KAPITEL 29

Die folgende Woche begann auf der Sherman-Ranch mit einer allgemein gedrückten Stimmung unter ihren Bewohnern. Jeder wußte, daß es die letzten Tage von Jess Harper im trauten Kreis dieser Menschen waren, die das Schicksal im Laufe der Zeit zu einer besonderen Art von Familie hatte zusammenwachsen lassen. Im stillen fürchtete man sogar, daß es seine letzten Tage überhaupt waren, verschlechterte sich sein ohnehin schon miserabler Zustand nahezu stündlich, wenn auch von kurzen Phasen durchsetzt, in denen sich eine Besserung oder zumindest ein Stillstand abzuzeichnen schien. Vielleicht gelang es ihm in gewissen Momenten nur, sein wahres Befinden genügend zu kaschieren, daß er nach außen hin glaubhafter vortäuschen konnte, alles sei in bester oder wenigstens besserer Ordnung. Aber in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet fühlte, war seine wahre Verfassung relativ leicht zu erkennen, selbst für jemanden, der ihn nicht so gut kannte wie seine Angehörigen auf der Ranch.

Spätestens ein flüchtiger Blick in seine dunklen Augen, aus denen er nicht diese bleischwere Melancholie verbannen konnte, verriet ihn, war er doch von Natur aus eher ein humorvoller Mensch, den zwar der Ernst eines nicht gerade leichten Lebens geprägt hatte, aber deshalb nicht mürrisch verschlossen oder gar verbittert hatte werden lassen.

Instinktiv fühlte er, daß in den vergangenen Wochen eine gewisse Veränderung in ihm vorgegangen war, die sich in den letzten Tagen dermaßen intensiviert hatte, daß er sich zuweilen selbst fremd vorkam. Er schrieb dies in erster Linie seiner schlechten körperlichen Verfassung zu, nicht zuletzt der nagenden Ungewißheit, ob der bevorstehende Abschied von den Menschen, die ihm soviel bedeuteten, nicht vielleicht zu einem Abschied für immer wurde.

Vor allem die Vorstellung, seinen Pflegesohn ausgerechnet dann verlassen zu müssen, wenn er ihn seiner Meinung nach am meisten brauchte, quälte ihn in einer Art, die ihm völlig unbekannt war. So wurde aus dem, was ihm bisher soviel Kraft gegeben hatte, eine immer größere Belastung, die ihn in Momenten, in denen er darüber nachgrübelte, zu erdrücken drohte. Alles wäre so einfach gewesen, wenn er heute noch das Leben von damals führte. Trotzdem wäre er nicht dazu bereit gewesen, eine einzige Sekunde der letzten acht Jahre zu opfern.

Wenn er nur nicht so unsagbar müde wäre! Irgend etwas Schreckliches fraß sich durch seine Brust, zehrte seinen Körper aus, ließ seine Kräfte schwinden, zermürbte seinen Lebenswillen. So sehr er es verdrängte, um so mehr wurde es zur Gewißheit: in ihm steckte der Tod.

Während Mike sich an diesem Morgen mit einer sehr bescheidenen Begeisterung auf den Weg zur Schule machte – er fragte nur, warum ihm keiner früher gesagt hatte, daß Jess von zu Hause weg mußte; die Antwort, daß dieser es ihm selbst sagen wollte, aber nicht wußte, wie, entsprach zwar der Wahrheit, stellte den Jungen aber überhaupt nicht zufrieden; trotzdem ließ er es dabei bewenden und sprach über dieses Thema nicht mehr –, erschien Jess kurz darauf zu einem verspäteten Frühstück, wortkarg und in wenig angenehmer Laune, wie so oft in den letzten paar Tagen.

"Jess, was haben Sie denn?" wollte Daisy wissen, obwohl sie genau wußte, was mit ihm los war; aber sie konnte dem Drang einfach nicht widerstehen, das Schweigen zu brechen.

"Es ist nichts, Daisy", erwiderte er abweisend. "Machen Sie sich keine Sorgen."

"Das sagen Sie jedesmal; dabei weiß ich genau, daß mit Ihnen die ganze Zeit schon etwas nicht stimmt."

"Das bilden Sie sich ein. Sie sollten mir und meinen Launen nicht soviel Beachtung schenken. Es ist wirklich alles in Ordnung."

Er trank seine Milch aus und stand auf. Sein Teller war noch halb voll.

"Aber Sie haben ja gar nicht aufgegessen! Da wollen Sie mir einreden, mit Ihnen sei alles in Ordnung?"

"Tut mir leid, Daisy, aber ich habe nicht viel Hunger heute morgen und auch keinen sonderlichen Appetit."

"Wollen Sie wirklich nach Laramie fahren? Das Wetter ist scheußlich heute morgen. Und Ihnen scheint es überhaupt nicht gut zu gehen. Das sehe ich Ihnen an. Da können Sie mir erzählen, was Sie wollen."

"Wenn ich hier herumsitze, wird weder das Wetter besser noch meine Laune oder mein Befinden. Außerdem habe ich in der Stadt noch einiges zu erledigen. Ich habe schließlich nicht mehr viel Zeit, gewisse Dinge zu regeln."

"Mein Gott, wie Sie das sagen … nicht mehr viel Zeit, gewisse Dinge zu regeln … Als ob Sie uns hier für immer verlassen wollten."

"Daisy, erstens kann von Wollen keine Rede sein, zweitens kann es durchaus ein für immer werden. Vergessen Sie das nicht!"

Mit schweren Schritten stampfte er zur Garderobe, griff nach dem breiten Ledergurt mit der Waffe im Holster und schlang ihn sich um die Hüften. Wenigstens war bei dieser Bewegung nicht viel von seiner Schwäche zu erkennen. Beim Hineinschlüpfen in die schwere, gefütterte Jacke fielen seine Bewegungen wesentlich ungelenker, ja, steif aus.

"An so etwas mag ich überhaupt nicht denken!" rief sie ihm durchs Wohnzimmer nach. "Und Sie sollten es auch nicht tun!"

"Es bleibt mir leider keine andere Wahl."

"Werden Sie zum Essen zurück sein?" fragte sie, resigniert über seinen kaltschnäuzigen Pessimismus.

"Ich denke schon. Ich werde Mike von der Schule abholen. Hab' es ihm versprochen."

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er das Haus. Daisy, die in der offenen Tür stand, blickte ihm kopfschüttelnd nach.

In der Stadt versuchte Jess, möglichst jedem tiefgreifenden Gespräch aus dem Weg zu gehen. Vor Hansons Eisenwarengeschäft ließ er den Wagen stehen, bat diesmal jedoch darum, man möge ihn nach dem Abladen der alten Pumpe in den Seitenweg neben dem Sheriffbüro fahren, und ging auf dem Weg zu Doc Higgins' Praxis bei Robin Farley vorbei, wo er für Daisy Cooper die modernste und beste Nähmaschine bestellte, die der Ladeninhaber beschaffen konnte. Das hatte er mit Slim so vereinbart.

Der Weg bis zu Doc Higgins' Haus war ihm noch nie so lang erschienen. Die kleinste Bewegung strengte ihn heute an, daß er wirklich froh war, endlich das weißgetünchte Haus hinter dem hübsch angelegten Vorgarten zu erreichen.

Wenn Doc Higgins ganz ehrlich sein wollte, hatte er nicht mit ihm gerechnet, sondern sich bereits darauf eingestellt, nach dem Mittagessen zur Ranch hinaus zu fahren. Das, was der Arzt heute bei der Auskultation feststellte, war selbst für ihn erschreckend.

"Nicht gut, was du da hörst, was?"

Doc Higgins sah ihn lange an, schweigend, mit sehr ernster Miene, wobei er ein gewisses Bedauern nicht ganz verbergen konnte. Schließlich zog er die Brauen hoch und wich aufatmend seinem fragenden Blick aus.

"Nein", sagte er leise. "Was macht dein Kreislauf? Macht der noch Probleme?"

"Nicht mehr der Rede wert. Liegt wahrscheinlich an den Pillen, die du mir gegeben hast."

"Wenigstens etwas Positives."

"Ich habe das Gefühl, das sagst du jetzt nur, um mir etwas Erfreuliches mitteilen zu können. – Hast du schon Antwort aus Colorado Springs?"

"Ja", war die zunächst knappe Antwort.

"Und? Was sagt dein Studienfreund?"

Der Arzt beendete zuerst seine Untersuchung, ehe er weitere Auslegungen hierzu machte.

"Daß du auf dem schnellsten Weg kommen sollst. Hast du denn inzwischen endlich mit Mike gesprochen, oder steht das immer noch aus?"

"Das habe ich gestern abend hinter mich gebracht." Jess war froh, daß Dan ihm beim Anziehen half. Selbst das bißchen Bewegung beim Überstreifen seines Hemdes bereitete ihm erhebliche Schwierigkeiten. "Danke", sagte er, wie eh und je unzufrieden über seine Behinderung. "Ich kann mir nicht helfen, aber anscheinend werde ich von Mal zu Mal steifer. Man sollte mich wie die alte Pumpe aus Daisys Waschküche verschrotten."

"Darüber kann ich nicht lachen", bemerkte Dan ärgerlich.

"Du wirst es nicht glauben, aber ich auch nicht."

"Dann solltest du solche geistreichen Äußerungen besser für dich behalten."

"Du bist ja heute noch humorloser als ich", stellte Jess erstaunt fest, daß es schon beinahe klang wie eine Beschwerde. "Hat das vielleicht mit dem zu tun, was du von deinem Kollegen erfahren hast?"

"Jon hat mir nicht viel Neues mitgeteilt." Dan machte eine Pause und ließ sich auffallend viel Zeit, um sich hinter seinen Schreibtisch zurückzuziehen. "War auch nicht nötig", fuhr er fort. "Das, was ich gerade selbst gehört habe, hat mir gereicht. Ich wollte wirklich, du wärst schon bei ihm."

"Hat es denn dann überhaupt noch Sinn zu gehen?"

"Auf jeden Fall! Ich mache mir nur Sorgen, daß die Fahrt dorthin zu anstrengend für dich wird. Ich habe Jon mitgeteilt, daß du am Freitag mit dem Vormittagszug hier losfährst."

"Wenn es so brennt, warum soll ich bis Freitag warten?"

"Weil du dann die besten Anschlüsse in Cheyenne und Denver hast. Wenn alles klappt, bist du nur einen Tag unterwegs und kannst am Samstagmorgen schon in Colorado Springs sein. Ich nehme nicht an, daß es für dich besonders gesundheitsfördernd ist, wenn du länger als unbedingt nötig auf die Anschlußzüge warten mußt."

"Du hast das anscheinend genau ausbaldowert, was?"

"Habe ich! Ich werde auch dafür sorgen, daß du dich um nichts weiter kümmern mußt. Du mußt nur in den richtigen Zug einsteigen. Alles Weitere werde ich veranlassen. Falls möglich, werde ich dir auch die Fahrkarte besorgen. Wenn du am Donnerstag noch einmal vorbeikommst, wird alles geregelt sein."

"Ich habe das Gefühl, du traust mir nicht, daß ich tatsächlich fahre. Kann das sein?"

"Nein, Jess, ich will dir nur alles abnehmen, was dich unnötig belasten könnte. Die Fahrt selber wird anstrengend genug für dich sein. Glaube mir! Deshalb kann ich es schon allein als dein Freund nicht verantworten, daß du dich um Nebensächlichkeiten bemühen mußt, die genausogut ein anderer für dich erledigen kann. Als dein Arzt müßte ich sogar ein schlechtes Gewissen haben, weil du eigentlich auf der Stelle ins Bett gehörst. Ich sollte es dir vielleicht nicht so brutal ins Gesicht sagen, aber du bist wirklich todkrank."

"Danke, das brauchst du nicht so zu betonen", meinte Jess bissig. "Du wirst es nicht glauben, aber das weiß ich schon lange."

"In Colorado Springs", fuhr der Arzt fort, als hätte es diese Bemerkung seines Patienten nicht gegeben, "wird dich jemand vom Zug abholen – so steht es jedenfalls in Jons letzter Nachricht –, so daß du dich auch darum nicht zu kümmern brauchst."

"Gehört wohl alles zum Service, was?"

"So sieht es aus. Ich sagte dir ja, daß Jon sehr um seine Privatpatienten bemüht ist. Sicherlich spielt unsere langjährige Bekanntschaft dabei eine Rolle, daß er sich um dich bevorzugt kümmern wird."

"Komme mir vor, wie ein Ehrengast auf einer Vergnügungsreise, wenn das garantiert auch nicht viel Vergnügen für mich werden wird."

"Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht werden. Jon war eigentlich schon immer ein sehr umgänglicher Mann, mit dem sehr gut auszukommen war. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich in dem Punkt wesentlich geändert hat. Zumindest früher hatte er einen gesunden, trockenen Humor. Selbst wenn er den zum Großteil verloren hätte, wette ich, daß du dich gut mit ihm arrangieren wirst. Und wenn es tatsächlich so ist, daß er dich aufgrund unserer Freundschaft ein wenig bevorzugt behandelt, solltest du das ruhig genießen. Schaden wird es dir auf keinen Fall. Nun gut", atmete Dan auf, "bleibt also nur noch die Kostenfrage. Auch da spielt anscheinend unsere alte Freundschaft eine nicht unerhebliche Rolle. Er schreibt, für zweihundertfünfzig die Woche könnte er die allerbeste Versorgung garantieren. Dafür hast du sogar einen persönlichen – sagen wir einmal – Betreuer, der dafür zuständig ist, sofort zur Stelle zu sein, wenn du überraschend Hilfe brauchst, in welcher Form auch immer."

"Der Händchen hält, wenn es soweit ist", warf Jess sarkastisch ein und war sich trotz dieser Erläuterung nicht sicher, wofür dieser persönliche Betreuer tatsächlich gut sein sollte.

"Jess!" wies Dan ihn deshalb sofort in sehr energischem Ton zurecht.

"'tschuldige, aber versuche das mal aus meiner Sicht zu sehen. Allein der Gedanke, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, löst bei mir schon Neurosen aus. So nennt man doch diese Zustände, oder?"

"Warum bist du bloß gleich so bissig? Kannst du denn nicht wenigstens einmal versuchen, etwas Positives daran zu sehen?"

"Gern, wenn du mir verrätst, wie ich das anstellen soll! Dan", fuhr Jess, etwas versöhnlicher gestimmt, fort, "selbst wenn ich das alles noch so positiv betrachte – es wird nun mal keine vergnügliche Urlaubsreise daraus. Auch in Colorado Springs wartet dieser knöcherne Seelenräuber auf mich. Das weißt du genau. Er begleitet mich auf Schritt und Tritt, und er wird auch diese Reise mit mir machen. So leicht läßt der sich nicht abschütteln. Daran wird weder dein Studienfreund noch dieser persönliche Betreuer etwas ändern können. Aber, bitte – ich will nicht voreilig etwas oder jemanden verurteilen, ohne jedem vorher eine angemessene Chance gegeben zu haben."

"Vergiß dabei bloß nicht, dir selbst eine zu geben! So wie du redest, könnten einem glatt die Haare zu Berge stehen. Und ich hatte gehofft, du hättest diese …" Der Arzt machte eine kurze Pause, um nach dem richtigen Ausdruck zu suchen. "… depressive Phase endlich oder wenigstens weitgehend hinter dir", vollendete er, fast ein wenig unzufrieden über die Wahl seiner Worte, den Satz.

"Ich muß sagen, du drückst dich heute besonders geistreich aus", fiel auch prompt Jess' Kommentar entsprechend aus. "Hängt das damit zusammen, daß du es heute in besonderem Maße bist, oder reizt dich allein schon meine Anwesenheit dazu?"

"Deine Anwesenheit gewiß nicht, aber dein eigener Sarkasmus. Herrgott noch mal!" fluchte Dan, nicht nur über die Bissigkeit seines Patienten, sondern mehr noch über seine eigene und die Tatsache, daß er sich durch ihn und seine Bemerkungen überhaupt dazu hinreißen ließ. "Warum müssen wir uns deshalb eigentlich immer in die Wolle kriegen? Verdammt, Jess, die Angelegenheit ist wirklich sehr ernst und sie ist mir mehr wert, als daß ich mich mit dir wegen kindischer Nichtigkeiten streiten will. Wenn du das mit deiner Bissigkeit zerreden willst, dann ist das deine Sache. Verlange aber nicht von mir, daß ich es genauso mache!"

Nach Dans Standpauke herrschte tiefes Schweigen, das nach seinen lauten Äußerungen besonders auffällig und deshalb fast unangenehm wirkte. Schließlich erreichte es eine Länge, die den Arzt um ein Haar nervös gemacht hätte.

Eigentlich erwartete er auf seine Predigt eine ebenso heftige Reaktion von seiten seines Patienten; aber Jess starrte nur auf einen Punkt auf der Schreibtischplatte, als wollte er mit seinem Blick ein Loch hineinbrennen. In seinem hageren Gesicht, auf dem sich in dunklen Schatten und scharfen Kanten sein kränklicher Zustand überdeutlich widerspiegelte, regte sich nichts. Selbst seine Augen, die sonst immer seine inneren Regungen verrieten, auch wenn er diese hinter einer noch so harten Fassade verstecken wollte, schienen diesmal zu zwei tiefblauen, fast schwarzen Kristallen erstarrt zu sein.

Genau das war es auch, was in Dan eine gewisse Ungeduld, ja, Unruhe weckte. Diese scheinbar undurchdringliche, unnahbare Abwesenheit, Verschlossenheit war er nicht von ihm gewohnt. Sie bereitete ihm momentan sogar mehr Kopfzerbrechen als sein miserabler Gesundheitszustand, dessen Verlauf er immerhin verfolgen konnte. Was aber sonst mit ihm los war, was sich hinter seiner Stirn abspielte, hinter diesen Augen, die so unerbittlich gegen sich selbst gerichtet zu sein schienen, entzog sich seinem Wissen. Es beunruhigte ihn, weil er gerade diesen Mann so nicht kannte.

Wenn er sich sowieso nicht schon aufgrund der augenblicklichen Umstände um ihn gesorgt hätte – spätestens jetzt, bei seinem Anblick hätte er es getan. Daß ihn diese ganze Geschichte derart zu verändern schien, erschreckte den Arzt sogar mehr und mehr, je weiter er darüber nachdachte; denn um so deutlicher fiel es ihm auf und um so mehr bedauerte er es.

Dan hätte gewiß noch weiter darüber nachgegrübelt, wenn Jess nicht plötzlich dieses aufdringliche Schweigen gebrochen hätte. Statt der vermißten heftigen Reaktion klangen seine Worte eher ruhig, fast wie abwesend, und seine Stimme, obwohl sehr verhalten, in das Schweigen hinein wie eine rücksichtslose Unterbrechung der Stille.

"Du hast recht."

"Was denn?" Erstaunt riß Dan den Kopf hoch; er traute seinen Ohren nicht. "Ist das alles?"

"Was willst du denn hören?" Der Anflug von Teilnahmslosigkeit schien tatsächlich echt und nicht gespielt zu sein.

"Nun ja, ein wenig vermisse ich deine sarkastischen Spitzen."

"Ja, ich weiß. Du hast doch recht. Wie oft willst du das denn noch hören?"

"Wenn es nicht ernst gemeint ist, überhaupt nicht. Tut mir leid, wenn ich das sage, aber ich habe immer mehr das Gefühl, daß du … daß irgend etwas nicht mit dir stimmt, womit ich nicht deine körperliche Verfassung meine. Du kommst mir irgendwie so anders vor, so fremd, als hättest du dich verändert. Das habe ich dir am Freitag schon gesagt. Jedenfalls habe ich immer häufiger Schwierigkeiten, den Jess Harper zu erkennen, an dem ich bisher diese konsequente Geradlinigkeit schätzte. Kann das sein oder ist es gar so?"

"Möglich." Daß Jess nicht noch gleichgültig die Achseln zuckte, grenzte schon fast an Nachlässigkeit. "Mach dir nichts draus. Ich habe zuweilen selbst Schwierigkeiten dabei."

"Jess, das ist doch keine Antwort! Und schon gar keine Lösung!"

"Lösung? Gibt es denn eine?"

"Warum bist du nur so zynisch? Das paßt doch überhaupt nicht zu dir. Ehrlich gesagt, vermisse ich deine positive Lebenseinstellung, von der du dich bisher hast leiten lassen, egal, wie groß die Probleme waren, die auf dich warteten. Du willst mir doch nicht erzählen, daß du dich davon ausgerechnet dann achselzuckend abwendest, wenn du sie am nötigsten hast und vielleicht dein Leben davon abhängt. Was ist also los mit dir?"

"Was soll schon los sein? Wie wäre dir denn an meiner Stelle zumute? Würdest du es mit …" Jess suchte sekundenlang nach dem richtigen Wort. "… mehr Humor angehen?"

"Du verstehst mich nicht."

"Wozu soll eigentlich dieses ganze Gerede gut sein? Ich habe meine Entscheidung getroffen, wie es alle erwartet haben. Ich bin dir für alles sehr dankbar, mehr als ich dir mit Worten sagen kann. Und ich will dir gern glauben, daß dein Studienfreund alles, was in seiner Macht steht, für mich tun wird. Ich weiß das alles mehr zu schätzen, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Aber verlange bloß nicht von mir, an dem Ganzen an sich oder als solches etwas positiv oder gar mit einer gewissen Heiterkeit zu sehen."

"Wie kommst du bloß darauf, daß ich so etwas von dir verlangen könnte? Jess, ich verlange doch nicht von dir, daß du an dieser Sache etwas positiv findest. Himmel, wie könnte ich! Ich möchte doch nur, daß du erkennst, daß es …" Dan verschluckte den Rest des Satzes. Zu seiner grenzenlosen Überraschung vollendete sein Patient den Gedanken.

"… eine Zukunft gibt?"

"Ja."

"Eine Zukunft wird es immer geben. Nur ob es für mich eine gibt, sei dahin gestellt. Aber das ist nicht das, was ich als Problem sehe, noch nicht einmal die Tatsache, daß ich sehr wahrscheinlich mein Leben auf eine Art beenden muß, die so ganz und gar nicht meinen Vorstellungen davon entspricht. Das alles könnte ich noch mit einem gewissen Gleichmut in Kauf nehmen. Aber jetzt stell dir mal vor, du hast einen Jungen, der bald in das Alter kommen wird, in dem er dich ganz besonders braucht. Und kurz davor mußt du ihn im Stich lassen, ihn jemand anderem anvertrauen, einfach jemand anderem die Verantwortung überlassen, jemandem, der zwar dein allerbester Freund ist, aber für den Jungen eben doch nicht du selber. Und wenn du daran noch etwas Positives sehen kannst, dann verstünde ich dich wirklich nicht."

"Das ist absurd! Du läßt doch niemanden im Stich!"

"Wie würdest du es dann nennen?"

"Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken, weil es nämlich nicht relevant ist. Aber das wird es sofort, und zwar in dem Augenblick, in dem du dich selbst aufgibst. Deshalb solltest du dich wirklich mehr zusammenreißen. Du würdest damit nicht nur dir selbst schaden, sondern am meisten den Menschen, die dir soviel bedeuten und denen auch du etwas bedeutest. Möglich, daß ich mich wiederhole, aber anscheinend kann man dir das nicht oft genug sagen. Selbst wenn du nie wieder gesund werden würdest, wäre das für dich vielleicht ein Drama, aber für diese Menschen ein Grund, daß du trotzdem am Leben bleibst. Das darfst du nie vergessen. Gerade Mike wird es gewiß verstehen, wenn du nicht mehr mit zwei Händen zupacken könntest. Für ihn ist es doch viel wichtiger, daß du für ihn da bist, wenn er dich braucht, um sich dir anzuvertrauen. Deshalb mußt du aus Colorado Springs zurückkehren. Aber das kannst du nur, wenn du den positiven Blick für die Zukunft nicht verlierst, wenn du dir selbst die Chance für eine Zukunft nicht mit deinem bärbeißigen Zynismus verwehrst. Du kannst dieses zweifelhafte Mittel nämlich nicht zu deinem Vorteil beherrschen, eben weil es normalerweise nicht deine Art ist. Glaube mir, die Zeit ist verdammt schlecht gewählt, es als Maßnahme einzuführen."

"Soll ich dir mal was sagen?" fragte Jess mit einem wehmütigen Grinsen, das auf seinem hohlwangigen Gesicht seltsam verzerrt wirkte. "Du bist nicht nur der beste Chirurg, den ich kenne, sondern auch der beste Seelenarzt."

"Nein", widersprach Dan in väterlichem Ton, "ich bin nur dein Freund, der dir helfen will, sofern du mich läßt – sonst nichts."

"Weißt du, es ist schön, solche Freunde zu haben, wenn man sie braucht", gab Jess zu, ohne daß es ihn eine Überwindung gekostet hätte.

"Das beruht auf Gegenseitigkeit. Das unterscheidet uns eben von oberflächlich Bekannten."

"So wird es sein", atmete Jess gedankenvoll auf, daß es sich beinahe wieder den Hauch von abwesend dahergeredet anhörte.

"Manchmal habe ich dieses unbestimmte Gefühl, daß du mit deinen zynischen Bemerkungen mich nur herausfordern willst, um eine Bestätigung für deine wahre Einstellung zu allem zu erhalten. Vielleicht merkst du das selber nicht einmal und provozierst mich nur unbewußt. Fest steht jedenfalls, daß du mich – und das sage ich dir jetzt, auch wenn ich dir zigmal etwas anderes vorhalte so hin und wieder – bisher noch nicht enttäuscht hast."

"Danke!"

Jess grinste verstohlen, wollte damit in erster Linie jedoch den plötzlichen schmerzhaften Stich unter seinem Verband tarnen, der sich sonst allzu deutlich in seinem abgezehrten Gesicht Ausdruck verschafft hätte. Sehr zu Jess' Unbehagen entging dem Arzt das auffällig laute Schlucken nicht, als er versuchte, einen weiteren Stich in der Nähe seiner lädierten Rippe unbemerkt hinunterzuwürgen. Mit einem Schlag wurde Dan wieder sehr ernst.

"Was ist? Schmerzen?"

"Nicht der Rede wert! Nur ab und zu ein Stechen – wie immer."

"Ist es die Wunde selber?"

"Nein, so fühlt es sich eigentlich nicht an, eher wie damals, als mich bei dem Unfall während des Sturmes ein umstürzender Baum beinahe erschlagen hätte und mir zwei Rippen brach, nur vielleicht etwas brennender oder – ach, ich weiß nicht, wie. Ich kann es nicht genau erklären. Es ist halt einfach da und tut weh, mal mehr, mal weniger, das ist alles. Kein Grund, lange darüber zu reden."

"Für dich vielleicht kein Grund, aber für mich als dein Arzt schon. Die Entzündung um den zerschossenen Knochen und das zerstörte Gewebe ist immerhin die Hauptursache für deine schlechte Gesundheit und wird dir noch über einen ziemlichen Zeitraum hin Schwierigkeiten bereiten. Je mehr ich darüber erfahren kann, desto besser. Das gleiche gilt für Jonathan Tyler. Oberstes Gebot, das ich dir deshalb mit auf den Weg zu ihm geben will und muß, ist, daß du voll kooperativ bist und offen und ehrlich über alles sprichst, auch wenn es dir unangenehm sein oder unwichtig erscheinen sollte. Weder er noch ich sehen es als Schwäche, wenn du zugibst, daß du Schmerzen hast, egal wie heftig oder welcher Art."

"Werde mich bemühen, mich daran zu halten. Wird nicht leicht sein."

"Außerdem vergeudest du nur unnütz deine Kraft mit deiner überflüssigen Vertuschungstaktik. Soviel hast du nicht davon, um mit ihr so verschwenderisch umzugehen, vergiß das nicht!" mahnte Dan zum wiederholten Male, ohne dabei mit erhobenem Zeigefinger erscheinen zu wollen. Er hatte einfach nur das Gefühl, dies seinem Patienten nicht oft genug sagen zu können. Trotz der guten Vorsätze, nach denen er sich immer wieder richten wollte, schien er das nämlich nur allzu schnell und allzu leicht zu vergessen.

"Ich bin nun mal kein Jammerlappen; deshalb werde ich es mir auch in Colorado Springs nicht angewöhnen."

"Mit Jammern hat das nichts zu tun, sondern eher mit Verschleierung der Tatsachen. Ich kann sehr gut verstehen, daß du zu Hause deine Leute nicht über Gebühr beunruhigen willst; aber beschränke das wirklich nur auf zu Hause, wenn du schon nicht ganz darauf verzichten kannst. Jon brennt übrigens darauf, dich kennenzulernen. Zwar sind die Umstände nicht ganz so erfreulich, aber das ist nun mal leider nicht zu ändern."

"Mich kennenlernen?" fragte Jess nun doch ein wenig erstaunt. "Was hast du ihm denn von mir erzählt? Muß ja was ganz Fürchterliches gewesen sein."

"Halb so wild!" Dan grinste breit. "Habe ihm nur berichtet, was für ein starrsinniger Mensch du bist. Jedenfalls wird er alles versuchen, dir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten – und vor allen Dingen erfolgreich. Über Winter hat er wenig Privatpatienten zu betreuen, weil die lieber über Sommer zur Erholung kommen, wenn das Wetter freundlicher ist, so daß er viel Zeit haben wird, sich vorrangig um dich zu kümmern. Wenn du ihn mit deiner ganzen Kraft unterstützt, wirst du diesen Winter garantiert überleben. Du mußt nur viel Zeit und noch mehr Geduld und Ausdauer mitnehmen. Wenn du zu allem nicht die Hoffnung verlierst, wirst du als gesunder Mann zurückkommen. Davon bin ich fest überzeugt, gerade weil du ansonsten organisch völlig gesund bist und normalerweise eine körperliche Kondition hast, die selbst für einen Mann deines Alters nicht gerade alltäglich ist. Du schaffst es, mein Junge! Du mußt es nur wollen!"

"Ich will es, Dan, ich will es", versicherte Jess nachdrücklich, nicht überheblich, sondern eher verhalten, inständig. "Auch wenn es sich manchmal anders anhören sollte, will ich es tatsächlich. Das ist mir zum einen Teil am Freitag klargeworden, als mir während der Schießerei die Kugeln um die Ohren schwirrten, und zum anderen Teil gestern abend, als ich mit Mike gesprochen habe. Wenn mich zuweilen meine zynischen fünf Minuten überfallen, ist das nur eine Art Angst oder Verzweiflung oder Unsicherheit, wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalten soll – nenn es, wie du willst! –, aber in meinem tiefsten Inneren kann ich mich nicht aufgeben. Das könnte ich Mike und all den anderen, die mir etwas bedeuten, nicht antun. Insofern hast du recht mit dem, was du vorhin sagtest über diesen positiven Blick, den ich nicht verlieren darf. Manchmal ist es wirklich nicht leicht, vor allem, wenn es mir so schlecht geht, wenn ich merke, wie ich kaum noch Kraft habe, gegen diese ständig wachsende Schwäche, diese verhängnisvolle Lethargie anzugehen, die von meinem Lebenswillen Besitz ergreifen will. Es ist eine tödliche Falle, die ich mir immer wieder selbst stelle, als ob ich mich damit testen wollte, inwieweit ich dazu in der Lage bin, sie rechtzeitig zu erkennen, um ihr zu entgehen. Manchmal bilde ich mir ein, ich hätte tatsächlich Angst vorm Sterben, bis ich merke, daß ich mich nicht vorm Tod fürchte, sondern vor mir selber, ich könnte ihn leichtfertig an mich heran lassen. Dann wieder habe ich das Gefühl, er steckt schon längst in mir und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er mich in meiner eigenen Falle verrecken läßt. Ich kann wirklich nur hoffen, daß diese Reise nach Colorado Springs mir helfen wird, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sonst werde ich am Ende dieses makabre Spiel um mein Leben verlieren. Und ich bin ein verdammt schlechter Verlierer – das kann ich dir sagen!"

"Ich bin froh, daß du das Problem so klar erkennst. Ich hätte es dir jedenfalls nicht so gut erklären können. Aber selbst wenn, kann ich mir nicht vorstellen, daß ich es dir hätte so einfach begreiflich machen können. Schon allein die Tatsache, daß du es so deutlich siehst, wird dir helfen, es zu bewältigen, zudem es glücklicherweise Menschen gibt, die dir dabei nicht nur helfen wollen, sondern es auch tun werden, sofern du sie läßt."

"Es fällt mir halt nur schwer, mit diesem Gedanken fertig zu werden, eventuell sogar darauf angewiesen zu sein. Das ist das, was mir im Magen liegt wie ein verdorbenes Essen."

"Ich weiß. Vielleicht solltest du diese Hilfe wertfreier sehen, sagen wir als eine selbstverständliche Gegenleistung für all die vielen Male, in denen du auf deine Art Menschen geholfen hast, weil du es als selbstverständlich angesehen hast, dies zu tun. Jetzt ist die Reihe an dir, dir helfen zu lassen, wobei ich allerdings wünschte, daß dabei nicht das in Gefahr wäre, was auf dem Spiel steht."

"Vielleicht sollte ich es tatsächlich so sehen. Vielleicht sollte ich das Ganze wirklich nur als eine Art Erholungsurlaub betrachten, den ich nach all den Widrigkeiten der letzten Zeit einfach einmal nötig habe. Vielleicht sollte ich wirklich endlich damit aufhören, daraus mehr zu machen, als es im Grunde genommen ist. Vielleicht stellt sich dann viel eher und leichter ein Erfolg ein. Jedenfalls werde ich mich bemühen, die Sache nicht gar so verbis… verbittert anzugehen. Mit meinen ewigen Lamentos ändre ich auf keinen Fall etwas, soviel ist mir inzwischen klargeworden."

"Das habe ich bereits wohlwollend festgestellt. Allerdings hoffe ich auch, daß diese Einsicht von Dauer sein wird."

"Im Moment weiß man das bei meiner Verfassung nie." Dan riß den Kopf hoch und starrte ihn lauernd, herausfordernd an. "Da brauchst du mich gar nicht so anzugucken! Immerhin gebe ich das wenigstens zu. Ist doch schließlich auch etwas."

"Gar zu leichtfertig brauchst du damit nicht gleich umzugehen!"

"Ja, ich weiß", gab Jess ohne weiteren Kommentar und ohne Umschweife zu.

Statt dessen lehnte er sich aufatmend zurück. Irgendwie machte er dabei einen sehr müden Eindruck, wie jemand, der Enormes geleistet hatte und jetzt von dieser Anstrengung völlig erschöpft war.

"Hast du etwas?" konnte der Arzt es nicht lassen zu fragen.

"Nichts von Bedeutung", winkte Jess etwas teilnahmslos mit einer schwachen Handbewegung ab.

"Du siehst sehr müde aus."

"Ja, bin ich auch. Habe mich anscheinend schon so an das lange Schlafen morgens gewöhnt, daß mir ein Aufstehen noch vorm Mittagessen wie mitten in der Nacht vorkommt."

Dan verzog den Mund. Es war nicht klar zu erkennen, ob er dies tat, weil er seinen Patienten eigentlich als ausgesprochenen Frühaufsteher kannte oder weil er vorgeben wollte, daß ihn diese Bemerkung amüsierte, während sie ihn im stillen eher nachdenklich stimmte.

"Wie verlief eigentlich das Gespräch mit Mike?" fing der Arzt von etwas anderem an.

"Für meine Begriffe zu glatt", erwiderte Jess nach einer Weile knapp.

"Wie meinst du das?"

"Das ist eine gute Frage. Leider weiß ich nicht, ob ich dir darauf auch eine gute Antwort geben kann. Weißt du, ich sollte eigentlich froh darüber sein, daß es so verlaufen ist, ich meine, so relativ glatt. Trotzdem bin ich es nicht. Möglich, daß das ganze Problem – ich will es mal so nennen – ausschließlich an mir liegt, weil ich derjenige bin, der ein Drama daraus macht. Weiß der Teufel! Bei meiner momentanen Verfassung ist das sogar wahrscheinlich."

"Aber doch nicht im Gespräch mit dem Jungen!"

"Wer weiß! Vielleicht ist es schon so schlimm, daß ich es nicht mehr merke, wenn ich anfange, mich selbst zu bemitleiden."

"Vielleicht schlägst du in der Beziehung ab und zu über die Stränge. Kann schon sein. Aber dann hat das mehr mit deinem beißenden Zynismus zu tun, der dich seit neuestem von Zeit zu Zeit überfällt, als mit Selbstmitleid. Auf der anderen Seite kenne ich dich jedoch viel zu gut, als daß du mir einreden könntest, du hättest dich in der Beziehung auch nur für den Bruchteil einer Sekunde nicht unter Kontrolle im Beisein des Jungen."

"Ich bin mir da nicht mehr so sicher."

"Aber ich!" erklärte Dan, ohne den geringsten Zweifel an Jess' Selbstbeherrschung zu haben, wenn sein Pflegesohn im Spiel war. "Was veranlaßt dich denn überhaupt, irgendwelche Bedenken zu haben? Wie hat er denn reagiert?"

"Ganz normal eigentlich, wie ein zehnjähriges Kind mit Mikes Erfahrungen halt reagiert, würde ich sagen. Abgesehen von einem Weinkrampf, war er sehr gefaßt, hat es ganz gut verstanden, glaube ich. Trotzdem …"

"Aber dann scheint doch alles in Ordnung zu sein."

"Eben, Dan, es scheint mir zuviel! Scheinen ist nicht tatsächlich sein. Ich fürchte, er frißt seine Sorgen und Ängste in sich hinein, nur weil er sie mir nicht zeigen will. Versteh mich nicht falsch! Ich glaube nicht, daß er sich vor mir schämt oder geniert. Dazu ist er zu unbedarft, obwohl ihm deshalb manchmal schon Zweifel kommen. Aber dann redet er sofort mit mir darüber. Nein, Dan, ich fürchte eher, daß er sie mir nicht zeigen will, um mich nicht damit zu belasten, um mich zu schonen, weil er in seiner kindlichen Naivität mehr weiß oder ahnt, als mir lieb ist. Nämlich genau das, was ich vor ihm zu verbergen suche – wie dreckig es mir eigentlich geht. So gesehen, machen wir uns beide etwas vor. Wahrscheinlich ist es genau das, was mich so beunruhigt. Diese gutgemeinte Unaufrichtigkeit, die ich selbst heraufbeschwöre."

"Wie der Vater, so der Sohn, was?"

"Sieht ganz danach aus."

"Wenn es tatsächlich so ist, wie du sagst, muß er dich wirklich sehr lieben. Warum nimmst du diesen kindlichen Liebesbeweis nicht einfach als das, was er ist, und hörst auf, dich selbst mit deiner Grübelei verrückt zu machen?"

"Weil es nicht gut ist, wenn der Junge seinen … seinen Kummer in sich hineinfrißt."

"Sicher nicht, aber was soll er denn deiner Meinung nach tun oder wie soll er reagieren?"

"Ich weiß es nicht." Jess machte eine ziemlich hilflose Geste. "Ich weiß es wirklich nicht, Dan", wiederholte er. "Wenn ich es wüßte, ginge es mir wahrscheinlich besser. Wie gesagt, ich habe das Gefühl, ich dürfte ihn jetzt nicht allein lassen – nicht ausgerechnet jetzt!"

"Vielleicht solltest du dann noch einmal mit ihm reden."

"Und was soll ich ihm sagen? Noch einmal dasselbe etwa? Wahrscheinlich könnte er das leichter verkraften als ich."

"Ich glaube fast, daß das genau der Punkt ist, worin auch dein Problem liegt. Du hast nämlich selbst Angst vor dieser Trennung. Der Junge spürt das, wodurch sich seine eigene Angst noch steigert. Er will es dir nicht zeigen, weil er fürchtet, dir damit wehzutun."

"Kann sein. Nur habe ich keine Angst vor der Trennung, sondern davor, ihn nicht wiederzusehen. Versteh mich nicht falsch! Ich fürchte mich nicht vor dem, was vielleicht noch auf mich zukommt. Ich bin es schließlich gewöhnt, mit unangenehmen Dingen konfrontiert zu werden. Aber wenn ich mir seinen Schmerz vorstelle … Dan, das ist unerträglich für mich."

"Du solltest dir nicht so viele Gedanken darüber machen."

"Ich mach' sie mir aber!" erwiderte Jess scharf. "Es handelt sich immerhin um Mikes Zukunft."

"Es ist auch die deine, vergiß das nicht! Es ist sogar in erster Linie die deine. Du tust dem Jungen keinen Gefallen damit, wenn du nur an ihn denkst und dabei den Blick für dein eigenes Leben verlierst. Wenn du wieder gesund bist, kannst du dich von mir aus soviel um andere kümmern, wie du willst – Mike eingeschlossen. Aber jetzt darfst du den kümmerlichen Rest deiner Kraft an niemand anderen verschwenden als an dich selbst. Du wirst jedes Quentchen davon brauchen. Nur auf die Art kannst du es schaffen, gesund zu werden, womit sich all deine heraufbeschworenen Probleme von selbst lösen. Und wenn du selbst dir schon nicht diesen Dienst erweisen willst, dann erweise ihn wenigstens Mike."

"Ich will's versuchen. – Weißt du schon, wann der Zug geht am Freitag?" wechselte Jess dann so spontan das Thema, daß Dan verblüfft die Augen aufriß.

"Um neun", sagte er endlich, immer noch leicht irritiert, sich jedoch nicht viel anmerken lassend. "Wenn alles klappt, bist du um eins, halb zwei in Cheyenne."

"Ein bißchen schneller als die Kutsche ist das schon."

"Vor allem ist es bequemer für dich. Auch wenn es nur sechzig oder siebzig Meilen sind bis dahin, werde ich dir trotzdem einen guten Platz besorgen. In Cheyenne hast du voraussichtlich knapp drei Stunden Aufenthalt. Leider gibt es bei der Denver & Rio Grande keine so komfortablen Schlafwagen wie bei der Union Pacific – noch nicht –, sonst würde ich dir ein Abteil besorgen. Aber ich werde dir den besten Platz organisieren, der im Zug aufzutreiben ist. Ich werde mich noch einmal genau erkundigen. Vielleicht brauchst du in Denver gar nicht umzusteigen. Bis jetzt weiß ich nur, daß du dort etwa eine Stunde Aufenthalt hast. Planmäßige Ankunft in Colorado Springs ist gegen zehn Uhr am Samstagmorgen. Wie gesagt, du wirst an der Bahnstation abgeholt und brauchst dich um nichts zu kümmern. Das gilt auch fürs Gepäck unterwegs."

"Werde nicht viel haben. Ich denke nicht, daß ich mich an meinem Rasierzeug zu Tode schleppen werde."

"Trotzdem ist es für dich bequemer, wenn du dich nicht darum kümmern mußt. Ich fürchte, du hast an dir selbst genug zu tragen. Das wird eine anstrengende Fahrt für dich werden. Vergiß das nicht! Was dir abgenommen werden kann, laß dir abnehmen. Wenn ich hier weg könnte, würde ich dich begleiten. Bei deinem labilen Zustand … na ja, lassen wir das!"

"Ich werde schon zurechtkommen, keine Sorge."

"Natürlich", sagte Dan nur, während er "Hoffentlich!" dachte.

"Gut, dann kann ich ja gehen. Habe nämlich noch einiges zu erledigen."

Der Arzt, der ihn aufmerksam beobachtete, bemerkte, daß er beim Aufstehen verstohlen den Kopf zur Seite wandte und das Gesicht verzog. Die Bewegung verursachte ihm offensichtlich Schmerzen.

"Soll ich dir etwas gegen die Schmerzen geben?"

"Nicht nötig! So schlimm ist es nicht."

"Wie du willst. Trotzdem solltest du besser keine langen Spaziergänge mehr durch die Stadt machen. Bleib lieber hier und ruh dich noch ein wenig aus."

"Keine Zeit, Dan!" An der Garderobe half Higgins ihm in die warm gefütterte Jacke. "Ich muß zu Majors, um mit ihm die Finanzen zu klären. Und beim Sheriff habe ich auch etwas zu tun."

"Bei Mort? Kaffee kannst du auch hier haben. Zudem der von Mrs. Howard wesentlich besser schmeckt."

Zweifellos hatte der Arzt die Absicht nicht aufgegeben, seinen Patienten zum Bleiben zu überreden, aber Jess machte keinerlei Anstalten, sich überzeugen zu lassen.

"Das glaube ich dir sogar auf Anhieb." Jess grinste gequält, während er seine Jacke zuknöpfte. "Aber Mort braucht meine Unterschrift fürs Protokoll. Außerdem will ich sehen, wie es ihm geht."

"Auf jeden Fall besser als dir, obwohl er gescheiter nicht soviel in der Gegend herumwandern würde. In der Beziehung ist er genauso unbelehrbar wie du."

"Du kennst doch Mort."

"Ich kenne euch beide! Zum Glück habe ich so gut wie keine Haare mehr auf dem Kopf, sonst würden sie mir garantiert ständig zu Berge stehen euretwegen."

"Übertreib nicht so maßlos!"

Dan begleitete ihn hinaus und blieb noch eine Weile in der offenen Tür stehen, um ihm gedankenversunken nachzustarren.

Fortsetzung folgt