KAPITEL 32

Hinter der Kurve schnaufte der Zug längst den Paß hinauf, als Jess immer noch auf der Plattform stand und die Gleise entlang starrte, obwohl die Bahnstation weit auf der Strecke zurücklag und von ihr nichts mehr zu sehen war. Auch er fühlte sich hundeelend, was nur zum Teil von seiner schlechten körperlichen Verfassung herrührte. Wenn ihn jemand gefragt hätte, er hätte nicht beschreiben können, wie jämmerlich ihm zumute war. Ihn zu fragen, war allerdings nicht nötig. Ein Blick in seine Augen verriet alles. In ihnen lag soviel Melancholie wie nicht in all den Tagen und Wochen zuvor, wenn er seine tiefsinnigen Phasen hatte.

Während der Zug mit ihm in eine ungewisse Zukunft rollte, mußte er all die Menschen zurück lassen, die ihm soviel bedeuteten, denen er im Grunde verdankte, daß er überhaupt noch lebte, die ihm bisher die Kraft gegeben hatten, an eben diese Zukunft trotz aller Widrigkeiten zu glauben, die wiederum an ihn glaubten und daran, daß er diese Zukunft nicht aufgab – sich selbst nicht aufgab. So sehr er sich etwas anderes wünschte und dafür kämpfen wollte – er mußte sie sehr wahrscheinlich enttäuschen, setzten sie doch zu hohe Erwartungen in ihn und offensichtlich auch in diesen Professor Tyler und dessen Fähigkeiten. Gegen den Lauf der Dinge, die Natur, die Anfälligkeit und Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers, dessen gesundheitlicher Verfall auch nicht mit noch soviel Wille und Verstand aufzuhalten war, gegen das Schicksal schlechthin war selbst ein Professor der Medizin machtlos.

Jess' einziger Trost war die Tatsache, daß er in Colorado Springs nicht unter den Augen seiner Angehörigen sterben mußte, wobei er ihnen vielleicht das Bild eines dahinsiechenden, zerfallenden Lebens geboten hätte. Was sie bis jetzt mit ansehen und erleben mußten, war seiner Meinung nach schlimm genug. Er war froh, ihnen den Rest ersparen zu können. Insofern erschien ihm diese Reise beinahe wie ein Geschenk des Himmels und der schwergefallene Abschied als notwendiges Übel, jedoch besser als der Abschied, der ihnen allen bevorgestanden hätte, hätte er die Möglichkeit dieser Reise nicht gehabt oder wahrgenommen.

Bei diesem Gedanken fiel seine Rechte schwer auf den Walnußholzkolben seines Schießeisens. Plötzlich gab ihm der vertraute Griff ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit, das ihn – wollte er ehrlich sein – in gewisser Weise erschreckte, gehörte es doch zu diesem anderen Jess Harper, den er sowenig kannte, vor dem er selbst Angst hatte, schien er nämlich ein unberechenbarer Zyniker zu sein mit dem gefährlichen Drang, sich selbst zu zerstören. Vor ihm mußte er auf der Hut sein, wollte er nicht zu seinem willenlosen Werkzeug werden.

Wahrscheinlich hätte er während der ganzen Fahrt nach Cheyenne dort auf der Plattform im kalten Fahrtwind gestanden und über dieses Phänomen nachgegrübelt, ohne daß ihm recht bewußt geworden wäre, daß er sich dabei womöglich noch den Tod geholt hätte, denn gegen solche Witterungsunbilden fehlte ihm im Moment die nötige Widerstandskraft. Aber hinter ihm ging die Waggontür auf, und der Schaffner, der ihm in den Zug geholfen hatte, erschien in der Öffnung. Dieser hatte zunächst nicht mitbekommen, daß er ihm nicht in das Wageninnere gefolgt war. Erst als er ihn in das für ihn reservierte Abteil begleiten wollte, stellte er fest, daß er ihn auf dem Weg dorthin irgendwo verloren haben mußte.

"Mr. Harper", sprach er ihn von hinten an, daß sich Jess fast überrascht halb umwandte; irgendwie fühlte er sich – zwar nicht unbedingt ertappt – gestört in seinen recht makabren Grübeleien. "Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber wollen Sie nicht hereinkommen?"

"Gleich", kam eine wenig redselige Antwort so leise, daß sie vom Geratter des Zuges, das hier draußen besonders laut zu hören war, beinahe verschluckt wurde.

"Das ist zwar eine offizielle Aussichtsplattform", erklärte der Schaffner, der sich anscheinend um ihn sorgte, denn er hatte den Auftrag erhalten, sich um ihn zu kümmern und ihm den Aufenthalt im Zug so angenehm wie möglich zu gestalten, "und während der Fahrt ist es demnach nicht verboten, sich auf ihr aufzuhalten, aber bei diesem unfreundlichen Wetter ist es doch kein Vergnügen."

"Sie haben recht", mußte Jess zugeben, ohne sich durch die Fürsorge des Mannes gemaßregelt zu fühlen, wandte sich zu ihm um und bemühte sich sogar, sein freundliches Lächeln zu erwidern. Schließlich konnte der Mann nichts für sein körperliches und seelisches Dilemma und er selbst hätte durch unwirsche Reaktion nichts daran ändern können, höchstens daß er sich in irgend etwas hineinsteigerte, was ihm hinterher, wenn sein kühler Verstand endlich wieder einsetzte, leidgetan hätte. Warum sollte er also auf eine freundliche Aufmerksamkeit nicht ebenso reagieren? "Gehen wir! Hier wird es wirklich ungemütlich."

Womit er gewiß nicht übertrieb, denn der kalte Fahrtwind begann mehr und mehr unter seine Jacke zu kriechen, je weiter der Zug der Paßhöhe entgegendampfte. Vereinzelt tauchten sogar die ersten versteckten weißen Flecken in den Bodenvertiefungen und zwischen den Felsen auf, während die naßkalte Luft intensiver nach Schnee roch und der Himmel jene bleigraue Farbe annahm, die nahendes Schneegestöber verriet. Genau das richtige Wetter für einen Kranken, sich den ausschlaggebenden Rest zu holen. Auf jeden Fall paßte es zu seiner Stimmung, die er jedoch im Beisein anderer nicht so offen zur Schau tragen wollte.

Jess folgte dem Mann in das beheizte Innere des Waggons und ließ sich in das ruhige, leere Abteil führen, das wie ein paar wenige andere vom übrigen Teil des Eisenbahnwaggons separiert war. Hier brachte die Union Pacific für gewöhnlich ihre besser zahlenden und auch bevorzugt zu behandelnden Fahrgäste unter, wenn sie unter sich und nicht in dem noch komfortableren Salonwagen reisen wollten. Vor allem Geschäfts- und Hochzeitsreisende liebten diese ungestörten Separees, von den neugierigen Blicken der übrigen Passagiere abgeschirmt, auf im Gegensatz zu den einfachen Holzbänken gepolsterten Sitzen, aus denen für die Nachtstunden rasch bequeme Liegeflächen gezaubert werden konnten.

"Bitte schön, Mr. Harper", sagte der Schaffner und machte eine einladende Handbewegung, "wenn Sie hier Platz nehmen wollen. Ich hoffe, es ist Ihnen angenehm so."

"Ja, danke, alles bestens", erwiderte Jess, wenig an dem ganzen Darumherumgehabe interessiert. Ihm genügte eigentlich schon ein ruhiges Plätzchen, wo er vielleicht etwas von der fehlenden Nachtruhe nachholen konnte.

"Möchten Sie ablegen?" Noch während er dies sagte, half ihm der Schaffner aus der Jacke und hängte sie an einen dafür vorgesehenen Haken. "Ist Ihnen so angenehm, oder soll ich etwas mehr einheizen lassen?"

"Vielen Dank, ich glaube, es ist ganz gut so."

Etwas unbeholfen, weil ihn soviel Aufmerksamkeit beinahe in Verlegenheit brachte, setzte sich Jess mit dem Rücken zur Fahrtrichtung ans Fenster, wo er sich mit seiner gesunden Schulter in die Ecke kauern konnte. Unter seinem Verband schien ein Großfeuer ausgebrochen zu sein. Wovon es ausgelöst wurde, konnte er sich nicht erklären, war er mit seinen Bewegungen beim Ablegen eher sparsam gewesen. Jedenfalls war er froh, als er sich endlich setzen und zurücklehnen konnte. Anscheinend machte es Sinn, daß Doc Higgins so vehement darauf bestanden hatte, für diese Reise soviel Bequemlichkeit wie möglich für ihn zu organisieren. Selbst die gut gepolsterten Sitze, die er zunächst als unnützes Beiwerk sehen wollte, erwiesen sich jetzt als komfortable Hilfe, dämpften sie doch erheblich die leichten Erschütterungen des rollenden Waggons, die das Feuer in seiner Brust sonst noch mehr geschürt hätten.

"Möchten Sie sich nicht lieber in Fahrtrichtung setzen? Die meisten unserer Fahrgäste bevorzugen das."

"Danke, aber ich sitze ganz bequem so." Allmählich begann sich Jess über sich selbst zu wundern, wieso ihm die Übereifrigkeit des Mannes nicht schon längst auf die Nerven fiel. "Außerdem kann ich mich so herum besser anlehnen."

"Verstehe", nickte der Eisenbahner mit ernstgemeinter Anteilnahme. "Möchten Sie irgend etwas zu lesen? Wir haben jede Menge Zeitungen an Bord. Allerdings sind einige davon schon ein paar Tage alt. Sie wissen ja bestimmt, wie das ist. Manchmal sind sie schon nicht mehr aktuell, bis man sie endlich in Händen hält. Aber als Reiselektüre sind sie gut brauchbar."

"Nein, danke, ich werde lieber versuchen, etwas zu schlafen."

"Soll ich Ihnen eine Decke bringen?"

"Nicht nötig, ist warm genug hier."

Obwohl sich Jess die größte Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, entging dem Schaffner nicht, daß er erhebliche Schwierigkeiten beim Atmen hatte und offensichtlich auch Schmerzen. Seine leise, manchmal sogar stockende Stimme verriet ihn trotz aller Vortäuschungsmanöver.

"Fühlen Sie sich nicht wohl? Soll … kann ich Ihnen irgendwie helfen?"

"Danke, ist schon in Ordnung." Er konnte ein Keuchen nicht mehr länger unterdrücken. Wie in einem unbewußten Reflex preßte er die Hand gegen seine Brust, sich tiefer in die Ecke kauernd. "Es ist nichts weiter."

"Sie scheinen wirklich sehr krank zu sein."

"Das kann ich wohl nicht leugnen, was?" Jess bemühte sich um ein argloses Grinsen, konnte damit sein leicht verzerrtes Gesicht aber nicht ausreichend tarnen.

Der Schaffner machte eine verneinende Kopfbewegung mit ziemlich betretener Miene.

"Kann ich noch irgend etwas für Sie tun?"

"Ich denke nicht, vielen Dank. Nur – wenn Sie mich jetzt bitte allein lassen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden."

"Selbstverständlich!" nickte der Schaffner in ergebenem Eifer. "Sollten Sie irgend etwas brauchen oder Hilfe benötigen, lassen Sie es mich bitte sofort wissen. Ich bin in der Nähe. Im übrigen können Sie es sich getrost bequem machen und sich ausruhen. Sollten Sie schlafen, werde ich Sie rechtzeitig wecken, wenn wir Cheyenne erreichen. Ansonsten werde ich mich darum kümmern, daß Sie nicht gestört werden. Soll ich abdunkeln?"

"Nicht nötig."

"Dann wünsche ich Ihnen angenehmen Aufenthalt."

"Vielen Dank – für alles."

Der Schaffner verabschiedete sich mit einer ehrerbietigen Kopfbewegung und höflich-freundlichem Lächeln.

Jess atmete beinahe seufzend auf. Endlich – endlich! – war er allein. Nicht daß ihm die Anwesenheit des Mannes lästig gewesen wäre, aber er legte keinen gesteigerten Wert darauf, ihm sein miserables Befinden allzu sehr offenbaren zu müssen; denn viel länger hätte er es nicht mehr vor ihm verbergen können, hatte er sowieso schon mehr mitbekommen, als Jess beabsichtigte preiszugeben, zudem ein heftiger Hustenreiz bald jenes Stadium erreichte, in dem er ihn nicht mehr länger unterdrücken konnte. Anscheinend war die angenehm warme Luft im Waggon zu trocken und wahrscheinlich zu staubig, daß sie seine Schleimhäute reizte.

Der heisere Husten jagte ihm höllische Stiche durch die Brust, daß er nahe daran war, nach der Flasche mit dem Laudanum in seiner Jackentasche zu greifen. Obwohl er wußte, daß dies keine Lösung darstellte, erreichte er diesmal sehr schnell die Grenze dessen, was er an Schmerzen auszuhalten vermochte, zudem er hier nicht zu Hause war. In aller Öffentlichkeit – auch wenn er im Moment allein war und sich unbeobachtet fühlte – wollte er sich nicht so gehenlassen.

Da ihm die Kraft fehlte, dem Toben in seiner Brust angemessenen Widerstand entgegenzusetzen, fingerte er nach der braunen Arzneiflasche in seiner Jackentasche. Mit dem Abzählen von Tropfen hielt er sich nicht lange auf, sondern nahm gleich einen kleinen Schluck, von dem er schätzte, daß es die richtige Dosis war, die zwar seine Schmerzen einigermaßen betäubte, ihn aber nicht teilnahmslos machte oder gar so tief einschläferte, daß er die nächsten Stunden nicht mehr zu sich kam oder völlig außer Gefecht gesetzt war.

Die Flüssigkeit hinterließ einen bitteren Arzneigeschmack auf seiner Zunge. Seine Hand zitterte sogar etwas, als er die Flasche wieder in der Tasche verschwinden ließ. Jetzt kauerte er in der Ecke, die Rechte fest gegen die schmerzende Brust gepreßt, wie abwesend aus dem Fenster starrend, und hoffte, daß die Wirkung bald einsetzte. Dabei versuchte er sich auf so etwas Nebensächliches zu konzentrieren wie das Rattern des Zuges, das mit seiner Gleichmäßigkeit beinahe etwas Einschläferndes verbreitete.

Nach ein paar Minuten entkrampfte sich sein Körper, Schmerzen und Hustenreiz ließen nach, wurden erträglicher, daß er endlich wieder einigermaßen normal atmen konnte. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, die er mit einer fahrigen Handbewegung wegwischte. Wenn er ehrlich sein wollte, stimmte es ihn nachdenklich, daß ihm der Griff nach dem Laudanum von Mal zu Mal leichter zu fallen schien. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein; vielleicht waren es die Schmerzen, die von Mal zu Mal schlimmer wurden, daß es ihm nur deshalb leichter fiel, sich zu überwinden.

Während die Lokomotive mit ihren Hunderten von Pferdestärken die anhängenden Waggons langsam, aber stetig den Paß hinaufzog, es draußen zu schneien begann und allgemein sehr ungemütlich zu sein schien, was das Wetter und die unwirtliche Felsenlandschaft betraf, empfand es Jess als regelrecht angenehm, im warmen Abteil zu sitzen und einfach die brennenden Augen schließen zu können. Er war hundemüde. Daran war mit Sicherheit nicht das Laudanum schuld. Es half ihm nur, sich trotz dem Kochen in seiner Brust zu entspannen. Seine Lider waren wie Blei. Keine zwei Minuten später hatte ihn die Müdigkeit übermannt, daß er, wie vom Rattern des Zuges hypnotisiert, einschlief.

Ein langgezogenes Pfeifen, mit dem der Lokführer ein paar Antilopen von den Gleisen jagte, die sich dort auf halbem Weg zum Paß im Schneegestöber eingefunden hatten, schreckte Jess kaum eine halbe Stunde später auf. Verwirrt blickte er um sich, hatte im ersten Augenblick Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, nicht nur was die landschaftliche Gegend betraf, sondern auch sein allernächstes Umfeld, und konnte sich zunächst nicht erklären, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.

Ein weiteres Signal zerschnitt die Stille der Berge, tönte wie ein übermütiger Gruß, dessen Antwort ein wenig klangvolles Echo war.

Mit dem Handrücken rieb Jess über die angelaufene Scheibe und warf einen schläfrigen Blick aus dem Fenster. Im Nu wußte er, wo genau sich der Zug befand, kannte er die Gegend zwischen Laramie und Cheyenne doch wie seine Westentasche. Draußen herrschte dichtes Schneetreiben, das den weiteren Blick in die zum Teil atemberaubende Landschaft verwehrte. Hier oben gab es oft einen frühen Wintereinbruch, und der Schnee hielt sich dann bis lange ins Frühjahr hinein. Das trübselige Wetter konnte nicht besser zu seiner Stimmung passen.

Mit einem lauten Aufatmen, das schon eher an ein Aufseufzen erinnerte, löste er sich aus der Ecke, wischte sich ein paarmal mit der flachen Hand übers Gesicht und richtete sich dann leicht schwankend auf.

Beim Einsteigen hatte er den Trinkwasserbehälter gleich neben seinem Abteil entdeckt. Vielleicht konnte er mit einem Schluck Wasser den ekelhaften Geschmack von seiner Zunge spülen. Und vielleicht würde es auch seinem Kreislauf guttun, wenn er sich etwas die Beine vertrat, zudem er im Moment wenigstens seine Schmerzen und den Hustenreiz einigermaßen unter Kontrolle zu haben schien. Offensichtlich war der Griff nach der Laudanum-Tinktur nicht verkehrt gewesen. Wenn er anschließend ein, zwei Stunden ruhen konnte, ginge es ihm sicherlich wieder etwas besser. Es war wohl doch eine kluge Entscheidung gewesen, diese Reise mit der Eisenbahn zu machen, anstatt sich in einer zugigen Kutsche den Unbilden des beginnenden Winters auszusetzen.

Jess war noch nicht richtig draußen auf dem Gang, als er dem diensteifrigen Schaffner in die Arme lief, der anscheinend nur deshalb im Zug war, um sich um das Wohl ein paar weniger ausgewählter Fahrgäste zu kümmern.

"Kann ich Ihnen helfen, Mr. Harper?" war er sofort zur Stelle, daß es Jess beinahe zuviel wurde, mit soviel Aufmerksamkeit überschüttet zu werden.

"Nein, danke, ich wollte eigentlich nur einen Schluck …"

"Aber Sie brauchen doch nur etwas zu sagen. Nicht nötig, daß Sie sich selbst …"

"Bitte, bemühen Sie sich nicht!" hielt Jess ihn freundlich abweisend zurück, wollte der Mann nur tun, wofür er bezahlt und wahrscheinlich auch von seiner natürlichen Höflichkeit getrieben wurde. "Tut mir ganz gut, wenn ich mir ein bißchen die Beine vertrete."

"Wie Sie möchten. Fühlen Sie sich jetzt besser? Sie sahen vorhin wirklich sehr elend aus."

Der Schaffner fand zwar, daß er dies immer noch tat, aber nun, da Jess einigermaßen aufrecht vor ihm stand und ihn um einen halben Kopf überragte, machte er einen etwas stabileren Eindruck als diese zusammengekauerte Gestalt in der Ecke des Abteils.

"Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. War nicht meine Absicht."

"Ich bitte Sie! Ich habe mir nur Sorgen gemacht."

"Danke, aber das brauchen Sie wirklich nicht."

Jess schlängelte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an ihm vorbei, um sich endlich Wasser zu schöpfen. Er merkte, wie ihm die Augen des Schaffners folgten, beachtete dies aber nicht weiter, trank statt dessen zwei Kellen Wasser, worauf er sich gleich viel wohler fühlte. Vor allem verschwand der ekelhafte Geschmack auf seiner Zunge fast vollständig bis auf einen faden Rest – er hätte schwören können, nach Blut!

Kaum war Jess in sein Abteil zurückgekehrt, als er auf dem Gang hinter sich laute Stimmen hörte. Offensichtlich war der Schaffner mit einem der Fahrgäste in eine ziemlich heftige Diskussion geraten. Eigentlich wollte er sich darum nicht weiter kümmern, denn erstens ging es ihn nichts an, und zweitens war er nicht sonderlich daran interessiert, in irgendeine noch so harmlose Auseinandersetzung mit wem oder weswegen auch immer verwickelt zu werden.

Dann rief der Fahrgast aber seinen Namen den Gang entlang, daß er sich verwundert umwandte und zurückblickte, wo es in die vordere Hälfte des Waggons mit den billigeren Sitzplätzen ging. Nicht allein die Tatsache, daß ihn hier jemand so gut kannte und mit seinem Vornamen ansprach, sondern vielmehr, daß ihm die Stimme so bekannt vorkam, machte ihn stutzig. Auf dem Gang entdeckte er zu seiner grenzenlosen Überraschung Lincoln Majors, in der Rechten eine etwas überdimensionale Reisetasche, von der er sich anscheinend beim Einsteigen nicht trennen wollte, mit der Linken ihm beinahe stürmisch zuwinkend, vor Freude strahlend, ihn entdeckt zu haben, während der Schaffner sich anzuschicken versuchte, ihn in die andere Hälfte des Waggons zurückzudrängen und ihm mit Worten und energischen Gesten klarmachen wollte, daß er als normalzahlender Fahrgast im Separeeteil des Waggons nichts verloren hatte.

"Nanu, Mr. Majors!" entfuhr es Jess verblüfft, ihm hier zu begegnen.

Der wild gestikulierende Schaffner beruhigte sich etwas, behielt den gewichtigen Mann aber, von dem er annahm, daß er nichts weiter als ein aufdringlicher Vertreter war, der den Fahrgästen seine dubiosen Waren aus der riesigen Tasche feilbieten wollte, streng im Auge.

"Sie kennen diesen Mann?" fragte er Jess, versperrte Lincoln Majors jedoch mit seinem Körper den weiteren Zugang. Zuerst mußte er klipp und klar die Verhältnisse prüfen, ehe hier so ein plumpvertraulicher Hosenträgerverkäufer seine bevorzugten Fahrgäste belästigte und womöglich noch vergraulte. So etwas gab es bei der Union Pacific nicht!

"Aber natürlich! Das ist doch …" Lincoln Majors gab hinter dem Rücken des Schaffners Jess auffallend Avis, nicht zu sagen, wer er war. Jess wunderte sich etwas darüber, verstand jedoch den Wink und reagierte entsprechend. "… ein alter Bekannter."

Der Eisenbahner musterte den beleibten Bankier mißtrauisch. Daß diesen Klinkenputzer ausgerechnet ein Mann wie Jess Harper kannte, fand er äußerst absonderlich.

"Sind Sie sicher?" zweifelte er auch prompt – sein Verdacht, einen zwielichtigen Wundermittelverkäufer vor sich zu haben, der in Jess ein potentielles Opfer gefunden zu haben glaubte, war nicht so leicht aus der Welt zu schaffen.

"Natürlich!"

"Na ja", machte der Schaffner abfällig nach einem weiteren, sehr geringschätzigen Blick, der über Lincoln Majors von oben bis unten wie über einen wertlosen Gegenstand glitt, "wenn das so ist. Ich befürchtete, er wollte Sie belästigen. Hat mir zu gezielt nach Ihnen gefragt."

"Das ist schon in Ordnung! Keine Angst, er wollte mich bestimmt nicht belästigen."

"Na ja", wiederholte der Schaffner, nicht viel freundlicher dem vermeintlichen Vertreter gegenüber. "Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, kann er Ihnen selbstverständlich Gesellschaft leisten", willigte er ein, ohne einen Hehl daraus zu machen, daß ihm dies nicht recht war.

"Zu freundlich", grinste Majors vergnügt, obwohl der Schaffner nicht mit ihm gesprochen hatte.

Er sah den Bankier mißbilligend an.

"Aber dafür müssen Sie auch den Aufschlag zum normalen Fahrpreis zahlen!" erklärte er wenig freundlich in der Hoffnung, daß der Platzwechsel im letzten Augenblick an den finanziellen Mitteln dieses penetranten Handlungsreisenden scheiterte.

"Das ist doch selbstverständlich!" erwiderte Majors, sehr zum Leidwesen des Mannes, zückte seine Brieftasche, die für die Begriffe des Schaffners etwas zu dick gefüllt war, und bezahlte anstandslos den Differenzbetrag.

Trotzdem ließ er ihn nur widerstrebend an sich vorbei und jagte giftige Blicke hinter ihm her, als er mit seiner überdimensionalen Reisetasche und einem verschmitzt schmunzelnden Jess Harper in dessen Abteil verschwand.

"Dieser Mensch wollte mich tatsächlich nicht zu Ihnen lassen", grinste Majors, während er ablegte.

"Er nimmt halt seinen Auftrag sehr ernst."

"Haben Sie ihm den gegeben?"

"War nicht nötig. Irgend jemand ist mir da zuvorgekommen."

"Entschuldigen Sie, Jess, aber ich überfalle Sie hier wirklich. Ich habe schon abgelegt und frage Sie gar nicht, ob ich das darf."

"Warum sollten Sie denn nicht dürfen? Wenn es Sie nicht stört, daß ich sehr wahrscheinlich nicht sehr unterhaltsam sein werde – bitte sehr!" Jess zog sich in seine Ecke zurück und beobachtete den schwergewichtigen Mann, wie er zuerst seinen Mantel aufhängte und dann die große Reisetasche verstaute, die offensichtlich einige Pfunde wog, von der er sich partout nicht trennen wollte. "Das ist wirklich ein Zufall, daß Sie auch in diesem Zug sind", bemerkte er spitzfindig.

"Ja", strahlte Majors ihn an, als hätte er in einer Lotterie das große Los gezogen. "Wo darf ich mich setzen?" fragte er sehr höflich.

"Wo Sie wollen." Jess hatte nicht das Gefühl, daß diese Frage nur aus Verlegenheit gestellt wurde, sondern weil sich Majors tatsächlich ein wenig als Eindringling fühlte und auf sämtliche seiner etwaigen Wünsche Rücksicht nehmen wollte. Dafür begann der Mann allerdings den Verdacht in ihm zu wecken, daß es im Grunde gar kein Zufall, sondern geplante Absicht war, mit ihm im selben Zug zu reisen. "Oder ist das etwa gar kein Zufall?" vermutete er deshalb, ihn lauernd von unten heraus ansehend, erwartungsvoll die eine Braue hochziehend.

"Wie kommen Sie darauf?"

"Nur so!" Jess machte eine nichtssagende Geste. Nach einem sinnenden Blick auf die schwere Reisetasche, die neben dem Bankier auf dem Nachbarsitz thronte und auf die er betont lässig seinen rechten Ellbogen legte, nachdem er auf der gegenüberliegenden Sitzbank Platz genommen hatte, nahm sein Verdacht konkretere Formen an. Ihm schwante Ungeheuerliches. "Sind Sie geschäftlich unterwegs oder nur zu Ihrem Vergnügen?"

"Geschäftlich, Jess, geschäftlich!"

"Nach Cheyenne?"

"Ja, nun, nachdem Arthur Kellington in der Geldtransportangelegenheit bisher keinen Schritt vorankam, habe ich mir gedacht, die Sache selbst in die Hand zu nehmen."

"Keine schlechte Idee!" Jess glaubte ihm kein Wort. "Ich nehme an, jetzt wollen Sie auf eigene Faust versuchen, jemanden zu finden, der geeignet ist, auf das Geld aufzupassen."

"Nicht ganz!" Lincoln Majors strahlte immer noch wie sieben Sonnen. "Habe ich alles schon arrangiert."

Jetzt war es kein Verdacht mehr. Mit einem Schlag durchschaute Jess den Plan. Ein nicht ganz sauberer Plan, seiner Meinung nach, und das Schlimmste – er war ein Teil davon! Ob von Lincoln Majors von vornherein beabsichtigt oder nicht – Jess steckte mittendrin, ob er wollte oder nicht.

"Es ist in der Tasche, nicht wahr?"

"Nicht so laut!" bat der Bankier, obwohl Jess schon die ganze Zeit nur sehr leise sprach, nicht weil er Angst hatte, es könnte jemand mithören, sondern weil ihn jedes lautere Sprechen zu sehr angestrengt hätte. Außerdem war die Tür zum Abteil geschlossen und außer ihnen kein Mensch in der Nähe. Überdies verhinderte das stetige Rattern des Zuges, daß selbst jemand, der heimlich angestrengt lauschte, etwas verstand.

"Sie sind verrückt, wissen Sie das!" stellte Jess lapidar fest.

"Wieso? Sie selbst haben mich auf diese Idee gebracht."

"Trotzdem … zwischen einer Idee und der Umsetzung … Das ist doch bodenloser Leichtsinn!"

"Ich bin der Meinung, das ist die Lösung überhaupt!"

"Weiß sonst noch jemand davon?"

"Keine Menschenseele, nur Sie und ich."

"Tss, ich kann es nicht glauben!" Jess kratzte sich fassungslos am Ohr. "Sie haben wirklich Nerven! Was meinen Sie, wenn das schiefgeht?"

"Aber es wird nichts schiefgehen! Die Bank bleibt heute wegen des Feiertages gestern geschlossen, für jeden, der es hören will, fahre ich heute nach Cheyenne, um Arthur Kellingtons Arbeit zu machen, und dabei habe ich in spätestens vier Stunden das Problem gelöst. Obendrein begleitet mich bei meiner Mission genau der Mann, auf dessen Gesellschaft ich den allergrößten Wert dabei lege. Und ganz nebenbei hält mich jeder im Zug für einen überaus lästigen Vertreter, der die Fahrgäste mit aufdringlichem Geschäftsgebaren vergraulen könnte. So gesehen, kann überhaupt nichts schiefgehen."

"Komischerweise kann ich es Ihnen noch nicht einmal verübeln, daß Sie mich da für Ihre Zwecke mißbrauchen – wahrscheinlich weil Ihre Tollkühnheit, mit der Sie diesen Plan durchführen, in gewisser Weise bewundernswert ist. Allerdings fürchte ich, daß ich Sie enttäuschen müßte, wenn es tatsächlich zu einem Zwischenfall käme. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß ich eine Hilfe für Sie wäre. Bestimmt nicht, möchte ich sogar behaupten!"

"Um Gottes willen, Jess, ich hatte wirklich nicht vor, Sie in irgendeiner Weise ausnutzen zu wollen. Sie sind zu überhaupt nichts verpflichtet in der Beziehung. Aber, verstehen Sie mich bitte, ich fühle mich in Ihrer Nähe einfach sicherer."

"Sie vergessen anscheinend völlig, was mit mir los ist! Selbst wenn ich wollte, wäre es unverantwortlich von mir, es zuzulassen, daß Sie sich auf meinen Schutz verlassen. Ich selbst kann mich nicht auf mich verlassen, weil mir trotz gutem Willen das da", er deutete nachdrücklich mit dem Daumen auf seine Brust, "jederzeit einen ziemlich brutalen Strich durch die Rechnung machen kann. Mir scheint, das haben Sie in Ihrem genialen Plan übersehen."

"Wie könnte ich! Deshalb käme es mir auch nicht in den Sinn, irgend etwas in der Richtung von Ihnen zu verlangen oder zu erwarten. Das ändert jedoch nichts daran, daß ich mich nirgendwo und bei niemandem so sicher fühlen kann wie in Ihrer Nähe. Gewiß, Sie sind körperlich nicht gerade in Höchstform, aber Ihre Nerven befinden sich in tadellosem Zustand, und Ihre Rechte funktioniert schnell und präzis wie eh und je."

"Wenn Sie sich da nur nicht täuschen!"

"Und selbst wenn, könnte ich nirgends besser aufgehoben sein als hier bei Ihnen. Ihre Zuverlässigkeit ist auch in Ihrer schlechten Verfassung immer noch um einiges höher als die eines dieser hochbezahlten Abenteurer, die nur eine große Klappe haben, aber sonst keinen Mumm aufweisen. Für mich sind Sie der beste Schutz, den ich mir wünschen kann. Ich bin sicher, mein Gepäck wird Cheyenne in einwandfreiem Zustand erreichen, egal, was passiert."

"Sie sind wirklich unverbesserlich."

Jess schüttelte verständnislos den Kopf und gab es relativ schnell auf, Lincoln Majors von irgend etwas anderem überzeugen zu wollen. Es hatte einfach keinen Sinn. Darüber hinaus fühlte er sich nicht in der Lage, ein umfangreiches Streitgespräch zu führen. Nach wie vor hatte er die feste Absicht, den Großteil der Fahrt mit Schlafen zu verbringen. Daran änderte auch die Anwesenheit des Bankiers nichts oder gar die seiner gewichtigen Reisetasche. Soweit ging sein Pflichtgefühl nicht. Wenn Lincoln Majors meinte, er könnte ihn als persönlichen Leibwächter benutzen, war das seine Sache. Er hatte seiner Ansicht nach nichts getan, was diesen Entschluß gefördert haben könnte.

"Ich kann Ihnen nur eines versichern", zog er für ihn das unumstößliche Resümee, "wenn in den nächsten drei oder dreieinhalb Stunden jemand durch diese Tür da kommen und versuchen sollte, sich mit Gewalt Ihr Gepäck anzueignen, könnte und würde ich nicht viel tun, das zu verhindern. Das lassen Sie sich gesagt sein! Ich würde genauso wie Sie meine Hand hochnehmen und hoffen, mit heiler Haut davonzukommen."

"Ich würde Sie auch um nichts anderes bitten, denn ich könnte nichts anderes verantworten – und ich wäre gewiß nicht von Ihnen enttäuscht – im Gegenteil! Machen Sie sich keine Gedanken, Jess! Erstens wird gewiß nichts dergleichen passieren, und zweitens verlange ich auch nicht von Ihnen, daß Sie für so etwas Ihr Leben aufs Spiel setzen. Dazu habe ich kein Recht."

"Mr. Majors", wollte Jess dieses Gespräch beenden, weil es ihm auf die Dauer zu anstrengend wurde, "ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich würde unsere Unterhaltung gern abschließen. Nicht daß Sie sich ärgern, aber ich fühle mich nicht besonders und wollte die Fahrt eigentlich dazu nutzen, mich etwas auszuruhen. Wenn Sie nichts dagegen haben …"

"Aber nein, um Gottes willen, lassen Sie sich durch mich nicht stören! Ich habe mir ein paar Zeitungen besorgt. Ich komme ja sonst kaum dazu, sie zu lesen. Schlafen Sie ruhig. Ich werde Sie rechtzeitig wecken, wenn wir Cheyenne erreichen. Seien Sie unbesorgt. Tun Sie inzwischen einfach so, als wäre ich gar nicht da. Nur möchte ich gerne in Ihrem Abteil bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht."

"Von mir aus! Ich weiß", setzte Jess fast gleichmütig hinzu, "hier fühlen Sie sich sicher."

Diesen Mann hätte er in hundert Jahren mit noch so plausiblen Argumenten nicht überzeugen können. Das beste war, es einfach aufzugeben. Gelangweilt beobachtete er ihn, wie er seine Reiselektüre hervorholte und nach einem entschuldigenden Lächeln für das laute Rascheln des Papiers beim Auseinanderfalten hinter seiner Zeitung verschwand, mit sich und der Welt in höchstem Maße zufrieden.

Zum Glück war Jess viel zu müde, sich über diese Unverfrorenheit, die er im stillen bewunderte, weitere Gedanken zu machen, sonst hätte er sich vielleicht während der ganzen Fahrt über mögliche Zwischenfälle den Kopf zerbrochen, von denen Lincoln Majors einfach annahm, daß sie nicht eintreten konnten. Sein Plan war so gewagt, daß man ihn tatsächlich nicht mehr als leichtsinnig bezeichnen konnte, sondern eher als genial. Das hätte er ihm natürlich niemals bestätigt. Daß er ihn selbst darauf gebracht hatte, konnte den Bankier beim Treffen dieses Entschlusses nur entlasten. Jess konnte also wirklich nur hoffen, daß von diesem Unterfangen außer ihnen beiden niemand etwas wußte oder auch bloß ahnte. Es hätte sonst sehr unangenehm werden können.

Statt diese möglichen Unannehmlichkeiten weiter zu ergründen, starrte Jess in das Schneegestöber, das der eisige Nordwind gegen die Scheibe trieb. Zumindest hatte Lincoln Majors' Auftauchen trotz allem etwas Positives: Jess wurde bei seiner Grübelei über seine eigenen Probleme derart aus dem Konzept geworfen, daß es ihm schwerfiel, sich erneut darauf zu konzentrieren. So kam es, daß ihn die Eintönigkeit der wenig belebenden Aussicht auf die vorbeiziehende Landschaft und die Stille, die im Abteil eingekehrt war, allmählich wieder einschläferte. Daß ihn dabei nicht einmal die Anwesenheit einer Tasche voller Bankgelder störte, bewies im Grund nur, wie entsetzlich krank er war.

Nach einem ziemlich geräuschvollen Umblättern senkte Lincoln Majors die Zeitung, um sich für die Lautstärke zu entschuldigen und dabei gleich herauszufinden, ob er vielleicht nicht doch wieder ein Gespräch in Gang brachte, unterhielt er sich eigentlich gern mit diesem Mann, der zu jenen gehörte, die meinten, was sie sagten und nicht bloß der Konversation wegen dummes Gerede von sich gaben. Aber es war bereits zu spät. Jess lehnte entspannt in seiner Ecke und schien fest zu schlafen.

Majors betrachtete ihn eine Weile, bedauerte zutiefst sein kränkliches Erscheinungsbild, seinen abgezehrten Körper, seine erschreckende Hinfälligkeit. Auch ohne den leeren linken Ärmel war ihm anzusehen, daß er ein todkranker Mann war, dessen fahles Gesicht im trüben Tageslicht noch eingefallener wirkte, als es ohnehin schon war. Trotzdem traute Majors ihm mehr zu als jedem dieser Möchtegernhelden, die schon kalte Füße bekamen, ehe die ersten Schwierigkeiten überhaupt auftauchten.

Sein Blick fiel auf den breiten Ledergürtel mit dem Holster, in dem – nicht aufreizend, sondern wie selbstverständlich – der schwere sechsschüssige Colt steckte, der bei diesem Mann ein natürliches Attribut seiner Selbstsicherheit zu sein schien, sie lediglich unauffällig unterstrich, anstatt sie prahlerisch zu betonen. Wahrscheinlich fühlte er sich deshalb so sicher in seiner Nähe, selbst jetzt, da ihn seine Schwäche übermannt hatte und er fest zu schlafen schien. Vielleicht könnte ihn in seinem Zustand jemand im ersten Augenblick überrumpeln. Das wollte Majors nicht bezweifeln. Diese momentane Achillesferse gestand er ihm aufgrund seiner schlechten Verfassung ohne negative Wertung zu; denn er wußte, daß er sich deshalb nicht unterkriegen ließe. Das war es, was ihn an diesem Mann faszinierte und weswegen er ihm in jeder kritischen Situation blindlings vertraute. Selbst ein Versagen würde er ihm nicht als Fehler nachtragen, sondern als Ergebnis von widrigen Umständen sehen.

Lincoln Majors' spekulative Reflexionen wurden vorübergehend unterbrochen, als Jess im Schlaf ein paarmal keuchte und anschließend leise vor sich hin stöhnte, ohne jedoch wachzuwerden. Er drehte nur den Kopf zur anderen Seite und lehnte jetzt mit der Schläfe am Seitenpolster des komfortablen Sitzes, daß der Bankier die frische Narbe der tiefen Furche an seinem Hals erkennen konnte, die ihm die eine Kugel bei der Schießerei letzten Freitag gezogen hatte. Unwillkürlich rutschte sein Blick weiter herunter über seine linke Schulter und Brustseite. Plötzlich mußte sich Majors fragen, wie diese Narbe unter seinem Verband aussah. Allein die vage Vorstellung von ihr und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit dieses Mannes trieben ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

"Es ist erschreckend, was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann, ohne dafür einen Grund haben zu müssen!" murmelte er tief betroffen vor sich hin. "Wieso ein Mensch überhaupt zu so etwas fähig ist! Mein Gott, was ist das nur für eine verkehrte Welt!" Über diese niederschmetternde Erkenntnis mußte er verständnislos den Kopf schütteln.

Um sich von seinen frustrierenden Feststellungen über die unabänderlichen Tatsachen abzulenken, stand er auf, um den Schaffner um eine Decke für den Schlafenden zu bitten. Ohne allzu lautes Scharren zu verursachen und ihn damit möglicherweise noch zu wecken, zog er die Schiebetür zurück und blickte hinaus auf den Gang. Sofort erschien der Kopf des Schaffners an der Ecke. Allerdings verfinsterte sich dessen Gesicht schneller, als es sich erwartungsvoll aufgehellt hatte, nachdem er entdecken mußte, daß es nur dieser aufdringliche Vertreter war, der offensichtlich einen Wunsch äußern wollte. Dieser aufgeblasene Dickwanst hatte zwar den Zuschlag für das Separee bezahlt, mit Freundlichkeit durfte der jedoch nicht rechnen, da konnte er zehnmal ein Bekannter von Jess Harper sein!

"Ach, entschuldigen Sie bitte", sagte Majors sehr freundlich, obwohl er nicht das Gefühl hatte, daß ihn der Schaffner deshalb mit Zuvorkommenheit überschüttete; aber das war ihm egal. Auch er hatte als Bankier mit den unterschiedlichsten Leuten zu tun, daß er die verschrobensten Charaktere zu nehmen wußte, wie sie sich ihm darboten. "Könnte ich bitte eine Decke haben?" bat er in verhaltenem Ton, damit er den Schläfer hinter sich nicht störte.

"Eine Decke?" vergewisserte sich der Schaffner, als hätte er sich verhört, nicht den geringsten Eindruck erweckend, die Bitte des Mannes erfüllen zu wollen. Aber er kam näher, weil er das unbestimmte Gefühl nicht los wurde, nach dem Rechten sehen zu müssen. Leuten wie diesem Bauchladenverkäufer war nicht über den Weg zu trauen.

"Ja, bitte – für Mr. Harper."

Erst nach einem prüfenden Blick in das Abteil hellte sich die verschlossene Miene des Eisenbahnbediensteten etwas auf.

"Selbstverständlich", sagte er wie ausgewechselt, "ich bringe sofort eine." Er verschwand nur für Sekunden und brachte in gewohntem Eifer das Gewünschte. "Ich fragte ihn bereits, ob ich ihm eine bringen sollte, aber er lehnte ab."

Mit einem "Vielen Dank!" nahm Majors die leichte Wolldecke, schloß die Abteiltür und schüttelte die gefaltete Decke auseinander, die er sorgfältig über den schlafenden Mann in seiner Ecke breitete, dabei äußerst bemüht, seiner kranken Schulter nicht zu nahe zu kommen oder seinen Schlaf zu stören, den er offenbar sehr nötig hatte.

Dann setzte er sich auf seinen Platz und begann wieder in seiner Zeitung zu lesen, war beim Umblättern der Seiten jedoch sehr vorsichtig, um allzu lautes Rascheln zu vermeiden, und warf häufig einen prüfenden Blick auf sein Gegenüber, um sich zu vergewissern, daß die Decke inzwischen nicht verrutscht und auch ansonsten alles mit ihm in Ordnung war. Dabei vergaß er völlig den bedeutungsvollen Inhalt seiner Reisetasche.

Die weitere Fahrt nach Cheyenne verlief ohne irgendwelche Zwischenfälle. Kein Mensch ließ sich in der Nähe des ruhigen Abteils blicken. Nur der Schaffner sah ein paarmal durch das Fenster in der Schiebetür, um sich davon zu überzeugen, daß mit seinem bevorzugt zu behandelnden Fahrgast alles in Ordnung war. Kurz bevor der Zug Cheyenne erreichte, streckte er den Kopf herein und wollte an die Ankunft in der Territoriumshauptstadt erinnern.

"Die nächste Station ist Cheyenne. In etwa zehn Minuten sind wir da", verkündete er mit gedrosselter Stimme, da Jess immer noch schlief.

"Vielen Dank", erwiderte Majors und nahm seine Zeitung herunter; er hatte die letzten drei Stunden nur gelesen.

"Soll ich …"

"Nicht nötig! Ich kümmre mich um ihn, keine Angst!"

Argwöhnisch dreinblickend, ließ der Schaffner die beiden ungleichen Männer allein. Diesem Vertreter traute er zu, daß er Jess Harper während seines Schlafes bis auf den letzten Cent ausgeraubt hatte, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß dieser sich das so nichtsahnend gefallen ließe, erweckte er bei ihm doch eher den Eindruck, sich trotz seines kränklichen Zustandes von so einem wie diesem Handlungsreisenden nicht überrumpeln zu lassen.

Derweil packte Majors seine Zeitungen ein – die Lektüre würde ihm mehr als reichlich die Zeit bei der Rückfahrt verkürzen – und stand auf, um sich über den Schlafenden zu beugen. Es tat ihm aufrichtig leid, ihn wecken zu müssen.

"Jess!" sprach er ihn mit gedämpfter Stimme an, um ihn nicht zu erschrecken. Wenn er hochfuhr und sich dabei ungeschickt bewegte, hätte er sich empfindlich wehtun können. "Jess, kommen Sie zu sich!" Er berührte ihn an der rechten Schulter und begann ihn sanft zu schütteln. Endlich kam in den Schläfer Leben, er brummelte etwas vor sich hin, wollte sich jedoch gleich wieder fester an das Polster lehnen. "Jess, Sie müssen aufwachen! Jess!"

Diesmal drang sein Name bis in sein Bewußtsein. Langsam öffnete er die Augen, erkannte das runde, freundliche Gesicht des Bankiers über sich und war mit einem Schlag hellwach.

"Mr. Majors!" rief er verwirrt. "Ist …" Beim allzu raschen Aufrichten meldete sich sofort seine zerschossene Rippe. "Ist etwas passiert?"

"Woher denn! Seien Sie um Gottes willen vorsichtig und machen Sie langsam! Nicht daß Sie sich selbst verletzen!"

"Ich glaube, ich habe richtig fest geschlafen, was?"

"Das kann man wohl sagen. Es hat mir regelrecht leidgetan, Sie wecken zu müssen, aber wir kommen bald nach Cheyenne."

"Schon?" Jess warf einen überraschten Blick aus dem Fenster. Nachdem sie den Paß hinter sich hatten, hörte es bald auf zu schneien. Jetzt war der Himmel sogar aufgeklart, und vereinzelt brach eine wäßrigkalte Wintersonne durch. "Tatsächlich!" stellte er verblüfft fest. "Ich habe überhaupt nichts mitgekriegt."

"Das habe ich gemerkt. Sie sind noch nicht einmal aufgewacht, als der Lokführer bei jedem Halt ein wahres Pfeifkonzert veranstaltete."

"Hab' ich wirklich nicht mitgekriegt." Jess wischte sich ein paarmal über sein verschlafenes Gesicht und schien endlich diese bleischwere Zerschlagenheit abgeschüttelt zu haben. "Hat mir aber anscheinend gut getan. Jedenfalls fühle ich mich um einiges besser als heute morgen." Er richtete sich auf und nahm die Decke herunter. "Haben Sie mich zugedeckt?"

"Ja, ich dachte, es ist Ihnen bequemer so."

"Vielen Dank!"

Er versuchte, in seine tauben Muskeln durch kräftiges Anspannen Leben zu bringen, keuchte und massierte seinen einbandagierten Arm, als wäre er unter dem Verband eingeschlafen oder gleich ganz abgestorben.

"Sind Sie in Ordnung, Jess?" fragte Majors besorgt, dem nicht entging, wie er sich einmal auf die Unterlippe biß.

"Ja – ja ich denke schon. Ich brauche nur einen Moment, um richtig zu mir zu kommen. Wissen Sie", grinste er entschuldigend, "ich habe eine ziemlich schlimme Nacht hinter mir. Anscheinend habe ich jetzt etwas von diesem fehlenden Schlaf nachgeholt." Ein letztes Mal rieb er sich über den Kopf, um gleichzeitig mit seinen Fingern seine wirren Haare in Ordnung zu bringen. "Was macht eigentlich Ihr Gepäck?" wollte er auf einmal wissen, um von seiner Person abzulenken.

Anscheinend war der Schluck von der Laudanum-Tinktur die Spur zu umfangreich ausgefallen, daß er an die letzten drei Stunden keinerlei Erinnerung hatte. Wenn in dieser Zeit jemand versucht hätte, sie zu überfallen, hätte er davon wahrscheinlich nicht das geringste mitbekommen. Wenn Lincoln Majors das wüßte! Ihm selbst allerdings bereitete es kein schlechtes Gewissen.

"Dem geht es ausgezeichnet!" verkündete Majors, ließ sich zurück auf seinen Sitzplatz fallen und klopfte mit der flachen Hand auf die Reisetasche neben sich. "Sie müssen zugeben, daß mein Plan wirklich perfekt war. Bis jetzt lief alles wie am Schnürchen."

"Also, ehrlich gesagt, muß ich Ihren Mut bewundern, soviel Geld einfach in eine Reisetasche zu packen und loszuziehen. Da sind doch bestimmt an die fünfzigtausend drin."

"Um genau zu sein – fünfundsiebzig."

"Fü…" Das Wort blieb Jess im Hals stecken. "Das ist absoluter Wahnsinn! Es könnte mir ja egal sein, aber trotzdem bin ich froh, wenn Sie das in Ihrer Zentralstelle abgeliefert haben. Ich frage mich, welche Versicherung dafür aufkäme, wenn Ihr Gepäck unterwegs verloren ginge."

"Gar keine."

"Habe ich mir beinahe gedacht."

"Ich müßte für den Schaden selber gerade stehen. Insofern wäre ein Abhandenkommen unterwegs nichts Schlimmeres, als wenn der Überfall letzte Woche geklappt hätte. Nun, und wenn das Risiko sowieso von vornherein besteht, kann ich doch etwas unternehmen, um es zu reduzieren. Kommen Sie, Jess, regen Sie sich nicht im nachhinein darüber auf! Es hat doch alles gut geklappt."

"Sicher, aber hoffentlich fällt es Ihnen nicht ein, alle zukünftigen Transporte auf diese Art durchzuführen. Ehrlich gesagt, reichlich riskant wäre das schon, vor allem, wenn es sich erst einmal herumgesprochen hat."

"Auch dann wäre das nicht viel riskanter, als das Geld in eine Kiste zu stecken und mit einer von Arthur Kellingtons Kutschen zu transportieren, obendrein begleitet von einem, dem nicht unbedingt bedingungslos zu trauen ist. Nein, mein Lieber! Kommt gar nicht in Frage! Dann nehme ich die Sache in Zukunft lieber selber in die Hand."

"Ja, und jedesmal, wenn ich vielleicht aus irgendwelchen Gründen in Cheyenne zu tun habe, leisten Sie mir zufällig Gesellschaft, was?"

"Aber, Jess!" wollte Majors zuerst weit von sich weisen, räumte dann aber schmunzelnd ein: "Andererseits wäre dies zu überlegen. Wie gesagt, ich fühle mich nirgendwo so sicher wie in Ihrer Nähe. Dabei will ich Sie bei Gott nicht dazu zwingen oder vor vollendete Tatsachen stellen. Beileibe nicht! Dazu habe ich kein Recht. Das würde ich gewiß nicht tun."

"Nein, natürlich nicht – so wie heute zum Beispiel!" brummte Jess, konnte dem Bankier aus unerfindlichen Gründen jedoch nicht böse sein.

Merkwürdigerweise fühlte er sich nicht im geringsten von ihm bösartig ausgenutzt, eher sogar den Hauch von geschmeichelt. Trotzdem war er der Meinung, dieser grenzenlosen Begeisterung, auf diese Art Transporte von Bankgeldern durchzuführen, etwas Einhalt gebieten zu müssen; denn solch ein Unterfangen, so tollkühn und genial ausgeklügelt es sein mochte, war auch mit einer gehörigen Portion Leichtsinn verbunden. Daß er wieder einmal unfreiwillig mittendrin steckte, setzte dem Ganzen nur die Krone auf. Irgendwie schien er für solche Dinge ein wahrer Magnet zu sein.

Natürlich hätte er sich im Ernstfall für Lincoln Majors und den Inhalt seiner Reisetasche eingesetzt, auch wenn er das noch so lautstark dementierte und hinterher allein schon aus gesundheitlichen Gründen hätte büßen müssen. Daß Lincoln Majors auf seinen etwaigen Einsatz spekulierte, war schlimm genug. Viel schlimmer wäre jedoch gewesen, wenn Jess diesen im Ernstfall verweigert hätte. Zum Glück für alle Beteiligten war es dazu nicht gekommen.

"Ich hätte Sie gewiß nicht für irgend etwas verantwortlich gemacht, wenn Sie sich im akuten Fall tatsächlich geweigert hätten. Ganz gewiß nicht!" betonte Majors ausdrücklich. "Das schwöre ich Ihnen." Dabei sah er Jess geradewegs in die Augen.

Dieser schüttelte nur den Kopf und wollte dieses Was-wäre-wenn-Spiel lieber beenden, ehe seine Laune umschlug und er sich in grimmigem Ernst darüber aufzuregen begann, zudem er sich nicht erklären konnte, wieso er die ganze Zeit so verhältnismäßig gelassen blieb. Entweder war daran die anhaltende, beruhigende Wirkung des Laudanums schuld, oder aber er setzte unbewußt andere Prioritäten beim Beurteilen von Gewichtigkeiten.

"Ach, was soll's!" winkte er schließlich mit einem gewissen Gleichmut ab wie jemand, der sich mit den gegebenen Umständen abfand, weil er sie nicht mehr ändern konnte. "Sie haben recht. Ist zum Großteil ja meine eigene Schuld. Ich hätte Ihnen einfach nicht diesen Vorschlag machen dürfen. Auf der anderen Seite hat es wenig Sinn, über diese ungelegten Eier zu debattieren. Bringt ja doch nicht viel." Jess grinste den wohlbeleibten Mann versöhnlich an. "Ich nehme an, ich soll Sie bis zur Bank begleiten."

"Ehrlich gesagt, es wäre mir schon ganz recht – wenn es … wenn es Ihnen nichts ausmacht und auch nicht zu anstrengend für Sie ist."

"Ich denke, daß ich das gerade noch verkraften kann, wenn Sie nicht unbedingt im Laufschritt hineilen wollen."

Jetzt strahlte der Bankier wieder übers ganze Gesicht. Einen Mann wie diesen Jess Harper gab es wirklich nur einmal; er kannte jedenfalls keinen zweiten.

"Ich werde mich Ihnen anpassen." Seine Worte klangen fast wie ein zufriedenes Seufzen. "Außerdem wollen wir keinesfalls auffallen."

"Keinesfalls!" bekräftigte Jess, nun beinahe amüsiert über das Ganze.

Das schrille Pfeifen der Lokomotive klang wie eine Bestätigung seiner Zustimmung. Der Zug verlor an Fahrt. Draußen tauchten Verladekoppeln, Frachtschuppen und schließlich die Bahnstation von Cheyenne auf, im Hintergrund das stattliche Häusermeer der Territoriumshauptstadt. Nach einem weiteren Pfeifkonzert quietschten die Bremsen, Metall rieb auf Metall, der Zug kam mit einem leichten Ruck zum Stehen. Ein lautes Zischen folgte, als der Lokführer Dampf abließ. Gleich darauf hüllte eine weißgraue Wolke die Waggons ein, wehte über das Stationsgebäude und löste sich in der kalten Novemberluft auf.

Noch ehe die zwei Männer in dem Abteil sich von ihren Plätzen erhoben, erschien der Schaffner in der Schiebetür.

"Wir sind da, Mr. Harper", redete er nur mit Jess, ohne Lincoln Majors zu beachten. "Sogar auf die Minute, wenn ich bemerken darf. Ich hoffe, Sie hatten es bequem genug und wurden nicht gestört." Das letzte sagte er mit einem herablassenden Seitenblick auf den vermeintlichen Vertreter.

"Vielen Dank, war alles zu meiner Zufriedenheit", erwiderte Jess in angemessen geschraubtem Ton. Wenn er ehrlich sein wollte, begann ihn das alles mehr und mehr zu amüsieren. Vielleicht war es auch nur eine besondere Form von Galgenhumor, lenkte es ihn doch erheblich von seinen persönlichen Problemen ab.

"Das freut mich und auch, daß es Ihnen offensichtlich wesentlich besser zu gehen scheint als heute morgen."

"Die paar Stunden Schlaf haben mir viel geholfen." Jess wollte nach seiner Jacke greifen, als der Schaffner ihm zuvorkam und ihm beim Überziehen behilflich war, während Lincoln Majors Luft für ihn blieb, der allein in seinen Mantel schlüpfen mußte, dies aber nicht weiter beanstandete, bewies es ihm nur, daß er seine Rolle des ungebetenen Hausierers perfekt weiterspielte. "Danke", sagte Jess, froh über die Hilfsbereitschaft des Mannes, allerdings selbst die Jacke über seiner kranken Schulter zurechtrückend; ihr wollte er möglichst niemanden zu nahe kommen lassen, wenn er es rechtzeitig verhindern konnte.

Auf der hinteren Plattform richtete der Schaffner die Tritthilfe, sprang vom Waggon und rückte die Stiege zurecht.

"Vorsicht beim Aussteigen, bitte!" warnte er und bot seinem bevorzugten Fahrgast mit dem ausgestreckten Arm Hilfe. "Der Tritt ist sehr hoch." Jess schaffte es trotzdem, den Boden unbeschadet zu erreichen. "Um Ihr Gepäck brauchen Sie sich, wie gesagt, nicht zu kümmern. Das wird alles von uns arrangiert. Wann genau der Zug nach Denver abfährt, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wissen Sie", er beugte sich vertrauensvoll zu seinem Gesprächspartner, ein entschuldigendes Grinsen auf seinem kreisrunden Gesicht, das beinahe so flach war wie eine Diskusscheibe, "ich kümmre mich im allgemeinen nicht um die Fahrpläne der Konkurrenz, die sich oftmals nicht so streng daran hält wie unsere Gesellschaft."

"Macht nichts, ich werde es schon herauskriegen." Jess erwiderte sein Grinsen, während er Anstalten zum Gehen machte. "Nochmals vielen Dank für alles, aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen", drängte er, obgleich er es gar nicht so eilig hatte; aber er wollte sich nicht in ein längeres Gespräch verwickeln lassen. Außerdem waren da noch Lincoln Majors und seine Reisetasche, die geduldig auf ihn warteten.

"War mir eine unvergleichliche Freude, Mr. Harper!" Der Schaffner verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck. "Beehren Sie uns bald wieder! Alles Gute!"

Nach der üblichen Höflichkeitsfloskel war Jess endlich erlöst, gerade rechtzeitig, ehe ihm die zuvorkommende Freundlichkeit des Schaffners zuviel werden konnte.

"Vielleicht sollten wir erst einmal zusehen, daß Sie Ihr Gepäck loswerden", meinte er dann, an Majors gewandt, als sie außer Hörweite waren.

"Gehen Sie ruhig erst Ihre Dinge erledigen. In der Zwischenzeit werde ich mich um einen Wagen kümmern."

"Laufen Sie lieber nicht soviel spazieren mit Ihrer Tasche, sonst schaffen Sie es doch noch, mich so nervös zu machen, daß ich es nicht mehr verstecken kann."

"Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich eher das Gefühl, Sie versuchen etwas anderes zu verstecken. Aber Nervosität ist das nicht."

"Ich weiß nicht, was Sie meinen", wich Jess aus. "Im übrigen hatte ich das Gefühl", lenkte er sogar noch weiter ab – ein sicheres Zeichen dafür, daß er sehr wohl wußte, was Majors mit seiner Bemerkung andeuten wollte, "daß der Schaffner Sie nicht besonders mochte. Kann das sein?"

"Das will ich nicht abstreiten." Der Bankier schmunzelte amüsiert über seinen glaubhaften Auftritt als aufdringlicher Handlungsreisender. "Ich fürchte, er kann Vertreter nicht leiden."

"So wird es sein. Trotzdem sollten Sie Ihrer Masche mit dem Verwechslungsspiel nicht gar so sorglos vertrauen. Hier treibt sich zuweilen recht zwielichtiges Gesindel herum. Der eine oder andere könnte auch an Ihrem Gepäck interessiert sein, bloß weil er sich vom Inhalt verspricht, sich neu einzukleiden. Man hat hier zwischen ein paar Frachtkisten schon mal jemandem mit einem Messer im Rücken gefunden, dessen Gepäck leichter war als Ihres."

"Jetzt machen Sie sich nicht gleich wieder so viele Sorgen!"

"Das sind keine Sorgen, sondern Tatsachen."

"Ich weiß, Sie meinen es gut. Trotzdem sollten Sie einfach so tun, als wäre ich gar nicht da."

"Etwas schwerfallen dürfte mir das schon, nachdem ich nun mal weiß, was ich weiß. Und wenn ich schon auf Sie und Ihr Gepäck aufpassen soll, dann tun Sie mir wenigstens den Gefallen und bleiben in meiner Nähe."

Majors hatte ihn natürlich längst durchschaut und wußte, daß er nicht wirklich nervös war, sondern ihm einfach nur klarzumachen versuchte, daß er sein leichtsinniges Unterfangen nicht ganz billigen konnte.

"Natürlich, Sie haben recht", räumte er ein und meinte es auch tatsächlich so ernst, wie er es sagte. "Ich sollte wirklich nicht übertreiben. Gehen wir also erst nach dem Fahrplan sehen. Ich kann mich in der Zwischenzeit ja erkundigen, wann der nächste Zug zurückfährt."

Jess hätte es zwar lieber gesehen, wenn sie sich so schnell wie möglich zur Bank begeben und sich hinterher erst um die Abfahrtszeiten gekümmert hätten, aber er war froh, Majors wenigstens davon überzeugt zu haben, mit seiner Reisetasche nicht allein auf dem Bahnhofsgelände von Cheyenne herumzuspazieren, wo zwischen all den gelagerten Gütern und Frachthallen schon leichtgewichtigere Personen spurlos verschwunden waren.

Von dem Mann am Schalter der Denver & Rio Grande erfuhr Jess, daß sein Zug fahrplanmäßig um halb vier Cheyenne verlassen würde, jedoch eine Stunde früher zur Verfügung stünde, so daß er es sich in seinem auch hier reservierten Abteil bereits bequem machen konnte, falls er dies wünschte. Bei der Konkurrenz wurde er ebenfalls zuvorkommend behandelt, und der Fahrkartenverkäufer versicherte ihm, daß man bei der Denver & Rio Grande alles tun wollte, um ihm die Reise so angenehm und bequem wie möglich zu gestalten, so daß er zum Service der Union Pacific gewiß keinen Unterschied feststellte. Infolgedessen kam er zu dem Schluß, daß die Rivalität zwischen den Eisenbahngesellschaften für den zahlenden Fahrgast nur von Vorteil war.

Mit einem der bereitstehenden Wagen fuhren sie bald darauf zum Grand Teton Hotel, das genau gegenüber der Bank lag – sehr zum Leidwesen Jess Harpers, der es lieber gesehen hätte, der Kutscher setzte sie direkt vor der Bank ab. Aber Lincoln Majors fand dies zu auffällig.

"Allmählich machen Sie mich ganz kribbelig mit Ihren Umwegen!" mußte Jess seinen Unmut darüber äußern, als sie nach der Weiterfahrt des Einspänners zu Fuß die Straße überquerten. "Ich bin wirklich froh, wenn Sie dieses Ding da endlich los sind."

"Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Ehrlich gesagt, mir wird die Tasche auch allmählich zu schwer." Womit Majors lediglich das physikalische Gewicht meinte.

Jess verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Mehr brachte er auf diese Bemerkung hin nicht zustande.

"Hoffentlich hat die Bank nicht schon geschlossen, sonst werde ich doch noch einen Nervenzusammenbruch kriegen", stöhnte er, als sie endlich den gegenüberliegenden Gehsteig betraten und sie nur noch wenige Schritte vom Eingang des soliden Steingebäudes trennten, in dem die Zentralstelle der First Territorial Bank of Wyoming untergebracht war.

"Hat sie, aber nur für den Publikumsverkehr. Wenn ich mich entsprechend bemerkbar mache, wird der Wachmann mich sicherlich hinein lassen."

"Kennt er Sie denn überhaupt?"

"Das kommt auf den Wachmann an. Nicht jeder kennt mich persönlich."

"Dann kann das ja noch lustig werden!"

"Regen Sie sich nicht gleich wieder auf!"

"Ich und aufregen? Wie kommen Sie darauf?"

"Eben!" grinste Majors ihn von der Seite her an. "Hätte ich mir auch nicht vorstellen können. Sie werden mich hoffentlich hinein begleiten? Ich möchte Sie gern unserem Präsidenten vorstellen."

"Wenn es irgendwie machbar ist, möchte ich darauf verzichten. Ein andermal vielleicht. Aber heute ist mir nicht danach, gewichtige Bekanntschaften zu machen."

"Wie Sie wollen."

Die Bank hatte tatsächlich schon geschlossen.

Lincoln Majors klopfte. Nichts regte sich. Er hielt die Hand über die Augen, während er mit der Nase fast am Fenstereinsatz der vergitterten Tür klebte, um in das Gebäudeinnere zu spähen. Im Schalterraum waren einige Angestellte bei der Arbeit, zwei Wachmänner sicherten das Portal, während der dritte durch den Raum nach hinten rannte. Gleich darauf tauchte der Vorsteher auf, anscheinend noch unschlüssig, ob er Alarm schlagen sollte.

Majors erkannte ihn, klopfte ein paarmal und begann dann aufgeregt zu winken und Zeichen zu machen, man möge endlich aufschließen und ihn hinein lassen.

"Würde mich nicht wundern, wenn die uns für potentielle Bankräuber hielten und gleich anfingen, mit Kanonen auf uns zu schießen", hatte Jess seine Befürchtungen. Wenn Gary Morgan so eine Geschichte in seiner "Laramie Chronicle" veröffentlichte, hätte er ihn eines Lügenmärchens verdächtigt.

"Unsinn! Mr. Goldblum, der Kassenleiter, hat mich erkannt."

"Na, hoffentlich kann er auch den Wachmann überzeugen, ehe der uns ein Loch in den Pelz brennt."

"So etwas passiert doch bloß in diesen Abenteuerromanen, die man an der Ostküste für ein paar Cents an jeder Ecke kaufen kann."

"Kann ich nicht beurteilen." Jess blickte mit wachsendem Unbehagen in die Runde hinter sich. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Leute auf sie aufmerksam wurden. "Hab' noch keine gelesen", brummte er und konnte über die augenblickliche Situation nur den Kopf schütteln.

Lincoln Majors gestikulierte wieder vor der Scheibe und nickte freudestrahlend jemandem im Inneren des Gebäudes zu. Endlich hörte man, wie die Absperrung entriegelt wurde. Die schwere Tür mit dem vergitterten Fenstereinsatz öffnete sich einen Spalt weit.

"Na, endlich, Mr. Goldblum! Ich befürchtete schon, ich wäre umsonst gekommen!" rief er erfreut, wollte die Tür weiter aufdrücken, um forsch hinein zu marschieren; aber da schob sich ihm der Lauf eines Karabiners entgegen. "Um Gottes willen, nehmen Sie die Waffe herunter, ehe Sie noch jemanden damit verletzen!"

"Mr. Majors! Was wollen Sie denn hier?" fragte der Kassenleiter, jedoch ohne dem Wachmann zu erlauben, den Lauf zu senken. "Wir haben bereits geschlossen."

"Ich weiß, aber ich muß dringend etwas bei Ihnen abliefern. Bitte lassen Sie mich hinein! Es ist wirklich wichtig!"

Goldblum, ein korrekter, aufmerksamer Geschäftsmann, vor allem sehr verantwortungsbewußt, was die Sicherheit der Bank betraf, musterte ihn argwöhnisch, ehe sein scharfer Blick Jess erfaßte, der diesen förmlich zerschnitten hätte, wäre er eine ängstliche Natur gewesen.

"Wer ist das?" wollte der Kassenleiter mißtrauisch wissen. Wie zur Bekräftigung seines schlimmen Verdachts wanderte die Gewehrmündung von Lincoln Majors' umfangreichem Leib zu Jess' Gürtelschnalle, die unter seiner offenstehenden Jacke ein auffälliges Ziel bot.

"Das ist Jess Harper und gewiß kein Bankräuber. Er hat letzte Woche den Überfall in Laramie vereitelt und war so freundlich, mich heute zu begleiten. Bitte nehmen Sie endlich dieses gefährliche Ding da weg, ehe es noch los geht!"

"Habe davon gehört." Goldblum musterte die zwei Männer abschätzend. "Na schön", gab er endlich nach, obwohl es ihm nicht leicht über die Lippen kam. Irgendwie wurde er den Verdacht einfach nicht los, daß an der Sache etwas faul war. "Kommen Sie mit Ihrem Begleiter herein – aber keine Tricks!" meinte er, vor allem Jess wissen lassen zu müssen, dessen Schießeisen ihm unbehaglich war.

"Aber, Mr. Goldblum!" Entrüstet folgte Majors dem mürrischen Blick des Kassenleiters, der sich an seinem Begleiter festgefressen hatte. "Ohne Mr. Harper hätte diese Bank schon mehr als einmal Federn lassen müssen. Sie sollten ihm mit etwas mehr Freundlichkeit begegnen, ist er doch der einzige, dem ich mich mit meinem Gepäck hier anvertrauen konnte."

Goldblum richtete abrupt die Augen auf die große Reisetasche und starrte dann Majors an. Sein Blick wurde dabei fast so etwas wie fassungslos.

"Was soll das heißen?"

"Erzähle ich Ihnen sofort, wenn Sie mich endlich hinein lassen und dem Wachmann sagen, dieses furchteinflößende Ding herunterzunehmen."

Unauffällig gab der Kassenleiter Avis. Die Mündung verschwand endlich, der Türspalt verbreiterte sich.

"Ich werde hier warten", sagte Jess ein wenig genervt von diesem Theater.

"Wollen Sie ni…"

"Mr. Majors, bitte!" gebot er, ohne Widerrede zuzulassen. "Erledigen Sie in aller Ruhe Ihre Geschäfte. Ich werde hier draußen so lange auf Sie warten."

"In Ordnung, wie Sie wollen. Es wird nicht lange dauern. Anschließend darf ich Sie aber hoffentlich zum Essen einladen. Das bin ich Ihnen ja wohl schuldig."

Jess wollte schon widersprechen, sah aber zum Glück ein, daß es im Moment wenig Sinn hatte, etwas in der Richtung probieren zu wollen. Außerdem wollte er sich nicht zwischen Tür und Angel der Bank mit ihm darüber streiten, wer was wem schuldig war.

"Sehen Sie jetzt lieber zu, daß Sie den Inhalt Ihrer Tasche sicher abliefern. Bis nachher!"

"Ich werde mich beeilen, damit Sie nicht so lange warten müssen. Bis gleich! Und, Jess!" Er wandte sich noch einmal zu ihm um, als er schon drinnen war und Goldblum wieder zusperren wollte. "Vor allem vielen Dank!"

"Wofür?"

"Sie wissen schon."

Majors verschwand in der Bank. Die Verriegelung wurde geschlossen.

Jess blickte ihm kopfschüttelnd nach, ehe er sich umwandte, etwas gelangweilt gegen den Vordachpfosten lehnte und dem regen Treiben auf der Hauptstraße zuschaute, während er sich gedankenversunken über die Brust rieb, wo ihn die zerschossene Rippe bei jedem Atemzug an ihre Existenz erinnerte, obwohl sich die Schmerzen im Moment in einem erträglichen Rahmen hielten.

"Wenn ich das jemandem erzähle, wird es mir kein Mensch glauben!" murmelte er vor sich hin, als könnte er es selbst nicht glauben.

Von Anfang an hatte er die Befürchtung gehabt, daß ihr Auftritt vor der Bank mehr Aufmerksamkeit erregte, als vor allem Lincoln Majors annahm. Während Jess jedoch hauptsächlich das rege Treiben auf der Straße verfolgte, achtete er nicht so sehr auf die Leute, die hinter ihm den Gehsteig entlang gingen. Daß er dies besser getan hätte, wußte er erst, als sich ein harter Gegenstand in sein Kreuz bohrte und empfindlich gegen einen seiner Wirbel drückte. Ein Rätselraten war nicht notwendig. Das war eindeutig der Lauf einer Waffe, der sich da schmerzhaft in seinen Rücken bohrte. Das glaubte ihm wirklich keiner!

Grundsätzlich nahm Jess jede derartige Eindeutigkeit sehr ernst, vor allem, wenn er nicht wußte, wen er hinter der Waffe vermuten sollte. Um einen Spaß handelte es sich gewiß nicht, da er das leise Klicken gehört hatte, als der Hahn gespannt wurde.

"Keine Bewegung! Sie sind verhaftet!" sagte in seinem Rücken eine Stimme, die er nicht kannte. Eine Hand fingerte nach seiner Waffe. "Nehmen Sie die Hände hoch und rühren Sie sich nicht von der Stelle, oder es knallt!"

Jess löste sich endlich vom Vordachpfosten und nahm die Rechte hoch. Er sah keinen Grund, nicht zu gehorchen, zudem er annahm, daß sich das Ganze bald aufklären ließ.

"Ich sagte, Hände hochnehmen – beide!"

Der Lauf in seinem Rücken verschaffte der Aufforderung Nachdruck, indem er sich diesmal ziemlich heftig zwischen seine Schulterblätter bohrte, wobei allerdings seine Verletzung zu rebellieren begann. Unvermittelt zuckte er zusammen.

"Deshalb brauchen Sie nicht gleich grob zu werden", keuchte er. "Ich kann nur die eine Hand hochnehmen. Ich bin verletzt."

"Das weiß ich. Habe Ihnen das Ding schließlich selbst verpaßt, als Sie letzte Woche das Frachtbüro ausheben wollten. Und jetzt sind Sie auf die Bank scharf. Nicht wahr, Thatcher Wilde?"

"Thatcher Wilde? Aber …"

"Maul halten und umdrehen! Will Sie mal aus der Nähe sehen, ehe ich Sie einloche!"

"Hören Sie, das ist ein Mißverständnis. Ich bin nicht Thatcher Wilde", beteuerte Jess und wandte sich um.

Sein Widersacher war ein junger Bursche Anfang Zwanzig, mit einer Menge Sommersprossen im Gesicht, sehr darum bemüht, mit vorgetäuschter Härte Herr der Lage zu spielen; dabei erkannte Jess sofort das unruhige Flackern in seinen hellen, an sich gutmütigen Augen, das seine Unsicherheit verriet, die er mit Hilfe der Waffe in seiner Faust zu kaschieren suchte. An seiner Jacke steckte das Abzeichen eines Hilfsmarshals.

"Nein, woher denn!" Der junge Mann bemühte sich sehr, selbstsicher zu wirken, wobei ihn Jess' überlegene Ruhe nervös zu machen begann. "Sie sind der Weihnachtsmann, ich weiß."

"Bin ich nicht!" widersprach Jess, den jungen Mann nicht ganz so harmlos haltend, was sich jedoch in erster Linie auf den Fünfundvierziger in seiner Rechten und seine zum Ausbruch drängende Nervosität bezog und nicht auf den Mann selber, der ihn an einen zu schnell gewachsenen Schuljungen erinnerte, der sich mit dieser vermeintlichen Verbrecherjagd mehr aufgehalst zu haben schien, als sein in den Anfängen steckendes Selbstbewußtsein verkraften konnte. "Mein Name ist Jess Harper und nicht Thatcher Wilde oder wie auch immer", sagte er gelassen, obwohl ihm der entsicherte Revolver vor seinem Bauchnabel trotz allem einiges Unbehagen bereitete.

"Natürlich, und morgen Abraham Lincoln. Erzählen Sie das von mir aus Richter Evans."

"Wird mir ein Vergnügen sein."

"Genug palavert! Los, gehen wir! Das Büro des Marshals ist gleich da drüben. Gehen Sie voran! Aber machen Sie ja keine Dummheiten. Diesmal treffe ich garantiert besser!"

"Davon bin ich überzeugt."

Daß sein Gefangener jetzt auch noch anfing, verschmitzt zu grinsen, brachte den jungen Hilfsmarshal beinahe auf die Palme.

"Sie sollen sich endlich in Bewegung setzen!" forderte er ihn unmißverständlich auf und wollte ihn die zwei Stufen zur Straße hinunterschubsen, aber Jess wich seiner Berührung geschickt aus. Er konnte es nicht zulassen, daß dieser grünschnäblige Gesetzeshüter seiner Wunde in einer Weise zu nahe kam, was ihm ernsthafte Probleme eingehandelt hätte.

Das war genau der Augenblick, in dem Marshal Peters fand, daß es Zeit wurde einzugreifen, ehe vielleicht aus mißverstandener Übereifrigkeit seitens seines Gehilfen ein Unglück geschah.

Der große, stattliche Mann mit den scharfen Augen des Menschenkenners, den breiten Schultern des Kämpfers und der feinen, überlegenen Art desjenigen, der wußte, daß er genug Autorität ausstrahlte, um sich in nahezu jeder Situation den nötigen Respekt zu verschaffen, allein schon durch das Auftreten seiner imposanten Gestalt, war schon lange auf die Menschentraube aufmerksam geworden, die sich da so nach und nach vor dem Gebäude der Bank bildete. Bereitwillig wichen die Leute zur Seite und ließen ihn vorbei. Jetzt stand er hinter seinem Deputy, um ihm notfalls mit körperlichem Einsatz Einhalt zu gebieten, bevor dieser noch eifriger bei der Ausübung seines Dienstes wurde.

"Was geht denn hier vor sich?" fragte er in sonorem Bariton, während er mit Jess um die Wette zu grinsen schien, was der Hilfsmarshal natürlich nicht sehen konnte.

Diesem platzte bald der Kragen über die Unverfrorenheit seines Gefangenen, sich seinen Anordnungen zu widersetzen und sich dabei auch noch über ihn lustig zu machen.

Dabei war Jess im Grunde gar nicht nach Grinsen zumute, denn die rasche Bewegung, mit der er dem Burschen ausgewichen war, setzte seiner Verletzung zu, daß seine Rechte, die er eigentlich erhoben halten sollte, unwillkürlich unter seine Jacke fuhr. Das wiederum war eine Bewegung, die der Hilfsmarshal völlig mißdeutete, nahm er doch an, der vermeintliche Thatcher Wilde wollte nach einer versteckten Waffe greifen. Seine Rechte schnellte hoch. Wer weiß, was er mit seinem Schießeisen angerichtet hätte, wenn sich nicht im selben Augenblick Marshal Peters' Hand wie eine Stahlfessel um sein Handgelenk gelegt hätte und seinen Arm nach unten riß.

"Immer schön langsam mit dem Ding!"

"Marshal, das ist Thatcher Wilde!" ereiferte sich der Deputy. "Ich habe ihn gerade verhaftet. Hat hier vor der Bank herumgelungert."

"So, so, Thatcher Wilde", wiederholte Peters und ließ sich von ihm Jess' Schießeisen aushändigen.

Was er dann damit machte, begriff der sommersprossige Bursche nicht – bei allem Respekt, den er vor seinem Vorgesetzten hatte. Marshal Peters hielt die Waffe am Lauf und überreichte sie dem Gefangenen, der sie mit einem etwas verzerrt wirkenden Schmunzeln wegsteckte.

"Aber … aber, Marshal! Was … was tun Sie denn da?"

"Ich gebe Jess Harpers Waffe ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurück", erklärte der große Mann trocken. "Was dagegen?"

"Aber … aber das ist doch …"

"… mit Sicherheit nicht Thatcher Wilde."

"Aber …"

"Glauben Sie mir, mein Junge! Ich kenne diesen Mann schon seit vielen Jahren. Auch wenn Sie sich auf den Kopf stellen – das ist nicht Thatcher Wilde, sondern Jess Harper. Und der hat ganz gewiß nicht versucht, das Frachtbüro auszuräumen."

"Sind … sind Sie sich wirklich sicher?"

"Fünfhundertprozentig! Und jetzt stecken Sie endlich Ihre Kanone weg, ehe Jess auf die Idee kommt, sich durch Sie bedroht zu fühlen. Ich glaube nicht, daß Sie ihm in irgendeiner Weise gewachsen wären."

Dunkle Flecken begannen auf dem jungenhaften Gesicht zu brennen. Bald war der Deputy rot bis zum Haaransatz und über die Ohren. Sogar sein Hals schien Feuer gefangen zu haben.

"Ent… entschuldigen Sie bitte, aber ich … ich war wirklich fest davon überzeugt …"

"Das ist schon in Ordnung", fiel Jess ihm mit ruhiger Stimme ins Wort. Er sah keinen Grund, gegen den Mann irgendwelchen Groll zu empfinden, wollte dieser doch nur seine vermeintliche Pflicht erfüllen. Schließlich – oder Gott sei Dank! – war nichts passiert und spätestens im Büro des Marshals oder vor Richter Evans wäre das Mißverständnis aufgeklärt worden. "Sie haben nur Ihre Pflicht getan."

"Trotzdem, ich hätte beinahe …"

"Nun, wenn ich wirklich dieser Thatcher Wilde wäre, würden Sie wahrscheinlich längst nicht mehr leben. Sie haben einen Fehler gemacht: Sie sind mir ein paarmal zu nahe gekommen. Jemand, der Dreck am Stecken hat, hätte Sie da leicht überrumpeln können. Von einem gesuchten Halunken dürfen Sie niemals annehmen, daß er bereitwillig Ihrer Aufforderung nachkommt."

Das Gesicht des Deputys hellte sich auf. Die Röte verschwand allmählich. Nachdem sich die Situation entspannt hatte, begann auch er gelöster zu werden. Daß ihm sein vermeintlicher Gefangener den Irrtum nicht nachtragen wollte, baute ihn unheimlich auf.

"Vielen Dank für den Hinweis, Mr. Harper! Ich werd's mir merken", strahlte er. "Tut … tut mir wirklich leid, daß ich vorhin … ich meine … ich habe Ihnen doch nicht … ich meine, Ihre Verletzung …"

"Ist schon in Ordnung", winkte Jess ab, obwohl er sich unauffällig an den Vordachpfosten lehnte und seine Rechte längst wieder unter seiner Jacke verschwunden war.

"Vern, Sie sollten endlich wieder an Ihre Arbeit gehen!" erinnerte Marshal Peters, sehr um einen strengen Ton bemüht. "Kilrain ist mit dem Wagen zurück. Hat eine ganze Fuhre Galgenvögel mitgebracht. Die Papiere müssen fertiggemacht werden, und Richter Evans wartet immer noch auf das Protokoll von gestern. Und sorgen Sie dafür, daß die Leute hier verschwinden!"

"Ja, Sir!" rief der Hilfsmarshal eifrig. "Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Harper, und nochmals bitte um Entschuldigung!" verabschiedete er sich von Jess mit einem scheuen Nicken, hinter dem seine ganze Verlegenheit stand.

"Hat man da noch Worte!" stöhnte Marshal Peters hinter ihm her, als er die Leute auseinandertrieb und dann über die Straße auf das Büro des Marshals zu eilte.

"Er wird einmal ein guter Polizist."

"Ja, wenn er bei seinem Übereifer alt genug wird."

"Sicher wird er das. Sie müssen ihm bloß noch ein paar Kniffe beibringen."

"Na ja, ist noch nicht lange bei mir, hat in den zwei Monaten aber schon mehr gelernt als andere in zwei Jahren nicht." Peters ließ seinen Gehilfen Gehilfen sein und wandte sich nun Jess mit größerer Aufmerksamkeit zu. "Jetzt muß ich Sie erst einmal ordentlich begrüßen", sagte er, sichtlich erfreut, den Mann von der Sherman-Ranch nach Monaten endlich wiederzusehen. Dazu gehörte seiner Meinung nach auch ein entsprechender Händedruck. "Was treiben Sie eigentlich hier? Sie sahen wirklich so aus, als wollten Sie vor der Bank Schmiere stehen." Peters mußte selbst über diese Bemerkung lachen. "Sind Sie geschäftlich hier?"

"Nein, eigentlich nur auf der Durchreise. Ich warte auf Lincoln Majors. Ist der Direktor der Bank in Laramie. Hat in der Zentrale etwas zu erledigen."

"Sind Sie sein Begleitschutz, he?"

"Ja", brummte Jess, "mehr oder weniger freiwillig unfreiwillig."

"Immer noch der alte Jess Harper", grinste Peters. "Was war es denn diesmal?"

"Das werden Sie mir bestimmt nicht glauben! Ich glaub' es ja selber kaum. Haben Sie von dem Geldtransport gehört, den Majors in den nächsten Wochen durchführen wollte?"

"Ja, sicher. Ich fürchte, das ganze Territorium weiß darüber Bescheid."

"Eben."

"Will er sich jetzt selber darum kümmern und geeignete Leute dafür suchen?"

"Nicht mehr nötig. Hat er schon alles besorgt."

"Wie besorgt?"

"Ganz einfach, er hat das ganze Geld in eine Reisetasche gepackt, ist in den Zug gestiegen und hierher gefahren. Jetzt ist er gerade dabei, den Inhalt seiner Reisetasche an der zuständigen Stelle abzuliefern."

"Und kein Mensch weiß davon?"

"So ist es."

"Der Mann hat Nerven! Und Sie konnte er mal wieder überreden, Leibwächter zu spielen?"

"Nicht ganz." Jess grinste süß-säuerlich. "Er ist plötzlich bei mir im Zug aufgetaucht und hat mir stolz seine Reisetasche präsentiert."

"Das ist ja verrückt! Sie haben recht! Das ist wirklich nicht zu glauben."

"Sagte ich doch! Als ich mich in Laramie in den Zug setzte, wußte ich nicht das geringste davon. Im übrigen hatte ich es bereits zuvor strikt abgelehnt, mich da überhaupt mit reinziehen zu lassen, weil ich schon allein aus gesundheitlichen Gründen diese Verantwortung nicht übernehmen könnte, was Lincoln Majors allerdings nicht davon abhielt, sie mir doch aufs Auge zu drücken. Na ja, hat ja zum Glück ganz gut geklappt", setzte er mit einem gleichmütigen Schulterzucken hinzu.

Peters schüttelte den Kopf.

"Also, ehrlich, Jess, wenn ich Sie nicht besser kennen würde, müßte ich glatt behaupten, Sie wollen mir da einen Bären aufbinden." Er grinste verschmitzt. "Andererseits war das nicht einmal die schlechteste Idee, wie sich ja herausstellte – ich meine, bei der Publicity, die diesem geplanten Transport vorauseilte. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß der ohne Zwischenfall über die Bühne gegangen wäre."

"Ich auch nicht, deshalb machte ich Majors einen ähnlichen Vorschlag, allerdings nicht mit soviel Leichtsinn verbunden."

"Die Idee stammt von Ihnen?"

"Nicht ganz. Majors hat mich nach meiner Meinung zu dem ganzen Wirbel gefragt, wollte so etwas wie meinen Rat. Fragen Sie mich bloß nicht, wieso er ausgerechnet auf mich gekommen ist! Da machte ich ihm den Vorschlag, zwei Transporte durchzuführen, einen sozusagen als Tarnung."

"Verstehe."

"Tja, und da er dem Wachpersonal der Postkutschengesellschaft nicht viel zutraut und dem Zweigstellenleiter in Laramie noch weniger, daß er jemand Geeignetes findet bis zur Stunde Null, hat er sich selbst etwas einfallen lassen. Ich nehme auch an, daß der versuchte Überfall letzten Freitag seine grauen Zellen in besonders rege Tätigkeit versetzt hat."

"Das war ja eine heiße Geschichte!" entfuhr es Marshal Peters. "Ich war gestern bei Richter Evans und habe Mort Corys Bericht gelesen."

"Ist der denn schon da?"

"Ja, natürlich! Ist vorgestern morgen mit der Post gekommen. Liest sich wie eines dieser billigen Abenteuerheftchen – ich meine vom Inhalt her, nicht vom Stil."

"Wenn ich im nachhinein darüber nachdenke, war das auch so etwas, was einem keiner abkaufte, wenn es nicht amtlich wäre. In der Vergangenheit hat es zwar das eine oder andere Theaterstück gegeben, aber das vom letzten Freitag …"

"Und Sie waren bis über beide Ohren mit darin verwickelt."

"Das war rein zufällig."

"Waren das tatsächlich die Kerle, die Ihnen das da verpaßt haben?"

"Ja", nickte Jess schwer und sehr ernst.

"Der muß Sie damals ganz schön erwischt haben, was?"

"Kann man wohl sagen. Reicht mir jedenfalls – auch heute noch."

"Das merke ich. Sie sehen noch ganz schön mitgenommen aus, richtig krank, würde ich sagen."

"Ich weiß." Jess versuchte sich mehr aufzurichten. Irgendwie hatte er das Gefühl, etwas in seiner Brust sei zu kurz geraten, daß es ihn sofort wieder in leicht geduckte Haltung zwang. "Ich kann das leider nicht leugnen."

"Hat Ihnen dieser Hitzkopf von Vern vorhin doch wehgetan in seinem Übermut?" fragte Peters besorgt, als er ihn dabei ertappte, wie er verstohlen die Lippen aufeinanderpreßte und für einen Moment die Luft anhielt.

"Nicht weiter schlimm. Das rumort schon die ganze Zeit."

"Ich weiß zwar nicht, wohin Sie unterwegs sind, geht mich im Grunde auch nichts an, aber wären Sie mit der Verletzung nicht besser noch eine Weile zu Hause geblieben? Sie sehen ja wirklich ganz elend aus."

"Daran würde sich zu Hause auch nichts mehr ändern."

"Was soll das heißen?"

"Nichts weiter", versuchte Jess auszuweichen, aber Peters' forschender Blick drängte nach einer ausführlicheren Erklärung. "Doc Higgins, der mir das Ding rausgeschnippelt hat, schickt mich zu einem Studienfreund nach Colorado Springs. Dorthin bin ich unterwegs."

"Colorado Springs? Na, für Sie in Ihrem miserablen Zustand muß das ja wie eine Weltreise sein!"

"Allmählich kommt es mir tatsächlich so vor."

"Dann hätte ich an Ihrer Stelle noch etwas mit dieser Reise gewartet."

"Ich konnte nicht länger warten. Habe dafür nicht mehr soviel Zeit."

"Das ist nicht Ihr Ernst!"

"Doch, Frank, leider!"

"Verdammt, Jess, ich hatte mir ja schon gedacht, daß das diesmal eine ziemlich ernste Angelegenheit ist, aber daß es so schlimm ist … Teufel noch mal! Wieso mußte dieser Halsabschneider ausgerechnet auf Sie losballern? Diese Idioten sollten endlich mal anfangen, sich selbst zu dezimieren."

"Dann hätten Leute wie Sie ja bald nichts mehr zu tun."

"Jess, das war nicht als übler Scherz gedacht."

"Ich weiß, aber es ist nun mal nicht zu ändern, daß es geschehen ist. So etwas hätte überall passieren können, zu jeder Zeit. Das war sogar schon längst überfällig."

"Sie machen wohl Witze!"

"Überhaupt nicht! Bei dem Leben, das ich bisher führte und in gewisser Weise immer noch führe, bleibt so etwas nicht aus – kann es gar nicht ausbleiben. Sie wissen doch, wenn man mit dem Feuer spielt, verbrennt man sich die Finger."

"Das sind doch lächerliche Binsenweisheiten!"

"An denen immer noch ein Funken Wahrheit ist", ergänzte Jess mit nüchterner Sachlichkeit, die fast einen Hang zur Gleichgültigkeit verriet.

"Sie reden … Himmel, ich weiß gar nicht, wie! Als fänden Sie das so in Ordnung, als hätten Sie tatsächlich auf so etwas gewartet. Das kann doch nicht wahr sein!"

"Was heißt gewartet? Das ist wohl etwas zuviel gesagt. Aber ich habe die ganze Zeit damit gerechnet und es auch befürchtet. Na ja, nun ist es halt passiert. Wir sollten darüber nicht mehr so viele Worte verlieren."

Peters musterte ihn abschätzend. Irgend etwas gefiel ihm nicht an ihm. Dabei konnte er nicht eindeutig erklären, was ihn dazu veranlaßte, zu diesem Schluß zu kommen. Ob es nur sein kränkliches Äußeres war, seine leicht zusammengekauerte Gestalt oder die Tatsache, daß es ihm wirklich so schlecht zu gehen schien, wie er aussah, oder auch beides zusammen oder etwas ganz anderes. Er wußte es nicht, bis er in seine Augen sah. Es war dieser melancholische Ausdruck seiner temperamentvollen Augen, in denen immer noch die Glut des Südens brannte, jener unerschütterliche Stolz des unbeugsamen Texaners, eines zähen Kämpfers, der sich von nichts und niemandem bisher hatte unterkriegen lassen. Für gewöhnlich verrieten sie eine unnachgiebige Zähigkeit, aber auch eine gehörige Portion Gutmütigkeit, ja, gewisse Sanftmut, die diesem Mann trotz seiner harten Schale einen sympathischen weichen Kern verlieh. Und jetzt waren diese Augen voller Melancholie, daß es sogar einen Frank Peters erschreckte. Ein schlimmer Verdacht begann in ihm emporzusteigen.

"Sicher, Sie haben recht, Jess", sagte er nur, erschüttert über die Erkenntnis, daß sein Verdacht keine Vermutung bleiben konnte, sondern seine Bestätigung in Jess' Augen fand. "Wie lange haben Sie denn Aufenthalt hier?" lenkte er deshalb ab.

"Der Zug nach Denver fährt um halb vier."

"Dann können wir ja gemeinsam essen gehen. Sie leisten mir hoffentlich Gesellschaft."

"Warum nicht", ging Jess sofort auf dieses Thema ein, obwohl er keinen besonderen Appetit verspürte. "Warten wir auf Lincoln Majors. Der hat vorhin auch vom Essen geredet. Wobei ich allerdings gestehen muß, daß ich nur vorhatte, in Mollys Café zu gehen. Da ist es nicht so voll und nicht so verraucht. Allzuviel von dem Tabaksqualm bekommt mir nämlich nicht."

"Sie haben ziemliche Probleme damit, was?"

"Kann man wohl sagen." Wie zur Bestätigung mußte Jess husten. "Außerdem wollte ich bei der Gelegenheit Molly guten Tag sagen und sehen, wie es ihr geht. Ist ihr Kaffee immer noch so gut?"

"Der beste in der ganzen Stadt. Und ihr Stew, das sie mittags anbietet, ebenfalls."

ENDE VON TEIL II

Fortsetzung folgt