KAPITEL 31

Am Freitagmorgen nach einer so gut wie schlaflosen Nacht und einem zeitigen Frühstück hieß es für Jess Harper Abschied nehmen. Ihm fiel es nicht minder schwer als seinem Schützling oder Daisy Cooper.

Jetzt saß er, völlig abgekämpft von der ruhelosen Nacht, in der ihn ein Hustenanfall nach dem anderen gequält und den Schmerzpegel andauernd so hoch gehalten hatte wie schon lange nicht mehr, auf dem unbequemen, schlecht gefederten Ranchwagen, keinerlei Vorstellung davon, wie er diese anstrengende Reise überstehen sollte. Zudem beschäftigte ihn der Abschied von seinem Pflegesohn mehr, als er zunächst angenommen hatte oder gar zugeben wollte. Darüber hinaus gab es noch soviel, was er seiner Meinung nach Slim Sherman sagen müßte, aber er wußte nicht, wo er anfangen sollte. Also saß er einfach da und schwieg sich aus, ein Gefangener seiner eigenen düsteren Gedanken, mit einem entsetzlichen Brennen unter seinem Verband, das bei jedem Holpern des Wagens zu einem Feuerstoß anschwoll.

"Du bist ja nicht gerade gesprächig heute morgen", brach Slim nach einer Weile dieses bleischwere Schweigen, weil es ihm anscheinend unheimlich zu werden begann.

"Ist das ein Wunder?" – Slim streifte ihn mit einem forschenden Seitenblick. – "Sieh mich nicht so an! Was soll ich denn sagen?"

"Keine Ahnung! Irgendwas halt!"

"Ja", machte Jess auf einmal wie jemand, der mit seinen Gedanken weit entrückt schien, mit leerem Blick auf die Hinterteile der zwei Gespannpferde starrend, "der Hügel hinterm Haus ist der richtige Platz."

"Was ist los? Erst redest du überhaupt nicht, und dann fängst du an zu phantasieren."

"Tu nicht so! Du weiß genau, wovon ich rede." Die zwei Pferde liefen fast im gleichen Takt. Erstaunlich, daß ihm das ausgerechnet jetzt auffiel. "Ich möchte, daß du mich dort begräbst. Das ist ein friedlicher, luftiger Ort. Von da kann man an klaren Tagen bis zum Fluß hinüber sehen. Im Sommer trägt der Wind den Geruch von Salbei herüber. Unter der alten Steineiche ist es schön schattig und angenehm kühl. Da kann man es an heißen Tagen aushalten."

"Sag mal, bist du noch zu retten?"

"Wahrscheinlich nicht", beantwortete Jess überraschend diese Frage mit einem Gleichmut, der Slim einen Schauer über den Rücken trieb. "Was denkst du, warum ich dir das sage? Du sollst schließlich wissen, wo du mich hinbringen mußt."

"Ich bringe dich zur Bahnstation", ging Slim ärgerlich darauf ein. "Und ich hoffe, daß ich dich von dort auch bald wieder abholen werde."

"Sicher, fragt sich nur, wie."

"Verdammt, Jess, wenn du heute nur solches Zeug von dir geben willst, dann versink lieber wieder in dein Totengräberschweigen; aber verschone mich bitte mit diesem Unsinn!"

"Tut mir leid, Slim, du hast recht. Ich sollte wirklich nicht so reden." Jess schien aus seiner Geistesabwesenheit herausgefunden zu haben, was sich auch durch seine aufrechtere Haltung äußerte. "Trotzdem … du weißt, welchen Platz ich meine? Für den Ernstfall – du weißt schon …"

"Ja, ich weiß, aber laß es damit gut sein, ja?"

"Sicher."

Slim musterte ihn aus den Augenwinkeln, wie er sich betont lässig zurücklehnte und das rechte Bein gegen den oberen Rand des Wagenkastens stemmte. Dabei rutschte seine Jacke etwas hoch, daß die Colttasche aus schwarzem Leder und sogar der abgegriffene Walnußholzkolben der matt glänzenden Waffe zum Vorschein kam. Der Rancher streifte zuerst sie, dann den Mann, der sie trug, mit einem abschätzenden Blick. Irgend etwas gefiel ihm nicht an ihm.

"Sag mal, wozu nimmst du eigentlich dein Schießeisen mit?" konnte er nicht mehr widerstehen zu fragen. "Meinst du, daß du es dort brauchen wirst, wo du hingehst?"

"Das kann man nie wissen." Jess' Hand fiel schwer auf den Kolben. "Vielleicht fang' ich an, mich in Colorado Springs zu langweilen. Dann ist es doch gut, wenn ich mein Spielzeug dabei habe."

"Nur deshalb?"

"Weshalb sonst?" Jess hatte die Anspielung sehr gut verstanden, wollte jedoch keinesfalls weiter darauf eingehen. "Außerdem", fügte er weniger bissig hinzu, "kann auf der Fahrt dorthin alles mögliche passieren. Mit dem Ding fühle ich mich nicht so nackt. Es gibt schließlich noch andere außer meinen drei verblichenen Freunden, die plötzlich auftauchen können."

"Erwartest du etwa jemanden in der Richtung?"

"Jetzt scheinst du zu phantasieren."

Die Straße führte in einem weiten Bogen um einen dichtbewaldeten Hügel, daß der Wagen nun aus seinem Windschatten kam. Ein eisiger Nordwind trieb den Morgendunst auseinander. Die Luft roch nach Schnee. Jess zog den Kragen der warm gefütterten Jacke höher. Die schneidend kalte Luft biß bei jedem Atemzug wie ein scharfzahniges Raubtier.

"Was ist?" fragte Slim besorgt, der bemerkte, wie er seinen einbandagierten Arm fester gegen den Oberkörper preßte. "Frierst du?"

"Nein, aber die Kälte tut beim Atmen weh", keuchte er.

"Du gefällst mir überhaupt nicht, weißt du das?"

"Kann es dir nicht verdenken. Ich gefalle mir auch nicht."

Das Keuchen wurde heftiger. Schließlich wurde daraus ein bellender Husten, wie er ihn fast die ganze Nacht heimgesucht hatte. Jess spuckte auf die Straße. Sein Auswurf bestand größtenteils aus Blut.

"Soll ich anhalten?"

"Nein", japste er mühsam, "es geht schon."

"Ich habe dich die ganze Nacht gehört. Es ist schlimmer geworden, nicht wahr?"

"Ja." Jess schluckte. Der Hustenreiz hatte sich gelegt. Dafür schmerzte seine lädierte Rippe um so mehr. "Tut mir leid, wenn ich schon wieder deine Nachtruhe gestört habe."

Slim verzog das Gesicht zu einem teilnehmenden Lächeln. In seinen Augen spiegelte sich Sorge um den kranken Freund.

"Hab' mich mittlerweile daran gewöhnt. Ich fürchte sogar, daß ich das in der nächsten Zeit gewaltig vermissen werde."

"Im Grunde bin ich froh, daß ich von dir und Mike und Daisy … daß ich von euch wegkomme, ehe das doch noch ansteckend wird."

"Was soll denn daran ansteckend werden?"

"Das kann man nie wissen. Unangenehm ist es mir auf jeden Fall."

"Das weiß ich, obwohl dafür kein Grund besteht. Zum tausendstenmal: es ist schließlich nicht deine Schuld. Aber selbst wenn … Was soll an einem kranken Freund, der Hilfe braucht, unangenehm sein? Kannst du mir das vielleicht einmal verraten?"

"Ich finde daran einiges."

"Na schön, damit du zufrieden bist. Aber denkst du, eine Freundschaft sollte aufhören, wenn es anfängt, unangenehm zu werden."

"Manchmal wäre es vielleicht besser, wer weiß."

"Daß so etwas ausgerechnet von dir …" Slim schüttelte verständnislos den Kopf. "Ich kann das nur mit deiner momentanen Verfassung erklären. Ansonsten würde ich glatt behaupten, neben mir hockt ein Fremder."

"Bitte, laß uns die letzten paar Minuten, die uns bleiben, nicht über dieses Thema streiten!"

"… die uns bleiben …", wiederholte Slim verächtlich seine Worte. "Du redest wirklich einen verdammten Mist zusammen! Bist du mal wieder zu dem Schluß gekommen, daß du dir die Rückfahrkarte sparen kannst?"

"Dazu habe ich nichts zu sagen. Im übrigen, ich habe tatsächlich keine Rückfahrkarte."

"Ja, und so, wie du faselst, willst du dir anscheinend auch keine besorgen, was?"

"Du irrst dich!" Der Widerspruch enthielt nicht die geringste Betonung, sondern wirkte wie gleichgültig daher gesprochen. "Mit dem, was ich will, hat das nicht viel zu tun. Ich würde eher sagen, mit dem, wie sich die Dinge notgedrungen entwickeln werden."

"Jess, ich bitte dich, sei still! Allmählich wird mir dein zweideutiges Gerede zu unheimlich. Ich fürchte fast, dich darf man nicht allein lassen. Ich sollte dich vielleicht besser begleiten. Irgend jemand muß einfach auf dich aufpassen."

"Unzurechnungsfähig bin ich noch nicht, wenn du das meinst."

"Herrgott, bald muß ich das aber meinen! Du brummelst da etwas zusammen, daß einem ja schlecht werden muß."

Jess schwieg daraufhin eine ganze Weile, brütete vor sich hin, tiefsinnig vor sich hinstarrend. Zum Glück fragte Slim ihn nicht über seine Gedanken aus; er hätte sie nämlich nicht in vernünftige Worte fassen können. Bald begann sich Jess jedoch über sich selbst zu ärgern, daß er diese kurze Zeit, die ihm blieb, um vielleicht das eine oder andere noch mit dem Freund besprechen zu können, nicht besser nutzte. Anstatt sich in polemischen Zweideutigkeiten zu ergehen, sollte er sich zusammenreißen und sich nicht mit diesem Selbstmitleid umgeben, das er so widerlich fand.

"Es tut mir leid, Slim", entschuldigte er sich auf einmal, "daß ich so oft die Kontrolle über mich verliere. Ich sollte mit meinen Äußerungen nicht so unbeherrscht sein."

Slim wandte halb den Kopf, um ihn versöhnlich anzugrinsen.

"Daß du immer gleich so maßlos übertreiben mußt."

Seine Miene wurde sofort wieder ernst, als Jess abermals hustete und erneut auf die Straße spuckte.

"Dieses Gebelle ist ja heute ganz schlimm!" keuchte er, unzufrieden mit sich selbst und der Machtlosigkeit gegen seine Schwäche.

"Vielleicht sollte ich dich doch lieber begleiten."

"Ach, was! Du kannst dagegen schließlich auch nichts unternehmen. Es wird schon gehen. Mach dir keine Sorgen!"

"Das hast du jetzt schon so oft gesagt, daß ich es dir nicht mehr abkaufen kann."

"Ja, ich weiß, das kauft mir inzwischen keiner mehr ab. Ich sollte mir wirklich etwas Neues einfallen lassen." Jess zog geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen durch. Irgendwie hatte er eine falsche Bewegung gemacht, was auf dem schlecht gefederten Kutschbock kein Wunder war. Sein malträtierter Körper quittierte das unverzüglich mit einer entsprechenden Gegenreaktion. "Ich kann nur hoffen, daß dieser Professor etwas gegen die verdammten Schmerzen unternehmen kann. Die werden genauso wie diese elende Husterei immer schlimmer."

"Hast du die Flasche mit dem Laudanum dabei?"

"Rat mal, was das ist?" Seine Rechte verschwand in seiner Jackentasche und förderte eine braune Arzneiflasche zur Hälfte hervor. "Hab' ich zur Sicherheit eingesteckt, falls ich unterwegs Durst kriege. Wäre mir peinlich, wenn ich den ganzen Zug zusammenschreien müßte, bloß weil ich so etwas Wichtiges vergessen hätte."

"Du nimmst in letzter Zeit öfter davon, nicht wahr?"

"Bleibt mir nichts anderes übrig. Ich verabscheue das Zeug mehr denn je, aber es lindert nicht nur diese verfluchten Schmerzen, sondern auch diesen lästigen Husten. Ich fürchte fast, ich habe mich schon an dieses Gift gewöhnt."

"Das glaube ich nicht, sonst würdest du längst an der Flasche hängen."

"Muß mich doch einteilen. Dauert schließlich eine Weile, bis ich an Nachschub komme."

Jess sagte das zwar im Scherz – mehr oder weniger –, aber in seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit, der Slim nicht entging.

"Du siehst wirklich nicht gut aus."

"Ich bin nur müde, das ist alles. Werde wohl am besten versuchen, während der Fahrt im Zug etwas zu schlafen. Ich hoffe, daß ich mich da ein wenig ausruhen und Schlaf von heute nacht nachholen kann."

"Mußt du in Denver umsteigen?"

"Nein, habe nur eine Stunde Aufenthalt."

"Dann bleibst du am besten im Zug."

"Traust mir wohl zu, daß ich die Weiterfahrt verpasse, he?"

"Ach, komm, sei nicht albern! Oder willst du dich unbedingt mit deiner angekratzten Gesundheit durchs Wochenendnachtleben von Denver schlagen?"

"Wäre zu überlegen."

"Ja, und bei deinem Spürsinn für so etwas wärst du garantiert gleich mitten im Geschehen."

"Was soll denn das heißen?"

"Nichts! Rein gar nichts! Aber, wer weiß, nachher gerätst du wieder in so einen Schlamassel wie letzten Freitag – durch puren Zufall, versteht sich! –, und während wir dich alle in Colorado Springs wähnen, lägest du derweil schon längst auf dem Friedhof von Denver."

"Du spinnst ja! Außerdem will ich nicht auf dem Friedhof von Denver begraben werden, sondern auf dem Hügel hinterm Haus – auf der Ranch!" betonte Jess jede Silbe. "Hast mir vorhin wohl nicht zugehört, was?"

"Leider viel zu gut", atmete Slim unwillig auf. Es war gewiß nicht seine Absicht gewesen, ihr Gespräch wieder an den makabren Anfang zurückzubringen.

"Dann ist es ja gut. Habe nämlich keine Lust, mich laufend zu wiederholen. So lieb ist mir dieses Thema nicht."

"Irgendwie beruhigt es mich ja, daß du das jetzt so betonst. Übrigens, die Viehauktion findet wie jedes Jahr Ende Mai statt, habe ich erfahren."

"Wieso kommst du denn jetzt plötzlich darauf?"

"Ist mir gerade eingefallen – damit du weißt, bis wann spätestens du zurück sein solltest."

"Sicher", brummte Jess ohne weiteren Kommentar. Bei seinem Tonfall war der auch nicht nötig.

"He, ich meinte damit nicht da hinten auf der Ladefläche, verstanden!"

"Ja, ich weiß. Ich werde mich auch bemühen."

"Hoffentlich vergißt du das nicht."

"Werde es mir jeden Morgen, wenn ich aufwache, mindestens einmal vorsagen, zufrieden?"

"Nein, überhaupt nicht."

"Dir kann man es einfach nicht recht machen."

"Nicht, wenn du so abfällig davon redest."

"Dann sollten wir es am besten lassen, zudem es im Endeffekt sowieso nichts bringt."

"Also, ehrlich gesagt, irgend etwas gefällt mir heute wirklich nicht an dir. Du bist mir ein wenig zu hintersinnig. Obendrein siehst du aus, als ob du gleich zusammenbrechen würdest", brachte Slim erneut seine Bedenken zum Ausspruch, weil er fand, daß sein kränklicher Zustand einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte, nicht allein, was sein körperliches Befinden betraf.

"Kein Grund, ausführlicher darüber zu palavern", winkte Jess mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. "Ich bin einfach nur müde. Na ja, und vielleicht mache ich mir auch ein wenig Sorgen um Mike."

"Um Mike? Wieso denn wegen des Jungen? Du bist es doch, dessentwegen man sich hier Sorgen machen muß."

"Das trifft vielleicht für dich zu. Aber für mich ist der Junge wichtiger."

"Traust du mir etwa nicht zu, daß ich in der Zwischenzeit auf ihn aufpassen kann?"

"Denkst du, dann hätte ich dich gebeten, dich um ihn zu kümmern?" antwortete Jess mit einer nadelspitzen Gegenfrage, die er gleich selbst beantwortete. "Selbst meinem besten Freund würde ich ihn nicht anvertrauen, wenn ich da nur den geringsten Zweifel hätte. Aber das meinte ich nicht, sondern Mike selbst. Ich mache mir um ihn Sorgen, weil er sich welche um mich macht, mehr, als er verarbeiten kann."

"Wenn du willst, kann ich ja mal mit ihm reden oder von mir aus Daisy bitten, es zu tun."

"Nein, Slim, damit ist es nicht getan, fürchte ich jedenfalls. Ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, wie man ihm helfen könnte oder was das Richtige wäre."

"Ich schon! Sieh einfach zu, daß du so schnell wie möglich heimkommst. Ich glaube, das hilft am besten."

"Ich wünschte, das wäre so einfach. Ich will dir keine Vorschriften machen, aber ich bitte dich, sei nicht zu streng mit ihm. Was er jetzt braucht, ist ein Übermaß an Verständnis. Trotzdem solltest du ihm die Grenzen zeigen, wenn es nötig ist. Ich weiß, ich verlange sehr viel von dir, aber du bist mein bester Freund und ich weiß nicht, wem sonst ich diese Verantwortung überlassen könnte, ohne allzu schlechtes Gewissen dem Jungen gegenüber. Ich will um Gottes willen nicht doch deine Fähigkeiten anzweifeln in der Beziehung, aber ich habe das Gefühl, ich dürfte ihn jetzt nicht allein lassen. Verstehst du, was ich meine?"

"Ich denke schon. Trotzdem solltest du dir nicht so viele Gedanken machen. Daisy und ich werden uns gut um ihn kümmern, was aber nicht heißen soll, daß wir dich bei ihm ersetzen könnten. Allein deshalb solltest du dich mit dem Gesundwerden beeilen. Es könnte sonst nämlich sein, wir verhätscheln ihn dermaßen, daß du ihn nicht wiedererkennst", versuchte Slim, das ernste Gespräch etwas zu entzerren.

"Daran hättet ihr mehr zu kauen als ich. Wenn Mike erst einmal merkt, daß er jemanden um den Finger wickeln kann, dann tut er das auch. Bei mir weiß er, daß ich das nur mit mir machen lasse, wenn ich das so will und nicht, wenn er sich das in den Kopf gesetzt hat."

"Ich weiß, du läßt dich nur von Daisy um den Finger wickeln. Und das merkst du sogar erst, wenn es längst passiert ist."

"Als ob das mit dir anders wäre! Außerdem solltest du nicht so scheinheilig ablenken."

"Ich habe nur versucht, dich ein wenig aufzumöbeln. Du scheinst es heute nämlich nötig zu haben. Also, Schluß jetzt! Du wirst aufhören, dir irgendwelche Sorgen zu machen, verstanden? Du weißt schließlich, daß der Junge bei uns gut aufgehoben ist. Letztendlich macht sich Mike doch nur Sorgen um dich, weil er weiß, daß du dir welche um ihn machst. Ich nehme an, das habe ich so richtig erkannt. Im übrigen kann ich dir nur raten, deinen Aufenthalt in Colorado Springs so kurz und erfolgreich wie möglich zu halten. Ich glaube, damit tust du uns allen den größten Gefallen, allen voran dir selber. Und dann solltest du auf jeden Fall dein Versprechen halten, regelmäßig Lebenszeichen von dir zu geben. Du mußt ja nicht jeden Tag einen seitenlangen Brief schreiben, aber hin und wieder ein paar Zeilen könnten wahre Wunder tun, nicht nur bei Mike."

"Ich werde mich bemühen. Zeit genug werde ich ja wohl haben."

"Eben! Ganz abgesehen davon, möchte ich dich bitten, als erstes eine Nachricht zu schicken, daß du gut angekommen bist."

"Du tust ja geradeso, als ob das eine Weltreise wäre."

"Für jemanden in deiner miserablen Verfassung ist das auch beinahe wie eine Weltreise. Nur ein kurzes Telegramm, ja? Schon allein, damit Daisy zufrieden ist."

"Na schön, werde an der Bahnstation eines aufgeben, vorausgesetzt, da ist ein Telegraf."

"Da ist für gewöhnlich einer, das weißt du genau."

"Sonst noch etwas?"

"Hast du den Umschlag eingesteckt, den dir Dan für Tyler mitgegeben hat?" fiel Slim auf diese Frage tatsächlich noch etwas ein.

"Selbstverständlich! Ist in der Tasche. Frage mich, was da drinnen ist."

"Hast du nicht gefragt?"

"Nein, wozu? Schätze, da wird meine Krankenakte drin sein. Wahrscheinlich eine Mordsgeschichte! Für jedes Wehwehchen ein Kapitel und zwei für die größeren Sachen."

"Hast du nicht mal reingeguckt?"

"Dan hat den Umschlag verschlossen. Wird schon wissen, warum. Ehrlich gesagt, bin ich nicht so versessen darauf, diese Gruselgeschichte zu lesen. Erstens kenne ich sie besser, als mir lieb ist, zweitens würde ich dieses Ärztelatein sowieso nicht verstehen, und drittens würden meine schlaflosen Nächte davon garantiert noch schlafloser werden."

"Das entspricht aber nicht deiner sonstigen Vorliebe, über alles genau Bescheid wissen zu wollen und den Dingen auf den Grund zu gehen."

"Nein, ganz und gar nicht. Mittlerweile bin ich jedoch zu dem Schluß gekommen, daß es gerade in dieser Angelegenheit besser ist, nicht alles bis ins kleinste Detail zu wissen. Du stellst dir nicht vor, wie deprimierend solch ein Wissen sein kann."

"Hat Dan noch irgend etwas gesagt?" vermutete Slim, daß mehr hinter dieser Erkenntnis stecken könnte, als er bisher von ihm erfahren hatte.

"Nein, eigentlich nicht. Das war auch nicht nötig. Mir reichte, wenn ich sein Gesicht sah. Dabei sieht die Wunde an und für sich recht ordentlich aus – von außen."

"Ist sie gut verheilt?"

"Ja, einigermaßen, das heißt fast. Dan sagt, sie hätte sich gut geschlossen, und der Muskel scheint auch allmählich zusammenzuwachsen. Das, was Dan Kopfzerbrechen bereitet, ist der zerschossene Knochen und, na ja, das, was man halt nicht von außen sehen kann. Schätze, dieser Professor Tyler wird einiges zu tun kriegen. Er muß ein verdammt guter Arzt sein, so wie Dan von ihm schwärmt."

"Das kann dir ja nur recht sein."

"Ja", nickte Jess ernst vor sich hin. "Ich hoffe nur, daß ich etwas davon profitiere."

"Mit Sicherheit! Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß Dan dir sonst diese anstrengende Reise zumutete."

"Das wird sich bald herausstellen. Viel schlimmer kann es ja kaum werden."

"Du hast hoffentlich genügend Geduld eingepackt."

Jess grinste gequält.

"Soviel, wie ich zusammenkratzen konnte. Ich hoffe, es wird reichen." Er besann sich und sah den Freund neben sich so lange an, bis dieser es merkte und sich ihre Blicke trafen. "Slim, ich glaube, ich bin zuversichtlicher, als du denkst und vor allem, als ich mich selber manchmal anhöre. Nicht daß ich annehme, das alles wäre harmloser, als ich mir einbilde – das ist es gewiß nicht! –, aber ich bin trotz allem oder gerade deshalb bereit zu kämpfen. Ich bin fest entschlossen, mich nicht aufzugeben, auch wenn dieser andere Jess Harper, den ich sowenig kenne und der mir unter Umständen gefährlich werden könnte, noch so hartnäckig versucht, mir diesen Kampf auszureden. Ich hoffe, daß mein Wille zu leben – egal wie! – nicht unterzukriegen ist. Ich mußte dir das unbedingt sagen, ehe wir uns trennen."

"Weißt du, ich habe im Grunde nie etwas anderes von dir angenommen, egal wie schwarzseherisch oder bissig deine Worte geklungen haben. Wenn man jemanden schon so lange und so gut kennt, wie ich dich kenne, dann spürt man solche Dinge." Slim nahm die Zügel in eine Hand und legte ihm kameradschaftlich die Linke auf den Rücken. "Ich weiß, du schafft es!" versicherte er, als könnte darüber nicht der geringste Zweifel bestehen.

Sie sahen sich lange offen in die Augen, zwei Freunde, die im Laufe der Jahre ein inniges brüderliches Verstehen, ein selbstverständliches Verantwortungsgefühl, ein tiefes gegenseitiges Vertrauen entwickelt hatten, ohne ihren unterschiedlichen Charakter zu verlieren oder ihr ausgeprägtes Eigenleben aufzugeben, die gelernt hatten, ihre Eigenheiten zu respektieren, ihre Schwächen zu tolerieren, Achtung voreinander zu bewahren, egal, wie groß oder gravierend ihre Meinungsverschiedenheiten sein mochten, die gerade dann füreinander da waren, wenn die Schwierigkeiten am größten wurden. Es schien, als ob sie in diesen wenigen Sekunden, in denen sich ihre Blicke trafen, ein geheimes Abkommen über alles noch Folgende getroffen hätten, das selbst unter Brüdern nicht so ohne weiteres wortlos zustande kam.

"Und was ist mit dir? Wirst du es auch schaffen?" wollte Jess dann sehr ernst mit verhaltener Stimme wissen. In dieser konzentrierten Ruhe lag eine inständige Bitte. Dabei wußte er, daß ihn der Freund ohne weitere klärende Worte verstand. Er meinte das Bewältigen seiner Schuldgefühle.

"Ich werde es versuchen, Jess, dir zuliebe und dem, was uns schon so viele Jahre verbindet. Trotzdem … es gibt nun einmal Dinge, die kann ich nicht vergessen."

"Denkst du, mir geht es anders? Aber irgendwie muß ich versuchen, damit fertig zu werden. Das Leben geht schließlich weiter – irgendwie halt. Und deshalb … Slim, ich weiß nicht, wie oft ich dir das schon gesagt habe … es gibt nichts – rein gar nichts! –, was du dir vorwerfen müßtest oder ich dir vorwerfen könnte."

"Ich bin da nach wie vor anderer Ansicht." Slim hatte ursprünglich nicht die geringste Lust, sich schon wieder über dieses leidige Thema zu streiten; aber Jess redete diesmal so ruhig, ja, nahezu beschwichtigend mit ihm, ohne die geringsten Anstalten zu machen, sich in eine heiße Diskussion hineinsteigern zu wollen, sondern eher nach einer freundschaftlich-sachlichen Aussprache bestrebt. "Im übrigen meine ich, ist das jetzt weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um dafür eine Lösung zu finden", versuchte der Rancher auszuweichen.

"Es ist aber vielleicht die letzte Gelegenheit, die uns dafür bleibt. Und ich kann nicht ruhigen Gewissens gehen, ohne das vorher mit dir geklärt zu haben."

"Jess, du solltest dich damit nicht belasten! Dieses Problem hat nichts mit uns beiden oder unserer Freundschaft zu tun, sondern ganz allein mit mir selber und meinen Vorstellungen über die Pflicht, die mein Gewissen fordert, die ich aber meinem besten Freund gegenüber nicht erfüllt habe. Die Gründe, weshalb ich es nicht tat oder tun konnte, spielen dabei keine Rolle, jedenfalls nicht für mich. Ich kann nicht vergessen, was an jenem Tag geschehen ist und – was viel schlimmer ist! – daß ich im Grunde tatenlos dabei zugesehen habe – aus welchen Gründen auch immer. Daß Daisy dabei im Spiel und womöglich in Gefahr war, ist für mich keine Entschuldigung, allenfalls eine Ausrede. Weißt du, ich habe immer und immer wieder darüber nachgegrübelt, wie das Ganze abgelaufen wäre mit dir an meiner Stelle und mir draußen vorm Haus. Jess, und wenn du dich auf den Kopf stellst! – ich weiß, du hättest anders reagiert, du hättest irgend etwas unternommen – hundertprozentig!"

"Nein, Slim, da redest du dir etwas ein. Ich wüßte jedenfalls nicht, was ich an deiner Stelle anders gemacht hätte. Nichts! Ausgeschlossen, daß da etwas anders abgelaufen wäre! Wie oft willst du das denn noch hören?"

"Ich will es überhaupt nicht hören."

"Na schön, soll ich dann sagen, ja, du bist an allem schuld, bloß damit du zufrieden bist? Glaube mir, wenn ich tatsächlich wüßte, daß du dich dann besser fühltest, würde ich es auf der Stelle tun. Nur, was würde das schon ändern?"

"Eben! Darum geht es ja! Um etwas zu ändern, hätte ich früher reagieren müssen. Hinterher – heute ist es dafür zu spät. Ich hätte damals etwas tun müssen und nicht du heute!"

"Du sprichst in Rätseln." Fast hörte sich diese Bemerkung gelangweilt an. Tatsächlich wurde es Jess zunehmend zu anstrengend, dem Freund diese Schuld ausreden zu wollen, in die er sich hineinsteigerte.

"Stell dir nur einmal vor, ich hätte dich Sekunden früher gewarnt! Sagen wir, als du zehn Schritte vom Haus entfernt warst."

"Wenn du willst, stelle ich mir auch zwanzig Schritte vor. Die Entfernung spielt doch überhaupt keine Rolle. Dieser Kerl brauchte nur abzudrücken. Und das hätte er genau in dem Moment getan, wenn du den Mund aufgemacht hättest, egal, wieviel Schritte ich vom Haus entfernt gewesen wäre. Darüber brauchen wir uns überhaupt nicht zu unterhalten. Wie oft willst du das denn noch durchexerzieren?"

"Bis ich dich oder mich überzeugt habe. Du darfst nämlich eines nicht vergessen: bei der Zielungenauigkeit seines Gewehres wäre dir jeder Schritt weniger zum Verhängnis geworden. Jeder Schritt!"

"Aber das konntest du damals nicht wissen."

"Schlimm genug, daß ich es heute weiß."

"Denkst du, ich zweifelte deshalb an dir, ich könnte dir in einem entscheidenden Moment, wenn es darauf ankommt, nicht mehr vertrauen?"

"Vielleicht solltest du das."

"Slim, jetzt hör aber auf! Wenn es einmal soweit ist, sage ich dir Bescheid, ja? Aber bis dahin will ich davon nichts mehr hören! Warum bist du einfach nicht nur froh, daß wir es alle so einigermaßen überstanden haben?"

"Es ist eben nur einigermaßen. Und selbst wenn dem nicht so wäre, sind damals Dinge passiert, die sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen."

"Aber sie sind doch vorbei, von mir aus auch nur so gut wie. Oder willst du mir damit vielleicht erklären, daß du nur deshalb all die Tage und Nächte bei mir gewacht hast, um deine Schuldkomplexe zu befriedigen?"

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Slim auf diese messerscharfe Bemerkung, die durch die sehr ruhige Stimme des Freundes über Gebühr an Intensität gewann, etwas erwiderte.

"Denkst du das?" vergewisserte er sich voller Unbehagen über die eigene Dickfälligkeit, was seine Schuldgefühle betraf.

"Nein, aber allmählich gewinne ich den Eindruck, daß du mich davon überzeugen willst."

"Vielleicht war diese Schuld unbewußt tatsächlich der Grund dafür, daß ich nicht von deiner Seite weichen wollte."

"Und das soll ich dir abkaufen? Denkst du, das allein hätte helfen können, als es mit mir auf Messers Schneide stand?"

"Ich konnte dir doch überhaupt nicht helfen. Das einzige Mal, als ich es tatsächlich hätte tun können, habe ich versagt. Eine weitere Chance hatte ich nicht."

"Erstens hast du nicht versagt, und zweitens hast du mir mehr geholfen, als du dir vorstellen kannst; denn du warst da, wenn ich einfach nur einen Freund gebraucht habe."

"Aber nicht im entscheidenden Augenblick!" beharrte Slim hartnäckig, daß es sich beinahe wie Trotz anhörte.

"Herrgott, müssen wir uns denn ständig im Kreis drehen? Wieso kriege ich das bloß nicht in deinen Schädel?"

Allmählich geriet Jess ans Ende seiner Geduld, obwohl er sich über sich selbst zu wundern begann, daß er die ganze Zeit so gelassen blieb. Entweder lag es daran, daß er sich nicht besonders fühlte, einfach nicht die nötige Kraft hatte, heftiger zu reagieren, oder weil er einsah, daß er Slim auch mit heftigeren Worten nicht von seinem gedanklichen Irrtum überzeugen konnte. Deshalb versuchte er diesmal anscheinend die sanftere Tour, weil ihm im Laufe ihres Gespräches bewußt wurde, daß er unbedingt noch einmal mit ihm darüber reden mußte, ehe sie sich vielleicht für immer trennten.

"Das liegt gewiß nicht an dir. Vielleicht legt sich das alles, bis du zurückkommst. Vielleicht brauche ich nur etwas mehr Zeit. Und vielleicht fällt es mir leichter, wenn du wieder gesund bist."

"Ja, und vielleicht würde es dir helfen, wenn du endlich diese verdammte Kugel wegwerfen würdest."

"Noch bin ich nicht soweit, aber vielleicht kann ich auch das bis dahin tun."

"Dann muß ich mich wirklich sehr bemühen."

Schweigend fuhren sie weiter, ohne daß einem von ihnen dieses Schweigen unangenehm geworden wäre – jetzt nicht mehr, denn sie hatten sich ausgesprochen und waren sich einig, wenn auch nach wie vor nicht einer, sondern verschiedener Meinung. Sich einig sein und doch geteilte Meinungen vertreten – das konnten nur Freunde wie sie.

Jess lehnte sich so bequem wie möglich zurück, den Windschatten, den Slims Körper warf, nutzend, um dem eisigen Nordwind einigermaßen aus dem Weg zu gehen, der ihm beim Luftholen Schmerzen in der Brust verursachte. Für ein paar Momente schloß er die Augen und schien sich zu entspannen, wobei er so tief und ruhig, wie er konnte, zu atmen versuchte.

"Weißt du was, Partner", sagte er auf einmal, ohne seine Haltung zu ändern, "wenn ich so zurückdenke, haben wir schon einiges zusammen durchgemacht – viel Gutes und noch mehr Schlechtes. Trotzdem möchte ich auf nichts davon verzichten und ich wollte es auch mit niemand anderem erlebt haben."

"Geht mir umgekehrt genauso." Bei anderer Gelegenheit hätte Slim ihn wahrscheinlich mehr oder weniger auffällig gefragt, ob er jetzt vorhatte, in sentimentalen Erinnerungen zu schwelgen; aber er hielt den Augenblick nicht für sehr gut gewählt, zudem es nicht wie Gefühlsduselei geklungen hatte, sondern eher wie eine zufriedene Feststellung. "Deshalb hoffe ich, daß wir noch einiges in der Richtung gemeinsam erleben werden. Ein Grund mehr, auf dem schnellsten Weg gesund zu werden und nach Hause zurückzukehren. Ich würde mich sonst zu Tode langweiligen."

"So wie es aussieht, wird das für uns beide eine schwere Zeit, was?" Mit einem geöffneten Auge grinste Jess den Freund an, der ebenso zurückgrinste. "Wann, sagst du, ist diese Viehauktion?" fragte er dann, obwohl er es genau wußte.

"Ende Mai, wie jedes Jahr."

"Bleibt mir nichts anderes übrig, als bis dahin wieder daheim zu sein."

"Ich möchte sehr darum bitten."

"Ja, in meinem eigenen Interesse, ich weiß. Denn wenn du dir dort alte Ochsen andrehen läßt, muß ich mir deine Vorwürfe deshalb bis in alle Ewigkeit anhören. Und das kann ich mir nicht auch noch aufhalsen."

"So sehe ich das auch."

Ihrer beider Stimmung hatte sich etwas gehoben, denn sonst hätten sie darüber nicht in diesem Tonfall reden können. Bei aller Unbeschwertheit, die sie nach außen hin zu demonstrieren versuchten, konnten sie den Ernst der Situation jedoch nicht ganz verbergen. Dazu stand er zu auffällig in ihren Augen. Aber sie bemühten sich, die restliche Zeit, die ihnen verblieb, sich das Leben nicht schwerer zu machen, indem sie sich die Köpfe heißredeten über Dinge, über die sie schon genug diskutiert hatten und die sie trotzdem nicht ändern konnten.

"Slim, du solltest zusehen, daß du so bald wie möglich jemanden einstellst, der dir bei der Arbeit hilft."

"Ich wollte eigentlich warten, bis du zurück bist, damit wir gemeinsam jemanden aussuchen."

"Aber du brauchst die Hilfe jetzt schon – und wenn es nur jemand für vorübergehend ist, gerade für die Zeit, solange ich weg bin."

"Ich werde sehen."

"Nein, Slim, du solltest es wirklich tun."

"Jetzt über Winter wird es schon gehen. Und wenn der Postkutschenverkehr teilweise oder sogar ganz eingestellt wird, erst recht. Für das Nötigste wird es reichen."

"Da bin ich anderer Meinung. Du weißt genau, daß der Nordzaun eine Schwachstelle ist, gerade im Winter. Solange er nicht vollständig erneuert ist – und daß er das nötig hat, mußt du selbst gesehen haben, als du oben warst –, wird da immer wieder Vieh durchbrechen. Wir werden an den Verlusten zwar nicht zugrunde gehen, aber es muß schließlich nicht sein, zudem das im Endeffekt garantiert kostspieliger ist, als eine Hilfskraft einzustellen, die da oben öfter mal Kontrollritte durchführt und das Übel so gering wie möglich hält." Jess versetzte dem Freund einen ordentlichen Puff in die Seite, um so vielleicht mehr sein Interesse daran zu wecken. "Oder willst du mich mit deiner Uneinsichtigkeit nur ärgern, bloß damit ich nach meiner Heimkehr wochenlang unser Vieh zusammensuchen, Kälber aus dem Gestrüpp und Kühe aus Drecklöchern ziehen kann?"

"Bei dir muß man aufpassen!" schmunzelte Slim, war er doch froh, daß der Freund von seiner Rückkehr aus Colorado Springs offensichtlich fester überzeugt war, als er hin und wieder verlauten ließ. "Du durchschaust jedesmal meine geheimsten Gedanken."

"Hinterhältiger Kerl!" Jess knuffte ihn abermals, diesmal heftiger. "Aber jetzt mal Spaß beiseite. Ich meinte das ernst."

"Ja, ich weiß, und ich weiß auch, daß du recht hast." Slim wandte halb den Kopf und grinste ihn an. "Ich muß anschließend sowieso noch in die Stadt, um für Daisy ein paar Besorgungen zu machen. Da kann ich ja gleich herumhören und nach jemandem Ausschau halten – falls es dich beruhigt."

"Etwas schon." Jess grinste ihn ebenfalls an, regte sich sonst aber nicht. "Hat dir Daisy schon wieder einen Auftrag für Burke mitgegeben?"

"So lang wie mein Arm und deiner dazu."

"Wo will sie das bloß alles unterkriegen? Ich denke, die Vorratskammer ist voll."

"Wir haben ja noch einen Keller. Und der ist lange nicht voll."

"Da werden sich die Mäuse und Ratten aber freuen."

"Von wegen! Ich glaube, Daisy hat die Plage ganz gut in den Griff gekriegt mit dem Gift, das wir ihr besorgt haben. Ich habe jedenfalls schon lange keine mehr gesehen."

"Wenn im Keller erst wieder Vorräte lagern, werden die sich schon einfinden."

"Und hoffentlich in den aufgestellten Fallen landen. Daisy kann in der Beziehung sehr akribisch sein. Das weißt du doch."

"Na ja, ansonsten gibt es gefüllten Mäusebraten an den Feiertagen."

"Das gönnst du uns wohl, was?"

"Klar, da ich nicht zu Hause bin – erst recht! Apropos Feiertage … Vergiß nicht, dich bei Farley wegen der Nähmaschine zu erkundigen."

"Wann, sagtest du, soll sie da sein?"

"Farley meinte, es würde höchstens zwei Wochen dauern, weil sie der Lieferant in seinem Zwischenlager in Cheyenne vorrätig haben müßte. Ich würde sagen, bis spätestens Mitte Dezember müßte sie da sein. Und paß auf, daß Daisy nicht vorzeitig etwas merkt."

"Keine Sorge, ich werde sie gut verstecken, wenn das auch nicht ganz leicht sein dürfte."

"Das fürchte ich auch. Ist ja ein richtiges Möbelstück mit dem passenden Schrank dabei. Daisy wird Augen machen, sag' ich dir! Ist wirklich schade, daß ich das nicht sehen kann."

"Ja, Partner, das ist es! Wir werden dich an Weihnachten vermissen."

"Nur zu Weihnachten?" wollte sich Jess entrüsten, nur zum Spaß, um dem eigentlichen Ernst dieser Feststellung den nahezu traurigen Hintergrund zu nehmen.

"Natürlich! Das heißt, auch da werden wir es nicht tun, zumindest ich nicht, krieg' ich doch dein Stück vom Festtagsbraten zusätzlich auf den Teller", blödelte Slim, wurde jedoch im gleichen Augenblick wieder ernster, gemessen an seinem Tonfall, sogar wesentlich ernster. "Keine Frage, daß wir das tun werden", versicherte er und warf einen kurzen, aber sehr bewegten Blick zurück auf den Freund, der seitlich hinter ihm an der niedrigen Lehne des unbequemen Kutschbocks zu kleben schien, "nicht nur zu Weihnachten, aber da besonders", setzte er hinzu, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn auf die Straße richtete.

"Ist nun mal nicht zu ändern." Redlich darum bemüht, Harmlosigkeit vorzutäuschen, machte Jess den alternativen Vorschlag: "Ich habe Mike geraten, sich vorzustellen, ich würde eine Herde nach Kanada treiben. Dann bin ich schließlich auch längere Zeit unterwegs. Wie wäre es, wenn wir alle versuchen, uns das vorzustellen?"

"Du treibst aber keine Herde nach Kanada. Also ist es auch nicht dasselbe, noch nicht einmal etwas Ähnliches."

"Ich glaube fast, du meinst das richtig ernst mit dem Vermissen."

"Was hast denn du gedacht? Natürlich meinte ich das so! Mit wem soll ich denn in der Zwischenzeit streiten?"

"Streiten? Tun wir das so oft?"

"Na ja, sagen wir, geteilter Meinung sein."

"Vielleicht solltest du dir doch endlich eine Frau zulegen, zum Ausgleich sozusagen", meinte Jess, und es klang überhaupt nicht so wie nur im Spaß daher gesagt.

"Den Vorschlag machst ausgerechnet du?"

"Warum nicht? Ich kenne mich da besser aus, als du denkst – und besser als du allemal! Die Ehe kann etwas sehr Feines sein. Aber ich warne dich! Laß dich ja nicht von der Falschen einlullen!"

"Dann werde ich die Sache am besten verschieben, bis mein fachmännischer Berater wieder da ist."

"Keine schlechte Idee, denn bei deinem Geschmack könnte da leicht etwas in die Hosen gehen. Ich möchte nicht mein blaues Wunder erleben, wenn ich zurückkomme."

"Keine Sorge, ich werde warten, bis du wieder da bist."

"Sehr vernünftig! Aber jetzt paß lieber auf die Schlaglöcher auf, sonst fangen meine gesunden Rippen auch noch an, Theater zu spielen."

"Wir hätten den anderen Wagen nehmen sollen."

"Und wie wolltest du dann Daisys Zeug transportieren?"

"So eilig wäre das nicht gewesen. Ich hätte es ja beim nächsten Mal mitnehmen können. Kann mir nicht vorstellen, daß da etwas besonders Brandeiliges auf der Liste steht."

"Unsinn, wozu den Weg zweimal machen? Außerdem habe ich den Wagen die ganze Zeit ja selbst auch benutzt. Nur heute habe ich das Gefühl, daß die Straße besonders schlecht ist."

"Ich glaube, das liegt weniger an der Straße als an dir. Nicht die Straße ist heute schlechter, sondern dir geht es schlechter."

"Daß du immer recht haben mußt!" beschwerte sich Jess, daß sich der Freund fast ein wenig wunderte, wieso er es nicht zuerst mit einer Widerrede versucht hatte.

"Du streitest es nicht ab?" vergewisserte er sich deshalb erstaunt.

"Ausnahmsweise nicht! Hat keinen Sinn! Besser würde es davon jedenfalls nicht werden."

"Verdammt, Jess, ich bin wirklich froh, wenn du diese Fahrt hinter dir hast, und gäbe etwas darum, wenn du schon bei diesem Professor Tyler wärst."

"Jetzt fang nicht wieder an, dir Sorgen zu machen! Wird schon nicht so schlimm werden."

Gleich darauf folgten sie der Abzweigung, die direkt zur Bahnstation führte, ohne daß sie durch die ganze Stadt mußten. Hinter dem verwitterten Ortsschild bog die Straße ab und führte vor den ersten Häusern vorbei, passierte die Verladekoppeln, die sich wie ein gigantisches geometrisches Muster in die Landschaft fügten, ein paar Schuppen und Lagerhallen des Frachtkontors und endete vor einem langgestreckten Gebäude, in dessen Umgebung ein reges Treiben herrschte, Postsäcke und Frachtkisten sich stapelten und Menschen hektisch ihrer Arbeit nachgingen.

Slim hielt den Wagen in unmittelbarer Nähe des Büros, hinter dessen halbvergittertem Schalterfenster ein geschäftiger Mann mit Ärmelschonern und einer Schildkappe Fahrkarten verkaufte und gerade ein paar gutgekleideten Damen Auskunft erteilte.

"Ich fahre den Wagen um die Ecke und komme gleich wieder."

"In Ordnung", erwiderte Jess beim Absteigen, was ihm heute besonders viel Mühe zu bereiten schien, daß sich Slim sogar einmal zu ihm hinüberbeugte, weil er den Eindruck hatte, ihm helfen zu müssen.

Der Mann hinter dem Schalter schien seine Augen überall gleichzeitig zu haben, denn noch während er mit den zwei Frauen sprach, erteilte er einem der Laufburschen Avis, daß da gerade derjenige eintraf, der mit besonders aufmerksamem Service bedacht werden sollte. Er kannte Jess zwar vom Sehen, aber selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte er gewußt, daß es sich um den Fahrgast handelte, dessen Wohlergehen ihm Dan Higgins ausdrücklich ans Herz gelegt hatte.

"Mr. Harper?" fragte der Laufbursche, der ihn nicht persönlich kannte, etwas unsicher, als Jess es gerade geschafft hatte, irgendwie vom Bock zu steigen, ohne dabei in die Knie zu gehen, während er sich einen Augenblick gegen den Wagen lehnte, bis er seine Schwäche einigermaßen überwunden hatte und die Schmerzen in seiner Brust nachließen.

"Ja?"

Verwundert hob er den Kopf und wandte sich halb um, wobei er allerdings mit der Schulter gegen den Wagen gelehnt blieb. Nur allzudeutlich war ihm anzusehen, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Das bemerkte auch der junge Mann von der Eisenbahn.

"Ich habe Anweisung, mich um Ihr Gepäck zu kümmern."

"Danke – ist nicht viel, nur die Tasche hinten auf dem Wagen."

Flinke Hände griffen nach dem Gepäckstück.

"Nein, danke, Sir, das ist schon alles geregelt", erklärte der junge Mann, noch bevor Jess unter seine Jacke greifen und eine Münze aus der Brusttasche seines Hemdes fischen konnte. "Der Mann hinter dem Schalter erwartet Sie. Bitte, entschuldigen Sie mich und gute Reise!"

"Danke!" hatte Jess kaum Gelegenheit zu erwidern, denn der Mann eilte bereits – nach einem freundlichen, dienstbeflissenen Lächeln – davon.

"Dan hat anscheinend wirklich an jede Kleinigkeit gedacht", bemerkte Slim grinsend vom Bock herunter.

"Scheint so. Kann mir, ehrlich gesagt, nur recht sein." Jess straffte seine zusammengekauerte Gestalt und löste sich vom Wagen. "Ich sehe dich dann gleich."

"In zwei Minuten."

Während Slim den Wagen aus dem Weg fuhr, ehe er Ärger bekam, weil er den reibungslosen Verkehr aufhielt, stakste Jess steifbeinig die paar Schritte zum Schalter, wo er von dem Mann in der Schildmütze überaus zuvorkommend empfangen wurde.

"Guten Tag, Mr. Harper", begrüßte er ihn sogar mit Handschlag. "Ich freue mich, daß Sie die Dienste der Union Pacific in Anspruch nehmen und hoffe, daß Sie mit unserem Service zufrieden sein werden."

"Bei soviel Aufmerksamkeit dürfte das nicht schwerfallen", sagte Jess etwas unbeholfen.

Unwillkürlich begann er sich zu fragen, ob Dan Higgins, der genau wußte, daß er es nicht besonders liebte, in bevorzugtem Mittelpunkt zu stehen, diesen speziellen Service nicht absichtlich nur deshalb angefordert hatte, um ihn damit ein wenig zu ärgern, oder ob das nur ein gesteigerter Diensteifer aufgrund von entsprechenden Sonderzuwendungen war.

"Es wurde alles für Sie arrangiert. Der Schaffner im Zug weiß Bescheid und wird sich persönlich um Sie kümmern, falls Sie es wünschen."

"Das wird hoffentlich nicht nötig sein." Dan hat tatsächlich ganze Arbeit geleistet, mußte er im stillen zugeben. Was diese Extras gekostet hatten, interessierte ihn weitaus weniger als das, was Doc Higgins als Begründung vorgebracht hatte, sofern eine solche bei angemessener Bezahlung überhaupt nötig gewesen war. "Fährt der Zug pünktlich ab?"

"Auf die Minute!" verkündete der Mann hinter dem Schalter stolz. "Planmäßige Ankunft in Cheyenne ist ein Uhr fünfzehn. Ich bedaure sehr, daß Sie nicht weiter mit uns fahren."

"Tja, ich muß nun mal nach Colorado Springs und nicht nach St. Louis."

Der Mann mit der Schildkappe antwortete mit einem verlegenen Lächeln, während er den Fahrschein ausstellte und ihn Jess in die Hand drückte.

"Bitte sehr, Mr. Harper! In Cheyenne melden Sie sich bitte bei meinem Kollegen von der Denver & Rio Grande. Um Ihr Gepäck brauchen Sie sich nicht zu kümmern – das wird von uns erledigt –; aber er wird Ihnen das Billett für den Rest der Fahrt überreichen."

"Ein bißchen umständlich, finden Sie nicht?"

"Das ist Konkurrenz", lächelte der Mann, diesmal entschuldigend. "Ich hoffe jedoch, daß Sie das nicht als Unannehmlichkeit betrachten. Wir sind schließlich ständig bemüht, es unseren Fahrgästen so bequem wie möglich zu machen. Und so ein wichtiger Mann wie Sie …"

"Was ist denn an mir so wichtig?" fiel Jess ihm mit grimmigem Erstaunen in die Rede. Es war wirklich besser, wenn er nicht wußte, was Doc Higgins über ihn verbreitet hatte. "Außer vielleicht, daß ich mit meinem etwas lädierten Äußeren und meiner unangenehmen Husterei Ihre übrigen Fahrgäste erschrecken könnte. Ist übrigens nicht ansteckend, sagt der Arzt", fügte er gleich ein wenig abfällig hinzu.

"Aber, Mr. Harper! Denken Sie, ich wüßte nicht um Ihre Verdienste für diese Stadt und in indirekter Weise auch für diese Gesellschaft?"

"Hat Ihnen das auch Doc Higgins erzählt?" Zwischen Jess' Augenbrauen erschien eine tiefe Furche, die steil nach oben bis fast zum Haaransatz reichte. "Er sollte …"

"Woher denn! Ich lese schließlich die Zeitung. Nach Gary Morgans Bericht und dem, was man sonst so alles hört, muß das eine sensationelle Geschichte gewesen sein letzten Freitag. Vor allem dieser Alexander Owen, der dabei auf der Strecke blieb, ist der Union Pacific in ziemlich schlechter Erinnerung, hat er diese Gesellschaft in der Vergangenheit durch seine dreisten Überfälle nicht unerheblich in Mißkredit gebracht und ihr auch gewaltigen finanziellen Schaden zugefügt. Ihr überaus lobenswerter Einsatz hat sicherlich erheblich dazu beigetragen, daß wir von ihm in Zukunft nichts Negatives mehr zu erwarten haben. Insofern ist es mir persönlich eine besondere Ehre, Ihnen die Dienste unseres Unternehmens darbieten zu dürfen in der Hoffnung, daß Sie vollstens zufriedengestellt sein werden."

Du lieber Himmel! dachte Jess, vielleicht wäre ich doch besser mit der Kutsche gefahren.

Zuerst holte er Luft, um diese Lobeshymne, in die sich der Schildmützenmann hineingesteigert hatte, schlagkräftig zu widerlegen, aber es hätte wahrscheinlich nur zu einer endlosen Diskussion darüber geführt, daß der Mann da irgend etwas falsch verstanden haben mußte.

"Vergessen Sie dabei lieber nicht den Sheriff", sagte er statt dessen nur. "Der war schließlich zu einem Gutteil daran beteiligt und ihm gebührt mindestens ebenso, wenn nicht sogar größerer Dank. Er war es übrigens auch, der diesen Alexander Owen dahin beförderte, wohin ihn allem Anschein nach jeder haben wollte."

"Aber ohne Sie wäre ihm das nicht gelungen. Jedenfalls bin ich persönlich und auch im Namen meines Arbeitgebers froh über diesen Ausgang dieser Geschichte. Vor allem auch, wenn man bedenkt, was sich diese Kerle sonst noch alles geleistet haben. Insbesondere natürlich das da!" Er nickte auffällig in Richtung Jess' linker Schulter. "Das war wirklich der Gipfel von allem."

"Ich nehme an, das haben Sie auch in der Zeitung gelesen."

"Sicher. Das hat einen ziemlichen Wirbel verursacht, als das bekannt wurde. Ich hoffe wirklich, daß Sie während Ihres Aufenthaltes in Colorado Springs völlig genesen werden. Bitte verzeihen Sie, wenn ich so offen bin, aber Sie sehen tatsächlich sehr, sehr krank aus."

"Ich sagte doch, daß ich womöglich Ihre übrigen Fahrgäste erschrecken werde." Jess grinste, um dem Ganzen eine harmlose Fassade aufzusetzen. "Vor allem einige der Damen werden sich – man nennt das, glaube ich – echauffieren. Könnte schlecht fürs Geschäft sein."

"Aber, Mr. Harper!" entrüstete sich der Mann hinter dem Schalter ohne falsch gemeinte Affektiertheit, obgleich es den Hauch von geschwollen klang. "Ich bitte Sie! Sollten Sie in der Beziehung Grund haben, sich über irgend jemanden zu beschweren, bitte ich Sie, dies umgehend zu tun. Es kann doch nicht angehen …"

"Nun, ich denke, so schlimm wird es nicht werden", fiel Jess ihm beschwichtigend ins Wort. "Im übrigen habe ich ein ziemlich dickes Fell, was das anbelangt."

Der Zug, aus westlicher Richtung kommend, erreichte ratternd die Station. Die Räder quietschten, als der Lokführer die Bremse zog und sich Metall auf Metall rieb. Gleich darauf ließ er überschüssigen Dampf ab, der alles in weißen Nebel hüllte. Das schrille Pfeifen der Lokomotive in unmittelbarer Nähe tat Jess' empfindlichen Trommelfellen weh, während der Mann hinter dem Schalter seine Uhr an der Kette aus der Tasche zog, den Deckel aufspringen ließ und mit einer gewissen Ehrfurcht vor dem gewaltigen Berg an technischem Fortschritt und Zivilisation, den die Eisenbahn für ihn verkörperte, bemerkte:

"Auf die Minute! Sogar beinahe auf die Sekunde! Das nenne ich Zuverlässigkeit!"

Jess schien davon weniger beeindruckt. Ihm machten die Dampf- und Rauchschwaden, die direkt auf ihn zuwehten, gewaltig zu schaffen, daß sie ihn sogar zu heftigem Husten reizten. Er wandte sich halb um, preßte ein Tuch vor Mund und Nase und versuchte gleichzeitig den Schmerzen entgegenzuwirken, indem er sich mit der linken Schulter gegen die Holzwand des Schalterhäuschens drückte.

Der Mann mit der Schildmütze war so mit dem Phänomen der technischen und zeitlichen Präzision beschäftigt – überwältigt wäre zuviel gesagt, obwohl dazu nicht viel fehlte und er damit schließlich täglich konfrontiert wurde –, mit der die Ankunft des Zuges und dessen Ent- und Beladen vonstatten ging, daß er zunächst nicht mitkriegte, was sich praktisch direkt vor seiner Nase abspielte. Erst als ihm die große Gestalt Slim Shermans den Blick auf das geschäftige Treiben halb verdeckte, registrierte er, daß es auch Leute gab, die von der technischen Errungenschaft der Eisenbahn weniger fasziniert waren als er, für die ein Zug einfach nur ein einigermaßen bequemes Fortbewegungsmittel war, von dem man keine besondere Notiz nehmen mußte und für die offensichtlich Wichtigeres existierte, als über perfekten zeitlichen Ablauf von alltäglichen Dingen viele Worte zu verlieren.

"Jess, alles in Ordnung?" erkundigte sich Slim besorgt und legte ihm fürsorglich die Hand auf die Schulter, ohne sich im geringsten an dem Mann hinter dem Schalter zu stören, dem etwas zu spät einfiel zu fragen, ob er etwas tun könnte.

Jess nickte zwar, mußte aber erst für Sekunden die Luft anhalten, ehe er sich endlich wieder gerade aufrichten konnte. Wenn er ehrlich sein wollte, mußte er zugeben, daß er sich genau in diesem Augenblick ganz und gar nicht dazu imstande fühlte, eine noch so bequeme Reise irgendwohin zu machen und diese einigermaßen gut zu überstehen.

"War wohl ein bißchen zuviel Qualm auf einmal", ächzte er, redlich darum bemüht, aus dem Zwischenfall keine unnötige Affäre zu machen, um nicht endlose Wortergüsse von Entschuldigungen und Teilnahmebekunden des Schaltermannes über sich ergehen lassen zu müssen. Die letzten Minuten vor der Abfahrt zog er lieber vor, mit seinem Partner zu teilen.

"Wir sollten vielleicht besser einen anderen Platz zum Warten suchen", schlug Slim vor.

"In der Station gibt es Kaffee und einen kleinen Imbiß, wenn Sie möchten. Bis zur Weiterfahrt des Zuges dauert es noch genau", der Mann von der Eisenbahn warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr, "dreiunddreißig Minuten! Sie können auch schon einsteigen und es sich in Ihrem Abteil bequem machen. – Benötigen Sie auch eine Fahrkarte?" wandte er sich dann an Slim, der mit ein wenig aufgesetzter Freundlichkeit dankend ablehnte.

"Was meinst du? Sollen wir den Kaffee mal probieren?" redete der Rancher jetzt nur noch mit Jess und war an dem Pünktlichkeitsfanatiker nicht mehr weiter interessiert.

"Willst du?"

"Nur, wenn du möchtest."

"Ehrlich gesagt, nicht unbedingt. Da drinnen sind bestimmt ein Haufen Leute mit dicken Zigarren. Laß uns lieber ein paar Schritte gehen."

"Ist mir auch lieber", war Slim sofort einverstanden; auch ihm war es lieber, die letzten Minuten mit dem Freund allein zu verbringen anstatt inmitten einer buntzusammengewürfelten Menschenmenge in einem schlecht gelüfteten, völlig überheizten Raum.

"Vielen Dank für alles", sagte Jess noch zu dem Mann in dem Schalterhäuschen mit einem reichlich verzerrt wirkenden Lächeln.

"War mir eine außerordentliche Ehre, Mr. Harper! Gute Reise und angenehmen Aufenthalt!" rief der Schildkappenmann übereifrig und ließ es sich nicht nehmen, Jess mit einem kräftigen Händedruck zu verabschieden.

"Nanu, was ist denn mit dem los?" wollte Slim verwundert, wenn nicht sogar amüsiert, wissen, als sie sich schon ein Stück von dem belebten Bahnhofsvorplatz entfernt hatten und gemächlich an der weitaus ruhigeren Seitenfront des Gebäudes entlang schlenderten.

"Tja,", grinste Jess, dem es offensichtlich etwas besser ging, sobald auch die Luft besser wurde, "bin halt ein wichtiger Mann."

"Ein was?"

"Wich-tig!" betonte er, wie man jemandem ein Wort vorsagte, der der Sprache nicht mächtig war.

"Hat das dieses wandelnde Uhrwerk behauptet?"

"Du hast es erfaßt! Ach, komm!" Jess schlug ihm kräftig auf die Schulter. "Frag mich lieber nicht, wieso er darauf gekommen ist oder was er damit meinte. War jedenfalls nicht so wichtig und für meine Begriffe nur dummes Geschwätz. Laß uns lieber von etwas anderem reden, ja?"

"Wie du willst", war Slim sofort einverstanden.

Allerdings verbrachten sie die nächsten paar Minuten schweigend, gingen gemächlichen Schrittes stumm nebeneinanderher, daß jeder, der sie nicht kannte, angenommen hätte, es handelte sich um zwei Menschen, die sich nicht viel zu sagen hatten. Tatsächlich waren sie jedoch so eng miteinander verbunden, daß jedes Wort nur überflüssig sein konnte.

Auf der Gebäuderückseite kamen sie an aufgestapelten Kisten, Säcken und mit einer Plane abgedeckten Strohballen vorbei. Jess steuerte eine der massiven, sorgfältig beschrifteten Holzkisten an und lehnte sich, halb sitzend, dagegen wie jemand, der nach übermäßiger Anstrengung eine Ruhepause einlegen mußte.

"Was hast du? Geht es dir nicht gut?"

"Ich bin fürchterlich müde, das ist alles." Seine Hand fuhr wie beiläufig unter seine Jacke und rieb über seinen Verband, als wäre dies ein unbewußter Reflex auf die Stiche, die eine unsichtbare Nadel zu verursachen schien.

"Du hast Schmerzen, nicht wahr?"

"Wenn ich das jetzt abstreite …"

"… glaube ich es dir nicht."

Jess gab so etwas wie ein Lachen von sich, das sich beinahe verächtlich anhörte, was sich jedoch nicht auf den Freund beziehen sollte.

"Das habe ich mir gedacht", versuchte er es als harmlos hinzustellen, aber Slim war nicht so leicht zu überzeugen und blickte weiterhin besorgt auf ihn hinab. "Wird wohl von der vielen Husterei eben kommen", setzte er erklärend hinzu, damit er nicht ganz so den Anschein erweckte, seine freundschaftliche Teilnahme ins Lächerliche ziehen zu wollen. Das war nämlich gewiß nicht seine Absicht.

"Soll ich dir vielleicht nicht doch besser einen Kaffee holen oder irgend etwas anderes?"

"Nein, danke, nicht nötig! Wer weiß, wie der hier schmeckt. Nachher wird mir bloß schlecht davon."

"Schlimmer als der von Mort kann er nicht sein. Und den verträgt dein Magen auch."

"Ja, ich weiß", grinste er verstohlen zu ihm auf. "Trotzdem möchte ich es nicht ausprobieren."

"Na schön, wie du willst", gab es Slim auf und setzte sich zu ihm auf die Kiste.

Eine ganze Weile saßen sie dort stumm nebeneinander, fernab vom Bahnhofstrubel, der ausschließlich auf der Gebäudevorderseite stattfand. Hier, hinter der Station, zwischen all den Frachtkisten und Säcken, störte keine Menschenseele die Stille, die beinahe den Hauch von Feierlichkeit annahm.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Jess über die weite Hochebene, ließ den Blick über das naheliegende bescheidene Häusermeer von Laramie schweifen, dann die ferne Bergkette entlang, die sich bald im spätherbstlichen Dunst aufzulösen schien. Es war, als wollte er sich dieses Bild genau einprägen, als nähme er wortlos Abschied von dieser Gegend und all den Menschen, die in ihr lebten, die er kannte, die ihm mehr oder weniger viel bedeuteten, die er vielleicht nicht wiedersah. Plötzlich spürte er Slims Hand auf seinem Rücken. Ein melancholischer Seitenblick streifte den Freund neben ihm, der in kameradschaftlicher Fürsorge meinte, ihn vor dem völligen Abrutschen seiner Stimmung in einen abgrundtiefen Schwermut bewahren zu müssen.

"He, was ist denn los?" fragte er, obwohl er genau wußte, was ihn bedrückte. Aber er wollte nicht, daß er sich noch mehr verschloß.

Ein letztes Mal glitt Jess' Blick in die Runde.

"Wer weiß", sagte er dabei in die Weite, "ob ich das alles jemals wiedersehe …" Er senkte die Lider und starrte zu Boden. "… ob wir uns jemals wiedersehen."

"Natürlich werden wir uns wiedersehen! Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel!"

"Ich weiß nicht, Slim, ich bin mir auf einmal nicht mehr so sicher. Es ist wieder wie eine jener finsteren Ahnungen, die mir solche Angst machen, diese Angst, die ich nicht beschreiben kann, von der ich nicht weiß, wovon sie ausgeht, was der auslösende Grund ist. Sie ist einfach da, und ich kann nichts gegen sie tun. Ich weiß noch nicht einmal, wovor ich sie eigentlich habe. Ist das nicht verrückt?"

"Ein wenig schon."

"Entschuldige, daß ich schon wieder davon anfange."

"Aber da gibt es doch nichts zu entschuldigen. Bis jetzt konnten wir doch über alles reden, oder nicht?"

"Schon, aber das sind vielleicht unsere letzten Minuten. Und die sollte ich nicht mit solch dummem Gerede vergeuden."

"Jetzt hör mal! Erstens sind das nicht unsere letzten Minuten, und zweitens war das auch kein dummes Gerede. Aber selbst wenn dem tatsächlich so wäre, bin ich drittens schließlich dein Freund, mit dem du dich auch mal über dummes Gerede unterhalten kannst, wenn dir danach zumute ist."

"Ich wollte dir noch soviel sagen, und jetzt fällt mir nur dieser Schwachsinn ein."

"Du brauchst mir nichts von alledem zu sagen. Aber wenn du unbedingt willst oder meinst, daß es nötig ist, kannst du es auch tun, wenn du wieder daheim bist." Er versetzte ihm einen leichten Klaps auf den Rücken, daß er ihn erstaunt ansah. "Und vergiß die Viehauktion in Denver nicht – Ende Mai! Sobald ich das genaue Datum kenne, lasse ich es dich wissen, damit du dich darauf einrichten kannst. Nicht daß du da zu spät kommst."

Jess schüttelte ein wenig verwirrt den Kopf und wollte fragen, ob das sein Ernst wäre, ob es nichts Wichtigeres für ihn gäbe als diese Viehauktion. Als sich ihre Blicke trafen, brachte er jedoch keinen Ton mehr heraus. In Slims Augen konnte er lesen wie in einem offenen Buch. Von einer Viehauktion war darin nicht die Rede.

"Weißt du", sagte er auf einmal, wieder in die Weite starrend, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, "mir war zwar klar, daß es nicht leicht werden würde, Abschied zu nehmen. Aber daß es mir so schwer fällt, hätte ich nicht gedacht. Zu Hause konnte ich mich noch einigermaßen beherrschen, aber jetzt, wo ich praktisch vor der letzten Tür stehe, da tut es auf einmal richtig weh. Wenn mir das jemand vor ein paar Jahren gesagt hätte, den hätte ich für verrückt erklärt. Mein Leben lang habe ich immer Wert darauf gelegt, unabhängig zu bleiben. Dann trat plötzlich Laura in dieses Chaos. Da wurde alles mit einem Schlag anders. Als sie starb, war der Rückfall in dieses Chaos um so intensiver. Dann habe ich hier wieder Halt gefunden, eine richtige Familie, zwar nicht, was man im allgemeinen so nennt, aber doch Menschen, die mir … mein Gott, die mir alles bedeuten. Und dann Mike! Durch ihn bekam mein Leben einen ganz neuen Sinn. Und jetzt? Daß ich für längere Zeit weg muß, macht mir nichts aus. Wenn ich nur wüßte, daß es nicht vielleicht für immer wäre. Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß mir das so zu schaffen macht." Jess wandte den Kopf und blickte dem Freund wieder geradewegs in die Augen, in denen kaum weniger Melancholie stand als in seinen eigenen. "Ich weiß nicht, wie du dich fühlst, aber mir geht es ganz fürchterlich beschissen."

"Wenn ich dir jetzt sage, mir geht es nicht so, würdest du mir nicht glauben, nicht wahr?"

Den Mund zu einem wehmütigen Lächeln verzogen, schüttelte Jess kaum merklich den Kopf.

"Dann werde ich es auch nicht tun. Ich bitte dich nur, komm wieder! Egal wie – aber komm wieder, und zwar verdammt noch mal, ohne daß ich dich mit einer Holzki… Entschuldige, mein Gott, entschuldige, das wollte ich nicht …"

"Ist schon in Ordnung." Jess schlug ihm auf den Oberschenkel, versuchte damit, die Spannung ein wenig zu lösen. "In so einer Holzkiste wäre es mir viel zu eng und unbequem."

"Verdammt, Jess, wir sollten darüber nicht auch noch unsere Witze machen!" Slim, ärgerlich über sich selbst, sah ihn ziemlich betreten an, fassungslos über sein eigenes dummes Gerede. "Wir sollten über so etwas am besten überhaupt nicht mehr reden. Bitte, entschuldige!"

"Vergiß es! Tu mir bitte nur den Gefallen und versuche dir gegenüber Mike nicht soviel anmerken zu lassen. Für ihn würde es sonst nur noch schlimmer werden, wenn er mitkriegt, daß es dir im Grunde auch nicht besser geht als ihm. So wie es aussieht, scheint das jedenfalls nicht nur für mich eine schwere Zeit zu werden."

"Soll ich dir mal was sagen? Ich wünschte, ich könnte mir doch einreden, du würdest bloß eine Herde nach Kanada schaffen, von mir aus auch bis nach Alaska oder noch weiter. Und von mir aus könntest du dafür zwei Jahre brauchen! Das würde mir nicht soviel ausmachen wie diese Reise von nicht einmal dreihundert Meilen. Weißt du, was Mike Daisy einmal gefragt hat? Warum tut das nur so weh, wenn man jemanden gern hat?"

"Und was hat Daisy zur Antwort gegeben?" wollte Jess mit belegter Stimme wissen.

"Das weiß ich nicht, weil ich sie nicht gefragt habe. Aber ich glaube, eine Antwort spielt gar keine Rolle. Allein die Frage sagt alles, ist eigentlich schon Antwort genug, findest du nicht?"

"Du erwartest jetzt hoffentlich keine Antwort von mir?"

Slim sah ihn zuerst verwirrt an, senkte dann jedoch den Blick und schüttelte den Kopf.

"Wie könnte ich", murmelte er. "Tut mir leid, Partner, ich mache es mit meinem Gerede wirklich nicht leichter für dich."

"… und auch nicht leichter für dich", setzte Jess mit leiser Stimme hinzu.

Das darauf folgende Schweigen wurde bald vom schrillen Pfeifen der Lokomotive unterbrochen. So wußten sie auch ohne Blick auf die Uhr, daß es Zeit war.

"Ich glaube, wir müssen gehen, sonst verpaßt du noch den Zug", meinte Slim schließlich, als sich der Freund nach einer Weile immer noch nicht regte.

"Ja, glaube ich auch." Jess erhob sich, schwerfällig ächzend wie eine knarrende Kellertür. "Kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß die meinetwegen ihren Fahrplan durcheinanderkommen lassen."

"Ich denke, du bist ein so wichtiger Mann", bemühte sich Slim, die gedrückte Stimmung etwas zu heben.

"Sonst geht es dir gut, ja?" ging Jess zwar darauf ein, aber die Stimmung hob sich deshalb nicht.

"Überhaupt nicht!"

Auch Slim stand von der Kiste endlich auf. Gemächlich gingen sie zurück zur Vorderfront des Gebäudes, wo auf dem Bahnsteig die letzten Fahrgäste einstiegen. Am hinteren Waggon, an dem es wesentlich ruhiger zuging, erwartete sie ein Schaffner in Uniform.

"Mr. Harper?" sprach er Jess an, womit er die zwei abfing, noch ehe sie weiter nach vorn gehen konnten.

"Sieht so aus, als ob du gemeint bist", bemerkte Slim trocken. "Anscheinend hatte ich recht mit meiner Feststellung."

"Gib nicht so an!" kam ein weiterer krampfhafter Versuch, wenigstens nach außen hin locker zu wirken. "Ja, bitte?" wandte sich Jess an den Bediensteten der Union Pacific.

"Wenn Sie bitte hier einsteigen wollen. Ich habe in diesem Waggon ein Abteil für Sie reserviert."

"Vielen Dank. – Tja", wandte sich Jess an den Freund, "jetzt heißt es wohl Abschied nehmen, was?" Er bot ihm die Rechte; Slim ergriff sie mit beiden Händen, umschloß sie fest, als wollte er ihn im letzten Augenblick doch nicht gehen lassen. "Mach's gut, Partner, und halt die Ohren steif! Gib auf Daisy und Mike acht, ja? Sei nicht gar so streng mit dem Jungen, aber laß dir von ihm nicht auf der Nase herumtanzen."

"Mach dir keine Sorgen, Jess!" Slims Stimme klang wie von jemandem, dessen Zunge um das Doppelte geschwollen schien. "Denk jetzt nur an dich, hörst du? Paß auf dich auf und komm vor allen Dingen bald wieder! Und vergiß nicht, von dir hören zu lassen!"

"Werde ja viel Zeit zum Schreiben haben, schätze ich."

"Eben."

"Bis dann, Slim! Sag noch mal viele Grüße zu Hause!"

"Mach' ich!" Der Rancher schluckte geräuschvoll. "Auf Wiedersehen, Partner, auf ein baldiges!"

Endlich gab Slim seine Hand frei. Plötzlich hatte er das furchtbare Gefühl, etwas Wertvolles zu verlieren, ohne daß er es verhindern konnte. Vielleicht war dies das letzte Mal, daß er die Hand seines Freundes schüttelte, seine Stimme hörte, ihn lebend sah.

Mit mahlendem Unterkiefer und nahe daran, die Fassung zu verlieren, wenn er sich dies vorstellte, blickte er ihm nach, wie ihm der Schaffner beim Einsteigen half, weil der Tritt trotz Einsteighilfe sehr hoch war und dabei schon so mancher gesunde Fahrgast gestolpert war.

Auf der hinteren Plattform blieb Jess stehen, weil ihm mit einem Mal tausend Dinge einfallen wollten, die er meinte, noch sagen zu müssen.

"Denk bitte daran, nach Daisys Weihnachtsgeschenk zu sehen!" rief er von oben herunter.

"Keine Angst!"

"Und vergiß nicht, dich nach einer Hilfe umzugucken!"

"Nein, mache ich nachher gleich. Geh jetzt lieber hinein, ehe der Zug los fährt. Ich denke schon an alles!"

Die Waggontüren wurden mit lautem Knall zugeschlagen. Der Schaffner, der Jess beim Einsteigen geholfen hatte, pfiff in seine Trillerpfeife und sprang zu ihm auf die hintere Plattform. Winkend gab er dem Lokführer Zeichen. Dieser antwortete mit schrillem Pfeifen seiner unter vollem Dampf stehenden Lokomotive und setzte den Zug schnaufend in Bewegung.

Slim hob die Hand und rief ein lautes, hoffnungsvoll klingendes "Auf Wiedersehen und komm gesund wieder!" hinterher.

Auch Jess hob die Hand, aber seine Antwort darauf wurde von einem weiteren Pfeifen der Lok übertönt, daß Slim als einziges seinen Namen verstehen konnte. Allerdings wußte er auch, ohne daß er es hören konnte, was der Freund gesagt hatte.

"Hoffentlich kein Lebwohl, Jess!" murmelte er, während er ihm hinterher winkte. "Hoffentlich nicht!"

Er wollte ihm noch etwas zurufen, aber der Zug nahm rasch an Fahrt auf, daß die Entfernung bereits zu groß war. Jess hätte ihn nicht mehr hören können, und für andere Ohren waren seine Worte nicht bestimmt, von denen sich auf dem nun fast leeren Bahnsteig immer noch genug befanden. Slim starrte ihm so lange nach, bis der Zug in einer Kurve wie eine sich windende stählerne Schlange verschwand.

Auf einmal hatte er ein sehr flaues Gefühl im Magen, eine trockene Kehle und seltsam feucht schimmernde Augen.

Die Kugel in seiner Brusttasche schien zu glühen.

Er fühlte sich hundeelend.

Fortsetzung folgt