KAPITEL 28
Nach dem Abendessen und dem Abwasch konnte Mike seinen Pflegevater endlich dazu überreden, ihm den Zeitungsartikel über das Ereignis vom Vortag vorlesen zu dürfen. Es kostete ihn einiges an Überredungskunst. Dabei war ihm unbegreiflich, wieso der Mann an diesem Bericht so wenig Interesse zeigte und offensichtlich nur einwilligte, um ihm damit einen Gefallen zu tun.
Darüber hinaus schien es ihm etwas schlechter zu gehen als am Nachmittag. Er klagte zwar weder über Schmerzen noch über sonst eine Schwäche, wie es auch nicht üblich von ihm war, aber er hatte sich stillschweigend auf das Sofa unterm Wohnzimmerfenster zurückgezogen, wo er die Kissen zu einem riesigen Berg aufgestapelt hatte und, halb sitzend, halb liegend, mit dem Oberkörper dagegen lehnte. Dabei wirkte er trotz des warmen Lichts der Petroleumlampen und dessen weichen Schatten auffallend blaß. Selbst wenn er sich tatsächlich wohl fühlen sollte, wie er dies mehrmals versicherte, so mußte er zumindest ziemlich müde sein. Anscheinend war die Arbeit mit der Pumpe doch zu anstrengend für ihn gewesen, was er natürlich niemals zugegeben hätte.
Außerdem beschäftigte ihn das ausstehende Gespräch, das er noch mit seinem Pflegesohn führen mußte. Allein die Überlegungen, wie er es ihm am schonendsten beibringen sollte, zehrten an seinen Nerven und auch an seinen Kräften. Aber der Junge war den ganzen Tag so unbeschwert gewesen, daß er es einfach nicht übers Herz gebracht hatte.
Jetzt saß er also auf dem Sofa, bequem gegen den Kissenberg gelehnt, und genoß die heimelige Atmosphäre des einfachen Ranchhauses. Nur allzu gut wußte er, daß diese friedlichen Momente im trauten Kreis seiner Angehörigen sehr knapp für ihn gezählt waren. Wahrscheinlich war dies sogar einer der letzten Abende überhaupt, die er mit ihnen verbringen konnte.
Keinesfalls wäre ihm eine Trennung so schwer gefallen, wenn für ihn die Gewißheit bestünde wiederzukehren. Es machte ihm eigentlich nicht viel aus, unterwegs zu sein, auch für längere Zeit nicht. Früher war er sowieso ein ruheloser Wanderer, der es kaum länger als ein paar Wochen, allenfalls vielleicht einmal eine ganze Sommersaison irgendwo ausgehalten hatte. Auch heute noch war er oft tage- oder wochenlang unterwegs, wenn er Vieh bis weit nach Kanada hinein oder – seltener – in den tiefen Südwesten trieb. Von Zeit zu Zeit brauchte er das, sonst wäre ihm die Ranch auf Dauer vielleicht doch zu eng geworden. Das Umherziehen lag ihm einfach im Blut, nur war ihm heute die Geborgenheit seiner Familie wichtiger.
Außerdem wußte er jedesmal, daß er nach diesen Geschäften wieder nach Hause zurückkehrte, auf diese Ranch, die ihm in all den Jahren zu einem richtigen Heim, fast einer Art Zuflucht geworden war, wo seine Angehörigen auf ihn warteten, die ihm mehr bedeuteten, als er erklären konnte. Nein, daß er sie für viele Wochen oder gar Monate verlassen mußte, hätte ihm nicht soviel ausgemacht. Einzig und allein die Ungewißheit, jemals hierher zurückzukehren, sie wiederzusehen, bei ihnen zu sein, schmerzte ihn. Auf diese Weise gezwungen zu sein, vielleicht Abschied für immer zu nehmen, ließ eine unbeschreibliche Melancholie in ihm aufsteigen. Sicher, offiziell ging er nach Colorado Springs, um sich besser auskurieren zu können, um möglichst gesund zu werden; aber vor sich selbst mußte er ehrlicher sein.
Es war zwecklos zu leugnen, daß sich sein Zustand gerade während der letzten paar Tage rapide verschlechtert hatte. Er bemühte sich zwar redlich, sich davon nicht viel anmerken zu lassen, aber die schweren Hustenanfälle mit dem immer häufiger blutigen Auswurf, die wieder vermehrten Schmerzen, seine fast ständige Müdigkeit und schnelle Erschöpfung nach manchmal nur Kleinigkeiten machten es ihm nicht gerade leicht, nach außen hin gutes Befinden vorzutäuschen. Sich selber konnte er sowieso nichts vormachen. Er würde sich nach Colorado Springs begeben ohne Wiederkehr. Deshalb sog er diese wenigen ihm verbliebenen stillen Augenblicke des gemütlichen Beisammenseins begierig in sich auf, obwohl sich schon wieder diese bleierne Müdigkeit bei ihm bemerkbar machte, die mit ihren äußeren Anzeichen sein kränkliches Aussehen nur noch betonte.
Während Mike den seitenlangen Artikel aus der "Laramie Chronicle" mit Begeisterung vorlas, begann Jess immer weniger auf seine Worte zu achten, hatte er das beschriebene Geschehen schließlich selbst hautnah erlebt, daß ihn der Bericht im Grunde nicht interessierte.
Statt dessen beobachtete er Daisy, die unter der großen Lampe am Wohnzimmertisch bei ihrer Näharbeit saß. Nachdem sie haufenweise abgerissene Knöpfe an Hemden und Hosen angenäht hatte, beschäftigte sie sich jetzt mit den neuen Gardinen für das Küchenfenster. Ihrer Meinung nach war es an der Zeit, im ganzen Haus die Vorhänge zu erneuern.
Für das verschönernde Beiwerk war sie zuständig, und die zwei Männer ließen ihr absolut freie Hand dabei. Wenn Daisy Cooper neue Gardinen im Auge hatte, dann kamen auch neue Gardinen an die Fenster. Da hätte es keiner fertiggebracht, sie von etwas anderem zu überzeugen. Sicherlich hatten die Fenster des Wohnhauses dann auch neue Gardinen nötig.
Ich muß unbedingt mit Slim reden, daß wir ihr zu Weihnachten eine von diesen verbesserten Nähmaschinen kaufen, dachte Jess. Dabei spielte ein warmes Lächeln um seine Mundwinkel, wenn er sich ihre Überraschung vorstellte. Das Lächeln erstarb jedoch rasch, als er daran dachte, daß er diese Überraschung wahrscheinlich nicht mehr erlebte. Es schmerzte ihn – nicht seinetwegen, sondern um Daisys willen.
Sein verstohlenes Keuchen unterbrach Mikes Redefluß. Auch Daisy blickte von ihrer Näharbeit auf, unschlüssig, ob sie ihn deshalb ansprechen, ihm vielleicht sogar helfen oder lieber gleich Slim Sherman holen sollte, der in dem kleinen Büro nebenan die Post erledigte. Diesmal blieb es glücklicherweise bei dem relativ harmlosen Keuchen.
"Jess, geht es dir nicht gut?" fragte Mike besorgt und ließ die Zeitung sinken, hinter der er völlig verschwunden war; keine Frage, daß ihn das Befinden seines Pflegevaters wesentlich mehr interessierte als ein noch so spannend geschriebener Artikel in der "Laramie Chronicle".
"Woher denn!" winkte Jess arglos ab, wobei die Handbewegung etwas kraftlos wirkte und sein müdes Lächeln entsprechend ausfiel. "Lies nur weiter!" bat er mit leiser Stimme.
Der Junge musterte ihn skeptisch über den Rand der Zeitung hinweg. Irgendwie fiel es ihm schwer, ihm zu glauben. Aber er begann dann doch weiterzulesen, obwohl die beinahe unbeschwerte Begeisterung von kurz zuvor kaum noch in seinem Tonfall mitschwang. Im stillen machte er sich sehr große Sorgen um ihn.
"Also ich finde, Mr. Morgan hat das toll geschrieben", meinte Mike, als er umblättern mußte und mit den großen Papierblättern kämpfte.
"Was sagst du?" fragte Jess zerstreut; anscheinend war er kurz vorm Einschlafen gewesen.
"Du hörst ja gar nicht richtig zu!" beschwerte sich Mike, ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Ärger, aber auch einem gehörigen Maß an Sorge ansehend.
"Doch, natürlich!" widersprach Jess. "Ich war nur so in deinen Redefluß vertieft, daß ich auf deine Frage nicht geachtet habe."
Mike glaubte ihm kein Wort. Im Moment fand er es nur selber kindisch, ihn mit gezielten Fragen nach dem Inhalt des Artikels in Verlegenheit zu bringen. Das hätte er gewiß getan, wenn Jess nicht so krank gewesen wäre. Da hätte er sehr schnell bewiesen, daß er ihn anschwindelte. Aber jetzt sah er so müde und schwach aus, daß er ihm sogar leidzutun begann.
"Jess, ist mit dir wirklich alles in Ordnung?"
"Selbstverständlich! – Was wolltest du also wissen?"
"Ich habe gar nichts gefragt", ging Mike tatsächlich darauf ein. Das Ablenkungsmanöver funktionierte also. "Ich meinte nur, daß Mr. Morgan das alles sehr gut beschrieben hat."
"Ja, er hat ein ziemliches Talent für so etwas."
"Es hört sich alles so an, als wäre er tatsächlich dabeigewesen."
"Nun, der Sheriff wird ihm schon einen genauen Bericht geliefert haben."
"Aber das klingt so richtig … ich weiß auch nicht, wie … als ob er es selbst erlebt hätte und nicht bloß wie ein Zeitungsbericht."
"Gary Morgan versteht halt sein Handwerk."
"Bestimmt könnte er ganz tolle Gespenstergeschichten schreiben."
Diese Bemerkung brachte Jess zu einem belustigten Lachen, zwar begleitet von einem Keuchen, aber trotzdem belebte es vorübergehend seine Lebensgeister.
"Du kommst einfach nicht von diesem Spuk los, was? Ich wette mit dir, du suchst jeden Abend nach diesem Sir Christopher unter deinem Bett."
"Gar nicht wahr!" wehrte der Junge energisch ab und schlug zum Spaß mit der aufgeblätterten Zeitung nach dem Mann. "Was du immer von mir denkst!"
"Von dir denke ich nur das Beste, du kleiner großer Gespensterschreck!" grinste Jess und versuchte mit der Rechten, ihm einen zärtlichen Nasenstüber zu versetzen, ohne sich allzuviel dabei zu bewegen. "Lies lieber weiter, sonst bist du bis morgen früh noch nicht mit dieser abenteuerlichen Geschichte fertig."
"Aber dann mußt du auch richtig zuhören."
"Tu' ich."
Mike sah ihn abschätzend an. Heute abend hatte er das Gefühl, daß es sein Pflegevater nicht so genau mit der Wahrheit nahm, obwohl er ansonsten ein sehr aufrichtiger Mensch war.
"Also gut", willigte der Junge schließlich ein, hob die Zeitung und begann weiterzulesen, jedoch mit weniger lebhafter Betonung. "Jetzt kommt gleich die Stelle, wo du dem Sheriff das Leben gerettet hast", warf er nach einer ganzen Weile doch wieder begeistert ein. "Das finde ich einfach am tollsten! Jess?!" wurde er über das Schweigen auf der anderen Seite der "Laramie Chronicle" stutzig und senkte die Zeitung. "Das habe ich mir doch gedacht! Ist einfach eingeschlafen! Dabei wird es gerade jetzt erst so richtig spannend."
Mike faltete kopfschüttelnd die Zeitung zusammen, wobei er sich bemühte, nicht so laut mit dem Papier zu rascheln. Aber diese Vorsichtsmaßnahme war an sich überflüssig.
Jess schien fest zu schlafen und nicht nur vor sich hin zu dösen. Sein Kopf war auf dem bunten Sofakissen weit zur Seite geneigt. In seinem entspannten Gesicht regte sich nichts. Seine Rechte war halb von seiner Brust gerutscht, die sich gleichmäßig unter seinen ruhigen Atemzügen hob und senkte. Er verstellte sich nicht, sondern schlief wie ein Murmeltier.
So ganz traute Mike dem Frieden nicht. Mit der flachen Hand fuhr er ein paarmal dicht vor seinen geschlossenen Lidern vorbei, wartete aber vergeblich auf ein Blinzeln.
"Laß ihn!" hörte er plötzlich Daisy neben sich sagen.
Auf so etwas hatte sie gewartet, hatte sich sogar gewundert, weshalb es so lange dauerte, ehe ihn der Schlaf endlich übermannte, war er am späten Nachmittag bereits sehr müde gewesen, obwohl er an diesem Tag lange geschlafen hatte.
"Stell dir vor, er ist einfach eingeschlafen!" beschwerte sich Mike.
"Sei lieber nicht so laut, sonst weckst du ihn noch." Sie holte die buntgewebte Navajodecke von einem Sessel und breitete sie über den Schlafenden. "Komm jetzt, ehe wir ihn wecken."
Mike gehorchte kommentarlos und setzte sich zu ihr an den Tisch, wo er ihr Gesellschaft leistete. Vielleicht konnte er sie überreden, ihr den Artikel vorzulesen. Daß sein Pflegevater gerade an der spannendsten Stelle eingeschlafen war, konnte er bei allem Verständnis, das er für seinen schlechten Gesundheitszustand aufbrachte, nicht begreifen.
"Wie kann man nur einschlafen, wenn es gerade so spannend wird!"
"Ich glaube, mein Junge, Jess hat den Schlaf bitter nötig."
"Aber er war doch bis fast mittags im Bett. Und jetzt ist er schon wieder so müde. Es ist doch noch gar nicht so spät."
"Du vergißt, daß er eigentlich noch viel zu krank ist, um den ganzen Tag herumzulaufen und all das zu tun, was er trotzdem tut, obwohl er sich noch viel mehr schonen müßte. Ich nehme an, er hat sich heute mittag einfach zuviel zugemutet, als er Slim mit der Pumpe half."
"Manchmal habe ich richtig Angst, daß er überhaupt nicht mehr gesund und so wird wie früher."
"Sicher wird er wieder so werden wie früher. Aber das wird gewiß noch sehr lange dauern."
"Das ist ganz schön traurig, weißt du das?"
"Ja, Mike, aber viel trauriger wäre doch, wenn er … ich meine, stell dir vor …"
"… er wäre gestorben?" vollendete er unsicher den Satz. "Das wäre ganz, ganz furchtbar! Tante Daisy, das hätte ich bestimmt nicht überlebt. Dann … dann wäre ich auch … gestorben, ganz bestimmt! – Aber trotzdem … Weißt du, es wäre halt doch schöner, wenn er endlich wieder genauso wäre wie vorher."
Daisy sah von ihrer Näharbeit auf.
"Stell dir nur einmal vor, er würde nie wieder so werden wie früher. Würdest du ihn deshalb weniger liebhaben?"
"Nie im Leben! Ich werde Jess immer liebhaben, solange ich lebe! Egal, ob er … ich meine … ich hätte halt nur lieber, daß er nicht mehr so viele Schmerzen hat. Es tut mir selber immer so weh, wenn er … Tante Daisy, wieso tut mir das eigentlich selber so weh? Ich meine, ich bin doch gar nicht krank. Aber jedesmal, wenn ich weiß, daß Jess Schmerzen hat, dann tut es bei mir da drin auch weh. Verstehst du das?"
"Nun", Daisy lächelte ihn liebevoll an, "so etwas kann schon passieren, wenn man jemanden sehr gern hat. Dann bildet man sich plötzlich ein, man müßte dasselbe aushalten wie derjenige, für den man so stark empfindet."
"Aber wieso ist das so?"
"Du solltest nicht soviel fragen, warum und weshalb, mein Junge. Wenn man zu sehr versucht, den menschlichen Gefühlen auf den Grund zu gehen, kann man sie ganz leicht dabei verletzen oder gar zerstören. Halte lieber dieses Glück mit beiden Händen fest, daß du jemanden so sehr liebhaben kannst, um mit ihm Freud und Leid spüren zu können."
Mike hatte kein Wort verstanden, aber er befolgte trotzdem ihren Rat und bohrte nicht tiefer mit Fragen. Anscheinend war die Sache wesentlich komplizierter, als er zunächst angenommen hatte. So wie es aussah, hatte sogar Daisy Cooper erhebliche Probleme, eine einleuchtende Erklärung zu finden. Da wollte er wirklich lieber nur sein Glück genießen, jemanden von ganzem Herzen gern haben zu können und die wunderbare Gewißheit zu haben, ebenso wiedergeliebt zu werden.
"Ich wünschte nur, ich könnte Jess irgendwie helfen, daß er schneller wieder gesund wird."
"Du hilfst ihm vielleicht mehr, als du denkst."
"Aber ich kann doch gar nichts tun."
"Du hast ihn lieb, das reicht doch."
"O je, das ist schon wieder so etwas, was ich nicht verstehe", stellte Mike mißmutig fest, daß er erneut an diese Grenze stieß, wo für ihn das Begreifen endete.
Sie strich ihm tröstend über die Wange.
"Sein Herz nicht ganz zu verstehen, ist nicht weiter tragisch und auch gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, ihm im entscheidenden Augenblick zu folgen."
"Also, ehe das noch komplizierter wird, sollte ich dir vielleicht besser den tollen Bericht vorlesen, den Mr. Morgan geschrieben hat."
Sie lachte ihn herzlich an.
"Ich habe ihn zwar schon selbst gelesen, aber ich wette mit jedem, der es nicht glauben will, daß er viel aufregender klingt, wenn du ihn vorträgst", ging sie bereitwillig auf ihn ein, obwohl sie nicht unbedingt der Meinung war, daß dies die geeignete Lektüre darstellte, weder vom Stil noch vom Inhalt her.
Jedoch war Gary Morgans Ausdrucksweise nicht so schlecht, daß sie den Jungen verdorben hätte, und der Inhalt entsprach den Tatsachen, die er zum Teil sogar selbst erlebt hatte. Daran konnte sie nichts ändern. Da war es schon ein ganz besonderer Trost für sie, daß er mit diesem Erlebnis so – sie neigte fast dazu zu behaupten – unbeschwert umgehen konnte.
"Und du wirst auch nicht dabei einschlafen, nicht wahr? Das mußt du mir versprechen, sonst fange ich nicht an."
"Ich verspreche es."
Mike wollte gerade Luft holen, um endlich anzufangen, als Slim in der Tür zu seinem Arbeitszimmer erschien, jedoch im Rahmen stehen blieb.
"Jess, kannst du mal einen …"
Ein zweistimmiges, ziemlich energisches "Pscht!" ließ ihn mitten im Satz verstummen. Erst jetzt machte er sich die Mühe, vollends in die Tür zu treten und dem Geschehen im Wohnzimmer seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.
"Das hätte ich mir ja denken können", bemerkte er, nachdem er den Schlafenden auf der Couch entdeckt hatte. "Schläft er schon lange?"
"Seit ein paar Minuten."
"Er ist einfach eingeschlafen, während ich ihm aus der Zeitung vorgelesen habe. Gerade dann, als es am spannendsten wurde! Das mußt du dir mal vorstellen!" mußte Mike unbedingt seinen Kommentar dazugeben.
"Er wäre besser gleich zu Bett gegangen."
"Seien Sie nicht gleich wieder so kritisch! Sie sollten lieber froh sein, daß er so ruhig ist."
Slim zog fragend die Brauen hoch. Diese Bemerkung ließ ihn sofort wieder alle möglichen Dinge befürchten.
"Wieso? Ist irgendwas gewesen?"
"Aber nein! Es muß doch nicht immer gleich etwas gewesen sein. Ich nehme einfach nur an, daß er sich heute mittag überanstrengt hat, als er Ihnen mit der Pumpe half. Kein Wunder also, wenn ihm jetzt die Augen zufallen."
"Ja, ich konnte ihn aber auch nicht davon abbringen. Auf der einen Seite war ich natürlich froh, daß er mir geholfen hat, sonst hätten Sie die neue Pumpe nicht so schnell in Betrieb nehmen können. Andererseits habe ich gleich befürchtet, daß er besser die Finger davon gelassen hätte. Aber versuchen Sie einmal, einem Ochsen das Tanzen beizubringen."
"Slim!"
"Ist doch wahr!"
"Sind Sie denn soviel anders als er?" fragte sie spitzfindig.
"Ich …", wollte Slim schon nach einer angemessenen Rechtfertigung suchen, ließ es dann aber sein. Es hatte keinen Zweck, sich mit ihr deshalb anzulegen. Sie würde auf jeden Fall das letzte Wort haben. "Ach, Schwamm drüber!" winkte er ab. "Sie haben recht, ich sollte nicht immer so kritisch sein."
"Slim, wenn du dich zu uns setzt, lese ich dir Mr. Morgans Artikel auch vor. Er ist sehr spannend", bot Mike seine Dienste an wie frische Biskuits.
"Ich weiß", nickte der Mann ein wenig zerstreut; für eine Morgansche Märchenstunde hatte er, ehrlich gesagt, keinen Bedarf. "Ich habe bereits die Überschrift gelesen."
"Ich kann ihn dir jetzt ja ganz vorlesen."
"Nein, Mike, jetzt nicht. Ich muß mich noch ein wenig um den Papierkram kümmern. Ich lese ihn dann später selber."
"Aber die Zeitung bitte nicht wegwerfen! Ich möchte sie mir nämlich aufheben."
"Aufheben?"
"Ja, als Andenken. Jess hat es mir erlaubt."
"Na ja, wenn das so ist." Slim lächelte ihn versöhnlich an. "Dem kann ich natürlich nichts entgegensetzen."
"Ich durfte auch die leeren Patronenhülsen behalten", erklärte Mike stolz, daß Slims Brauen sofort wieder ein Stück in seine Stirn wanderten.
"Das wundert mich aber."
"Ehrlich!"
"Wozu brauchst du denn die? Etwa auch als Andenken?"
"Natürlich!"
"Ich sage dazu besser nichts." Der Rancher zuckte verständnislos mit den Schultern. "Wenn Jess dir das erlaubt hat … Er wird schon wissen, was er tut."
"Hättest du es mir denn nicht erlaubt?"
"Ich … Ach, warum nicht? Wenn du das Zeug absolut brauchst … Solange du nicht auch noch unbedingt die dazugehörigen Kugeln haben willst …"
"So wie du die eine!"
Slims Gesicht wurde sehr ernst, als er reflexartig nach dem Geschoß in der Brusttasche seines Hemdes tastete, wo es ihm – wie jedesmal, wenn er sich seiner Existenz bewußt wurde – einen Stich bis tief unter die Haut versetzte.
"Das ist etwas anderes", sagte er leise, mit grimmig verzogenem Mund.
"Ich habe zu Jess gesagt, daß mir die ganz schön unheimlich wäre. Ich glaube, die hätte mir schon ein so großes Loch da hineingebrannt!" Mikes übertriebene Handbewegungen unterstrichen seine Worte auf recht deutliche Weise.
"Ja, Mike, das tut sie. Sie brennt tatsächlich wie die Hölle."
"Aber warum hebst du sie dann auf?"
"Vielleicht, weil … Verdammt, du sollst nicht solche Fragen stellen!"
"Ich habe Jess gefragt, warum du das tust."
"Würde mich nicht wundern, wenn er darauf eine passende Antwort wußte."
"Weißt du denn eine?"
Slim starrte ihn an. Für einen Augenblick dachte er, sein Partner spräche aus dem Jungen.
"Keine, die du verstehen würdest", sagte er schließlich mehrdeutig.
"Vielleicht verstehe ich schon mehr, als du denkst."
"Hat dir das Jess eingeredet?"
"Nein, er denkt doch selber, daß ich manche Dinge noch nicht so ganz verstehe. Aber das, warum du diese … ich meine, warum du sie aufhebst, versteht er auch nicht. Er meinte, du wolltest vielleicht nur absichtlich, daß es dir schlecht wird, wenn du daran denkst, was sie … was … was passiert … Sag, hebst du sie wirklich deshalb auf?"
"Nein, nicht deshalb! Das muß dir genügen! Und damit Schluß!" Mit ärgerlicher Miene machte Slim eine wegwerfende Handbewegung; ärgerlich über sich selbst, weil er sich von dem Jungen so in die Enge hatte treiben lassen. "Du solltest jetzt besser anfangen, diesen Artikel vorzulesen, und mir nicht mehr so viele Fragen wegen dieser Kugel stellen. Denk ja nicht, daß du, bloß weil Jess schon schläft, die Nacht hier zum Tag machen und extra lange aufbleiben könntest. Zehn Uhr ist Schluß!"
"Ja, Sir."
Erst an seiner Reaktion merkte Slim, daß er zu barsch mit ihm gewesen war und das nur, weil er an seine wundeste Stelle gerührt hatte mit seiner kindlichen Unbekümmertheit.
"Na ja, wenn es zehn Minuten später wird, ist auch kein Beinbruch", räumte er deshalb, versöhnlich lächelnd, ein. "Ist ja schließlich Samstagabend heute. Ich denke, daß mir Jess deshalb nicht gleich die Leviten lesen wird, wenn ich da ein wenig großzügiger bin."
Sofort hellte sich Mikes Gesicht wieder auf. Fast hatte er befürchtet, den Rancher ernsthaft mit seiner Fragerei verärgert zu haben. Woher sollte er wissen, daß seine vorübergehende Verstimmung nichts mit seiner Neugierde, sondern in erster Linie mit Slims ureigenen düsteren Erinnerungen, Selbstvorwürfen und noch düstereren Gedanken an die Zukunft zu tun hatte.
"Ich beeile mich, daß ich rechtzeitig fertig werde", versprach er eifrig.
"Laß dir Zeit. Nicht daß Daisy das Beste noch verpaßt, bloß weil du gar zu schnell bist."
Slim wollte sich schon wieder umdrehen, um in seinem Arbeitszimmer zu verschwinden, aber Mike hatte das Bedürfnis, sich zu entschuldigen.
"Tut mir leid, Slim!" rief der Junge ihm nach, daß er sich noch einmal umwandte. "Ich … ich wollte nicht so vorlaut sein und soviel fragen, daß du böse wirst. Ich glaube, ich bin dir ganz schön auf die Nerven gefallen."
"Nicht deine Schuld!" versicherte Slim mit ruhiger Stimme und dem freundlichsten Lächeln, das er in dieser Minute zustande brachte. "Weißt du, manchmal falle ich mir selbst auf die Nerven. Dann kann es schon einmal passieren, daß ich lauter werde, als ich eigentlich wollte. Ich meine es bestimmt nicht so, und böse bin ich deshalb auch nicht mit dir. Und jetzt solltest du Daisy nicht mehr so lange auf die Folter spannen mit deiner Geschichte."
Irgendwann erschien Daisy bei Slim in dessen Arbeitszimmer, um ihm mitzuteilen, daß sie zu Bett gehen wollte und er nicht die halbe Nacht über den Büchern und Rechnungen brüten sollte.
"Ich will nur noch einmal die Kalkulation für die Landoption durchrechnen. Wenn das nächstes Jahr hinhauen sollte, könnten wir den Viehbestand tatsächlich um eine Herde von mindestens fünfhundert, wenn nicht sogar tausend Köpfen vergrößern."
"Sollten Sie das nicht lieber mit Jess besprechen?"
"Natürlich! Wir haben sogar schon einmal darüber geredet. Wenn das klappt, wird allerdings auch ein Haufen Mehrarbeit auf uns zukommen. Aber es würde sich lohnen."
"Und was wird, wenn Jess … Slim, ich weigre mich zwar konsequent, mir das vorzustellen, aber trotzdem müssen Sie daran denken … ich meine, es könnte schließlich passieren, daß er … nie mehr gesund wird … oder nicht zurückkehrt."
"Ich weiß, Daisy, ich weiß." Plötzlich sah die Rechnung für die Zukunft nicht mehr so positiv aus – allerdings nicht in bezug auf die Zahlen oder die finanziellen Mittel. "Sollte das tatsächlich geschehen, wäre sowieso alles andere uninteressant."
"Trotzdem ginge das Leben weiter."
"Sicher, aber es fiele mir schwer, irgend etwas in diesem Leben zu planen, ohne ihn mit einbeziehen zu können. Wenn man etwas seit vielen Jahren gewöhnt ist … Das alles würde mir keinen Spaß machen ohne ihn."
"Vielleicht wäre es leichter für Sie, wenn Sie eine eigene Familie hätten, für die Sie sorgen müßten."
"Das kann ich mir nicht vorstellen. Selbst eine Frau oder eine Familie kann unmöglich den besten Freund ersetzen. Ganz abgesehen davon – ich weigre mich einfach wie Sie, mir das zukünftige Leben auf dieser Ranch ohne den zweiten Mann auszumalen, obwohl ich es besser wissen sollte."
"Vergessen Sie dabei nicht, daß Ihnen auf jeden Fall die Fürsorgepflicht für Mike bleibt. Ist das nicht Verantwortung genug? Gerade das ist das mindeste, was Sie Ihrem besten Freund schuldig wären, oder?"
"Tja, nur Mike ist nicht Jess, obwohl ich ihn immer häufiger in dem Jungen wiedererkenne. Zum Beispiel vorhin … So hätte genausogut Jess reden können. Er hätte sich vielleicht anders ausgedrückt, aber nur, weil er als erwachsener Mensch eine andere Position vertreten kann als ein zehnjähriger Junge und eben das dieser Junge weiß und respektiert."
"Wundert Sie das etwa bei dem positiven Einfluß, den er auf Mike ausübt?"
"Ein wenig schon; schließlich ist Mike nicht sein leiblicher Sohn."
"Spielt das denn eine Rolle?"
"Ich denke doch."
"Und ich denke, nicht unbedingt. Letztendlich kommen auch nicht alle leiblichen Kinder nach ihren Eltern. Wer weiß, ob Mike ihm so nacheiferte, wenn da eine Blutsverwandtschaft bestünde. Bei ihm hat dieses Nacheifern eine andere Ursache. Es ist einfach nur unbefangene kindliche Liebe, sonst nichts oder zumindest nicht viel mehr. Und Jess … Nun, ich denke, ein Vater könnte nicht verantwortungsbewußter für seinen Sohn sorgen wie er für diesen Jungen. Viel zu viele Väter und auch Mütter lassen da einiges zu wünschen übrig."
"Ja, ich weiß. So gesehen haben Sie gewiß recht." Slim lehnte sich schwer aufatmend in seinem wuchtigen Ledersessel zurück, während er sinnend auf das leere Gegenstück vor dem alten Schreibtisch starrte. Finstere Zukunftsvisionen begannen vor seinen Augen heraufzuziehen. Vielleicht blieb dieser Sessel für immer unbesetzt. "Ich wollte nur, Jess hätte schon mit ihm gesprochen", murmelte er plötzlich ohne direkten Bezug zu dem vorher Gesagten vor sich hin. Beim Weitersprechen blickte er ernst zu der zierlichen Frau auf, die zu ihm an den Tisch getreten war. "Wenn ich ihn nicht besser kennen würde, behauptete ich glatt, er versucht zu kneifen."
"Das denken Sie doch nicht wirklich von ihm!"
"Nein, um Gottes willen! Obwohl ich weiß, daß er sich damit sehr schwer tut."
"Das ist schließlich kein Wunder! Aber er wird es sicherlich in geeigneter Weise lösen, dieses Problem. Davon bin ich überzeugt. Und er wird auch zurückkehren – an dieses Wunder glaube ich einfach! Und Sie doch auch, sonst würden Sie nicht soviel planen und von Vergrößerung der Herde sprechen."
Slims finstere Miene hellte sich wieder auf, als er versuchte, ihrer aller Zukunftsprobleme mit einem gewissen Humor – Galgenhumor? – zu sehen.
"Natürlich, denn schließlich muß er dafür sorgen, daß wir nur erstklassige Tiere bekommen. Wenn er mir den ganzen Papierkrieg überläßt, ist er dafür zuständig, daß auf unseren Weiden nur allerbestes Vieh steht. Ich kann mich ja nicht um alles gleichermaßen gut kümmern."
"Ich glaube, da können Sie sich – wir uns – ganz auf ihn verlassen, meinen Sie nicht?"
"Und ob ich das meine, Daisy, und ob! Wenn wir uns auf niemanden auf dieser gottverdammten Welt mehr verlassen könnten – auf ihn schon! In jeder Beziehung, nicht nur wegen des Viehs!"
Sie hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Seine Worte, in denen sie einen Hauch von Zweideutigkeit zu erkennen glaubte, bewiesen ihr trotz allem, daß auch er von einer gewissen Hoffnung erfüllt war, mochten die Zukunftsprognosen noch so düster erscheinen. Das Leben würde weitergehen auf dieser Ranch! Daisy glaubte fest daran – und an zwei besetzte Ledersessel!
Mit einem Gefühl von Zuversicht legte sie ihm die Hand auf die Schulter, wobei auf ihrem Gesicht ein mütterliches Lächeln erschien.
"Trotzdem sollten Sie jetzt Schluß machen", erinnerte sie fürsorglich.
"Sie haben schon wieder recht!" Er tätschelte ihre Hand auf seiner Schulter. "Die Zahlen rechnen sich so gut, daß ich sie mir mit der allergrößten Freude morgen noch einmal anschauen werde. Und wenn Jess sie erst sieht, wird ihm gar nichts anderes mehr übrigbleiben, als so schnell wie möglich in Colorado Springs gesund zu werden. Wir haben ja schon einmal darüber gesprochen, aber daß die Rechnung so positiv ausfällt, wußten wir beide nicht. Diesen Erfolg möchte ich mit niemandem außer ihm teilen. Keiner hat ihn mehr verdient als er!"
"Sie haben ihn sich beide verdient – sehr hart sogar."
"Ganz leicht war es nicht, das ist wahr. Und glauben Sie mir, oft – sehr oft sogar! – habe ich gedacht, wir schaffen das nie. Ohne Jess hätte ich wahrscheinlich schon damals, vor acht Jahren aufgegeben – aufgeben müssen. Und heute wünsche ich mir nichts sehnlicher, daß er mindestens genausoviel und genausolange von diesem Erfolg profitieren kann wie ich. Ich hätte sonst keine Freude daran."
"Ich bete jeden Tag für ihn", gestand sie.
"Sie werden es nicht glauben, aber ich auch, obwohl ich sonst noch nie viel mit dem lieben Gott gesprochen habe, sogar oft daran zweifelte, daß es ihn überhaupt gibt. Mittlerweile hoffe ich von ganzem Herzen, daß es tatsächlich einen Gott gibt und er hört, wie sehr ich für diesen Menschen bete. Vielleicht ist er dann nicht gar so streng mit mir als verlorenem Schaf, wenn er merkt, daß ich nicht für mich selber bitte."
"Der liebe Gott verliert keine Schäfchen", erklärte sie warmherzig.
"Ich kann es nur hoffen, denn sonst, fürchte ich, werden wir Jess verlieren."
Wie um die Gewichtigkeit seiner Worte zu unterstreichen, klappte er das Rechnungsbuch zu, stand auf, drehte die Lampe aus, legte den Arm um Daisys Schultern und verließ mit ihr das kleine Büro, in dem er mit seinem Partner schon so manchen Schlachtplan geschmiedet hatte.
Fast während der ganzen Nacht hörte Slim das Keuchen und Husten seines Freundes, daß er oftmals nahe daran war, aufzustehen und nach dem Rechten zu sehen. Auf alle Fälle begann er sich Vorwürfe zu machen, den Freund am Abend überhaupt geweckt zu haben. Selbst wenn er nicht gerade bequem auf dem Sofa gelegen hatte, hatte er wenigstens ruhig und fest geschlafen.
Gegen Morgen ließ sein Hustenreiz endlich nach. Slim fragte sich, ob es ihm tatsächlich besser ging oder er nur von dem Laudanum geschluckt hatte, das auf seinem Nachttisch stand. Die wahre Antwort darauf würde er gewiß nicht erfahren – jedenfalls nicht von Jess, es sei denn in einer Anwandlung von Ehrlichkeit sich selbst gegenüber in dieser Beziehung.
Trotz der schlimmen Nacht, die er offensichtlich hinter sich hatte, erschien Jess am Morgen zum gemeinsamen Frühstück, wortkarg, in ziemlich übler Verfassung, was sich vor allem auf seine Laune bezog. Nicht daß er mürrisch gewesen wäre, aber er reagierte doch abweisend, ja, verschlossen auf die Bemühungen der anderen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Es ging ihm anscheinend nicht besonders, er wirkte zerschlagen, unausgeschlafen, ganz einfach krank.
Bald nach dem Frühstück machte sich der mangelnde Schlaf der vorangegangenen Nacht so stark bemerkbar, daß er sich hinlegen mußte, um das Defizit wenigstens etwas auszugleichen. Außerdem schien ihm auch sein Kreislauf wieder erhebliche Schwierigkeiten zu bereiten, denn als er mühsam die Treppe hochstieg, um sich in sein Zimmer zurückzuziehen, schwankte er ein paarmal so stark, daß Daisy, die ihm besorgt nachblickte, befürchtete, er würde das Gleichgewicht verlieren und stürzen. Wahrscheinlich wäre dies auch passiert, hätte er sich nicht mit ganzer Kraft auf den Handlauf der Treppe gestützt.
Erst nachmittags hatte er sich so weit erholt, daß sich seine Stimmung etwas hob, obwohl in jedem seiner knapp bemessenen Worte eine seltsame Art von Traurigkeit lag, ebenso in seinen dunklen Augen, die niemandem etwas vormachen konnten, wenn er sich ansonsten auch die größte Mühe gab.
Da Mike mit dieser Verschlossenheit ebenfalls nicht viel anzufangen wußte, trollte er sich am Abend früher als sonst in sein Zimmer, um noch ein wenig in seiner Gespenstergeschichte zu schmökern, obwohl sich sein Interesse an Sir Christophers Abenteuern im fernen Schottland in engen Grenzen hielt. Aber irgendwie mußte er sich von seinen heimlichen Sorgen ablenken, die er sich – bewußt oder unbewußt – um seinen Pflegevater machte, dem es anscheinend von Tag zu Tag schlechter ging, während die Phasen, in denen er sich leidlich wohl fühlte, ständig kürzer und seltener wurden.
"Ich werde am besten nach oben gehen", sagte Jess, bald nachdem Mike in seinem Zimmer verschwunden war. "Es hat keinen Sinn, daß ich mich hier länger herumquäle! Werde auch noch mal nach Mike sehen."
"Du solltest endlich mit ihm reden", erinnerte der Freund in ruhigem, ernstem Ton, ohne ihn maßregeln zu wollen.
"Du wirst es nicht für möglich halten, aber das hatte ich tatsächlich vor. Bleibt mir schließlich nichts anderes übrig."
"Was ist los?" fragte Slim hinter ihm her, als er einen Moment am Antrittspfosten der Treppe verharrte. Von hinten war nicht zu erkennen, ob er dies aus Unentschlossenheit tat oder weil ihn schwindelte. "Ist dir nicht gut?"
"Es ist nichts", winkte Jess ab, straffte die Schultern und blickte müde in den großen Raum zurück. "Ich werde hinterher nicht mehr herunterkommen, sondern leg' mich gleich hin. Gute Nacht, zusammen."
Zwei besorgte Augenpaare folgten ihm nach oben, bis er in dem halbdunklen Flur im ersten Stock verschwunden war.
Hier blieb er vor Mikes Zimmertür stehen, zögernd, voller Zweifel, ob das richtig war, was er vorhatte. Abwechselnd an Ober- und Unterlippe nagend, schloß er die Augen und schien ein kurzes, aber sehr intensives Gebet zum Himmel zu schicken, atmete so tief ein, bis sich seine Wunde bemerkbar machte, und öffnete dann entschlossener die Tür, als er sich selbst je zugetraut hätte.
Mike lag schon im Bett, das Kissen im Rücken, mit dem Oberkörper gegen die Bettlade gelehnt, das Gesicht hinter seinem Gespensterbuch versteckt. Obwohl die Geschichte gerade so spannend, weil unheimlich wurde, ließ er sofort das Buch vor seiner Nase sinken und sah erwartungsvoll auf, als die Tür aufging.
"Jess!" rief er erfreut. "Du kommst gerade recht! Soll ich dir ein bißchen von Sir Christopher vorlesen? Ist wahnsinnig spannend und – brrr!" Er schüttelte sich. "– fürchterlich gruselig!"
"Nein, Mike, heute nicht."
"Schade! Es würde dir bestimmt gefallen."
Jess ließ sich von Mikes Begeisterung für die Abenteuer des schottischen Schloßgespenstes nicht ablenken. Wohl huschte ein Lächeln um seinen Mund, aber seine Augen blieben ernst. Nach phantastischen Kindergeschichten stand ihm heute gewiß nicht der Sinn.
"Ich glaube nicht, daß mir heute dein Sir Christopher viel Spaß machen würde."
"Nicht?" Zuerst war der Junge sichtlich enttäuscht. Dann jedoch vertrieb aufkommende Sorge seine Enttäuschung. "Hast du irgend etwas? Bist du böse? Darf … soll ich das Buch … ich meine, soll ich es zurückgeben?"
"Von mir aus kannst du darin schmökern, solange du magst und du es behalten darfst. Nur heute abend …" Jess kam ans Bett und setzte sich zu ihm auf die Kante. Er wirkte sehr bedrückt. "Ich muß mit dir sprechen, Mike."
Der Junge legte das Buch beiseite und sah ihn betreten an. Wenn Jess so ernst war, setzte es meist eine Standpauke. Das Dumme war nur, Mike konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, etwas dermaßen Schlimmes angestellt zu haben, was eine Gardinenpredigt nach sich ziehen müßte.
"Habe … habe ich etwas falsch gemacht?" schluckte er. "Ich habe bestimmt nichts angestellt, Ehrenwort! Ich bin auch nicht mehr so schnell geritten!" beteuerte er. "Und gesprungen bin ich nur in der Koppel, wie du es gewollt hast. Ganz großes Ehrenwort!"
Beschwichtigend fuhr Jess ihm durch seinen Blondschopf. Sein väterliches Lächeln wirkte so gequält, als hätte ihn jemand mit Waffengewalt dazu gezwungen.
"Das will ich dir gern glauben. Sei unbesorgt! Es ist gewiß nicht deine Schuld oder deinetwegen."
"Aber vielleicht wegen gestern, ich meine, wegen der Patronen … weil ich sie aufgehoben habe? Wenn du möchtest, werfe ich sie weg."
"Nein, auch nicht deshalb. Ich habe dir erlaubt, sie zu behalten. Damit ist die Angelegenheit doch erledigt, oder?"
"Ich denke schon."
"Na also." Jess legte den Arm um seine Schultern und drückte ihn an sich. "Nein, es geht nur darum …" Er besann sich, weil er nicht wußte, wie und wo er anfangen sollte, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. "Wir müssen uns über etwas sehr Ernstes unterhalten – dringend!"
"Dann habe ich also doch etwas falsch gemacht. Weil … weil ich wollte, daß du mir zeigst, wie gut du schießen kannst, nicht wahr?"
"Nein, auch deshalb nicht, sondern – meinetwegen."
"Deinetwegen?" vergewisserte sich der Junge und sah ihn verwirrt an. "Hast du denn etwas angestellt?"
"Nein – nein, Mike, es geht nicht darum, ob irgend jemand etwas angestellt hat, sondern … Es ist nur so … Ich … ich muß von hier weg."
"Weg?" wiederholte Mike verdutzt, ohne die volle Bedeutung dieses kleinen Wortes im ersten Augenblick in seiner ganzen schicksalsbestimmenden Wichtigkeit zu erfassen. "Aber … aber wieso denn? Gefällt es dir hier nicht mehr?"
"Unsinn! Es gefällt mir hier sogar sehr gut."
"Aber warum willst du dann weg?"
"Ich will nicht, ich muß!"
"Du mußt? Aber du nimmst mich doch mit, oder?" kam es anklagend, enttäuscht, weinerlich.
"Nein, Mike, das geht nicht."
"Nicht?" Mikes Stimme wurde immer dünner. "Aber … aber …"
"Da, wo ich hin muß, kann ich dich nicht mitnehmen."
"Und … und wo ist das? Warum mußt du überhaupt weg?"
"Weil ich nicht hierbleiben kann. Weil ich … Ich kann hier nicht … gesund werden – deshalb! Verstehst du?" brachte Jess mühsam heraus. Im nachhinein fand er, daß er wie ein Elefant im Porzellanladen in Mikes Gefühlswelt herumtrampelte.
Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an und schüttelte stumm den Kopf.
"Bist du denn immer noch so krank?" schluckte er statt dessen eine Frage zusammen.
"Ja, Mike, immer noch."
"Aber ich dachte, es ginge dir besser."
"Besser als anfangs – ja. Trotzdem … Verdammt, wie soll ich dir das bloß erklären?" Jess wischte sich mit einer hilflosen Geste übers Gesicht. Er fühlte sich scheußlich und von der kindlichen Naivität, mit der sich Mike in ängstlichem Unbehagen durch Verständnislosigkeit und Unwissenheit fragte, beinahe überfordert. "Sieh mal, ich wurde damals sehr schwer verwundet, das weißt du – nicht nur da, wo man es sehen kann …"
"Auch innen drin, ich weiß. Darum mußt du soviel husten und hast solche Schmerzen. Ich weiß ganz genau, daß du die hast, obwohl du immer so tust, als wäre nichts."
"Du paßt genau auf, was?"
"Und du bist deshalb auch immer so müde", fügte Mike hinzu, ohne seine Bemerkung zu beachten. "Aber wieso mußt du von hier weg?"
"Doc Higgins meint, es liegt an unserem Klima."
"Klima? Was ist das?"
"Das Wetter hier. Ich vertrage unseren naßkalten Winter nicht, der sich seit den letzten paar Tagen ankündigt. Das ist es."
"Aber der ist doch schon immer so, und es hat dir nie etwas ausgemacht."
"Normalerweise macht mir das auch nichts aus, aber jetzt, wo ich so krank bin, kann es sein …" Er brach ab. Zu seinem Erstaunen vollendete Mike jedoch den Satz, indem er Jess' eigene Gedanken aussprach.
"… daß du noch kränker wirst und vielleicht … vielleicht sogar … Wenn du weggehst, wirst du dann wieder gesund?"
"Ich hoffe es."
Zum Glück ging Mike nicht weiter auf die Mehrdeutigkeit dieser Antwort ein.
"Wo mußt du überhaupt hin?" wollte er statt dessen wissen. Seine Stimme klang jetzt so dünn, daß sie nach jeder Silbe zu brechen drohte.
"Nach Colorado Springs."
"Ist das sehr weit weg?"
"Es geht. Etwa zweihundertfünfzig Meilen."
"Das hört sich aber ganz furchtbar weit an."
"Ist es nicht. Von hier bis zur kanadischen Grenze ist es beinahe viermal soweit. Und wenn ich unsere Rinder schon bis Calgary geschafft habe, sogar fünfmal."
"Das ist etwas anderes."
Im stillen mußte Jess ihm recht geben, nicht nur wenn er bloß die Entfernung betrachtete.
"Wo ist denn dieses … wie heißt es?"
"Colorado Springs. Liegt etwa siebzig, achtzig Meilen südlich von Denver."
"Und da ist das Wetter anders als hier?"
"Etwas – ist ein wenig trockener dort."
"Aber wieso macht es dann soviel aus?"
"Weißt du, es ist nicht allein das Wetter. Doc Higgins meint, in Colorado Springs gibt es jemanden, der mir helfen könnte."
"Wieso? Kann er dir nicht helfen?"
"Nein, Mike, nicht mehr."
"Das verstehe ich nicht!"
"Ist auch nicht so wichtig. Jedenfalls muß ich so schnell wie möglich dort hin."
"Wann denn?" fragte Mike mit schlimmen Vorahnungen und blickte ängstlich zu ihm auf.
"In den nächsten Tagen."
"Schon?! Kannst du nicht noch ein bißchen warten? Bitte! Ich möchte nicht, daß du weggehst. Bitte!"
"Mike, ich möchte das auch nicht, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muß! Hörst du? Ich muß, wenn ich wieder gesund werden will. Ich denke, du willst das auch."
Mike antwortete mit einem traurigen Nicken. Zu viele trübe Gedanken schossen durch sein Gehirn, daß er kaum noch wußte, ob das nun alles Wirklichkeit war, was er in den letzten Minuten erfahren hatte, oder ob es sich dabei nur wieder um einen Alptraum handelte, aus dem er aus unerfindlichen Gründen nicht erwachen konnte.
Jetzt, nachdem diese drei Männer endlich aus seinem Leben verschwunden waren, hatte er gehofft, daß alles gut wurde – nur gut werden konnte. Nun mußte er schon wieder die furchtbare Erfahrung machen, daß das Leben seines Pflegevaters nach wie vor in Gefahr war. Die voreilige Annahme, daß sein Alptraum mit dem Tod der drei Männer endete, erwies sich schlichtweg als falsch, eine schillernde Seifenblase, die gerade eben zerplatzte, ein Luftschloß, das noch fiktiver schien als Sir Christophers Spukschloß in Schottland.
"Mußt … mußt du für lange weg?" fragte er zaghaft, mit beiden Händen, ohne sich dessen bewußt zu sein, fest an seinen Arm geklammert, der um seinen Oberkörper lag. Er hatte das Gefühl, an einem unendlich tiefen Abgrund zu stehen und auf dem brüchigen Unterboden gleich hinunter in die gähnende Tiefe zu stürzen. So merkte er gar nicht, wie sich seine Finger beharrlich in Jess' Muskeln gruben, um den Halt nicht zu verlieren. In seiner Magengegend machte sich eine unangenehme Leere breit, die ihm bis in den Kopf stieg. Plötzlich überfiel ihn eine quälende Angst, nicht vor diesem eingebildeten Schlund, der ihn zu verschlingen drohte, sondern davor, den ihm liebsten Menschen doch noch zu verlieren. Nicht er war in Gefahr, in dieser Schlucht zu Tode zu stürzen, sondern Jess. Davor mußte er ihn bewahren, ihn festhalten; aber er wußte, daß seine kindliche Kraft nicht dazu ausreichte. Er würde hilflos mit ansehen müssen, wie sein Pflegevater abrutschte und am fernen Boden dieses Abgrunds zerschellte. "Sag doch!" drängte er, als der Mann sich mit einer Antwort Zeit ließ.
"Ich fürchte, ja."
"Wie lange?"
"Ich weiß nicht genau, Mike. Auf jeden Fall für Wochen, eher sogar für Monate."
"So lange!" rief Mike entsetzt. "Dann wirst du an Weihnachten ja gar nicht hier sein."
"Nein."
"Das … das ist aber ganz schön traurig, weißt du das?" schniefte der Junge, der kaum noch in der Lage war, seine Tränen zurückzuhalten. "Kannst du denn nicht bis nach Weihnachten warten und solange hierbleiben?"
"Nein, mein Junge, auf keinen Fall. Ich muß so schnell wie möglich dort hin, sonst …"
Jess überlegte, ob er den Nachsatz aussprechen sollte. Da kam ihm Mike bereits zuvor.
"… sonst ist es zu spät und du müßtest vielleicht … vielleicht … nicht wahr, du müßtest dann … du würdest … nie wieder …" Mike konnte den Gedanken nicht zu Ende formulieren. Ein Klumpen riesigen Ausmaßes verstopfte ihm die Kehle.
"Das könnte tatsächlich passieren", erwiderte Jess, dessen Kehle ebenso trocken wurde.
Zum Glück merkte Mike nicht, daß sich seine Antwort nicht nur auf zu langes Warten bezog oder gar beschränkte. Dafür stieg in ihm eine ganz andere Befürchtung hoch, die letztendlich auf genau das gleiche hinauslief.
"Aber … aber du wirst doch wiederkommen?"
"Sicher", schluckte Jess.
"Ganz bestimmt? Versprichst du es?"
Ihre Blicke trafen sich. In diesen zwei Augenpaaren lag soviel Traurigkeit wie sonst nur bei Menschen, die gerade das ihnen Liebste auf der Welt verloren hatten. In Sekundenschnelle wägte Jess die Möglichkeiten für ein solches Versprechen ab, das er auch oder gerade in dieser Situation nicht leichtfertig oder übereilt geben wollte, nur damit der Junge erst einmal zufrieden war. Zu leicht hätte er ihn in dieser wichtigen Angelegenheit enttäuschen können.
"Ich verspreche es!" beteuerte er, ohne lügen zu müssen, denn er hatte Slims Wort, daß dieser ihn auf alle Fälle nach Hause zurückholte. Er würde also wiederkommen, und wenn es in einer Holzkiste war. Diese Einzelheiten mußte er Mike Gott sei Dank nicht anvertrauen.
"Ganz großes Ehrenwort?"
"Ganz großes Ehrenwort!" gelobte Jess und drückte ihn zur Bestätigung fest an sich, bis seine Wunde anfing zu schmerzen, als sollte ihn das Stechen in seiner Brust mit Nachdruck immer dann an dieses Versprechen erinnern, wenn er selbst nicht mehr daran glauben wollte, es einhalten zu können.
"Dann … dann versuche ich mir einfach vorzustellen, daß du mit einer Herde unterwegs nach Calgary bist."
"Das ist eine sehr gute Idee. Du wirst sehen, die Zeit geht bestimmt schnell vorbei, und dann bin ich wieder da."
"Ich wollte, sie wäre schon vorbei. Kann ich denn nicht mitkommen? Bitte!"
"Nein, Mike, das geht nicht. Und ich möchte das auch nicht."
"Aber warum denn nicht? Ich könnte doch auch dort zur Schule gehen. Bitte! Dann würde es mir bestimmt nicht soviel ausmachen."
"Das geht nicht! Frag mich nicht weiter, warum! Du … wir müssen uns damit abfinden, daß du hierbleiben mußt."
"Darf ich dich dann wenigstens besuchen? Bitte!"
"Nein! Nein, Mike, auch das möchte ich nicht."
"Aber es ist doch gar nicht so weit. Nur für ein paar Tage. Dann weiß ich, daß es dir gutgeht und … Bitte! Bitte, nimm mich mit!"
Beinahe wäre er weich geworden, denn Mikes Flehen setzte ihm mehr zu, als er mit seiner Entschiedenheit abzuwehren vermochte. Da er aber selbst nicht wußte, was ihn erwartete, vor allem in bezug auf seine Gesundheit und eine mögliche oder unmögliche Genesung, konnte er es nicht verantworten, dem kindlichen Begehren nachzugeben.
"Nein, Mike, das geht nicht! Bitte, frag nicht weiter, warum und weshalb, ja? Vertrau mir einfach! Versuch es wenigstens! Ich verspreche dir, daß ich so schnell wie möglich zurückkommen werde. Glaube mir, mir ist das auch nicht recht, aber es ist wirklich das beste."
"Das finde ich nicht!" widersprach Mike, seinen Kopf tiefer an seiner Schulter vergrabend. "Viel besser wäre, wenn du überhaupt nicht so krank wärst. Dann müßtest du gar nicht weg und hättest auch keine Schmerzen."
"Es gibt nun mal Dinge, die sind nicht zu ändern. Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen."
"Ich wünschte, diese Männer wären niemals hiergewesen."
"Sie waren es aber. Damit mußt du dich abfinden."
"Das kann ich nicht!"
"Es wird dir auf längere Sicht nichts anderes übrigbleiben. – Weißt du, mein Junge, es kann passieren, daß ich auch in Colorado Springs nicht gesund werde. Ich hoffe das zwar nicht, aber diese Gefahr besteht."
"Aber dann kannst du doch auch hierbleiben. Hier ist es auch nicht sicher."
"Nein, aber hier ist sicher, daß …" Jess verschluckte den Rest.
"… daß du bald … daß du … sterben wirst?" krächzte Mike; der Kloß in seinem Hals hatte mittlerweile eine Größe erreicht, mit der er ihn sogar beim Atmen zu hindern begann.
"Wie gesagt, mein Junge, hier kann ich auf keinen Fall gesund werden. Ich denke, du möchtest, daß es mir bald besser geht. Sicherlich kann dort, wo ich hingehe, auch jemand etwas gegen meine Schmerzen unternehmen."
"Letztes Jahr, als Amalie Wingades Großvater starb, haben ihre Eltern ihr gesagt, er würde eine lange Reise machen und keine Schmerzen mehr haben. Ist das vielleicht auch so eine Reise, die du machen wirst?"
"Habe ich das etwa gesagt?"
"Nein, aber vielleicht willst du mir so etwas Ähnliches sagen. Ich bin nicht so ein kleines, dummes Mädchen, dem man solche Märchen erzählen kann, die es auch noch glaubt."
"Nun, und ich bin nicht Amalies Großvater. Ich hoffe, damit ist die Sache geklärt."
"Gar nichts ist geklärt!" begehrte Mike auf, um sich hinterher nur fester an ihn zu drücken. "Jess, ich … ich habe solche Angst, daß du nicht wiederkommst."
"Die mußt du nicht haben", versuchte Jess ihn zu beruhigen, obwohl ihm nicht ganz wohl bei dieser Versicherung war. "Ich habe es dir doch versprochen."
"Schon, aber was ist, wenn du dein Versprechen nicht halten kannst? Das könnte doch passieren, oder? Muß gar nicht deine Schuld sein. Und dann?"
"Nichts und dann!" Jess brauchte nicht lange zu überlegen, was den Jungen beinahe erst recht stutzig machte. "Das wird nicht geschehen. Ich komme wieder – hundertprozentig!"
Nur zu gerne wollte Mike ihm glauben, klang diese Versicherung doch so unumstößlich, daß er nichts lieber getan hätte, als seine Zweifel auf dem schnellsten Weg zu begraben. Aber irgendeine geheimnisvolle Stimme in seinem Unterbewußtsein warnte ihn vor allzu großer Zuversicht – nicht weil er Jess' Wort etwa anzweifelte – das käme ihm nie in den Sinn! –, sondern weil er diese ungewisse dunkle Macht des Schicksals fürchtete, die ihm vorkam wie eine unberechenbare wilde Bestie, die da irgendwo im Verborgenen lauerte. Er konnte sie nicht sehen, aber er fühlte ihre Anwesenheit mit jedem Nerv seiner sensiblen kindlichen Empfindung.
"Ich werde dich ganz fürchterlich vermissen", gestand er traurig und drückte seine Nase zwischen Jess' Schultergelenk und Schlüsselbein platt, nur um zu verhindern, daß sie anfing zu triefen. Seine Augen benötigten gewiß nur noch die Spur eines Reizes, um überzulaufen.
"Ich dich auch, Cowboy, ich dich auch!" Jess strich ihm zärtlich über Kopf und Rücken. "Trotzdem … denk immer daran, daß es nur vorübergehend ist. Und wenn ich wiederkomme, dann werden wir zum Jagen in die Berge gehen – nur wir beide. Das wolltest du doch! Vielleicht fällt dir das Warten nicht so schwer, wenn du etwas hast, worauf du dich freuen kannst. Na, was hältst du davon?"
"Ich wollte, es wäre schon soweit. Ich habe schreckliche Angst. Ich will nicht, daß ich die habe, aber ich kann nicht machen, daß sie aufhört. Sie ist einfach da."
Wenn du wüßtest, welche Angst ich habe! dachte Jess, redlich bemüht, sich von seinen eigenen finsteren Vorstellungen über die Zukunft nichts anmerken zu lassen.
"Ich kann dich ja verstehen, aber trotzdem solltest du versuchen, sie einfach wegzustecken."
"Das kann ich nicht. Und wenn du erst weg bist, wird sie garantiert noch schlimmer. Es wäre so schön … Bitte, werde ganz schnell wieder gesund! Hörst du? Ganz, ganz furchtbar schnell!" bettelte er, sich so fest an ihn kuschelnd, daß seine Wunde fast anfing zu schmerzen.
"Du hast mein Wort, daß ich alles unternehmen werde, um so schnell wie möglich wieder heimzukommen. Darauf werde ich mich bestimmt besser konzentrieren können, wenn ich mir um dich keine Sorgen machen muß, wenn ich weiß, daß du dich nicht von deiner Angst beherrschen läßt, sondern umgekehrt du mit ihr fertig wirst und sie besiegst. Willst du das versuchen?"
"Das schaffe ich nicht!"
Jess griff ihm unters Kinn und hob seinen Kopf, bis er ihn ansehen mußte und sich ihre Blicke trafen.
"Du schaffst es! Das weiß ich. Du mußt es nur wollen. Du darfst niemals aufgeben, weder dich selbst noch die Menschen, die dir etwas bedeuten. Du darfst niemals behaupten, ich schaffe es nicht, solange du es nicht probiert hast. Verstehst du das?"
Wenn Jess ehrlich war, hatte er dem Jungen eben eigentlich nur das wiederholt, was er sich selbst ständig in Gedanken vorpredigen mußte, um seinen Willen zum Kampf um sein Leben aufrecht zu halten. Fast schien es, als müßte er diese Gedanken von Zeit zu Zeit aussprechen, um sich selbst ins Gewissen zu reden, wenn es gerade niemand anders für ihn erledigte. Anscheinend schöpfte er daraus Kraft, indem er seinen Schützling in Zuversicht und Glauben an sich selbst, an die eigenen Fähigkeiten unterwies. Auch er hatte eine gehörige Portion von dieser Zuversicht dringend nötig, wovon er sich natürlich dem Jungen gegenüber nichts anmerken lassen durfte. Nicht daß Mike von ihm deshalb enttäuscht gewesen wäre, weil er seine eigenen Ratschläge nicht immer so beherzigte, wie er es gerne getan hätte; aber sie hätten einen erheblichen Teil ihrer Wirkung verloren. Und das konnten sie sich beide nicht leisten.
Mike wich seinem Blick aus, starrte nachdenklich vor sich hin, seine Unterlippe nachhaltig mit den Zähnen bearbeitend. Er schien tatsächlich ernsthaft zu überlegen.
"Ich glaube schon", nickte er schließlich und sah wieder zu ihm auf. "Du hast recht, ich werde es versuchen. Bitte, mach dir meinetwegen keine Sorgen, wenn du weg bist. Werde lieber ganz schnell gesund, ja?"
"So schnell, ich kann", versprach Jess, und es war nicht nur leeres Dahergerede, bloß um den Jungen zu beruhigen. "Und du versprichst mir, daß du inzwischen artig bist und auf Slim und Tante Daisy hörst. Wirst du das?" Diesmal nickte Mike nur stumm. Es war ihm anzusehen, wie sehr er gegen die aufkommenden Tränen kämpfte. Aber er wollte tapfer zeigen, daß er sich beherrschen konnte. "Und mach dir wirklich keine Sorgen, weder um mich noch um dich! Es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir, ganz bestimmt!"
Als Mike sah, daß auch der Mann sich schwer tat, die Fassung nicht zu verlieren, konnte er die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Er bemühte sich zwar, nicht so heftig zu schluchzen, aber schon nach kurzer Zeit hatte Jess' Hemd einen nassen Fleck von seinen Tränen. Jess ließ ihn stillschweigend gewähren und sich ausweinen.
"Weißt du, was ich mir zu Weihnachten wünsche?" fragte er schniefend mit einem Hauch von Selbstvergessenheit, fast in süße Wachträume entrückt. "Ich weiß ja, daß es in Wirklichkeit keinen Weihnachtsmann gibt. Trotzdem wäre es schön, wenn es wirklich einen gäbe. Dann könnte er mir diesen Wunsch bestimmt erfüllen. Es ist etwas, was man nicht anfassen kann. Kein Ding, weißt du?"
"Dann muß es ja etwas ganz Besonderes sein – etwas Ungewöhnliches."
"Nein, eigentlich nicht. Es kostet kein Geld, aber ich glaube, es ist trotzdem sehr wertvoll. Man kann es nicht sehen und auch nirgendwo kaufen, und es paßt auch nicht unter den Weihnachtsbaum. Ich wünsche mir nichts anderes, als daß du schnell wieder ganz gesund wirst und keine Schmerzen mehr hast – nie mehr! Ob … ob dieser Wunsch … ob er in Erfüllung geht?"
"Bestimmt, mein Junge", versicherte Jess, sichtlich gerührt von soviel Teilnahme, um soviel Zuversicht bemüht, wie er zusammenkratzen konnte, "allerdings nicht bis Weihnachten."
"Bis wann denn sonst?"
"Ich weiß es nicht, Mike, auf alle Fälle, fürchte ich, bis zum Frühjahr, eher sogar länger."
Mike überlegte, als wollte er diese Zeit in Stunden und Minuten umrechnen. Selbst wenn er sie nur in Wochen und Tage faßte, erschien sie ihm unendlich lang.
"Wenn es nur wahr wird!"
"Es wird wahr – bestimmt!" Jess drückte ihn fester, obwohl dies kaum möglich war. "Wenn jemand so etwas Wunderbares für einen anderen Menschen wünscht, wird dem Weihnachtsmann nichts anderes übrigbleiben, als sich um die Erfüllung dieses Wunsches zu kümmern, auch wenn es länger dauert", meinte er, wünschte sich selbst jedoch, das alles wäre so einfach.
Fortsetzung folgt
