KAPITEL 30
In der Bank hatte Jess das Gefühl, daß Lincoln Majors ihn bereits sehnsüchtig erwartete.
"Das trifft sich ja ausgezeichnet!" rief der Bankier erfreut, schritt forsch auf ihn zu bis zur Absperrung und öffnete das Gatter, um ihn in den abgegrenzten Bereich zu lassen. "Guten Morgen!" begrüßte er ihn mit einem kräftigen Handschlag, mit dem er ihn gleichzeitig durch die Tür auf die andere Seite der Absperrung zog, die er hinter ihm sofort wieder schloß.
Jess erwiderte freundlich den Gruß, obwohl er sich ein wenig darüber wunderte, daß Majors ihn sofort voll in Beschlag und mit in die Heiligtümer der Bank nehmen wollte, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, daß Jess nicht nur etwas am Schalter zu erledigen haben könnte, sondern ausschließlich zu ihm wollte.
"Entschuldigen Sie, daß ich Sie so überfalle", sagte er auch prompt, während er mit ihm nach hinten ging, "aber ich bin wirklich froh, daß Sie hier sind. Das erspart mir den Weg zu Ihnen zur Ranch."
"Nanu, was gibt es denn?" wollte Jess erstaunt wissen, während er ihm in sein Büro folgte.
Hatte Majors ihn schon vorher mit bevorzugtem Respekt und freundschaftlicher Verbundenheit behandelt, so hatte sich seine Einstellung ihm gegenüber seit dem Zwischenfall vom Freitag zum Positiven hin gesteigert, falls dies überhaupt noch möglich war. Diesem Mann würde er bedenkenlos den Inhalt seines Privatsafes anvertrauen und in ebensolcher Weise sein Leben. In seiner Anwesenheit fühlte sich der Bankier nicht nur sicher; er verkörperte für ihn Sicherheit im engsten Sinne schlechthin.
Wenn die Bankgesellschaft einen solchen Mann als ständigen Sicherheitsbeauftragten für ihre diversen Geschäfte und Geldtransporte mit angemessenem festem Gehalt gewinnen könnte, wäre dies ein unbezahlbarer Glücksgriff, hatte er bereits Erwägungen angestellt, wußte jedoch von vornherein, daß dies nur ein Wunschtraum bleiben mußte. Denn selbst wenn Jess als gesunder Mann aus Colorado Springs zurückkehrte, was er auf jeden Fall für ihn hoffte, konnte sich Majors nicht vorstellen, ihn zu so etwas überreden zu können. Trotzdem wollte er es bei passender Gelegenheit erwähnen, nur um sich hinterher nicht ewig Vorwürfe machen zu müssen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Jedenfalls würde er einem solch fähigen Mann sämtliche Wege ebnen für eine Karriere im Sicherheitsdienst des Bankgewerbes oder sogar der Politik. Welch ein Verlust, solch ein außergewöhnliches Potential brachliegen lassen zu müssen! bedauerte er zutiefst, obwohl er dieses Thema noch gar nicht angesprochen hatte. Dafür kannte er die mögliche Antwort besser, als ihm lieb war.
Im Büro bot Majors seinem Besucher Platz an und stellte ihm die obligatorische Frage, ob er ihm einen Cognac anbieten dürfe, die Jess aus demselben Grund wie neulich dankend verneinte, was der Bankier wiederum zum Anlaß nahm, ebenfalls darauf zu verzichten.
"Entschuldigen Sie, Jess, wenn ich Sie eben so überfallen habe …", sagte Majors abermals, während er seine umfangreiche Körperfülle hinter seinem mit Papieren und Akten beladenen Schreibtisch plazierte.
"Aber das macht doch nichts! Sie wollten etwas von mir?"
"Ja!" rief Majors eifrig, ohne jedoch seinen herzlich-freundschaftlichen Ton zu verlieren. "Das heißt, eigentlich ist das nicht ganz richtig. Ich weiß, offen gestanden, gar nicht, wie ich in dem Fall an Sie herantreten soll. Vielleicht geben Sie mir noch ein paar Minuten, um – sagen wir – Mut zu fassen."
"Du lieber Himmel, das hört sich ja nach etwas sehr Unangenehmem an. Ihnen oder der Bank ist hoffentlich nicht doch Geld am Freitag abhanden gekommen?"
"Aber nein! Kein einziger Cent fehlt! Das ist alles nur Ihr Verdienst!"
"Nicht ganz! Es ist ebenso das Verdienst von Sheriff Cory und Mike. Vergessen Sie das bitte nicht!"
"Aber ohne Sie … ach, was soll's! Ich möchte Sie mit diesem Gerede nicht langweilen – Sie haben recht." Zum Nachdruck hob er abweisend beide Hände. "Nein, es ist eigentlich etwas, was Sie persönlich betrifft. Und da ich weiß oder mir ziemlich gut vorstellen kann, wie Sie eventuell reagieren werden, muß ich mir vorher sehr gut überlegen, wie ich Ihnen gegenüber mein Anliegen formuliere."
"Sie machen mich richtig neugierig. Vielleicht versuchen Sie es einfach. Oder ist mit mir so schwer zu reden?"
"Nein, selbstverständlich nicht! Aber, wie gesagt, dieses spezielle Thema ist nicht einfach."
"Wenn Sie versuchen wollen, mich wegen der Belohnung doch noch herumzukriegen, dann ist das wirklich kein einfaches Thema!" vermutete Jess, womit er sich instinktiv auf dem richtigen Weg befand.
"Geben Sie mir bitte noch etwas Zeit!" wich Majors aus, obwohl dieser Schritt nicht unbedingt der diplomatischste war, denn Jess liebte es nicht besonders, aus nicht gravierenden Gründen hingehalten zu werden. Seiner Meinung nach gab es keinen gravierenden, außer daß Majors offensichtlich sehr verlegen zu sein schien. "Vielleicht sollten Sie mich vorher erst wissen lassen, ob und was ich oder die Bank für Sie tun kann. Sofern es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt, werde ich Ihnen selbstverständlich jeden Wunsch erfüllen."
"Danke, das ist sehr großzügig, aber so anspruchsvoll bin ich nicht. Allerdings bin ich nicht nur zum Guten-Tag-Sagen gekommen."
"Nun, ehrlich gesagt, habe ich das auch nicht angenommen. Was gibt es also?"
"Nun ja, Sie wissen ja, daß ich durch diese Verwundung immer noch kränker bin, als mir lieb ist. Ich will Ihnen weiß Gott nicht meine Krankengeschichte vorjammern. Kann mir nicht vorstellen, daß Details etwas zur Sache tun oder Sie interessieren würden."
"Seien Sie da lieber nicht so sicher."
"Wie dem auch sei", fuhr Jess umständlich fort, ohne weiter auf Majors' Einwurf einzugehen, "Doc Higgins ist der Ansicht, daß ich hier nicht gesund werden kann, und meint, ein Klimawechsel könnte mir eventuell helfen."
"Ich weiß. Er hat Ihnen einen längeren Aufenthalt bei einem Kollegen in Colorado Springs empfohlen."
Jetzt riß Jess sehr erstaunt den Kopf hoch.
"Woher wissen Sie das?" fragte er verwundert, nicht ganz ohne Groll über Majors' anschließende Erklärung.
"Die halbe Stadt spricht davon. Sie wissen doch, Geheimnisse kennt man hier nicht. Aber, offen gestanden, ich habe es von Sheriff Cory erfahren, was mir, ehrlich gesagt, lieber ist, als so etwas über den Tratsch der Stadt zugetragen zu bekommen."
"Mort? Wie kommt …"
"Bitte regen Sie sich deshalb nicht auf und nehmen Sie es ihm auf keinen Fall übel. Er hatte einen triftigen Grund, mir das zu sagen. Und ich bin wirklich froh, daß er es getan hat."
Der Ärger über die Redseligkeit des Freundes, was seine persönlichen Belange betraf, legte sich bei Jess überraschend schnell. Anscheinend fehlte ihm heute völlig die nötige Energie für ausgedehnte Streitgespräche.
"Was soll's!" sagte er deshalb mit einem fast gleichgültig wirkenden Zucken seiner gesunden Schulter. "Ist letztendlich egal, woher Sie es haben. Dann können Sie sich sicher vorstellen, daß das eine Kleinigkeit kosten wird."
"Sehr gut sogar. Demzufolge nehme ich an, daß Sie mit mir über die Finanzierung dieser – nennen wir es einmal – Reise sprechen wollen."
"So ist es", nickte Jess in einer Art, die eher vermuten ließ, daß es sich hier um ein reines Finanzgeschäft anstatt um das Problem der Wiederherstellung seiner Gesundheit handelte. "Wie Sie wissen, verfüge ich nicht über genug flüssige Mittel, da das meiste auf dem Sperrkonto für Mike ruht, wo es auch bleiben soll. Ich weiß schließlich nicht, was einmal werden wird, und der Junge soll auf alle Fälle die Möglichkeit für eine solide Ausbildung erhalten. Deshalb habe ich mir gedacht, meinen Anteil an der Sherman-Ranch zu beleihen, was wahrscheinlich der einfachste Weg sein dürfte."
"Schon möglich, aber das kann ich nicht befürworten – unter keinen Umständen!"
Ein wenig verwirrt rieb sich Jess über die Stirn. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo und warum es da Schwierigkeiten geben sollte.
"Versteh' ich nicht. Die Ranch ist doch schuldenfrei."
"Eben deshalb. Meinen Sie nicht, daß sie dies auch bleiben sollte, solange es sich nicht um rancheigene Angelegenheiten handelt?"
Lincoln Majors bereitete es offenbar diebisches Vergnügen, Jess in seiner Ahnungslosigkeit umherirren zu lassen, während er in ruhigem, ja, väterlichem Ton mit ihm sprach.
"Ich kann Ihnen nicht verdenken, wenn Sie meinen, daß Colorado Springs eine schlechte Investition ist", mißdeutete er die Reaktion des Bankiers demzufolge auch völlig. Das verriet jedenfalls der unverkennbare Sarkasmus in seiner Stimme.
"Um Gottes willen, Jess! Wo denken Sie hin! Ich bin sogar der Meinung, daß dies eine sehr gute Investition ist, eine, die sich hoffentlich auf alle Fälle lohnt, nicht von der finanziellen Seite her gesehen, sondern ausschließlich von Ihrer – gesundheitlichen."
"Sagen Sie, Mr. Majors, kann es sein, daß Sie irgendeinen bestimmten Zweck mit Ihrem etwas verwirrenden Gerede verfolgen? Das hört sich an, als ob Sie eine Art Spiel mit mir trieben. Liege ich damit richtig?" wollte Jess auf einmal spitzfindig wissen, kniff die Augen zusammen und musterte ihn lauernd, nicht erbost, aber doch am Beginn von aufkommendem Ungehaltensein. "Ich will Ihnen den Spaß nicht verderben, aber für mich ist das eine verdammt ernste Geschichte. Das sollten Sie dabei auf keinen Fall vergessen."
"Aber das weiß ich doch. Es käme mir nie in den Sinn, es anders zu sehen", versicherte Majors ruhig und auch ernst, obwohl sein Gesicht eine offene Freundlichkeit widerspiegelte, die Jess nur noch mehr verwirrte. "Das sollten Sie eigentlich wissen."
"Dann sollten Sie besser endlich zur Sache kommen. Mir ist heute nicht nach solcherlei Wortspielen. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich damit sagen will."
"Besser, als Sie denken." Majors betrachtete ihn forschend, über viele Dinge nachsinnend. Den Eindruck, den er heute auf ihn machte, konnte er beinahe nicht beschreiben; er würde ihn als bemitleidenswert bezeichnen, was sein kränkliches äußeres Erscheinungsbild betraf, wenn er zum Vergleich das Bild heranzog, das er von Jess Harper aus besseren Zeiten in Erinnerung hatte, obwohl sich Jess wie immer die größte Mühe gab, sich von seinem momentanen Gebrechen so wenig wie möglich anmerken zu lassen. "Ich glaube, es ist jetzt doch angebracht, Ihnen reinen Wein einzuschenken, ehe Sie mir vielleicht an den Kragen springen, weil ich so lange um den heißen Brei herum rede."
Jess grinste, etwas versöhnlicher gestimmt.
"Das dürfte bei meiner augenblicklichen körperlichen Verfassung etwas schwierig werden. Trotzdem würde ich mir an Ihrer Stelle nicht trauen und mich vorsorglich in acht nehmen."
"Dann kann ich nur hoffen, daß das, was ich Ihnen sagen möchte, Ihr Temperament nicht doch außer Kontrolle geraten läßt." Auch Majors begann zu grinsen, griff nach dem Brieföffner, um verlegen damit herumzuspielen, während er sich schwer zurücklehnte, daß der wuchtige Ledersessel leicht nachwippte. "Wissen Sie, um noch einmal kurz auf diese Belohnung zurückzukommen … Nein!" hielt er ihn von einem Einwand ab, bereits als Jess anfing Luft zu holen. "Sagen Sie jetzt bitte nichts, ehe Sie mich nicht angehört haben! Also, um ehrlich zu sein, kann ich persönlich Ihrer Entscheidung nur zustimmen. Wahrscheinlich wäre ich sogar von Ihnen enttäuscht, wenn Sie die Prämie nicht so konsequent ablehnten. Sie haben recht, es ist und bleibt Kopfgeld und würde nicht zu Ihnen passen. Ich meine, wenn Sie es angenommen hätten, würde ich Sie deshalb gewiß nicht verurteilen oder gar meine Achtung vor Ihnen verlieren; aber so etwas könnte ich nicht so ohne weiteres mit dem Bild vereinbaren, das ich mir im Laufe der Jahre von Ihnen gemacht habe. Auf der anderen Seite jedoch bin ich der Meinung, daß man das, was Sie gerade einmal wieder – aus welchen Gründen auch immer – für unser aller Gemeinwohl getan haben, nicht einfach mit einem weiteren lapidaren Dankeschön abtun darf."
"Können Sie mir vielleicht einmal verraten, worauf Sie mit Ihrer feierlichen Ansprache hinauswollen? Oder wollen Sie mich mit Ihrer Lobeshymne nur in Verlegenheit bringen?"
"Weit gefehlt! Ich bitte mich zu entschuldigen, falls ich es getan haben sollte." Majors spielte unverwandt mit dem Brieföffner. "Nun ja, als Vorsitzender des Gemeinderates habe ich noch am Samstag eine außerordentliche Sitzung einberufen. Sämtliche Mitglieder des Komitees waren der Ansicht, daß es mittlerweile an Undankbarkeit, ja, Unverschämtheit grenzte, Ihre Verdienste um unsere Gemeinde wieder einmal nur mit schönen Worten zu honorieren. Ich möchte jetzt nicht sämtliche Fälle aufzählen, in denen wir Sie mit netten Sprüchen abspeisten, während Sie Ihr Leben für uns oder unsere Geschäfte einsetzten, obwohl Sie es genausogut hätten ablehnen können. Ich glaube, wir alle haben es uns oft sehr einfach gemacht, indem wir uns auf Sie und Ihr Verantwortungsbewußtsein Ihren Mitmenschen gegenüber verließen."
"Übertreiben Sie da nicht ein bißchen gewaltig?"
"Nein, Jess! Selbst oder gerade an diesem Freitag zum Beispiel … Sie haben Ihr Leben riskiert, um diesen Bankraub zu vereiteln. Sie haben nicht nur dem Sheriff das Leben gerettet und sehr tatkräftig mitgeholfen, drei gefährliche Verbrecher zur Strecke zu bringen, die sich bisher sehr geschickt jeder Polizeigewalt entziehen konnten, sondern haben uns alle, diese Stadt, ja, das ganze County vor einem Desaster bewahrt."
"Verdammt, wie oft soll ich das denn noch sagen, daß das reiner Zufall war und nicht allein mein Verdienst!"
"Zufall hin, Zufall her! Wenn Sie nicht eingegriffen hätten, könnte ich mich jetzt nicht mit Ihnen darüber unterhalten, weil ich mich wahrscheinlich noch am Freitag aus lauter Verzweiflung erhängt hätte."
"Sagen Sie, wovon reden Sie überhaupt?"
"Das will ich Ihnen sagen. Ich hätte diese Verantwortungslosigkeit den Bankkunden gegenüber nicht verkraftet. Dazu fühle ich mich zu sehr mit diesen Menschen verbunden, die mir und dieser Bank ihr Vertrauen schenken. Gegenüber solchen Dingen bin ich nicht abgebrüht genug, ob Sie das glauben oder nicht."
"Mr. Majors", atmete Jess zunehmend unwillig auf, "Sie schleichen jetzt schon eine ganze Weile wie eine Katze um den heißen Brei, ohne daß ich wüßte, worauf Sie eigentlich hinaus wollen. Außerdem fühle ich mich heute überhaupt nicht in der Verfassung, solche weitschweifigen Reden über mich ergehen zu lassen. Ich wollte eigentlich nur ein ganz simples Hypothekengeschäft mit Ihnen zur Finanzierung dieser Reise nach Colorado Springs abwickeln und keine Bilanz über irgendwelche angeblichen Verdienste aufstellen. Da ich annehme, daß mein Anteil an der Ranch wesentlich mehr wert ist, als ich für diesen Aufenthalt aufbringen muß, dürfte es wohl keine Schwierigkeiten geben. Lassen Sie uns dieses Geschäft endlich abschließen, bitte! Ihre feierliche Ansprache werde ich mir gern ein andermal anhören, wenn es mir vor allem gesundheitlich etwas besser geht."
"Aber darum handelt es sich doch gerade!"
"Mr. Majors, bitte!" drängte Jess ungehalten.
"Na schön, aber dann ist es nicht meine Schuld, wenn ich mit der Tür ins Haus falle." Der Bankdirektor hörte endlich auf, mit dem Brieföffner zu spielen. Statt dessen sah er sein Gegenüber mit feierlicher Miene an. "Als Vorsitzenden des Gemeinderates von Laramie hat man mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß die Stadtväter es als besondere Freude, ja, Ehre, empfänden, sämtliche Kosten, die im Zusammenhang mit Ihrem Genesungsaufenthalt in Colorado Springs anfallen werden, übernehmen zu dürfen. Wir alle sind der Meinung, daß dies nur ein Bruchteil dessen sein kann, was wir Ihnen mittlerweile schuldig sind."
"Sind Sie verrückt?" war Jess' Kommentar – der einzig richtige seiner Auffassung nach.
"Durchaus nicht! Wir alle sehen keine andere Möglichkeit, uns in angemessener Weise bei Ihnen für Ihre Verdienste erkenntlich zu zeigen. Wir können schließlich nicht immer nur mit beiden Händen nehmen. Ich, das heißt, wir alle würden uns sehr freuen, wenn Sie uns mit dieser Geste die Möglichkeit gäben, auch einmal etwas für Sie zu tun. Bitte sehen Sie das nicht als irgendwelche Abgeltung oder Bezahlung, sondern ganz einfach nur als Geschenk der Bürger dieser Stadt, die stolz darauf sind, einen anständigen Mann wie Sie in ihrer Mitte zu wissen. Ich kann Sie nicht dazu zwingen, dieses Geschenk anzunehmen, aber ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es täten. Das heißt, wenn Sie es nicht tun, werde ich dafür sorgen müssen, daß sich diese Hypothek, mit der Sie Ihren Ranchanteil belasten wollen, von alleine tilgt."
"Ich würde das als reine Erpressung bezeichnen", bemerkte Jess ärgerlich, mit solch unlauteren Methoden überrumpelt zu werden.
"Seien Sie doch nicht so streng mit mir!" Majors wagte ein versöhnendes Lächeln. "Sagen Sie mir lieber, daß Sie unser bescheidenes Geschenk annehmen wollen."
"Aber das kann ich nicht!"
"Und wieso nicht?"
"Weil …" Jess suchte angestrengt nach einer Begründung. "Weil …" Er machte eine hilflose Geste. "Verdammt, weil ich es halt nicht kann."
"Das ist für mich kein Argument. Sehen Sie, Jess, wenn wir Ihnen als Anerkennung eine goldene Uhr oder von mir aus Wertpapiere oder so etwas in der Richtung überreichen würden, fänden Sie das wahrscheinlich in Ordnung."
"Das fände ich genausowenig in Ordnung."
"Ach, kommen Sie! Es fehlt nur noch, daß Sie so etwas auch als Kopfgeld bezeichnen wollen, obwohl das – und das schwöre ich Ihnen! – nicht das geringste damit zu tun hat, weder etwas mit der Belohnung für diese drei Verbrecher noch mit dieser Geschichte vom Freitag."
"Sind Sie da wirklich sicher?"
"Ja, das bin ich! Es geht ganz einfach nur darum, daß die Bürger dieser Stadt endlich einmal etwas für Sie tun können, nachdem sie jahrelang nur von Ihrer freiwilligen Einsatzbereitschaft profitiert haben. Sicher, keiner von uns kann Ihnen helfen, Ihre Gesundheit wieder zu erlangen. Aber wir können – wir möchten! – Ihnen helfen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die es gibt. So eine schwere Verwundung hätten Sie sich genausogut bei einem Ihrer Einsätze auf Kellingtons Kutschen oder damals, vor zwei Jahren bei diesem versuchten Überfall auf genau diese Bank – erinnern Sie sich noch? – zuziehen können oder vielleicht sogar noch Schlimmeres. Wobei ich gestehen muß, daß mir der Querschläger, der Sie damals getroffen hat, schlimm genug erschien. Wahrscheinlich würde es Ihnen leichter fallen, dieses Präsent anzunehmen, wenn Sie dieser Unglücksschuß da nicht bei Ihnen zu Hause, sondern am Freitag bei dem Spektakel hier in der Stadt getroffen hätte."
"Würde es nicht!"
"Dann sehen Sie es von mir aus als etwas Negatives. Sehen Sie es als eine Art Beruhigung von schlechtem Gewissen der Leute hier, das sie gegenüber einem Mitbürger haben. Vielleicht ist es das sogar zum Teil. Was mich selbst angeht, trifft dies in gewisser Weise zu. Das gebe ich offen zu, auch auf die Gefahr hin, daß Sie deshalb einen Tobsuchtsanfall kriegen, was ich natürlich nicht hoffe. Außerdem – und das möchte ich ausdrücklich erwähnen – sollten Sie sich wegen dieser armseligen Aufmerksamkeit, die wir Ihnen da zuteil werden lassen möchten, zu keinerlei weiteren Verpflichtungen gezwungen sehen. Es soll wirklich nur eine bescheidene Entschädigung für all die kleinen und großen Gefälligkeiten sein, die Sie uns bereits erwiesen haben. Die einzige Gegenleistung, die wir uns alle für die Zukunft erhoffen, ist, daß Sie wieder gesund werden. Das wünschen wir uns nicht von Ihnen, sondern für Sie. Bitte, Jess, beschämen Sie uns nicht noch mehr und nehmen Sie unsere ehrlich gemeinte freundschaftliche Hilfe an. Wenn es für Sie wie eine Bezahlung aussieht, dann verzeihen Sie uns bitte unsere Plumpheit, aber es ist leider unsere einzige Möglichkeit, dieses schlechte Gewissen … Es würde uns mehr freuen, wenn Sie einverstanden sind, als wenn wir Ihnen diese Gefälligkeit aufzwingen müßten. Bitte, Jess, geben Sie uns diese Chance!"
"Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll", brachte Jess ziemlich ratlos heraus, sich unbeholfen den Scheitel kratzend.
"Einfach nur, daß Sie einverstanden sind, nichts weiter."
"Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen."
"Kommen Sie mir jetzt ja nicht mit Ihrer Prinzipienreiterei! Geschenke von Freunden sollte man annehmen und nicht kaputtreden."
"Sie wollen mir anscheinend überhaupt keine Wahl lassen."
Lincoln Majors schmunzelte süffisant, jedoch nicht überheblich.
"Ich kenne Sie, Jess, und weiß, glaube ich, mittlerweile ganz gut, wie man Sie am besten überreden kann. Man darf Ihnen keine Alternative offen lassen. Es ist wie ein Schachspiel. Man muß dem gegnerischen König seine Fluchtmöglichkeiten nehmen, um ihn mattzusetzen. Ich meine das weiß Gott nicht negativ. Nicht daß Sie denken, wir wollten Ihren Stolz verletzen. Im Gegenteil! Ich hoffe, das alles so vorgebracht zu haben, damit Sie diesen – sagen wir – Vorschlag akzeptieren können, ohne daß dies der Fall sein wird."
"Machen Sie es sich da nicht ein wenig zu einfach? Sie setzen mir die Pistole auf die Brust und überlassen mir die großzügige Entscheidung, ob Sie beim Abdrücken den linken oder den rechten Zeigefinger benutzen sollen."
"Ganz so schlimm ist es hoffentlich nicht."
"Haben Sie sich eigentlich auch überlegt, daß das sehr wahrscheinlich eine recht teure Angelegenheit werden kann ohne die geringste Garantie auf einen Gewinn? Dieser Spaß wird zweihundertfünfzig die Woche kosten und das auf unbestimmte Zeit. Keiner weiß, für wie lange."
"Selbst wenn es das Doppelte kostete, wäre dies kein Thema. Auch die Dauer spielt von der finanziellen Seite her keine Rolle. Einzig und allein Ihretwegen hoffe ich, daß es sich nicht allzu lange hinzieht. Ansonsten wird es keine zeitliche Einschränkung geben."
"Sie können reden, wie Sie wollen, ich finde das einfach nicht angemessen, nicht gerechtfertigt, durch nichts! Ob das nun allein auf Ihrem Mist gewachsen ist oder auf dem der Stadtväter von Laramie – es ist nicht richtig."
"Und wie wäre es Ihrer Meinung nach richtig?"
"Das wi…"
"Entschuldigen Sie, wenn ich Sie gleich unterbreche!" ließ Majors ihn erst gar nicht zu Wort kommen. "Sagen Sie jetzt bloß nicht, daß das alles Ihre Privatangelegenheit ist, die Sie alleine ausbaden müssen!"
"Ist es das denn nicht?"
"Reine Ansichtssache, sonst nichts! Daß wir darüber verschiedene Standpunkte vertreten, ist nichts Neues und demzufolge für mich kein erwähnenswertes Problem. Es liegt mir fern, Sie zu zwingen, die Dinge zu sehen, wie ich es tue."
"Trotzdem nageln Sie mich fest."
"Warum sind Sie nur so starrköpfig? Es kann doch nicht so schwer sein, solch ein Angebot von guten Freunden anzunehmen, völlig ohne Hintergedanken oder abhängige Verpflichtung. Kein Mensch käme auf die Idee, Sie deshalb irgendwann unter Druck zu setzen oder Ihnen etwas aufzwingen zu wollen."
"Bis auf diese Sache als solche."
"Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir uns dermaßen mißverstanden haben."
Jess atmete tief auf, bis sich seine Wunde bemerkbar machte. Wenn er ehrlich sein wollte, war er von dieser großzügigen Anteilnahme im wahrsten Sinne des Wortes überwältigt.
"Wissen Sie auch, daß Sie sehr unfair sind, mich derart zu überfallen und in die Enge zu treiben", beschwerte er sich in seiner Hilflosigkeit angesichts Lincoln Majors' handfester Argumente.
"Aber das bin ich doch gar nicht. Ich … wir wollen uns lediglich für Ihre ungezählten Meriten revanchieren. Das ist alles." Auf dem runden Gesicht des Bankdirektors breitete sich ein wohlgefälliges Lächeln aus, das sehr rasch zu einem warmherzig väterlichen Ausdruck wechselte. "Im übrigen interpretiere ich diese Bemerkung dahingehend, daß wir uns einig sind."
"Sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen."
"Ich denke, das habe ich auch nicht getan."
"Müssen unsere ehrenwerten Stadtväter eigentlich immer ihren Kopf durchsetzen?" kam die Beschwerdefrage eines kapitulierenden Mannes, der sich nicht einmal mehr über sich selbst wunderte, daß er so schnell aufgab.
"Nicht immer, aber wenn es zum Wohl von verdienten Mitbürgern ist, auf jeden Fall."
"Verdiente Mitbürger!" wiederholte Jess, ohne eine gewisse Abfälligkeit verbergen zu wollen. "Sie sollten nicht so maßlos übertreiben."
"Keine falsche Bescheidenheit, mein Lieber! Bei der Armee hätte man Sie längst mit Orden überhäuft."
"Zum Glück sind wir nicht in der Armee. Ich frage mich, was Sie tun würden, wenn mir dieser schießwütige Verrückte keine blaue Bohne zwischen die Rippen gejagt hätte."
"Dann hätten wir etwas anderes gefunden, was uns vielleicht eine längere Diskussion gekostet hätte, uns jedoch, offen gestanden, Ihretwillen angenehmer gewesen wäre. So gern wir diese Entscheidung getroffen haben, so wenig soll sie darüber hinwegtäuschen, daß wir uns alle wünschen, dieses Problem da", Majors nickte in Richtung Jess' linker Schulter, "gäbe es überhaupt nicht. Ich kann nur hoffen, daß … Jess, Sie müssen wieder gesund werden! Wir wollen Sie auf keinen Fall verlieren – hören Sie? – auf keinen Fall! Nicht wegen dieses hinterhältigen Amokschützen und auch nicht jemand anderes wegen!" betonte er sehr eindringlich.
"Vielen Dank, aber leider hängt das nicht von mir ab."
"Ich weiß, trotzdem hilft es Ihnen vielleicht ein wenig, wenn Sie wissen, was wir alle für Sie empfinden. Wahrscheinlich mußten Sie oft genug den Eindruck von uns gewinnen, daß wir nur gefühlskalte Geschäftsmänner sind, die Sie und Ihr ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein vortrefflich auszunutzen verstehen. Sicher hat das für den einen oder anderen das eine oder andere Mal zugetroffen. Nichtsdestotrotz möchten wir Ihnen nun beweisen, daß wir für Sie da sein können, wenn Sie uns brauchen. Natürlich können Sie jetzt behaupten, daß Sie uns auch jetzt nicht brauchen, gar nicht brauchen können, denn erstens ist das alles im Grunde genommen Ihr ureigenes Problem, zweitens könnten Sie diese Reise genausogut selbst finanzieren, und drittens können wir Ihnen eigentlich überhaupt nicht helfen, was Ihre gesundheitlichen Belange betrifft. Nun gut, sicherlich hätten Sie recht mit solchen Einwänden. Aber auf der anderen Seite konnte ich Ihnen mit meiner – nennen wir es einmal – Ansprache zeigen, daß Sie uns doch mehr bedeuten als ein kurzangebundenes Dankeschön mit dem geschäftstüchtigen Hintergedanken, beim nächsten Mal wieder auf Sie zählen zu können. Jess, Sie sind ein Bürger unserer Stadt, und wir sind sehr froh, Sie zu unserer Gemeinschaft zählen zu dürfen. Was früher vielleicht einmal war, interessiert hier keinen Menschen mehr. Nur was jetzt ist, ist wichtig. So wie Sie für uns da sind, wenn es darum geht, unsere Geschäftsinteressen oder gar unser Leben zu verteidigen, oftmals unter Einsatz Ihres eigenen Lebens sogar, so möchten wir jetzt für Sie da sein. Ich weiß nicht, ob ich mich da klar verständlich machen kann. Es handelt sich dabei nicht in erster Linie um die Übernahme dieser Kosten, für die Sie auch selber aufkommen könnten. Nein, was ich meine, ist diese Geste als solche. Sie sind einer von uns, und wir wünschen uns alle, daß Sie bald wieder nach Hause zurückkehren, als gesunder Mann. Außerdem sollen Sie wissen, daß wir immer hinter Ihnen stehen werden, egal, was noch auf Sie zukommen mag. Dieses letzte möchte ich Ihnen nur vorsorglich sagen, falls Sie diese moralische Unterstützung einmal benötigen sollten und ich vorher nicht die Gelegenheit habe, es ausdrücklich zu erwähnen."
Lincoln Majors, der beinahe wie vor versammeltem Podium während einer Gemeinderatssitzung sprach, hatte seinen beeindruckenden Monolog schon lange beendet, als Jess immer noch schwieg, von soviel Anteilnahme und anerkennender Hochachtung, was seine Person betraf, offensichtlich völlig erschlagen. Im ersten Moment war er so verlegen, daß er kein Wort herausbrachte, gar nicht wußte, was er überhaupt sagen könnte. Er saß nur stumm da und fühlte sich ausgesprochen unbehaglich in seiner Haut. Derart im Brennpunkt der hiesigen Kommunalpolitik zu stehen, mochte er nicht im geringsten leiden. Wenn er zudem die Gründe für dieses Theater berücksichtigte, steigerte dies in keiner Weise sein Wohlbefinden.
Offen gestanden, dann war ihm ein lapidares Dankeschön doch lieber. Damit abgespeist zu werden, war seiner Meinung nach nicht so schlimm, als so viele Worte des Lobes und der Beweihräucherung ertragen zu müssen. Jetzt fragte er sich sogar, ob es nicht einfacher gewesen wäre, diese ausgesetzte Belohnung zu kassieren. Kopfgeld hin, Kopfgeld her! Wenigstens wäre damit die Sache erledigt, zumindest was diese Reinwaschung von Abgeordnetengewissen betraf. Früher oder später wäre er mit etwas Mühe und gutem Willen sicherlich mit sich selbst ins reine gekommen hinsichtlich der Definition "Kopfgeld". Statt dessen hatte er eine wahre Flut von teilnehmendem Zuspruch und Engagement ausgelöst, die ihn schlichtweg überrollte. Auf so etwas war er nicht vorbereitet.
"Was ist? Sie sind ja so schweigsam", wollte Majors ihn aus der Reserve locken.
"Tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll."
"Sie wollen mir doch hoffentlich nicht erzählen, daß Ihnen meine dürftige Anerkennungsrede die Sprache verschlagen hat."
"Ein wenig schon. Ich bin nicht der Typ Mensch, der sich in so etwas räkeln muß."
"Ich weiß." Majors lächelte sehr verständnisvoll und auch entschuldigend. "Ich wollte Sie mit meinen Worten gewiß nicht in Verlegenheit bringen, sondern einfach nur sagen, was unbedingt einmal gesagt werden mußte. Vielleicht, das heißt, ich hoffe, das war eine verhältnismäßig gute Gelegenheit, es zu tun."
"Tja", atmete Jess ein wenig hilflos auf und rieb sich in unbeholfener Betretenheit mit der flachen Hand den Nacken, "da Sie mir ja keinerlei Wahlmöglichkeit offen lassen, bleibt mir wohl nur zu sagen, daß ich Ihnen und unserer Stadt zu großem Dank verpflichtet bin für soviel Großzügigkeit und Anerkennung. Mehr fällt mir dazu wirklich nicht ein, außer daß es mir nicht recht ist, was Sie da über meinen Kopf hinweg beschlossen haben. Ich fühle mich wirklich geehrt, na ja, ich meine … ach, verdammt! Ich bin mit solchen Dingen reichlich ungeschickt und tu' mir schwer, die passenden Worte zu finden. Bin halt kein Stadtrat."
"Ich habe Sie trotzdem verstanden. Und ich bin der Meinung, Sie haben das richtig genug gesagt. Wenigstens kann ich das Richtige daraus schließen."
"Aber Sie verlangen hoffentlich nicht von mir, daß ich vor versammeltem Komitee im Gemeindesaal eine Dankesrede halte. Lieber streite ich mich mit Ihnen noch ein paar Stunden lang über Sinn oder Unsinn dieser freundschaftlichen Zuwendung."
"Keine Angst, wenn es Ihnen lieber ist, werde ich das gern in Ihrem Namen übernehmen."
"Solange ich es mir nicht anhören muß …"
"Ich kann Sie dazu nicht zwingen."
"Na, wunderbar! Wenigstens etwas!" atmete Jess erleichtert auf. Daß er so schnell nachgegeben hatte, konnte er nicht begreifen. Sollten sich seine stark reduzierten körperlichen Kräfte auch auf seine geistige Widerstandsfähigkeit auswirken? Sein rasches Nachgeben erweckte bei ihm jedenfalls den Eindruck und ließ mehr und mehr keine andere Schlußfolgerung zu.
"Soll ich Ihnen etwas sagen?" schmunzelte Majors hinter seinem Schreibtisch; er machte mit einem Mal einen sehr gelösten Eindruck. "Ich hatte vor diesem Gespräch eine Heidenangst, gerade weil ich Sie so gut kenne. Jetzt, da wir uns einig sind, kann ich dies ja getrost zugeben. Ich bin wirklich froh, daß ich Sie so schnell gewinnen konnte für unser Vorhaben."
"Was aber nicht heißen soll, daß ich bedingungslos davon überzeugt bin. Ein wenig waren Sie auch im Vorteil, das sollten Sie nicht übersehen. Im Moment fühle ich mich nämlich überhaupt nicht dazu in der Lage, mich mit Ihnen oder jemand anderem über irgend etwas lange herumzustreiten."
"Tut mir leid, aber es war alles andere als meine Absicht, Ihre Schwäche auszunutzen. Sie sind mir deshalb hoffentlich nicht böse."
"Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich habe im Augenblick wirklich andere Probleme. Nein, vielen Dank!" wehrte Jess im gleichen Atemzug ab, weil Majors schon in fürsorglicher Anteilnahme sich erkundigen wollte, ob er etwas für ihn tun könnte. "Dabei können Sie mir leider nicht helfen – wirklich nicht!"
"Sind Sie sicher?"
Jess nickte nur mit soviel unumstößlichem Nachdruck, der dem wohlgenährten Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches nachhaltig den Mut für jede weitere Frage in dieser Beziehung nahm.
"Wann geht die Reise denn los?"
"Freitag morgen. Ich werde den Vormittagszug nehmen."
"Nun gut, ich nehme an, daß ich die finanzielle Seite am besten mit Doc Higgins kläre. Er hat ja wohl den geeigneten Kontakt. Wie gesagt, Jess, ich möchte, daß Sie sich in der Beziehung um rein gar nichts kümmern müssen. Sollte es irgendwelche Probleme oder Fragen geben, lassen Sie es mich bitte umgehend wissen. Schicken Sie mir eine telegrafische Depesche oder sonst eine Nachricht. Versprochen? Aber ich denke schon, daß alles Weitere in Ordnung gehen wird und keine Schwierigkeiten auftauchen dürften."
"Wenn ein Mann wie Sie sich so großzügig um alles kümmern will, denke ich das auch. – Hm", machte Jess und warf einen nachdenklichen Blick in Richtung des nicht geschlossenen Tresors, den er durch die offenstehende Tür zum Nebenraum erkennen konnte und in dessen Fächern eine akkurate Ordnung herrschte, "haben Sie denn inzwischen eine Lösung für Ihr Problem da drin gefunden?" wollte er wissen, womit er das Gespräch ein wenig von sich abzulenken versuchte. "Ich meine, selbst nach diesem Spektakel vom Freitag ist es schließlich nicht aus der Welt geschafft. Jetzt wird sich doch nur noch schneller herumsprechen, daß es hier eine Menge Zaster zu holen gibt."
"Ja, ich weiß." Majors atmete seufzend auf. "Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie schwer mir das im Magen liegt."
"Ich will ja nichts sagen, aber sollten Sie vielleicht nicht besser die Tür geschlossen halten, wenn gerade niemand dran muß? Ehrlich gesagt, wenn ich die Verantwortung für soviel Geld hätte, das mir nicht gehört, würden mich diese offenen Türen nervös machen."
"Ich kann mir Sie gar nicht nervös vorstellen."
"Haben Sie eine Ahnung! Diese Aussicht hier macht mich sogar jetzt nervös, obwohl es mir im Grunde egal sein könnte."
"Sie werden es nicht glauben, aber seit neuestem geht es mir genauso", gab Majors zu, daß Jess ihn überrascht anstarrte. "Das Problem ist das Zeitschloß. Es öffnet sich nur zu bestimmten Zeiten. Da sich nur zwei pro vierundzwanzig Stunden einstellen lassen, bleibt mir leider nichts anderes übrig, als das Ding während der Geschäftszeiten unverschlossen zu halten. Was auf der einen Seite eine wünschenswerte Sicherheitseinrichtung ist, erweist sich auf der anderen Seite als hemmend für den normalen Geschäftsbetrieb. Ich habe mit der Herstellerfirma wegen Behebung dieses Problems gesprochen. Man will sich darum kümmern."
"Das sind ja sehr beruhigende Aussichten."
"Ach, wissen Sie, ich versuche, damit zu leben. Ein Schloß, das nicht an die Zeit gekoppelt ist, ist leichter zu öffnen. Wenn jemand den Tresor ausheben will und mich mit vorgehaltener Waffe zwingt, ihn zu öffnen, ist das auch nicht sicherer. So habe ich wenigstens die Möglichkeit, den Safe vorher zu schließen, falls ich genug Zeit habe, um entsprechend zu reagieren."
"… und nicht so wie am Freitag, was?"
"Hören Sie bloß auf! Wenn ich daran denke! Wir wollten gerade die Konten abschließen und die Kasse prüfen, als diese zwei Kerle wie eine Kanonenkugel durch den Seiteneingang gestürzt sind."
"War der denn nicht verschlossen?"
"Ordnungsgemäß. Aber die Tür ist nicht durch Gitter verstärkt. Wenn sich zwei ausgewachsene Männer gleichzeitig dagegen stemmen, ist sie wohl nicht stabil genug."
"Dann ist das aber eine sehr gefährliche Schwachstelle."
"Wem sagen Sie das! So gesehen ist dieses ganze Gebäude eine Schwachstelle. Ich dürfte das gar nicht sagen, aber Ihnen kann ich ja Gott sei Dank vertrauen. Was denken Sie, weshalb sonst die Versicherung die Summe für den Schadensfall nicht erhöhen will? Auf der anderen Seite sind auch schon Banken überfallen und ausgeraubt worden, die sicherer und solider konstruiert sind als dieses Gebäude – einige mehrmals sogar."
"Das stimmt allerdings."
"Im übrigen sollten wir nicht außer acht lassen, daß dies erst der zweite richtige Überfall auf diese Bank seit ihrem zehnjährigen Bestehen ist. Bei beiden waren Sie übrigens nicht unerheblich an der Vereitelung beteiligt, fällt mir ein."
"Ja, und beide Male war es reiner Zufall, vergessen Sie das nicht!"
"Zufall hin, Zufall her! Für die Bank und ihre Kunden kann dieses Kuriosum jedenfalls nur ein positives Phänomen sein und auf alle Fälle besser als jede Versicherung. Hinzu kommt, daß wir hier einen sehr fähigen Sheriff haben."
"Gut, daß Sie das erwähnen, denn meiner Meinung nach ist das der entscheidende Punkt und nicht, daß ich da jedesmal ganz unbeabsichtigt mit hineingeschlittert bin. Oder was denken Sie, weshalb wir hier von solchen Dingen relativ verschont bleiben?"
"Dem kann ich nur beipflichten, obwohl gerade Ihre Anwesenheit in beiden Fällen von ausschlaggebender Bedeutung war. Sie brauchen sich wirklich keine weitere Mühe zu geben, das herunterzuspielen. Mort Cory hat mir davon berichtet, wie Sie am Freitag trotz Ihrer schweren Verwundung souverän die Lage beherrschten, besser als er und allemal besser, als es einer seiner Deputies oder irgendein anderer hätte tun können. Wenn ich mir das recht überlege, vergeuden Sie ein wertvolles Potential, indem Sie Ihren Lebensunterhalt als Rancher verdienen. Wissen Sie das?"
"Ich fürchte fast, Sie machen sich jetzt lustig über mich."
"Gott bewahre! So etwas fiele mir noch nicht einmal im Traum ein." Majors beugte sich eifrig nach vorn, den schweren Körper mit den Ellbogen auf die Schreibtischplatte gestützt. Wenn er es jetzt schaffte, diesen Mann zu überzeugen, konnte er ihn für seine geheimsten Wünsche gewinnen. Der Augenblick, ihn in seine Pläne einzubeziehen, war selten günstiger – dachte er. "Jess, Männer wie Sie gibt es nicht sehr viele. Könnten Sie sich denn nicht vorstellen, in die Dienste dieser Bankgesellschaft zu treten – als oberster Sicherheitsbeauftragter. Ich könnte Ihnen zu einer wahren Bilderbuchkarriere verhelfen."
"Sie machen wohl Witze!"
"Es war mir selten so ernst. Sie wären genau der Richtige für die Koordination von Sicherheitseinsätzen. Glauben Sie mir! Und das wäre gewiß nicht gefährlicher als Rancharbeit. Ein Mann mit Ihren Fähigkeiten …"
"Mr. Majors", fiel Jess ihm ein wenig ungehalten in die Rede, nicht laut, aber dafür sehr bestimmt seine Worte betonend, "diese Fähigkeiten, die Sie mir da andichten wollen, habe ich gewiß nicht. Im Grunde bin ich nichts weiter als ein durch Zeit und Umstände einigermaßen zivilisierter, weil gereifter, renitenter Dickschädel, dem seine Eigensinnigkeit und die Tatsache, daß er fix mit dem Schießeisen umgehen kann, schon manchen Ärger einbrachte."
"Bei aller Bescheidenheit – verwechseln Sie da nicht den Jess Harper von früher mit dem anständigen, hochangesehenen Mann von heute?"
"Mag sein, deshalb werden trotzdem beide immer ein und dieselbe Person bleiben. Sie können sie nicht trennen."
"Ich habe nicht die Absicht. Ich wollte doch nur …"
"Mr. Majors, es hat keinen Sinn, daß wir uns darüber weiter unterhalten. Ich danke Ihnen für die Hochschätzung, die Sie mir da entgegenbringen und für Ihr überaus verlockendes und gutgemeintes Angebot. Ich fühle mich wirklich außerordentlich geschmeichelt. Trotzdem werde ich bleiben, was ich bin, und weiterhin meinen Lebensunterhalt mit schweißtreibender Rancharbeit verdienen, sofern mich das hier", er deutete nebensächlich mit dem Daumen auf seine Brust, "nicht zu etwas anderem zwingt. Aber Sie sollten sich schleunigst aus dem Kopf schlagen, daß ich mit Hilfe meines Schießeisens auch nur einen müden Dollar verdienen werde, selbst auf die Gefahr hin, in Zukunft nichts anderes als meine Kanone gebrauchen zu können. Ich bin kein Revolvermann, weder im positiven noch im negativen Sinn!"
"Himmel, es würde mir nie im Leben einfallen, Sie so zu sehen. Von Ihnen möchte ich sogar behaupten, daß Ihr Durchsetzungsvermögen stark genug ist, um sich auch ohne Waffe den nötigen Respekt zu verschaffen. Gerade diese Fähigkeit ist es doch, die ich an Ihnen bewundre und die ich auf sinnvolle Weise fördern möchte. Sie stellen sich nicht vor, welch imposante Ausstrahlung Sie auf Ihre Mitmenschen ausüben. Ihre energische Konsequenz, Ihre erhabene Ruhe und Gelassenheit fasziniert nicht nur mich, sondern jeden, der es mit Ihnen zu tun hat. Das hat weder etwas mit körperlicher Stärke noch Ihrer treffsicheren Schnelligkeit mit dem Schießeisen zu tun, sondern mit Ihrer geradlinigen Persönlichkeit. Selbst jetzt, da Sie sehr krank und nicht im Vollbesitz Ihrer körperlichen Kräfte sind, wirken Sie auf mich wie ein Fels in der Brandung, der durch nichts zu erschüttern ist."
"Allmählich kriege ich das Gefühl, daß Sie mich mit Gewalt auf die Palme bringen wollen, nur um zu sehen, wie lange sich dieser Fels in der Brandung souverän beherrschen kann", bediente sich Jess seiner Worte. Seine Ironie bewegte sich scharf an der Grenze zum Sarkasmus.
"Weit gefehlt! Alles, was ich will, ist, Sie davon zu überzeugen, daß Sie ganz andere Möglichkeiten hätten, als ständig in der Gefahr zu leben, sich bei Ihrer Arbeit auf der Ranch das Genick zu brechen."
"Sicher. Wenn es nach Ihnen und übrigens auch Arthur Kellington ginge, könnte ich mich fortan als Zielscheibe verdingen in der Hoffnung, daß die anderen immer die schlechteren Schützen sind. Ob Sie es glauben oder nicht, aber dann breche ich mir bei der Rancharbeit lieber das Genick. Die Wahrscheinlichkeit, daß das geschieht, dürfte wesentlich geringer sein, als bei diesem anderen Broterwerb auf der Strecke zu bleiben. Mr. Majors, ich bin nicht der, für den Sie mich halten, und ich möchte es auch gar nicht sein, glauben Sie mir!" meinte Jess ausdrücklich betonen zu müssen.
"Sie werden lachen, aber je mehr Sie das hervorheben, desto mehr verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß Sie das nur so rigoros abwehren, weil Sie genau wissen, daß ich recht habe."
"Haben Sie nicht! Aber selbst wenn, scheinen Sie etwas Wesentliches zu vergessen: ich habe einen zehnjährigen Jungen, um den ich mich kümmern muß. Daran mußte ich Sie schon das letzte Mal, als ich hier war, erinnern. Schon allein seinetwegen käme so etwas, was Ihnen vorschwebt, nicht in Frage. Im übrigen sollten wir dieses Thema ganz schnell fallenlassen, ehe Sie mich vielleicht zu Worten reizen, die mir hinterher gewiß leid täten."
"Womit es unentschieden stehen dürfte."
"Wie bitte?"
"Nichts für ungut, Jess! Vergessen Sie es einfach. Aber sollten Sie so etwas irgendwann einmal in Erwägung ziehen, denken Sie bitte an mich!"
"Das wird bestimmt nicht passieren. Außerdem sollten Sie sich vielleicht besser Gedanken darüber machen, wie Sie das Problem Ihres übervollen Tresors lösen, anstatt mir hier solche fragwürdigen Vorschläge zu unterbreiten", lenkte Jess endgültig von sich ab – zumindest hoffte er, daß ihm dies endlich gelang. "Der vereitelte Bankraub und die Tatsache, daß drei Halsabschneider weniger unter den Lebenden weilen, hat die Notwendigkeit einer raschen Behebung dieses Problems schließlich nicht aus der Welt geschafft."
"Ich weiß, ich weiß!" Majors hatte den Wink mit dem Zaunpfahl zum Glück verstanden und ging sofort darauf ein. Es lag ihm fern, den Bogen zu überspannen. Er hatte genug Süßholz geraspelt, obwohl er genau wußte, daß er damit bei Jess wenig Übereinstimmung fände. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als in diesem Punkt zu kapitulieren. Klugerweise tat er dies kommentarlos. "Ich kann nur hoffen", meinte er, "daß dieser mißglückte Überfall vom Freitag für eine Weile wie eine Art Abschreckung wirkt, wenigstens so lange, bis diese Schwierigkeit als solche nicht mehr relevant ist."
"Von alleine wird sie sich aber nicht erledigen."
"Das gewiß nicht. Aber einen potentiellen Bankräuber stimmt es hoffentlich etwas nachdenklich, wenn er weiß, daß in unserer Stadt Gesetz und Ordnung herrschen und mit Leuten seines Schlages nicht langes Federlesen gemacht wird. Deshalb gehe ich davon aus, daß diese Geschichte vom Freitag nicht vermehrt solche Leute anziehen, sondern eher abschrecken wird. Zumindest wird sich der eine oder andere reiflich überlegen, ob es das Risiko wert ist."
"Allzu sehr würde ich an Ihrer Stelle nicht darauf pochen. Man hat schließlich schon Banken überfallen, in denen es weitaus weniger zu holen gab. Sie sollten diese Möglichkeit der Einschüchterung nicht überbewerten."
"Ja, ich weiß. Ich werde es auch nicht tun. Aber es verschafft mir ein wenig Freiraum, mir etwas Anständiges auszudenken. Da ich mit Arthur Kellingtons Hilfe kaum rechnen kann und Sie selbstverständlich erst recht nicht in Frage kommen, ist es schließlich ganz gut, sich dieses Abschreckungsfaktors zu bedienen – auch auf die Gefahr hin, daß er nur in meiner Einbildung existiert. Aber es beruhigt mich ungemein – komischerweise."
"Sie haben Nerven!" mußte Jess zugeben, halb bewundernd, halb mißbilligend.
"Ich tu' nur so als ob, sonst könnte ich nachts nicht mehr schlafen", grinste Majors in würgendem Galgenhumor. "Trotzdem möchte ich nicht, daß Sie sich darüber den Kopf zerbrechen. Sie haben mir in dieser Angelegenheit schon genug beigestanden und auch geholfen. Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie jetzt andere Dinge beschäftigen. Sie sollten weder über diese Bank noch über den überlaufenden Tresor nachgrübeln, sondern zuallererst einmal an sich selbst denken und daran, wie Sie auf dem schnellsten Weg wieder ganz der alte werden."
Jess zog mißtrauisch die Brauen hoch. Ein prüfender Blick in die wasserhellen Augen des Geschäftsmannes verriet ihm jedoch, daß er es in aufrichtiger Teilnahme meinte und nicht nur aus reiner Verlegenheit, weil er nicht wußte, was er sonst sagen sollte. Dementsprechend fiel seine Reaktion darauf aus.
"Na ja, Sie wissen ja, versprechen kann ich nichts, aber ich werde mich bemühen, mein möglichstes zu tun – keine Frage! Aber – wenn ich das mit Ihren Worten so sagen darf – darüber sollten wiederum Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Das würde zu nichts führen, außer daß Sie sich selbst von Ihren eigenen Problemen zu sehr ablenkten."
"Vielleicht will ich das gerade damit erreichen. Manchmal kann es sehr nützlich sein, wenn man ständig vor Augen hat, daß es Leute gibt, die ganz andere Probleme haben als man selbst. Es ist zwar nicht gerade tröstlich, aber es gaukelt einem ermutigende Lichtblicke vor. Sehr förderlich für die Nachtruhe!"
"Eine etwas merkwürdige Therapie, finden Sie nicht?"
"Besser, wenn ich mich dazu nicht weiter äußere. Irgendwie werde ich diese Unannehmlichkeit vom Tisch kriegen. Machen Sie sich darüber keine Sorgen."
"Keine Angst, hatte ich auch nicht vor. Nur, was sagen Ihre Kunden dazu? Sind die denn nicht beunruhigt darüber, daß sozusagen jeder zweite Dollar, den sie bei Ihnen auf der hohen Kante haben, nicht versichert und bevorzugte Jagdbeute von finsterem Gelichter ist?"
"Gott sei Dank nicht! Jedenfalls mußte ich noch nichts dergleichen feststellen."
"Hm, das zeugt ja von erheblichem Vertrauen."
"Ja." Majors lächelte mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es war ihm anzusehen, daß er sich bei dieser Feststellung nicht bedingungslos wohl fühlte. "Ich kann nur hoffen, daß ich keinen von ihnen enttäusche. Außerdem – Sie haben Ihr Geld schließlich auch hier."
"Soviel ist das ja nicht gerade." Jess kratzte sich, verschmitzt grinsend, am Ohr. "Zudem denke ich schon, daß es in Ihrem Geldschrank besser aufgehoben ist als unter meiner Matratze oder in dem altersschwachen Safe im Arbeitszimmer der Ranch, den man zur Not sogar unter den Arm packen kann."
"Dann sollten Sie schleunigst für Ersatz sorgen."
"Unsinn!" winkte Jess schmunzelnd ab. "Slim liebt dieses Erbstück heiß und innig. Soll mir recht sein. Ich habe sowieso nichts zum Hineintun. Steht mehr zur Dekoration herum, als daß es etwas nützt. Ich habe schon den Vorschlag gemacht, daß es Mrs. Cooper für das Haushaltsgeld benutzen könnte." Das Grinsen auf Jess' Gesicht wurde noch einmal so breit. "Sie hat dankend abgelehnt, weil sie der Meinung ist, das Haushaltsgeld wäre sicherer, wenn sie es weiterhin in der leeren Keksdose in der Küche aufbewahrt als in diesem verrosteten Ding."
Ein vergnügtes Lachen platzte aus Lincoln Majors. Anscheinend war er darüber erleichtert, daß das Gespräch nun etwas aufgelockerter verlief. Er mochte diesen trockenen Humor seines Gegenübers und hatte ihn schon beinahe vermißt.
"Entschuldigen Sie", japste er, "aber das war wirklich gut! Nach unserem ernsten Gespräch läuft mir das runter wie Balsam."
"Nun, ich mag durch das ganze Theater vielleicht etwas wunderlich geworden sein, aber so verschroben, daß ich nur noch Trübsal blasen kann, bin ich Gott sei Dank doch nicht. Es fällt mir halt nur nicht so leicht wie früher, ein lockeres Wort vorzubringen."
"Wobei ich jedoch fest hoffe, daß Ihr liebenswürdiger Humor nicht verlorengeht und spätestens mit Ihrer völligen Genesung zurückkehren wird."
"Das hoffe ich auch."
"Nun denn!" Wie auf ein geheimes Kommando erhoben sich die beiden Männer, und Lincoln Majors werkelte seinen üppigen Körper hinter seinem Schreibtisch hervor. "Dann bleibt dazu ja nicht mehr viel zu sagen, außer daß Sie schon allein deshalb schnell gesund werden müssen. Ich hoffe für uns alle, daß Ihr Aufenthalt in Colorado Springs ein voller Erfolg wird. Ganz besonders wünsche ich es jedoch für Sie selbst."
"Danke, es wird schon irgendwie schiefgehen. Und ich muß Ihnen nochmals danken für alles, was Sie für mich tun wollen."
"Nein, Jess, ich habe Ihnen zu danken", widersprach Majors, legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Rücken und verließ mit ihm sein Büro. "… ich und all die kleinen und großen Kunden dieser Bank. Außerdem danke ich Ihnen, daß Sie mir und den Vertretern dieser Gemeinde die Freude machen, unser bescheidenes Präsent anzunehmen. Es bedeutet uns wirklich sehr viel, glauben Sie mir!" mußte er unbedingt noch einmal betonen, weil er der Meinung war, dies nicht oft genug getan zu haben.
Im Schalterraum wurden sie von einem dienstbeflissenen Kassierer empfangen, der gerade einen Kunden, der ein größeres Anlagengeschäft tätigen wollte und hierzu einen Termin vereinbart hatte, um etwas Geduld bat.
"Mr. Majors, Ethan Jordan ist hier. Sie hatten mit ihm …", wollte der Kassierer erinnern.
"Ja, ich weiß. Wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden wollen", wandte er sich an den schmächtigen Mann, der wie ein Vertreter aussah und die zwei ungleichen Männer, die da aus den hinteren Räumen nach vorn traten, argwöhnisch musterte. Nach der allgemeinen Höflichkeitsfloskel kehrte sich Majors wieder um und widmete seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem Mann von der Sherman-Ranch. "Tja, dann bleibt mir ja nicht mehr viel zu sagen, mein Junge." Er ergriff seine Rechte mit beiden Händen. "Für den Fall, daß wir uns vor Ihrer Abreise nicht mehr sehen sollten, möchte ich Ihnen alles Gute wünschen, eine angenehme Reise und vor allem einen erfolgreichen Aufenthalt. Und, wie gesagt, wenn noch irgend etwas unklar sein sollte, lassen Sie es mich wissen."
"Vielen Dank, Mr. Majors, für alles."
"Ich danke Ihnen! Bitte, kommen Sie bald wieder zurück, Jess! Vor allen Dingen gesund!" sagte er, während er ihn zur Tür begleitete. "Passen Sie gut auf sich auf!"
"Keine Sorge!" Sie tauschten noch einmal einen herzlichen Händedruck zum Abschied. "Auf Wiedersehen, Mr. Majors! Ich hoffe, daß es eines geben wird."
"Mit Sicherheit! Auf Wiedersehen, Jess! Halten Sie die Ohren steif!"
"Sie auch! – Leben Sie wohl!"
Mit diesen Worten verabschiedete er sich endgültig von Lincoln Majors, der zu spät den merkwürdigen Unterton in seiner Stimme registrierte. Jess hatte schon halb die Straße überquert, als die Zweideutigkeit seiner Worte endlich das Bewußtsein des beleibten Bankdirektors erreichte. Gleich darauf ertappte sich dieser dabei, wie er betroffen den Kopf schüttelte, ehe er, in tiefe Gedanken versunken, ins Innere der Bank zurückkehrte, um sich Ethan Jordan und seinen Belangen zu widmen, wobei ihm allerdings ein Jess Harper nicht aus dem Sinn ging.
Fortsetzung folgt
