" begehrte er auf. "Nicht mal heute, wo ich Gelegenheit gehabt hätte, einiges wiedergutzumachen, konnte ich ihm helfen."
"Aber, Slim, das ist doch … das ist doch völlig absurd, was Sie da sagen!"
"Ach ja? Ich sehe das anders! Zuerst rühr' ich keinen Finger, als man ihm diese ganze Geschichte einbrockt, und dann lass' ich ihn die Suppe selber auslöffeln, ohne es für nötig zu finden, ihm dabei zu helfen. Das ist beschämend, wissen Sie das? Ich nehme mir hier das Recht heraus, ihm weise Ratschläge zu erteilen, Vorwürfe zu machen, weil er die Dinge nicht immer so sieht wie ich, und wenn es zur Sache geht, lass' ich ihn die Kastanien allein aus dem Feuer holen. Ich bin hier nur am Lamentieren und Nörgeln, und er versucht inzwischen, das wieder gerade zu biegen, was ich verpatzt habe. Und dann steh' ich hier herum und jammre Ihnen zu allem Überfluß die Ohren voll. Sie haben recht: es ist absurd!" wetterte er gegen sich selbst.
"Slim, sind Sie noch recht bei Trost?" fragte die Frau allen Ernstes. "Wovon reden Sie?"
"Von meiner Unfähigkeit, einem Freund beizustehen, wenn er Hilfe braucht. Davon! Von meiner Pflicht, das für ihn zu tun, was ich ihm selbst überlassen habe, aus Bequemlichkeit, Verantwortungslosigkeit! Nennen Sie es, wie Sie wollen!"
"Aber was hätten Sie denn tun sollen? Slim!" Sie kam zu ihm herunter und griff energisch nach seinem Arm. "Das war doch alles reiner Zufall. Sie sind doch kein Hellseher! Oder wollen Sie sich daran auch noch die Schuld geben? Das ist ja wohl das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Wenn das Jess zu Ohren kommt, wird er sich darüber fürchterlich aufregen. Und das können Sie wirklich nicht verantworten! Vor allem, weil das alles völlig unsinnig ist, was Sie da von sich gegeben haben."
"Ist es das? Ist es das tatsächlich?" vergewisserte er sich gereizt.
"Herrgott noch mal, ja!" fuhr sie ihn hart an. "Tut mir leid, wenn ich so laut werde, aber mit Ihnen kann man im Moment anscheinend nicht anders reden. Sie haben ganz recht! Sie jammern mir hier etwas vor über abstruse Dinge, die in Ihrer Phantasie diese Schuldgefühle erzeugen, mit denen Sie sich selbst bemitleiden, anstatt froh darüber zu sein, daß dieser Alptraum endlich ein – wenn auch blutiges – Ende gefunden hat. Wer dafür gesorgt hat, ist doch weiß Gott egal! Es ist ganz offensichtlich vorbei! Das ist doch das Wichtigste! Haben wir denn im Augenblick keine anderen Sorgen als diese Ihre eingebildete Schuld? Ändert sich irgend etwas, wenn Sie sich hier selbst bedauern? Anscheinend muß man erst ein ehrkäsiges Mannsbild sein, um dieses ganze Gewäsch von Schuld und Pflicht zu verstehen, oder entspringt das nur den Vorwürfen, die Sie in Ihrer verworrenen Phantasie ausgebrütet haben?"
Slim starrte sie entgeistert an. In diesem Ton hatte er sie, wenn er ehrlich war, noch nie reden hören. Immerhin schaffte sie es, ihn sehr schnell zur Besinnung zu bringen. Sie hatte ganz einfach recht mit dem, was sie ihm an den Kopf warf.
Wieder einmal hatte er sich in etwas hineingesteigert, was er zwar keinesfalls leugnen konnte, aber doch nicht so breittreten sollte, daß er damit seinen Mitmenschen derart auf die Nerven ging, als gäbe es nichts anderes als diese Probleme, die er sich zu den real vorhandenen künstlich schuf. Jess brachte er damit regelmäßig auf die Palme. Nur gut, daß er sich heute zuerst bei ihr ausgeweint hatte. Es wäre unverantwortlich gewesen, den Freund zu allem Überfluß auch noch damit zu reizen, was zweifellos geschehen wäre, wäre er dagewesen.
Als er sich darüber klar wurde, hellte sich seine finstere Miene bis zum Haaransatz auf.
"Daisy, Sie sind ein Teufelsweib!" Er konnte nicht umhin, seine Arme um sie zu schlingen und sie heftig an sich zu drücken. "So etwas wie Sie gibt's nur einmal auf dieser Welt!"
"Jetzt kommen Sie mir ja nicht mit Ihrer Honigtour!" Trotz ihres Protests drückte er ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn, ehe er sie losließ. "Allmählich beginne ich zu verstehen, weshalb Sie und Jess hin und wieder hinterm Haus im Dreck liegen. Wenn man so vernagelt sein kann, bleibt das gar nicht aus. Einer schlimmer als der andere, und jeder auf seine ureigene halsstarrige, verbohrte Art. Furchtbar, dieses ewige Mannsgeplänkel!"
"Sie gönnen uns aber auch gar nichts!"
"Slim, das war mein voller Ernst!" meinte sie, ihn ausdrücklich aufmerksam machen zu müssen. Wenn er so schnell und vor allem so kommentarlos nachgab, traute sie ihm nicht über den Weg. Darin unterschied er sich nicht die Spur von seinem Partner. "Wir können so etwas im Moment wirklich nicht benötigen. Jess braucht jetzt eine ganz andere Hilfe, keine im üblichen Sinn, das wissen Sie! Wir sollten uns mehr darauf konzentrieren und nicht auf das, womit er ganz offensichtlich allein fertig werden kann. Er braucht Sie jetzt nicht, damit Sie ihm bei so etwas wie in der Stadt beistehen können, sondern dann, wenn er wirklich auf die Hilfe eines Freundes angewiesen ist. Verwehren Sie ihm diese Hilfe nicht, indem Sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Denn das wäre mehr als unverantwortlich."
"Ich weiß", nickte er schwer. "Deshalb bedaure ich um so mehr, daß ich mich so aufgeführt habe. Wahrscheinlich war ich im ersten Augenblick … Allein die Vorstellung, daß diese drei Kerle noch einmal … Ich kann es eigentlich immer noch nicht fassen! Und daß ausgerechnet Jess ihnen noch einmal begegnen mußte … Ist das nicht eine üble Laune des Schicksals?"
"Irgendwie schon", mußte nun auch sie zugeben.
"Keiner ist mit ihnen fertig geworden. Dann müssen sie fatalerweise dem noch einmal über den Weg laufen, dem sie am meisten angetan haben. Daß es so kommen könnte, habe ich zwar nicht vermutet, aber befürchtet. Ich kann dem Himmel nicht genug danken, daß Jess diese Begegnung überlebt hat. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich damit nicht gerechnet. Er ist zwar verdammt schnell und bewundernswert sicher, aber er hat auch eine Menge Skrupel."
"Wundert Sie das etwa?"
"Nein, es würde mich wundern – nein! enttäuschen –, wenn es nicht so wäre. Zum Glück hat er gute Nerven, wenn es darauf ankommt. Wahrscheinlich haben die ihm auch heute das Leben gerettet, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß ihm einer der drei eine Chance gegeben hätte. Ich weiß es nicht. Warten wir ab, was wir von ihm erfahren."
"Wenn wir überhaupt etwas von ihm erfahren", meldete Daisy berechtigte Zweifel, da sie glaubte, Jess Harper in der Beziehung sehr gut einschätzen zu können.
"Tja, das ist allerdings die Frage …" Slim warf einen ungeduldigen Blick die Straße entlang. "Wie spät ist eigentlich?"
"Nun werden Sie nicht gleich wieder nervös! Es ist sicherlich erst kurz nach zwei – höchstens! Ein wenig mehr Zeit sollten sie den beiden schon geben. Ich denke, der Kutscher sagte etwas von halb drei. Außerdem, wenn sie wirklich auf die Pumpe warteten, kann es doch auch sein, daß sich da etwas verzögert."
"Sicher, sicher!" redete Slim abwesend vor sich hin. "Ich kann ja inzwischen das Gespann versorgen …"
"Sie reden, als ob Sie nichts anderes zu tun hätten."
"Wie?" Ein wenig verwirrt drehte er den Kopf und sah die Frau mit hochgezogenen Brauen an.
"Schon gut!" winkte sie ab. "Ich werde das Essen warm stellen."
Sie ließ ihn stehen und kehrte zum Haus zurück. Von drinnen sah sie durch das Fenster neben der Tür, wie sich der Rancher endlich aufraffte, den Hof zu überqueren und die Gespannpferde auszuschirren. Nachdem er die Pferde der Mittagskutsche versorgt hatte, hielt er es nicht mehr länger aus, obwohl es noch nicht halb drei war – er trug weder eine Uhr bei sich, noch interessierte ihn die Uhrzeit in irgendeiner Weise –, und beschloß kurzerhand, sein Pferd zu satteln, um dem Wagen entgegenzureiten. Auch auf die Gefahr hin, daß er sich wegen seiner übertriebenen Sorgen lächerlich machte, konnte ihn jetzt nichts mehr davon abhalten, selbst an Ort und Stelle nach dem Rechten zu sehen. Die Arbeit konnte er sich jedoch sparen. Auf halbem Weg zur Stalltür hörte er hinter sich ein Fuhrwerk, das die Straße aus Laramie herankam. Es war tatsächlich der Ranchwagen.
"Dem Himmel sei Dank!" entfuhr es Slim, während er sich erleichtert umwandte und mitten auf dem Hof stehen blieb, um die beiden Ankömmlinge zu erwarten.
Auf Jess' Anweisung fuhr Mike bis vors Wohnhaus und hielt die Pferde so an, daß der Wagen direkt vorm Verandaaufgang zum Stehen kam.
Bis Slim die beiden erreichte, war Mike schon mit einem Satz vom Bock gesprungen und machte sich bereits an der Leine zu schaffen, mit der Browny angebunden war, während Jess abstieg wie ein gebrechlicher alter Mann, den das Rheuma plagte. Seine Schwäche schien so groß zu sein, daß sie ihn in die Knie gezwungen hätte, wenn er sich nicht gegen den Wagen lehnte, um nicht gar so heftig zu schwanken. Zwar war er beim Absteigen so vorsichtig wie möglich gewesen, hatte versucht, keine schnelle Bewegung zu machen, aber trotzdem fing seine Wunde an zu toben.
"Mann, Slim, du stellst dir nicht vor, was wir heute erlebt haben!" rief Mike vom hinteren Ende des Wagens. Anscheinend hatte er bereits den ersten Schock überwunden und brannte nun förmlich darauf, die Geschichte jemandem in möglichst lebendigen Details zu schildern.
"Du hast recht, Mike, ich könnte es mir tatsächlich nicht vorstellen, wenn es mir der Kutscher nicht erzählt hätte", erwiderte Slim ein wenig abweisend.
"Stell dir vor …"
"Später, Mike!" fiel er ihm ins Wort. "Du solltest jetzt schleunigst dein Pony versorgen. Daisy wartet mit dem Essen."
"Tu, was er sagt, Cowboy!" mischte sich Jess von der anderen Seite des Wagens ein, leise, aber doch bestimmt.
"Na schön!" gab Mike mißmutig nach; aber wenn sein Pflegevater in diesem Ton mit ihm redete, war es besser, nicht zu widersprechen; es war die indirekte Aufforderung, die zwei Männer allein zu lassen. "Komm, Browny, dann erzähle ich dir davon. Du interessierst dich garantiert dafür!" schmollte er und zog sein Pony hinter sich her zum Stall.
"Also! Was war los?" fragte Slim seinen Partner mit einer tiefen Furche, die über seiner Nasenwurzel steil nach oben zeigte.
"Ich denke, Stan hat dir bereits Bericht erstattet", wich Jess aus. "Dann weißt du doch Bescheid. Wüßte nicht, was es dazu noch zu sagen gibt."
"Machst du Witze?" fuhr der Rancher ungewollt auf. "Ich habe inzwischen drei verschiedene Versionen gehört, und du versuchst mir einzureden, es gäbe dazu nichts mehr zu sagen!"
"Wieso drei?"
"Außer dem Kutscher hatten die zwei Fahrgäste ihre eigene Geschichte Daisy zu erzählen. Macht also drei. Und jetzt wüßte ich ganz gern, was da tatsächlich los war."
"Muß das unbedingt jetzt sein?"
"Verdammt, Jess, da wollen diese drei Halunken die Bank ausrauben, du lieferst dir mit denen eine Wahnsinnsballerei und behauptest, es gäbe dazu nichts mehr zu sagen."
"Da scheint es ein ziemliches Mißverständnis zu geben."
"Ach wirklich?"
"Ja, ach wirklich! Du redest, als ob ich es absichtlich darauf angelegt hätte, mich mit denen herumzuschießen."
"Hast du?"
"Sag mal, spinnst du?" Jess starrte den Freund grimmig, beinahe sogar gekränkt an. Der Ärger, der in ihm über diese Frage hochstieg, trieb seinen Blutdruck in die Höhe, obwohl er, in leicht geduckter Haltung, an den Wagen gelehnt, verharrte. "Mike und ich sind durch puren Zufall in diesen Schlamassel geraten, und es ist ein noch verdammt größerer Zufall, daß wir das überlebt haben und ich hier stehen kann, um mir dein dämliches Gequatsche anzuhören."
"Nach dem, was du so in den letzten Tagen von dir gegeben hast, kann man immerhin auf solche Gedanken kommen."
"Du hast sie ja nicht alle! Meinst du etwa, dann hätte ich zu dem Tanz Mike eingeladen? Du mußt wirklich den Verstand verloren haben! Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß eine der drei Versionen, die du gehört hast, nur halbwegs so idiotisch war wie die, die deiner Phantasie entsprungen ist."
"Meiner Phantasie ist überhaupt nichts entsprungen! Kannst du dir eigentlich nicht vorstellen, daß ich mir einfach nur Sorgen gemacht habe? Immerhin waren das doch die drei, deren Bekanntschaft wir bereits machen mußten, oder hat sich Stan da geirrt?"
"Nein", erwiderte Jess lakonisch, aber wesentlich ruhiger.
"Na also! Und da jede der drei Versionen eine völlig andere Geschichte darstellt, hätte ich ganz gern von dir gehört, was da eigentlich geschehen ist. Gott im Himmel, ich wollte dir gewiß nichts unterstellen! Wie käme ich dazu? Tut mir leid, wenn es sich so angehört hat." Slim legte ihm zur Versöhnung die Hand auf die Schulter. "Du mußt dich vor mir doch nicht rechtfertigen."
"Können wir nicht später darüber reden? Mir …" Jess keuchte und griff unter seine Jacke. "… mir geht es nicht besonders."
"Hast du doch etwas abgekriegt?" Besorgt faßte er ihn fester. "Stan hat zwar gemeint …"
"Stan hatte schon recht. Diesmal … hatte ich mehr Glück. Dafür macht mir das vom letzten Mal um so mehr zu schaffen."
"Du kannst dich ja kaum aufrecht halten!" mußte Slim mit wachsender Besorgnis feststellen. In seinem anfänglichen Ungehaltensein hatte er es zunächst gar nicht richtig gemerkt. "Warst du wenigstens beim Arzt?"
"Natürlich!"
"Na, so selbstverständlich ist das bei dir schließlich nicht. – Was sagt er?"
"Dan konnte mir auch nicht mehr viel helfen."
"Was soll das heißen?"
"Daß es noch schlimmer geworden ist."
"Von dem, was heute vorgefallen ist?"
"Nicht nur!" Jess biß die Zähne zusammen und sog, leise zischend, die Luft ein. "Ich habe es dir noch … noch gar nicht gesagt", keuchte er, "aber seit gestern … kommt wieder frisches Blut beim Husten."
Slims Finger gruben sich tiefer in seine Schulter.
"Weiß das Dan?"
"Ja", nickte Jess schwer.
"Und?"
"Nichts und! Er hat sofort Tyler telegrafiert. Schätze, daß ich im Laufe der nächsten Woche fahre."
"Was ist mit Mike?"
"Werde am Wochenende mit ihm reden müssen, sobald es mir etwas besser geht."
"Du kannst einem tatsächlich einen Schrecken einjagen. Bist du sicher, daß du nichts abgekriegt hast? Was ist denn das da?" Slim deutete auf die blutverkrustete Schramme an seinem Hals. "Ich könnte schwören, daß du das heute morgen beim Frühstück noch nicht hattest."
"Das ist doch bloß ein Kratzer! Ist nicht mal groß genug, daß Dan es für nötig fand, da was zu nähen. Ich hatte es sogar schon fast vergessen."
"Das glaub' ich dir aufs Wort!" Slim verzog das Gesicht in kameradschaftlicher Anteilnahme. "Ich bin wirklich gespannt, was das für eine Geschichte wird. Und ich bin verdammt froh, daß du mit heiler – mit fast heiler – Haut davon gekommen bist, egal, wie sich das vorhin angehört hat. Ich hab' es wirklich nicht so eklig gemeint, wie es geklungen hat."
"Vergiß es, Partner! Ich hab' es jedenfalls schon getan." Jess grinste verstohlen. "Aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt ganz gern reingehen. Ich bin wirklich total erledigt."
"Brauchst du Hilfe?"
"Nicht nötig. Die paar Schritte schaffe ich noch."
"Ich lade den Wagen ab, dann komme ich nach. War unsere Lieferung eigentlich komplett?" wollte Slim dann wissen, ohne ihn jedoch aus den Augen zu lassen.
"Hanson meinte, ja. Ich hab' es, ehrlich gesagt, nicht bis zur letzten Schraube kontrolliert. Wird schon in Ordnung sein. Hanson nimmt die alte Pumpe zurück. Vielleicht kann er sie zur Gießerei zum Einschmelzen schicken. Kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß daran etwas zu reparieren ist."
"Was ist das andere für ein Zeug?"
"Das mußt du Daisy fragen. Stand alles auf ihrer Liste für Burke. Anscheinend hamstert sie Vorräte für den Fall, daß wir bald eingeschneit werden."
"Wäre ja nicht das erste Mal, daß so etwas geschieht."
Jess löste sich vom Wagen und stieg langsam die drei Stufen zur Veranda hoch. Am Vordachpfosten mußte er einen Moment verharren, weil er das Gefühl hatte, die Bretterdielen würden sich auf und ab biegen.
"Soll ich dir nicht doch lieber helfen?"
"Es … es geht schon."
Slim blickte ihm skeptisch nach, wie er mit unsicheren Schritten zur Haustür stakste – wie ein kranker Wolf, der sich trollend in seinen Bau zurückzog.
Daisy erschien in der Tür und nahm ihn in ihre Arme, begrüßte ihn wie einen verlorenen Sohn.
Erst jetzt, da er ihn bei ihr in guten Händen wußte, wandte sich Slim seiner Arbeit zu, lud die Proviantsäcke ab, verstaute sie in der Vorratskammer und fuhr den Wagen zum Waschhaus, wo er die neue Pumpe unterbrachte.
Viel war von Jess an diesem Nachmittag nicht mehr zu erfahren, während Mike sogar während des Essens nicht seinen Mund halten konnte, obwohl Daisy ihn ein paarmal ermahnen mußte. Schließlich gab sie es auf. Wenigstens schien sein Appetit durch das Abenteuer nicht gelitten zu haben, denn er schob einen Löffel nach dem anderen in den Mund, daß sich die drei Erwachsenen nur wundern konnten.
"Möchten Sie auch noch etwas von dem Stew?" fragte sie Jess, als sie Mikes Teller zum zweitenmal füllte. "Ich glaube, wenn Sie sich nicht beeilen, ist davon nichts mehr übrig."
"Nein, danke, Daisy, mir reicht es", winkte er ab und hielt zur Sicherheit die Hand über seinen leeren Teller, noch ehe Daisy trotz seiner Ablehnung für Nachschlag sorgen konnte.
"Aber Sie haben ja kaum etwas gegessen."
"Tut mir leid, Daisy, aber ich krieg' nichts mehr runter."
"Sag bloß, dir hat es den Appetit verschlagen!" mischte sich Slim erstaunt ein, der sich am Küchentisch eingefunden hatte, wo er sich zu seiner Tasse Kaffee ein noch warmes Maisbrötchen stibitzte.
"Das nicht gerade, aber ich bin einfach nur ziemlich fertig."
"Es geht Ihnen nicht gut, nicht wahr?" fragte Daisy besorgt, die schon die ganze Zeit merkte, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Er redete kaum, und wenn doch, dann so leise, daß er nur mit Mühe zu verstehen war, war – obwohl es nichts Außergewöhnliches bei ihm zur Zeit war – auffallend blaß und hatte – und das war es eigentlich, was sie nachdenklich stimmte – tiefe, dunkle Ringe um die Augen und offensichtlich auch Schmerzen.
"Schätze, wenn ich das jetzt abstreite, glauben Sie mir nicht. Entschuldigt mich, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich nach oben gehe und mich etwas hinlege. Machen Sie sich keine Sorgen, Daisy!" wehrte er ab, ehe sie etwas einwenden konnte. "Ich habe es dem Arzt versprochen. Es … es ist wohl wirklich das beste im Moment."
Schwankend stand er auf. Slim hatte das Gefühl, aufspringen und ihn stützen zu müssen. Daß er sich nur deshalb hinlegen wollte, weil er es Dan Higgins versprochen hatte, konnte sich Slim beim besten Willen nicht vorstellen, nicht, wenn er in sein aschfahles Gesicht sah. Er nahm eher an, daß dieses Versprechen nur eine Ausrede war, um keine weiteren Auslegungen über sein Befinden machen zu müssen. Besorgt blickte er an seiner hageren Gestalt auf. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste sich Jess vom Tisch und verließ steifbeinig die Küche.
"Slim, was hat er denn nur?" wandte sich Daisy an den Rancher, der jedoch genauso ratlos schien wie sie.
"Keine Ahnung! Ich nehme einfach mal an, daß der heutige Besuch in der Stadt mehr als nur ein bißchen zu anstrengend für ihn war. Nach Stans verworrenem Bericht kann das durchaus möglich sein. Er selber hat sich ja bisher hartnäckig über den Vorfall ausgeschwiegen. Bis jetzt war jedenfalls noch so gut wie nichts darüber aus ihm herauszukriegen."
"Er hat doch noch nie gern über solche Dinge gesprochen."
"Sicher, aber diesmal wüßte ich wirklich gern, was da im einzelnen passiert ist."
"Ich kann euch das ganz genau erzählen, zwar nicht alles, aber das meiste!" platzte Mike heraus, der gerade seinen zweiten Teller mit Stew leer gelöffelt hatte und jetzt auf den Rosinenpudding wartete, vielmehr jedoch darauf spannte, die Geschichte endlich von Anfang bis Ende erzählen zu können, wenigstens soweit er sie selbst mitbekommen hatte. Er fand, daß das immer noch für einen abenteuerlichen Bericht reichte.
"Gleich, Mike."
"Du wirst erst einmal fertig essen!" entschied Daisy. "Du hast heute schon genug bei Tisch geplappert."
Slim trank seinen Kaffee aus und stand entschlossen auf.
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Ich werde einmal nach ihm sehen. Offen gestanden hat er mir überhaupt nicht gefallen."
"Würden Sie bitte frisches Wasser mit nach oben nehmen? Ich habe heute morgen nur den Krug auf der Waschkommode gefüllt. Und bringen Sie bitte sein Hemd mit! Wenn das Blut erst eingetrocknet ist, gehen die Flecken nicht mehr heraus. Das sah ja wieder entsetzlich aus."
"Ich glaube, Daisy, das hat diesmal nur so schlimm ausgesehen. Die Schramme an seinem Hals ist wirklich harmlos."
"Sicher, obwohl sie furchtbar aussieht."
"Dan hat ihn bereits verarztet."
"Das habe ich gesehen. Oder denken Sie, ich wäre sonst so kommentarlos darüber hinweggegangen?"
"Nein", grinste er, "es hätte mich auch gewundert."
Oben klopfte Slim an Jess' Zimmertür. Auf sein leises, aber brummiges "Komm rein, die Tür ist offen!" trat er ein und fand den Freund, nur noch mit Unterhosen bekleidet, vor der Waschkommode, wo er die Schüssel aus dem Krug füllte.
"Daisy meinte, sie hätte noch kein Wasser hoch gebracht und bat mich … na ja, falls du … nicht daß du wieder herumgeistern mußt wie neulich in der Nacht."
"Hört sich an wie eine Ausrede", bemerkte Jess muffig, wobei er mit seinem Spiegelbild redete.
"War es nicht!" widersprach Slim ärgerlich.
"Stell es auf den Nachttisch – danke!"
Für Jess schien die Sache erledigt zu sein, denn er zeigte kein weiteres Interesse, weder an dem Rancher noch an dem kleinen Tablett, das dieser tatsächlich auf dem Nachttisch abstellte.
"Ich soll dein Hemd mit hinunter bringen, damit sie das Blut auswaschen kann."
"Über dem Stuhl", war die knappe Antwort.
Jess schenkte ihm keine weitere Beachtung und begann sich zu waschen. Schließlich tauchte er das Gesicht ins Wasser, um so vielleicht das stärker werdende Schwindelgefühl zu ertränken. Slim beobachtete ihn, wie er den Kopf aus der Schüssel nahm, nach dem Handtuch griff und sich abtrocknete. Sein Gesicht war fast so weiß wie das frische Leinen seines Verbandes, der seinen Oberkörper umspannte wie ein straff sitzendes Korsett.
"Ist was?" fragte Jess bissig, warf das Handtuch auf den Waschtisch und drehte sich um, lehnte sich aber rücklings gegen die Kommode, weil er sonst beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
"Nein, ich wundre mich nur."
"Worüber?"
"Ganz einfach! Es ist noch nicht einmal vier Uhr nachmittags, und du hast anscheinend tatsächlich die Absicht, schlafen zu gehen."
"Was dagegen?"
"Nein, ich wundre mich nur. Ich meine, Hinlegen ist schließlich etwas anderes als Schlafengehen."
"Ach ja?"
"Nun sei doch nicht …" Slim atmete unwillig auf. Daß er so kurz angebunden war, behagte ihm nicht. "Jess, verdammt, was ist denn los? Du willst mir doch nicht erzählen, daß du nur unter die Decke kriechen willst, bloß weil du es Dan versprochen hast. Das wäre ja wirklich das erste Mal."
"Es gibt schließlich immer ein erstes Mal."
"Ach, komm, red nicht so ein abgedroschenes Zeug! Das paßt nicht zu dir!"
"Na schön, wenn du es genau wissen willst … Mir ist kotzübel, mein Kreislauf ist völlig aus den Fugen, ich bin total erledigt und habe wahnsinnige Schmerzen. Reicht das, damit ich mich um vier Uhr nachmittags ins Bett legen kann, oder muß ich dir meine ganze Krankengeschichte herunterbeten?"
"Himmel, du sollst dich doch vor mir nicht rechtfertigen!"
"Dann frag auch nicht so blöd! – Tut mir leid!" entschuldigte er sich im gleichen Atemzug, fuhr sich über Gesicht und Nacken und blickte müde auf. "Aber mir geht es wirklich hundsmiserabel. Ich komme mir vor wie ein ausgeglühtes Stück Kohle – als ob ich jeden Augenblick auseinanderbröckle."
"Ehrlich gesagt, genauso siehst du auch aus, sogar die Farbe stimmt!"
"Danke, sehr schmeichelhaft!" Jess raffte sich auf, stieß sich mit einer schwachen Bewegung von der Kommode und stelzte mit unsicheren Schritten zum Bett, auf das er vor Erschöpfung sank. "Wenn ich mich eine Weile ausruhe, wird es bestimmt wieder besser."
"Du hast dich überanstrengt."
"Schon möglich." Jess griff nach dem Arzneiglas, das ihm Doc Higgins mitgegeben hatte, ließ den Deckel aufschnappen, schluckte eine der Pillen und schüttete ein halbes Glas Wasser hinterher. "Wird wohl Zeit für eine dieser Erbsen."
"Was ist das? Morphium?"
"Nein, jedenfalls behauptet das Dan. Soll gut sein für meinen Kreislauf und mein Herz. Als er das sagte, hatte ich das Gefühl, kurz vor meinem neunzigsten Geburtstag zu stehen. Na ja, egal!" Jess verzog das Gesicht und legte vorsichtig die Hand auf seine Brust. "Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn da auch Morphium drin wäre. Wenn das so weitergeht, werde ich mich doch noch an der Laudanumflasche vergreifen."
"Willst du welches?"
"Nein, noch nicht. Außerdem weiß ich nicht, wie sich das Zeug mit den Pillen verträgt. Dan hat zwar nichts erwähnt, aber ich will es mit diesen Mittelchen nicht übertreiben. Wenn ich zu diesem Professor gehe, wird der mir noch genug davon verabreichen."
"Solange es dir hilft …"
"Ich bezweifle nach wie vor, daß mir das hilft."
"Ach, denkst du vielleicht, so etwas wie heute morgen ist die bessere Medizin für dich?" fragte Slim spitz. Eigentlich wollte er nicht so gehässig sein, denn Jess war anscheinend wirklich in einer miesen Verfassung; aber es war ihm einfach herausgerutscht.
"Ich habe mir das nicht ausgesucht, weder das hier", er drückte den Daumen auf seinen Verband, "noch das heute morgen. Stell dir vor, es hat mich noch nicht einmal jemand gefragt, ob ich überhaupt Interesse an so etwas habe."
"Deshalb brauchst du nicht gleich wieder so giftig zu werden. Das heute morgen scheint dich nicht nur körperlich einiges gekostet zu haben. Anscheinend hast du dich dabei auch nervlich völlig verausgabt."
"Ist das so abwegig? Immerhin hab' ich bei diesem Theater zwei Menschen getötet."
"Das hast du ja wohl nicht zu deinem Vergnügen getan!"
"Nein."
"Jess, du hast dir über so etwas doch noch nie so viele Gedanken gemacht."
"Woher willst du das wissen?"
"Mein Gott, du redest ja gerade, als wäre es diesmal etwas anderes gewesen."
"Es ist immer etwas anderes und doch jedesmal dasselbe. Denkst du, es hat mir schon jemals Spaß gemacht?"
"Wenn ich das von dir denken würde … dann wäre ich es nicht wert, dein Freund zu sein. Ich könnte mir so etwas nicht einmal vorstellen, selbst wenn ich mich dabei noch sehr anstrenge. Und wenn du heute morgen zwei von den dreien ins Jenseits befördert hast, wird das schon seinen Grund gehabt haben."
"Sicher, ich mußte es tun, weil mir nichts anderes übrigblieb."
"Na also! Was machst du dir darüber noch Gedanken? Es war doch ganz sicher Notwehr, oder?"
"Eindeutig sogar."
Slim sah ihn forschend an. Daß ihn diese Sache so sehr beschäftigte, fand er immer absonderlicher. Er selbst wußte zwar nur vage darüber Bescheid; aber er konnte sich wirklich nicht erinnern, daß eines dieser gefährlichen Abenteuer, die sich Jess in der Vergangenheit zuhauf, in letzter Zeit Gott sei Dank seltener lieferte, ihn so nachhaltig in Aufruhr versetzt hätte.
"Jess, dich bedrückt doch etwas, und das muß mit diesem Spektakel in der Stadt zusammenhängen. Erzähle mir nicht, das ist nicht wahr! Willst du nicht lieber darüber reden – jetzt? So wie du aussiehst, findest du vorher keine Ruhe. Dafür kenne ich dich zu gut."
"Slim, es gibt dazu wirklich nicht viel zu sagen. Ich gehöre nun mal nicht zu denen, die sich in so etwas mit Begeisterung suhlen."
"Mit so einem wollte ich auch nichts zu tun haben."
"Danke."
"Also?"
"Ach, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Vielleicht bin ich nur so aufgewühlt, weil Mike da mit drin gehangen hat. Einmal stand er mitten im Kugelhagel. Himmel, ich kann das nicht vergessen! Die Schramme da … ich meine, die Kugel … Slim, keine Zehntelsekunde später und sie hätte ihn voll erwischt. Ich kann dir gar nicht sagen … laß es dir von Mike erzählen. Ich krieg' das jetzt unmöglich zusammen."
"Und wie hast du die zwei Kerle erwischt? Kann mir das Mike auch erzählen?"
"Nein." Jess machte eine hilflose Handbewegung. "Der eine, dieser Ron, wollte abhauen", begann er mitten aus dem Zusammenhang heraus. Er wollte nach wie vor nicht die ganze Geschichte erzählen. Dazu hatte er nicht die Nerven. Aber vielleicht half es ihm tatsächlich, wenn er wenigstens versuchte, über das zu sprechen, was ihn besonders beschäftigte. "Ich versuchte, von der Hinterseite her in eine bessere Position zu gelangen, weil die Vorderfront von Morts Büro ein einziger Hexenkessel war. Es war unmöglich, vom Büro aus etwas zu unternehmen, Mort zu helfen. Als ich um die Ecke biegen wollte, kam dieser Kerl direkt auf mich zugeritten und hat auf mich losgeballert. Ich hab' einfach auf gut Glück geschossen. Ich hatte nur Zeit für einen blindlings abgefeuerten Schuß, sonst hätte er mich erwischt. Es war mehr Glück als Verstand, daß ich überhaupt getroffen habe. Er muß sofort tot gewesen sein. Hab' ihm …" Er schluckte. "… die halbe Birne weggeblasen."
"Ich kann mir nicht vorstellen, daß es jemanden zwischen Laramie und Cheyenne gibt, dem es lieber wäre, wenn er dir statt dessen ein drittes Auge auf der Stirn verpaßt hätte."
"Ich wäre mir da nicht so sicher."
"Na gut, sagen wir, jemand Anständiges", verbesserte sich Slim. "Was ist mit dem anderen, diesem Wahnsinnigen?"
"Den hab' ich erwischt, gerade als er Mort abknallen wollte. Mort lag vor dem Büro in schlechter Deckung. Er hatte sich verschossen und war am Nachladen. Um ein Haar … er hat Gott sei Dank nur einen Streifschuß abbekommen."
"Schlimm?"
"Er hat schlimm geflucht hinterher."
"Na, dann ist es wirklich harmlos", grinste Slim.
"Wenn ich diesen Kerl gleich richtig erwischt hätte, wäre das vielleicht gar nicht passiert."
"Deine Skrupel, he?"
"Ja, wahrscheinlich; aber es ging auch alles wahnsinnig schnell. Hatte keine Zeit für einen sauberen … Dieser Hal … ich glaube, er hätte noch herumgeballert, wenn ich ihm auf Anhieb mitten durchs Herz geschossen hätte. Slim, du hättest ihn sehen sollen! Er stolperte wie ein feuerspeiender Drache auf mich zu. Dieser Mann muß wirklich wahnsinnig gewesen sein."
"Das kann ich nur bestätigen. Wahrscheinlich hat der heute genauso irre geglotzt wie damals, als er genüßlich seine Winchester auf dich abfeuerte."
"Ich habe so etwas noch nie gesehen. Der hatte wirklich Freude am Töten. Ich mußte ihm eine zweite Kugel … er hätte mich sonst wieder erwischt, aber diesmal richtig. Er hatte mich wohl sofort erkannt. Er lebte noch, hat sogar ein paar Worte geredet. Nichts von Bedeutung. Er sagte, er würde am Eingang zur Hölle auf mich warten. Und dann würde er garantiert nicht mehr daneben schießen."
"Du läßt dir darüber doch keine grauen Haare wachsen?"
"Warum sollte ich? Es ist auch nicht, was er sagte, sondern wie er es sagte, was mich – ich kann nicht sagen, erschreckt –, sagen wir, berührt hat. Sein Gesichtsausdruck, sein widerliches Grinsen, voller Eiseskälte! Wenn der tatsächlich in die Hölle gekommen ist, ist da unten glatt das Feuer ausgegangen."
"Würde mich nicht wundern."
"Ich konnte ihn damals nicht sehen, zumindest erinnre ich mich an nichts; aber ich weiß jetzt, was in dir vorgegangen sein muß. Und ich weiß auch jetzt erst so richtig, was dieser Satan Mike angetan hat. Ich habe mich immer gefragt, wieso er so extrem darunter litt. Ich meine, es wurde schließlich nicht das erste Mal auf mich geschossen, und er hat es sogar schon mit ansehen müssen. Aber er mußte noch nie so etwas sehen, was sich dieser Hal womöglich geleistet hat, das, was ich in seinen Augen gesehen habe, bevor er starb – reine Mordgier! Reine sadistische Mordgier! Wenn ich bloß daran denke, läuft es mir eiskalt über den Rücken."
"Jess, nachdem du mir jetzt einiges, wenn auch nichts Vollständiges erzählt hast, kann ich eigentlich noch viel weniger verstehen, weshalb du dir irgendwelche Gedanken machst. Für mich war das zweimal ein ganz klarer Fall von Notwehr. Das wird dir jeder andere vernünftig Denkende nur bestätigen. Und jeder, der etwas anderes hindrehen will, hat keine Ahnung, wovon er redet. Jedenfalls dummes Gerede oder schöne Worte allein hätten keinen der beiden aufgehalten. Soviel steht fest. Ich weiß ehrlich nicht, was dich da so bedrückt. Jeder andere, der das hätte überleben wollen, hätte genauso handeln müssen, wäre aber wahrscheinlich nicht mit heiler Haut davon gekommen, Mort und mich selber eingeschlossen. Anstatt froh darüber zu sein, daß sie dir diesmal keines verpaßt haben, grübelst du darüber nach, warum zwei Halunken das Zeitliche gesegnet haben, die es obendrein nicht besser verdient haben. Bildest du dir etwa ein, denen sollte man eine Träne nachweinen?"
"Das ist es nicht, Slim, du verstehst mich falsch."
"Dann mußt du es mir erklären. Tut mir leid, sonst kann ich mir keinen plausiblen Reim darauf machen."
"Ich weiß nicht, ob ich das kann."
"Probier es wenigstens! Verdammt, Jess, du hast doch wirklich schon Sorgen genug – wir alle haben jede Menge davon! Ich behaupte einfach kaltschnäuzig, von denen war es keiner auch nur einen Fingerhut voll wert, daß du dir ihretwegen noch mehr aufhalst, bloß weil du dir da irgend etwas einredest, was kein anständiger Mensch versteht."
"Wenn ich nur den Ablauf der Dinge sehe, dann konnte ich wahrscheinlich wirklich nicht anders handeln. In der Beziehung habe ich mir nichts vorzuwerfen."
"Ja, dann verstehe ich dich noch weniger – tut mir leid!"
"Aber als es vorbei war", fuhr Jess fort, ohne Slims Einwurf zu registrieren, "und dieser Hal sterbend vor mir lag, da … Ich kann nicht genau erklären, was ich da empfand. Ich kann nicht behaupten, daß es mich in irgendeiner Weise befriedigt hätte, aber erleichtert war ich schon. Sehr erleichtert sogar!"
"Du lieber Himmel! Ist das ein Wunder? Jedenfalls gewiß kein Verbrechen!"
"Nein, aber ich bin mir nicht sicher, ob da nicht eine gewisse Genugtuung dabei war."
"Na und? Gerade bei dieser Sache solltest du dir sogar eine gehörige Portion Schadenfreude gönnen, ohne daß dir jemand etwas nachsagen dürfte. Findest du nicht, daß du dazu das Recht hättest?"
"Ich bin da nicht deiner Meinung."
"Jess, jetzt nehmen wir einmal an, unsere Rollen damals wären vertauscht gewesen, unser Freund Hal hätte mich anstelle von dir erwischt. Dann fändest du es doch in Ordnung, wenn du bei seinem Anblick heute so etwas wie Genugtuung verspürt hättest."
"Das wäre nicht dasselbe."
"Ach? Und wo bitte soll da der Unterschied liegen?"
"Ich hätte diese Gedanken nicht um meiner selbst willen, sondern deinetwegen."
"Ist das nicht an den Haaren herbeigezogen? Und ist es letztendlich nicht egal, warum oder für wen du das empfunden hast? Es war doch auf alle Fälle hinterher, nachdem schon längst alles vorbei war, als du Zeit und überhaupt noch Gelegenheit hattest, dir solche verrückten Sachen einzubilden. Soll ich dir mal was sagen? Wenn einer dieser drei Halsabschneider auch nur die Spur einer Ahnung von deinen völlig unbegründeten Schuldkomplexen mit ins Grab genommen hätte, wäre das eine viel größere Schadenfreude gewesen als die, die damals in der Visage dieses Spinners stand in dem Moment, als er dir dieses Ding verpaßt hat."
"Vielleicht hat er mich deshalb so teuflisch angegrinst zum Abschied, weil er das wußte."
"Gerade deshalb solltest du ihm im nachhinein nicht den Gefallen tun. Er ist es doch gar nicht wert gewesen."
"Sicher hast du recht." Jess rieb sich gedankenversunken über die Brust. "Vielleicht brauche ich nur eine Weile, bis ich genügend Abstand von dem Ganzen habe."
"Sei doch einfach nur froh, daß es vorbei ist und du noch lebst. Denke jetzt lieber mehr an dich selber!"
"Vielleicht sollte ich das wirklich endlich mal probieren. Vor allen Dingen sollte ich mir allmählich ernsthafte Gedanken darüber machen, wie ich es Mike beibringe, daß ich von hier weg muß – für unbestimmte Zeit."
"Wenn ich dich dabei irgendwie unterstützen kann, laß es mich bitte wissen."
"Danke, aber das muß ich selber erledigen."
Jess keuchte. Gleich darauf wälzte er sich hustend auf seine gesunde Seite und versuchte sich halb auf dem rechten Ellbogen aufzurichten, um des schweren Anfalls besser Herr zu werden und auch den furchtbaren Schmerzen einigermaßen entgegenwirken zu können. Slim wußte nicht, wie er ihm behilflich sein konnte. Schließlich holte er ein paar Kissen, half ihm, sich halb aufzusetzen, und schob sie ihm unter den Rücken.
"Hier!" Er hielt ihm ein Handtuch vor Mund und Nase. "Huste da hinein, eh du das ganze Bett versaust. Daisy kriegt sonst einen Nervenzusammenbruch – allerdings nicht wegen der versauten Bettdecke." Der Rancher setzte sich zu ihm und mußte ihn weiter aufrichten, weil er keine Luft mehr bekam. "Du lieber Himmel! Du erstickst ja gleich!"
Es dauerte lange, bis sich der Hustenreiz endlich legte. Das Handtuch war voller Blut – auch frisches war dabei. Slim biß die Zähne aufeinander und mahlte mit dem Unterkiefer. Er hätte keinem sagen können, wie weh ihm selbst dabei war, den Freund in diesem schrecklichen Zustand sehen zu müssen.
"Tut mir leid, daß du das wieder einmal mitkriegen mußtest", krächzte Jess, eisern darum bemüht, die Schmerzen unter Kontrolle zu bringen.
"Ich wünschte nur, Dan wäre eben dabeigewesen, damit er gesehen hätte, was los ist."
"Die Gelegenheit hat er heute schon gehabt."
"Soll das heißen, daß das für heute schon das zweite Mal war?"
"Nur war es da nicht ganz so schlimm."
"Dan hat dich doch untersucht, nehme ich an. Konnte er etwas feststellen?"
"Keine Ahnung, er hat sich dazu nicht weiter geäußert. Wenn ich ganz ehrlich bin, hat es mich auch nicht sonderlich interessiert. Mittlerweile stehe ich nämlich auf dem Standpunkt, daß es besser ist, wenn ich nicht alles weiß."
Jess versuchte, an das Wasser auf dem Nachttisch zu kommen, ließ aber sofort davon ab, weil ihm eine wie von einem Katapult abgeschossene Lanze mitten durch den Oberkörper zu fahren und ihn in die Kissen zu nageln schien. Ohne daß er den Freund darum bitten mußte, füllte dieser das Glas mit Wasser und reichte es ihm.
"Möchtest du nicht doch ein paar Tropfen von dem Laudanum nehmen?"
"Danke – lieber nicht! So schlimm ist es noch nicht, bilde ich mir wenigstens ein." Gierig trank er das Glas leer. "Meine Güte! Hätte nicht gedacht, daß mir das alles so zusetzt."
"Du scheinst völlig am Ende zu sein. Ich frage mich allen Ernstes, was da sonst noch alles passiert ist in der Stadt heute."
"Laß es dir von Mike erzählen. Tut ihm, glaube ich, gut, wenn er sich jemandem mitteilen kann. Ich kann dir jetzt jedenfalls nicht mehr viel sagen. Bin … bin fix und fertig!"
Jess zog sich die Decke höher. Offensichtlich machte er dabei auf den Freund sofort den Eindruck zu frieren.
"Was ist? Ist dir kalt?"
"Es geht schon."
"Ich werde dir noch eine Decke holen. – Du hast doch kein Fieber?" fragte Slim besorgt, als er mit einer weiteren Wolldecke zurückkam.
"Ich glaube nicht." Jess hustete erneut, diesmal ohne blutigen Auswurf. "Hoffentlich geht das nicht gleich wieder los."
"Ich lege dir ein frisches Handtuch hin – für alle Fälle."
"Danke. Zum Glück scheint diese Husterei nicht ansteckend zu sein. Jedenfalls hat Dan nichts davon erwähnt."
"Ansteckend?" wiederholte der Rancher mit hochgezogenen Brauen. "Was soll denn daran ansteckend sein?"
"Könnte doch sein, oder? Stell dir vor, es wäre so! Wenn du oder gar Mike sich dann etwas bei mir holen würde … Nicht auszudenken!"
"Was du dir da zusammenspinnst, ist wirklich nicht zum Ausdenken! Selbst wenn es das wäre – ansteckend –, meinst du, es würde mich davon abhalten, dir zu helfen, wenn du Hilfe brauchst? Es interessiert mich nicht, ob ich mich dabei anstecken könnte oder nicht! Es interessiert mich sowenig wie dich, wenn es umgekehrt wäre. Und jetzt kein Wort mehr darüber, verstanden!"
Jess brummte irgend etwas vor sich hin. Dann ließ ihn der Freund allein.
Am späten Vormittag des folgenden Tages rollte ein leichter Einspänner in den Hof. Slim, der mit Mike im Waschhaus mit der Installation der neuen Pumpe beschäftigt war, bemerkte den Wagen erst, als er vor der offenen Tür hielt, während Mike, der seine tatkräftige Mithilfe nicht ganz so verbissen als Arbeit betrachtete, sondern eher als eine willkommene Abwechslung, ihn sofort hörte und aufsprang, um nachzusehen, wer sie da besuchen kam; denn Besuch war immer aufregender als eine noch so interessante Arbeit. In der offenen Tür winkte er deshalb stürmisch über den Hof dem Ankömmling entgegen, nachdem er ihn erkannt hatte. Es war Mort Cory.
"Hallo, Sheriff!" rief er zu ihm hinüber, daß Mort den Wagen statt gleich vors Wohnhaus, zuerst zu ihm herüber lenkte.
"Hallo, Deputy!" grüßte der Mann grinsend und verhielt das Pferd vorm Waschhaus. "Wo hast du denn dein Abzeichen?"
"Das trage ich nur im Dienst", kam die spontane Antwort, daß Mort dem nur lachend zustimmen konnte.
"Mort, bist du das?" erscholl Slims Stimme aus der Waschküche; man hörte, wie er Werkzeug irgendwohin warf und sich aus unbequemer Lage aufrichtete. Gleich darauf erschien er hinter Mike in der Türöffnung. "Morgen!" begrüßte er den Gesetzeshüter.
"Morgen ist gut!" erwiderte Mort verschmitzt. "Es ist bald Mittag."
"Ehrlich? Kein Wunder! Bei der Sisyphusarbeit!"
"Der zweite Mann fehlt, nicht wahr?"
"Ja, Mort, gewaltig sogar – selbst bei diesen lästigen Arbeiten!"
"Wo ist er eigentlich?"
"Im Haus. Schätze, er ist noch gar nicht auf. Es ging ihm sehr schlecht gestern", sagte Slim nun sehr ernst. "He, Mike", wandte er sich an den Jungen, den er irgendwie loswerden mußte, ehe er die Unterhaltung mit dem Sheriff fortsetzte, "willst du nicht Daisy vorwarnen, daß wir einen Gast zum Mittagessen haben werden. – Du bleibst doch zum Essen, nicht wahr?"
"Darauf habe ich eigentlich spekuliert."
"Hab' ich mir gedacht! – Sag ihr, daß ich auch gleich komme."
"Na schön", willigte Mike ungern ein, aber er wußte ohne viele Worte, daß die zwei Männer ungestört sein wollten. Dabei hätte er zu gern gehört, was sie zu besprechen hatten, wollte allerdings nicht lange herumquengeln, um vor dem Sheriff nicht ungehorsam zu erscheinen.
"Sag mal, Mort", hörte er Slim belanglos fragen, solange er sich in Hörweite befand, "seit wann gehörst du eigentlich zu diesen versnobten Buggyfahrern? Lahmt dein Pferd?"
"Nein, mein Pferd nicht, aber ich", grinste Mort. "Der Schramme, die ich mir gestern eingehandelt habe, tut es besser, wenn ich ein paar Tage auf den Sattel verzichte. Wenn es nach Dan ginge … Du kennst ihn ja! Er wollte mich sogar ins Bett beordern. Dabei tun die Stiche, mit denen er die Wunde genäht hat, wesentlich mehr weh als der eigentliche Kratzer."
"Du solltest vielleicht doch auf ihn hören."
"Ach was! Nur bei dem Gedanken daran, mich ins Bett zu legen, werde ich schon krank. Keine Sorge, mir geht es soweit ganz gut. Das verdanke ich im Grunde nur Jess. Ohne ihn hätte mich dieser Gregory oder Hal oder wie auch immer glatt erwischt – ich meine, richtig erwischt. Er hat es dir hoffentlich erzählt."
"Ja und nein. Du weißt ja, wie er ist. Bis jetzt war er nicht sehr gesprächig. Das meiste habe ich von Mike erfahren. Jess hat nur knapp von seinem unmittelbaren Zusammentreffen mit diesen beiden Halsabschneidern berichtet. Ehrlich gesagt, ging es ihm gestern auch dermaßen schlecht, daß selbst diese kurze Schilderung eine ziemliche Mühe für ihn war. Anscheinend hat er sich bei der Geschichte total verausgabt."
"Ja, ich war heute morgen noch einmal bei Dan. Er erwähnte so etwas. Dan machte jedenfalls einen sehr ernsten, verschlossenen Eindruck, als ich ihn nach seinem Gesundheitszustand fragte. Da getraute ich mich nicht, weiter in ihn zu dringen."
"Nach dem, was ich selber mit Jess gestern nachmittag und erst recht in der letzten Nacht erleben mußte, wundert mich Dans Reaktion nicht im geringsten."
"So schlimm?" Darauf schüttelte Slim nur aufatmend den Kopf, womit er eindeutig signalisierte, nicht weiter darauf eingehen zu wollen. "Dann bin ich vielleicht umsonst gekommen."
"Du wolltest zu ihm?"
"Ja, ich brauche ihn für den Bericht, zumindest für den Teil, den ich nicht selbst rekonstruieren kann. Clem hat zwar Danny Courtney als Augenzeugen ausfindig gemacht, aber ich will nicht unbedingt seine enthusiastische Schilderung für das Protokoll verwenden. Nicht daß ich dem Jungen nicht glaube; aber ich denke, Jess kann es mir sachlicher schildern."
"Das ist nicht zu leugnen. Möglich, daß er inzwischen auf ist, das heißt, ich hoffe es selber, sonst müßte ich mir doch …"
"Du machst dir Sorgen um ihn, nicht wahr?"
"Ja, Mort, gewaltige sogar. Und das allerschlimmste ist, daß sie berechtigt sind. Aber damit sollte ich dich nicht belasten. Du hast schließlich genug anderes am Hals."
"Denkst du etwa, ich mache mir keine Sorgen um ihn? Du hättest ihn gestern sehen sollen! Es muß ihn eine immense Kraft gekostet haben. Seinem körperlichen Einsatz und seiner vollen Konzentration verdanke ich mein Leben. Glaube mir, Slim, im entscheidenden Moment war nichts von seiner Schwäche zu merken. So etwas habe ich noch nie erlebt!"
"Ich kann mir das gut vorstellen – und hinterher kam der beinahe völlige Zusammenbruch. Ich fürchte nur, daß der sowieso irgendwann gekommen wäre. Das Spektakel gestern hat das Ganze nur beschleunigt. Ich wollte, er wäre schon in Colorado Springs."
"Dan hat so etwas angedeutet. Ehm, wie offen kann ich sein, ich meine, gegenüber Mrs. Daisy und Mike? Nicht daß ich da mit der Tür ins Haus falle."
"Daisy weiß Bescheid – na ja, was heißt, Bescheid wissen? Sie weiß halt davon. Mit Mike hat Jess noch nicht gesprochen. Schätze, das wird ein ziemlicher Akt werden."
"Um die Aufgabe beneide ich ihn wirklich nicht."
"Ich auch nicht."
"Ich habe übrigens die 'Laramie Chronicle' mitgebracht." Mort hielt die zusammengefaltete Zeitung, die neben ihm auf dem Sitz lag, hoch. "Gary Morgan muß mal wieder eine Nachtschicht eingelegt haben. Hat jedenfalls einen sehr lebendigen Artikel geschrieben – ohne Effekthascherei! Das muß man ihm unbedingt zugute halten. Er ist sehr wahrheitsliebend. Ich hoffe nur, daß die Geschichte nicht das Revolvergeschmeiß des ganzen Territoriums anzieht."
"Meinst du, da besteht eine Gefahr?"
"Was heißt Gefahr? Es gibt schließlich immer welche, die meinen, sich profilieren zu müssen."
"Die hat es vorher schon gegeben. Die wird es immer geben, auch ohne Zeitung. In letzter Zeit sind wir ja Gott sei Dank davon verschont geblieben. Im übrigen sind wir – oder besser gesagt, vor allem Jess – bisher ganz gut mit solchen Rabauken zurechtgekommen. Wenn sich erst einmal herumspricht, daß hier keine Lorbeeren in der Beziehung zu verdienen sind, kommen diese Brüder gar nicht erst in Versuchung. Den einen oder anderen Unverbesserlichen wird es immer geben."
"Sicher, um Jess mache ich mir deshalb keine Sorgen. Ich wollte es nur gesagt haben."
"Mort, aber bitte erwähne ihm gegenüber nichts davon, sonst fängt er darüber auch noch zu grübeln an. Er hat so schon Probleme genug. Ich traue ihm sogar zu, daß er sich selber schon Gedanken deshalb gemacht hat. Sollte er davon anfangen, versuche es bitte abzubiegen."
"Du kannst dich auf mich verlassen", versprach der Sheriff verständnisvoll. "Tja, dann werde ich mal rüber gehen und nachsehen, ob es bald etwas Leckeres gibt."
"Ich komme gleich nach. Ich will noch ein paar Schrauben festziehen, sonst fällt mir das Ding auseinander und ich muß von vorn anfangen."
"Soll ich dir irgendwie helfen?"
"Danke, Mort, aber das ist nicht nötig. Das Schlimmste habe ich, glaube ich, mit dem Ding hinter mir. Falls du mich lauthals fluchen hörst, kannst du ja mal nach dem Rechten sehen."
Mort grinste, setzte das Pferd in Bewegung und fuhr hinüber zum Wohnhaus. Als er das Haus betrat, erschien Daisy Cooper in der Küchentür, sich die nassen Hände an der Schürze trocknend.
"Sheriff Cory!" rief sie erfreut und eilte auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. "Das ist aber eine Überraschung! Inzwischen ist ja eine Ewigkeit vergangen, seit Sie das letzte Mal hier waren. Sie sind heute hoffentlich nur wegen des Essens hier?"
"Nicht nur, aber hauptsächlich. Na ja, da dachte ich halt, ich könnte mal wieder das Angenehme mit dem Dienstlichen verbinden."
"Das hört sich fast nach etwas Unangenehmem an", vermutete sie, mit einem Mal um eine gehörige Portion ernster.
"Aber nein! Ich wollte nur mit Jess' Hilfe meinen Bericht vervollständigen. Mehr nicht!"
"Jess war heute noch gar nicht unten. Es ging ihm gestern nachmittag sehr schlecht und wohl auch in der Nacht. Der lange Schlaf wird ihm hoffentlich guttun. Das gestern war anscheinend zuviel für ihn."
"Ja, obwohl ich froh bin, daß er trotz allem dabei war. Ohne ihn hätte ich es nicht überlebt."
"Slim hat es mir gesagt. Aus Jess war nicht viel herauszubekommen, aber darüber müssen sich die beiden offensichtlich unterhalten haben. Sie wurden verwundet, nicht wahr?"
"Ach was!" winkte er ab. "Das ist bloß eine harmlose Schramme." Mit der Hand rieb er – doch etwas vorsichtig – über den Verband unter seinem rechten Rippenbogen. "Ich möchte mir nicht vorstellen, was das ohne Jess geworden wäre. Ohne ihn könnte ich gewiß nicht hier sein und mich auf Ihr Essen freuen, sondern wäre in einer Holzkiste gelandet."
"Dann stimmt das also wirklich!" meldete sich Mike aus dem Hintergrund und erschien ebenfalls in der Küchentür mit hoch erhobenem Zeigefinger, von dem etwas Klebriges zu tropfen drohte, das er jedoch rechtzeitig und sehr genüßlich ableckte.
"Mike, hast du wieder genascht!" tadelte Daisy sein Schleckermaul, aber Mike nahm die Schuldzuweisung gelassen hin.
"Ich habe nur gekostet, ob der Nachtisch gut wird."
"Dieser Naschkater!" stöhnte Daisy. "Können Sie sich so etwas vorstellen?" wandte sie sich an den grinsenden Sheriff. "Er und Jess gleichzeitig in meiner Küche? Das ist nicht zum Aushalten. Der eine steckt seinen Finger in alles, was süß ist oder auch nur sein könnte, der andere ist überhaupt nicht wählerisch und steckt seinen Finger gleich in jeden Topf. Und wenn Sie mich jetzt fragen, welcher von beiden schlimmer ist, kann ich es Ihnen nicht sagen."
"Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!" zitierte Mike altgescheit und laut an seinem Finger schmatzend, daß Mort sich nicht mehr beherrschen konnte und lachen mußte.
"Darauf sind die zwei auch noch stolz! – Sag mal, hast du nichts zu tun?"
"Doch, ich werde einmal nachsehen, wo Jess bleibt, sonst verpaßt er ja das Essen."
"Nein, Mike, laß ihn – bitte!" wollte sie ihn zurückhalten, aber Mike hatte sich schon in Richtung Treppe davon gemacht.
"Keine Angst, ich bin ganz leise. Ich störe ihn bestimmt nicht", versprach er, bereits auf halbem Weg nach oben.
"Dieser Junge!" Ärgerlich, daß sie ihn nicht aufhalten konnte, wandte sie sich wieder an den Sheriff. "Dabei weiß ich nicht einmal, was ihn da oben erwartet", sagte sie nun so leise, daß nur Mort sie verstand. "Ich hoffe nur, daß er tatsächlich noch schläft und nicht irgendwelche … Es ging ihm nämlich wirklich nicht gut."
"Aber was will er denn noch vor dem Jungen verbergen? Schließlich hat er …"
"Ach, Mort, Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Kraft Jess aufwenden muß – vergeudet! –, die er so dringend für sich selber brauchte, nur um sich vor Mike und auch uns nicht allzuviel anmerken zu lassen. Deshalb ist es wahrscheinlich gut, wenn er bald nach Colorado Springs geht. Dort wird er hoffentlich eher an sich selbst denken als hier. Er schadet sich sonst mehr, als er verkraften kann."
"Das Gefühl habe ich allerdings auch. Aber so ist er nun mal. Das wissen Sie doch."
"Natürlich weiß ich das! Ansonsten stört mich dieser Zug nicht im geringsten – im Gegenteil! –, spricht er doch für seinen guten Charakter. Aber diesmal geht es nicht nur um eine Kleinigkeit. Seine Gesundheit, seine Zukunft, sein Leben steht auf dem Spiel! Da sollte er ein wenig egoistischer sein. Und dann diese Geschichte gestern in der Stadt! Mein Gott, ich kann Ihnen nicht sagen, wie froh ich war, die zwei gestern wohlbehalten heimkommen zu sehen. Mike hat uns alles, was er dazu wußte, erzählt. Von Jess war ja nicht viel zu erfahren."
"Ich habe die Zeitung mitgebracht." Mort machte eine hinweisende Handbewegung. "Gary Morgan hat einen sehr engagierten Artikel verfaßt – genau den Tatsachen entsprechend, wie es seine Spezialität ist."
"Den muß ich nachher unbedingt lesen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Mort – ich muß nach dem Essen sehen. Machen Sie es sich bequem und fühlen Sie sich wie zu Hause. Sie sind ja schließlich kein Fremder."
"Danke, Mrs. Daisy."
Während sie sich weiter über Belanglosigkeiten unterhielten, hantierte sie an ihren Töpfen und Mort stand im Türrahmen – sie konnte ihn einfach nicht dazu bewegen, sich zu setzen.
Derweil hatte sich Mike vorgenommen, bei seinem Pflegevater, der seiner Meinung nach seit Stunden überfällig war, nach dem Rechten zu sehen. Wenn Jess so lange schlief, bedeutete es meist nichts Gutes.
Tatsächlich hatte er eine entsetzliche Nacht hinter sich, zumindest was die Zeit um Mitternacht betraf. Zuerst hatten ihn furchtbare Schmerzen aus dem Schlaf gerissen. Dann überfiel ihn ein Husten, schlimmer als am Nachmittag, daß sogar Slim wach wurde, der ihm zum Glück sofort zu Hilfe kam, sonst wäre er erstickt, weil ihm die Kraft fehlte, sich selbst aufzurichten. Hinterher hätte er vor Schmerzen beinahe das Haus zusammengeschrien, daß er bereitwillig nach dem Glas griff, das ihm der Freund reichte. Wenigstens bewirkte das Laudanum, daß Schmerzen und Hustenreiz nachließen und er endlich wieder Ruhe fand. Sicherlich förderte das Beruhigungsmittel seinen ausgedehnten Schlaf, der seinem ausgebrannten Körper die dringend nötige Erholung verschaffte, sonst hätte er einen Zusammenbruch erlitten.
Jetzt stand er vorm Spiegel und rasierte sich, als Mike mit einem zaghaften "Jess, bist du wach?" die Tür einen Spalt öffnete und gleich darauf den Kopf hereinstreckte.
"Komm ruhig rein, ich bin gleich fertig", kam es von der Waschkommode. "Morgen, mein Junge."
Mike, sichtlich froh, daß er schon auf war, strahlte übers ganze Gesicht, sauste in übermütigen Hüpfern herein.
"Morgen?" überlegte er und stellte sich neben ihn. "Na ja, das kann man gerade noch sagen", meinte er, mit krausgezogener Nase seinem Spiegelbild bei der Rasur zusehend.
"Wieso? Ist schon wieder so spät?"
"Tante Daisy hat fast das Mittagessen fertig."
"Ich sollte wirklich einmal daran denken, den Wecker aufzuziehen."
"Geht es dir heute besser?"
"Ja, zum Glück."
"Dann war es doch gut, daß du so lange geschlafen hast."
"Du sagst es, Cowboy."
Mike beobachtete ihn angestrengt, fast sehnsüchtig, bei seiner Rasur, bis Jess zu ihm herunterschielte, während er mit dem Rasiermesser über seine eingeseifte Wange fuhr.
"Jess, dauert es noch lange, bis ich mich auch rasieren kann?" wollte er auf einmal wissen, daß sich der Mann ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Als Mike anfing, seine Handbewegung mit einem fiktiven Rasiermesser nachzumachen und ihn dabei verstohlen von der Seite her ansah, um auch seine Mimik nachzuahmen, hätte er sich beinahe geschnitten.
"Na ja", meinte er mit einem kritischen Blick auf Mikes Spiegelbild, "schätze, das dauert noch ein bißchen, bis da was wächst zum Rasieren."
"Vielleicht geht es schneller, wenn ich öfter mal so tue als ob."
"Ich glaub' es zwar nicht, aber üben schadet bestimmt nichts." Jess schmierte ihm aus Jux einen Zeigefinger voll Schaum auf die Wange. "Hier, damit du etwas nachhelfen kannst."
"Au fein!" rief Mike begeistert, verteilte den Schaum und benutzte seinen Zeigefinger als Rasiermesser. "So geht es viel besser! Wenn ich mich richtig rasieren darf, bin ich dann endlich erwachsen?"
"Nicht ganz, aber fast. Du kannst es wohl überhaupt nicht abwarten, was?"
"Ist doch viel besser, wenn man erwachsen ist."
"Meinst du?"
"Klar!" Mike war begeistert bei der Arbeit. "Warst du eigentlich auch mal so klein wie ich?"
"Sicher."
"Hast du dich da auch schon rasiert?"
"Nein!" lachte der Mann verhalten. "Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber ich möchte wetten, daß es mir da genauso erging wie dir und ich es auch nicht mehr abwarten konnte, bis es soweit war."
"Ich kann mir dich überhaupt nicht als Junge vorstellen. Ich meine gerade, du wärst schon immer so gewesen wie heute."
"Mit Sicherheit nicht." Jess beendete seine Rasur und wischte sich den restlichen Schaum aus dem Gesicht. "Nur hatte ich niemanden, dem ich solche Fragen stellen konnte."
Zum Glück ging Mike auf dieses Thema nicht weiter ein, denn Jess hatte nicht das geringste Bedürfnis, ihm von seiner mehr als unerfreulichen Kindheit zu erzählen. Statt dessen beendete auch der Junge seine "Rasur" und wusch den Seifenschaum von seinem Kinderflaum.
"Wenn ich groß bin, will ich so sein wie du."
"Abwarten!" Jess streifte sich ein frisches Hemd über. "Wer weiß, in ein paar Jahren siehst du mich vielleicht ganz anders."
"Das kann ich mir nicht vorstellen. Mußt du den Verband jetzt immer tragen?"
"Ich hoffe nicht! Aber eine ganze Weile bestimmt noch."
"Du hast manchmal noch schlimme Schmerzen, nicht wahr?"
"Das kann ich leider nicht abstreiten."
"So wie gestern?"
"Ja, Mike, so wie gestern." Jess knöpfte sein Hemd zu und stopfte es in die Hose. Er hatte schon befürchtet, der Junge könnte etwas von seinem heftigen Anfall in der Nacht mitbekommen haben. Da dies offensichtlich nicht der Fall war, sah er keine Veranlassung, ihn über seinen gestrigen verheerenden Zustand zu belügen. Es fiel ihm sowieso leichter, ehrlich zu sein, wenn er in der Vergangenheit darüber sprach. Um jedoch von tiefgreifenderen Fragen abzulenken, fing er von etwas anderem an. "Komm, da du schon mal hier bist, kannst du mir helfen, Ordnung zu schaffen. Mit nur einer Hand ist Bettenmachen keine leichte Arbeit."
"Aber das kann doch Tante Daisy nachher machen."
"Daisy ist nicht unser Dienstmädchen!"
"Was denn?"
"Sie gehört schließlich zur Familie, oder etwa nicht?"
"Du hast recht. Aber sie sagt, du und Slim, ihr brauchtet eure Betten nicht selber machen."
"Das ist aber kein Grund, ihr jedesmal die ganze Arbeit zu überlassen. Sie hat auch so schon genug zu tun. Also, Schluß mit der Debatte! Hier!" Er warf ihm einen sauberen Kissenbezug zu. "Du kannst das besser mit zwei Händen."
"Tante Daisy hat doch erst die Wäsche gewechselt", bemerkte Mike verwundert, während er das Kissen frisch bezog.
"Mir war heute nacht so warm. Ich mag keine verschwitzten Kissen!" schwindelte Jess, weil er dem Jungen nicht sagen wollte, daß der alte Bezug voller Blut war, den er schon vorher abgezogen und so zusammengeknüllt zur Seite gelegt hatte, daß die allzu deutlichen Spuren nicht zu erkennen waren.
Zu zweit zogen sie Laken und Decke zurecht. Dann ging Jess zum Fenster und schob die untere Hälfte hoch. Es kam feuchtkalte Novemberluft herein, obwohl sich der Dunst etwas gehoben hatte. Für einen Moment wurde er sehr ernst, während er den Hügel hinter dem Haus hinauf starrte. Er dachte an das Gespräch, das er vor zwei Tagen mit Slim geführt hatte.
"Das ist wirklich ein schöner, friedlicher Platz da oben", murmelte er vor sich hin.
"Was sagst du?" fragte Mike erstaunt, der ihn nicht richtig verstehen konnte.
"Ich sagte, der Nebel hat sich gehoben", log er sehr spontan und wandte sich um, wobei er sich bemühte, sich von dem kurzen Anflug seiner Melancholie dem Jungen gegenüber nichts weiter anmerken zu lassen.
Im Grunde müßte es ihn erschrecken, daß er nun sogar trotz Mikes Anwesenheit seiner Todesahnung verfiel, die bisher durch dessen Nähe verflogen war. Statt jedoch weiter darüber nachzugrübeln, legte er mit ihm die zweite Decke zusammen und warf sie auf das Fußende des Bettes.
"Ich dachte, dir war so warm heute nacht. Wozu brauchtest du dann die zweite Decke?" kamen dem Jungen berechtigte Zweifel an dieser Ausrede mit dem verschwitzten Kissenbezug; aber Jess war vor seiner Spitzfindigkeit auf der Hut.
"Zuerst war mir nicht so warm. Deshalb hab' ich sie mir geholt, du Schlauberger. Später wurde sie mir dann zuviel."
"Hast du nicht gut geschlafen?"
"Du kannst einem ja richtige Löcher in den Bauch fragen."
"Entschuldige! – Sag doch!"
"Doch, ich habe gut geschlafen!" Er fuhr ihm neckisch übers Gesicht. Daß er erst in der zweiten Nachthälfte mit Hilfe von einer ordentlichen Menge Laudanum Ruhe gefunden hatte, brauchte der Junge nicht zu wissen. "Und du?" fragte er, nach außen hin den Anschein erweckend, nur das kindliche Frage- und Antwortspiel mitzumachen. In Wirklichkeit wollte er nur erfahren, ob Mike etwas von seiner chaotischen Nacht mitbekommen hatte.
"Wie ein Murmeltier!" rief dieser jedoch begeistert. "Ich habe was ganz Tolles geträumt!"
"So?"
"Ja, wir wären oben in der Hütte zur Jagd gewesen. Nur wir beide! Wir hätten ganz viele Tiere gesehen und eine riesige Herde Wildpferde. Der sind wir den ganzen Tag nachgeritten. Und stell dir vor, in den Bergen hätten wir Sir Christopher getroffen und ihn wegen seines karierten Rockes ausgelacht."
"Du und dein Sir Christopher!" grinste Jess kopfschüttelnd.
"Ehrlich! Er hatte sich verlaufen und wußte nicht mehr, wie er in sein altes Schloß kommen sollte. Da haben wir ihn mitgenommen."
"Du träumst vielleicht ein Zeug! Wenigstens scheint es diesmal kein Alptraum gewesen zu sein."
"Ich glaube, ich träume jetzt nur noch schöne Sachen."
"Das hoffe ich!"
"Bestimmt! Jetzt wo dieser böse Hal tot ist! In meinen Träumen habe ich ihn nämlich immer kommen sehen. Und dann … dann hat er dir jedesmal wehgetan. Da bin ich immer aufgewacht und hatte fürchterliche Angst, er könnte tatsächlich kommen."
"Gott sei Dank brauchst du die jetzt nicht mehr zu haben."
"Ist er jetzt in der Hölle?"
"Ich weiß nicht. Darüber habe ich mir noch nicht den Kopf zerbrochen. Ganz gewiß werde ich das auch nicht tun. Und du solltest es ebenfalls nicht. Es sollte uns genügen, daß er nicht mehr da ist, meinst du nicht?"
"Jess, ich … ich hatte fürchterliche Angst gestern, noch schlimmere, als wenn ich nur von diesem Hal geträumt habe. Bin … bin ich jetzt ein Feigling?"
"Bestimmt nicht!" Der Mann schlang den Arm um seine Schultern und drückte ihn an sich. "Es ist keine Schande, wenn man Angst hat. Ein Feigling ist man deshalb noch lange nicht."
"Aber ich möchte doch einmal so werden wie du. Und du hattest keine Angst."
"Meinst du?"
"Ich habe es jedenfalls nicht gemerkt."
"Vielleicht, weil du mit deiner eigenen zu sehr beschäftigt warst." Jess drückte ihn fester. "Jedenfalls eines ist sicher: wenn wir beide keine Angst gehabt hätten, hätten wir es nicht überlebt."
"Das verstehe ich nicht."
"Nun, ein gesundes Maß an Angst in solchen Situationen verhindert, daß man allzu leichtsinnig oder leichtfertig handelt. Angst und Feigheit sind bei weitem nicht dasselbe. Eine gewisse Angst gibt einem die nötige Zeit zum Überlegen, ehe man sich selber und andere sinnlos gefährdet. Sie hilft uns, eine Gefahr besser zu erkennen, abzuschätzen, ob man ihr gewachsen ist, Auswege zu finden. Ohne sie würde man nur blindlings in sein Verderben rennen. Feigheit ist dagegen, wenn man seine Augen verschließt, so tut, als sähe man nicht, daß jemand Hilfe braucht. Wenn man sich selber nicht zutraut, ein Problem zu lösen und es immer nur anderen überläßt; wenn man gleich bei dem geringsten Anlaß wegläuft, anstatt zu überlegen, ob man etwas tun kann, um einen Schaden gering zu halten."
"Aber ich kann mich gar nicht erinnern, daß ich gestern einmal etwas überlegt habe."
"Aber ich kann mich daran erinnern, sehr gut sogar!" Jess lächelte ihn liebevoll an; in seinen Augen lagen Anerkennung und Vaterstolz. "Du hast mir das Leben gerettet. Hast du das schon vergessen?"
"Ich hatte doch nur Angst, sonst nichts."
"Genau das hat genügt. Deine Angst hat dich im richtigen Augenblick das Richtige tun lassen."
"Aber ich wollte doch weglaufen."
"Hast du es getan?"
"Nur nicht, weil du nicht mit wolltest."
"Was hättest du denn getan, wenn du alleine gewesen wärst?"
"Das weiß ich nicht. Ich wäre bestimmt gestorben vor Angst."
"Das glaube ich nicht. Überleg mal! Stell dir vor, ich wäre nicht bei dir gewesen und du hättest diesen Hal gesehen. Wärst du dann weggerannt und hättest so getan, als ob du ihn nicht gesehen hättest?"
"Nein, das hätte ich nicht!" brauchte Mike nicht lange zu überlegen. "Ich wäre, glaube ich, zum Sheriff gelaufen oder nach Hause oder sonst wohin und hätte versucht, jemanden zu finden, der diesen Hal fangen kann."
"Aha!" machte Jess. "Und was haben wir beide getan?"
"Wir sind … Jetzt verstehe ich, was du meinst!" rief der Junge begreifend. "Natürlich! Wir haben das auch getan."
"Na, siehst du! Wenn man eine Gefahr überleben will, muß man sie als erstes richtig einschätzen können, ob man ihr mit den Mitteln, die einem zur Verfügung stehen, begegnen kann. Wenn man sich dabei nur aus falschem Stolz oder Angabe oder Unerfahrenheit überschätzt, schadet man sich selbst und anderen mehr, als man nützen kann."
"So wie ich im Büro, als ich ungehorsam war und nicht im Gefängnis geblieben bin."
"Na ja, das war wirklich sehr gefährlich. Aber schließlich mußt du erst noch Erfahrungen sammeln, ehe du jeder Situation gewachsen sein kannst. Ich wette mit dir, so etwas würdest du nie wieder tun."
Mike schüttelte schuldbewußt den Kopf.
"Fünfhundertprozentig nicht!" beteuerte er. "Nie wieder! Und ich will so etwas auch nie wieder erleben! Nie mehr im Leben!"
"Ehrlich gesagt, ich auch nicht!" gestand Jess und durchwühlte ausgiebig seinen Blondschopf, wobei Mike sogar noch übermütig seiner Hand folgte, weil er nicht genug kriegen konnte, hatte der große Freund ihm doch gerade bestätigt, daß er kein Feigling war.
Dann griff Jess nach dem Glas mit den Tabletten auf seinem Nachttisch, fischte eine heraus und schluckte sie mit einem kräftigen Zug Wasser.
"Mußt du die nehmen, weil du … weil du Schmerzen hast?" fragte Mike, mit einem Mal besorgt, während er ihn beobachtete und das Gesicht verzog, als müßte er eine scheußlich schmeckende Medizin schlucken.
"Nein, nur damit es mir schneller wieder besser geht. Weißt du, das war für mich ganz schön anstrengend gestern."
Mike versuchte das Etikett auf dem braunen Arzneiglas zu entziffern, gab es jedoch sehr rasch auf.
"Verstehst du, was da drauf steht?"
"Nein!" Jess setzte das harmloseste Grinsen auf, das er im Moment zustande brachte. "Das kann wohl nur Doc Higgins."
"Was ist das denn für eine komische Sprache?"
"Ich nehme an, Latein."
"Latein? Aber das versteht doch keiner."
"Ich fürchte, das ist auch Sinn der Sache."
"Verstehe ich nicht."
"Mach dir nichts daraus. Manchmal ist es ganz gut, wenn man nicht alles versteht." Der Junge starrte ihn verwirrt an, in jedem Auge ein riesiges Fragezeichen. "Ich tu' es auch nicht."
Dieses harmlos präsentierte Geständnis brachte Mike zu einem erleichterten Auflachen.
"Mußt du noch viel Medizin nehmen?" wollte er dann – wieder etwas ernster – wissen.
"Nein, nur ab und zu, wenn es mir nicht so gut geht."
"Aber jetzt geht es dir doch gut, oder?"
"Mach dir keine Sorgen!"
Jess brachte es nicht übers Herz, von seiner bevorstehenden Reise nach Colorado Springs anzufangen. Er war froh, daß der Junge nach dem gestrigen Erlebnis schon so unbeschwert über alles reden konnte. Da wollte er ihm diesen Schock jetzt nicht antun; obwohl er wußte, daß es, je länger er wartete, um so schwerer wurde, ihm diese Maßnahme verständlich zu machen, ohne ihn allzu sehr zu beunruhigen.
"Wenn ich groß bin, könnte ich vielleicht Doktor werden. Dann kann ich dir helfen, wenn du wieder so krank bist. Und dann kann ich sicherlich auch verstehen, was auf so einem Schild steht. Meinst du, das ist eine gute Idee?"
"Warum nicht? Wenn du das wirklich möchtest, solltest du es tun."
"Aber da muß man sehr viel lernen, nicht wahr?"
"Ich denke schon. Aber das muß man schließlich sowieso im Leben."
"Ob ich das schaffe?"
"Na, ich sehe keinen Grund, warum nicht."
"Aber eigentlich möchte ich lieber so werden wie du."
"Deshalb kannst du doch trotzdem Arzt werden."
"Ich weiß nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich Doktor sein werde und gleichzeitig eine Ranch führen kann und Pferde trainiere und mit Rindern arbeite. Irgendwie paßt das nicht zusammen, oder?"
"Na ja, ein wenig chaotisch würde das schon werden. Beides verlangt schließlich vollen Einsatz, obwohl oder gerade weil das zwei grundverschiedene Dinge sind."
"Eben!" nickte Mike ernst. Sich für das eine oder andere zu entscheiden, schien ihm im Moment richtiggehend Kopfzerbrechen zu bereiten.
"Weißt du was?" wollte Jess ihm helfen, sich aus seiner Zwickmühle zu befreien. "Vielleicht solltest du jetzt gar nicht zu sehr darüber nachgrübeln, was du einmal machen willst. Schließlich oder Gott sei Dank hast du für diese Entscheidung noch ein paar Jahre Zeit. Wer weiß, was bis dahin ist. Vielleicht willst du bis dahin gar nicht mehr so werden wie ich und auch kein Arzt mehr. Vielleicht willst du dann lieber eine Lokomotive fahren oder Brücken bauen oder was ganz anderes. Es gibt schließlich so vieles, was man tun kann. Damit du dir das später aussuchen kannst, wie du möchtest, ist es jetzt nur wichtig, daß du regelmäßig zur Schule gehst und fleißig lernst. Dann werden dir einmal alle Wege offenstehen."
"Das ist aber ganz schön lästig, weißt du das?"
"Ich kann es dir nachfühlen." Er wischte ihm grinsend übers Gesicht. "Aber trotzdem! Wenn du dich in ein paar Jahren dann entscheiden mußt, wirst du gewiß an meine Worte denken und froh darum sein, sie befolgt zu haben."
"Du weißt soviel, Jess. Hast du das auch in der Schule gelernt?"
"Nein, Mike, das hat mich die Erfahrung gelehrt. Und ich möchte diese Erfahrung gern an dich weitergeben, weil du es einmal leichter im Leben haben sollst als ich."
"Hattest du es denn nicht leicht?"
"Nein, mein Junge, weiß Gott nicht. Ich will und kann dir das jetzt nicht alles erklären – ein andermal vielleicht."
"Wolltest du denn nicht so werden, wie du heute bist?"
"Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht, wie oder was ich einmal werden wollte. Es hat sich halt alles irgendwie so ergeben."
"Ich bin wirklich schrecklich froh, daß sich das so ergeben hat. Ich möchte gar nicht, daß du anders wärst. Ich weiß nämlich nicht, ob ich dich dann so lieb haben könnte. Stell dir vor, du wärst zum Beispiel wie Mr. Courtney, der ständig betrunken ist und Danny immerzu schlägt! So jemanden könnte ich bestimmt nicht lieb haben."
"Das könnte ich dir noch nicht einmal verdenken."
"Jess, gehen wir bald mal wieder in die Berge zum Jagen?" Zum Glück beschäftigte Mike diese Frage anscheinend mehr, als nachhaltiger in Jess' Erinnerungen über vergangene Zeiten oder Absichten zu forschen.
"Dich läßt dein Traum nicht los, was? Du willst da oben wohl unbedingt nach diesem Sir Christopher suchen, he?"
"Ach, du!" Mike versetzte ihm einen übermütigen Schubs. "Nein, im Ernst! Sag doch! Das ist so aufregend, wenn wir in den Bergen unterwegs sind."
"Ich fürchte, mein Junge, daraus wird so schnell nichts."
"Warum? Weil jetzt der Winter kommt? Oder weil du immer noch so krank bist."
"Ja, Mike, deshalb."
"Aber irgendwann wirst du doch wieder gesund sein. Und dann gehen wir, nicht wahr?"
"Sicher."
Mike merkte zum Glück nicht, daß Jess etwas anderes dachte, als er sagte. Wenn er jetzt den Nerv gehabt hätte, mit ihm über seine bevorstehende Reise zu sprechen, hätte er sich wenigstens dieses Problem vom Hals schaffen können. Vielleicht wäre die Gelegenheit nie wieder so günstig; aber er schaffte es nicht, sich zu überwinden. Daß es nicht leicht wäre, wußte er von Anfang an. Aber daß er sich so schwer damit tat, hätte er nicht für möglich gehalten. Trotzdem war er diesmal wahrhaftig nahe daran, davon anzufangen, aber der Lärm, der durch das offene Fenster hereindrang, lenkte ihn sofort ab, als hätte er darauf nur gewartet.
"Sag bloß, das ist schon die Kutsche aus Cheyenne!" rief er erstaunt, wie um sich selbst auf andere Gedanken zu bringen, und ging zum Fenster, um sich zu vergewissern. Von hier aus blickte man zwar in den Garten hinterm Haus, aber der Krach vom Hof stammte eindeutig von der ankommenden Post. "Dann ist es ja tatsächlich schon so spät."
"Das habe ich doch gesagt."
Jess griff nach dem Fenster und wollte es schließen, zog aber abrupt die Hand zurück, da ihm die Bewegung Schmerzen bereitete, war heftig zusammengezuckt und mußte keuchen.
"Warte, ich helfe dir!" rief Mike sofort, sprang hinzu und zog das Fenster zu. "Hast du dir wehgetan?" fragte er ängstlich und sah mit sorgenvoller Miene, wie Jess die Hand gegen seine Brust drückte.
"Nicht schlimm!" schluckte er etwas kurzatmig. "Ich vergesse einfach laufend, daß ich mich mehr in acht nehmen müßte." Er versuchte ein argloses Grinsen, nahm die Hand von seiner Brust und durchwühlte Mikes Haar. "Mach dir deshalb keine Sorgen!"
"Du mußt wirklich mehr aufpassen, sonst wird es ja nie besser."
"Du hast recht!" Der blutige Geschmack auf seiner Zunge hätte eigentlich ein Warnzeichen sein müssen, das Jess jedoch absichtlich ignorierte. Er schluckte ihn einfach hinunter. "Aber jetzt sollten wir besser nachsehen, ob jemand Interessantes mit der Kutsche gekommen ist."
"Der Sheriff ist auch da!"
"Was? Und das sagst du erst jetzt?"
"Ich glaube, er wollte zu dir."
"Zu mir?"
"Ja, er sagte irgend etwas davon, daß er dich braucht für … für seinen Bericht."
"Na, dann sollten wir ihn nicht so lange warten lassen."
"Das hat doch Zeit! Keine Angst, er bleibt zum Essen."
"Das konnte ich mir allerdings denken, daß er mal wieder das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet." Jess grinste oberflächlich. "Geh schon vor, ich komme gleich nach."
"Was machst du denn noch so lange? Wir haben das Zimmer doch richtig ordentlich aufgeräumt. Besser hätte es Tante Daisy auch nicht hingekriegt."
"Das stimmt allerdings. Ich danke dir. Geh jetzt bitte!"
Mike hatte das unbestimmte Gefühl, daß Jess ihn loswerden wollte.
"Aber du kommst doch?"
"In einer Minute."
Der Junge zuckte mit den Achseln, schüttelte verständnislos den Kopf und verließ das Zimmer. Auf dem Flur hörte er durch die offene Zimmertür seinen Pflegevater heftig husten. Er wollte schon zurückgehen, um zu sehen, ob er vielleicht helfen konnte, ohne sich vorstellen zu können, wie er dies bewerkstelligen sollte. Aber dann fiel ihm ein, daß er ihn ausdrücklich hinausgeschickt hatte. Sicherlich wollte er allein sein, um ihm nicht zu zeigen, wie krank er war. Daß er hin und wieder husten mußte, war für Mike jedenfalls kein Geheimnis. Und daß dieser Husten mit seiner Verletzung zusammenhing, wußte er auch. Jess tat vor ihm zwar immer harmlos, aber so leicht ließ er sich nicht diesen Bären aufbinden, daß alles in bester Ordnung war.
Mike wurde mit einem Mal sehr ernst, ja, traurig, nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne und machte ganz den Eindruck, als kämpfte er gegen aufkommende Tränen, während er unschlüssig auf dem Flur stand und nicht wußte, was er tun sollte.
Zum Glück war der Anfall nicht ganz so schlimm, aber als Jess das frische Blut auf dem Kissenbezug sah, nach dem er in der Eile gegriffen hatte, wußte er, daß es schlimmer war, als ihm lieb sein konnte. An der Waschkommode holte er aus einer Schublade zwei große Schnupftücher, die er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie benötigt hatte. Jetzt war er der Ansicht, seinen Mitmenschen sein Gebrechen nicht mehr ohne diese zumuten zu können.
Es wird wirklich Zeit, daß ich von hier wegkomme, dachte er, steckte die Tücher ein und streifte das Bild seines abgezehrten Körpers im Spiegel. In diesem Moment jagte es ihm selbst einen gehörigen Schrecken ein, zeigte es ihm doch unmißverständlich, wie es um ihn stand. Trotzdem galt seine Hauptsorge, wie er seinen katastrophalen Zustand am besten vor Mike verbergen konnte. Dafür opferte er nach wie vor viel zuviel Kraft.
Fortsetzung folgt
