Teil III

REISE OHNE WIEDERKEHR?

KAPITEL 33

Der Rest der Reise verlief für Jess Harper ohne weitere Zwischenfälle, so daß er am nächsten Morgen pünktlich in Colorado Springs eintraf, wo ihn direkt am Zug jemand erwartete. Obwohl er unterwegs noch ein wenig hatte schlafen können, fühlte er sich wie gerädert und, ohne zu übertreiben, einem Zusammenbruch nahe. Trotzdem gab er im Telegrafenbüro die gewünschte Depesche auf, damit seine Leute zu Hause wußten, daß er gut angekommen war.

Der Mann, der mit einem leichten Einspänner auf ihn wartete, mußte ihm auf den Wagen helfen, weil er es allein kaum geschafft hätte.

"Entschuldigen Sie, Mr. Harper", sagte der freundliche Mann, als er neben ihm im Wagen saß und die Zügel nahm. "Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Ich bin George, einfach nur George, und habe dafür zu sorgen, daß es Ihnen während Ihres Aufenthaltes bei uns an nichts fehlt. Professor Tyler würde mir sonst die Freundschaft kündigen." Er lächelte wie jemand, der keine Sorgen zu haben schien. "Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise."

"Danke, kann nicht klagen, obwohl sie ziemlich anstrengend war."

"Sie sehen auch sehr erschöpft aus. Bei uns können Sie sich jetzt erholen. Ich bin sicher, daß Sie hier bald gesund werden. Professor Tyler wird schon dafür sorgen."

"Hoffen wir das Beste."

George streifte den Mann neben sich mit einem unauffälligen Blick.

"Daran sollte für Sie kein Zweifel bestehen", sagte er in seiner munteren Art und gab sich die größte Mühe, überzeugend zu klingen. Dabei wußte er vom ersten Moment an, als er ihn sah, daß diesmal wahrscheinlich auch ein Professor Tyler passen mußte. Der Mann, der neben ihm im Wagen hockte, war todkrank. Das wußte er ohne weitere Untersuchung auf Anhieb.

George schien sehr redselig, jedoch keinesfalls überheblich zu sein. Sogleich hatte Jess das Gefühl, daß er mit diesem gesprächigen, überaus freundlichen Menschen gut auskäme; ein großer, kräftiger Mann – er schätzte ihn auf Ende Vierzig – mit einem gepflegten Äußeren, mit einer offenen, unkonventionellen Art, nicht aufdringlich, dafür um so herzlicher, mit gutmütigen Augen, die ihre Umwelt unauffällig, aber genau beobachteten und eine wache Intelligenz verrieten. Trotz seiner lebhaften Gesprächigkeit strahlte er eine wohltuende Ruhe und Vertrauensseligkeit aus, die seine Gesellschaft sehr angenehm machte, vor allem, wenn man selbst mit Problemen und finsteren Gedanken beladen war wie Jess zur Zeit.

Schon bald hatte sich Jess recht gut eingelebt, machten es die Leute um Professor Tyler und dieser selbst ihm leicht, sich schnell fast wie zu Hause zu fühlen. Nicht zuletzt spielte relativ lang anhaltend gutes Wetter keine unwesentliche Rolle, daß es ihm nach anfänglichen Schwierigkeiten, begünstigt durch die Strapazen der Reise und die klimatische Veränderung, zunehmend besser ging.

So oft es das Wetter zuließ, war er an der frischen Luft, machte mit George, der keine Minute von seiner Seite wich, der sich nicht nur als guter Arzt ohne Doktortitel, sondern ebenso als hilfsbereiter Kamerad und aufmerksamer Helfer bei allen Dingen des täglichen Lebens erwies, zum Teil ausgedehnte Spaziergänge auf dem ursprünglich belassenen parkähnlichen Grundstück oder spielte hinter dem Haus auf der Terrasse Gartenschach mit ihm, wobei sich schon bei den ersten Anzeichen nach Absicht Olaf – ein junger Mann, der eigentlich für die Außenanlagen und Technik des Hauses verantwortlich war – zu den beiden gesellte, um für Jess die zu schweren Holzfiguren zu rücken, zudem er immer noch nicht seinen linken Arm gebrauchen konnte.

Oft saßen sie auch in der Sonne auf dem weitläufigen, windgeschützten Balkon, der zu seinem Zimmer gehörte, und brüteten über der kleineren Tischausgabe des Spiels, wobei George endlich in den Genuß kam, vor allem anfangs aus jedem Spiel als Gewinner hervorzugehen, bis Jess allmählich zu einem ebenbürtigen Gegner aufstieg.

Oder er lag einfach nur faul in dem bequemen Korbstuhl, um sich von der noch behaglich warmen Sonne bescheinen zu lassen, obwohl die Luft an manchen Tagen schon recht kalt sein konnte, daß George ihn sofort in eine Decke hüllte, damit er sich keine Erkältung zuzog.

So gewöhnte er sich daran, den ganzen Tag dem Müßiggang zu frönen, daß er sogar anfing, die Ruhe und das Nichtstun zu genießen und auch den Komfort der Umgebung, die vorbildliche ärztliche Versorgung und das vortreffliche Essen, das die Küchenchefin Liz jeden Tag, wie sie ständig behauptete, mit besonderer Liebe zubereitete.

All diese angenehmen Äußerlichkeiten konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er unübersehbare gesundheitliche Probleme hatte und seine eigentliche Genesung so gut wie keine Fortschritte machte. Positive Merkmale waren einzig und allein, daß sich sein labiler Zustand vorübergehend festigte und die Schmerzen in erträglichem Rahmen bewegten, während die Hustenanfälle ihm mehr Zeit zum Schlafen ließen, seine Atemschwierigkeiten sich etwas legten, was sicherlich an der hervorragenden Belüftung des Hauses lag, von deren Technik er fasziniert schien. Daß er sehr müde war, hing sicherlich auch mit der Umstellung auf die neue Umgebung zusammen.

Trotzdem hatte Jess das untrügliche Gefühl, daß ihn ständig ein finsterer Schatten umgab, der schon zu Hause so hartnäckig an ihm klebte, der ihn auf der Fahrt hierher begleitet hatte, der ihm auch hier auf Schritt und Tritt folgte. Jeden Morgen sah er ihn im Spiegel, wenn er sich rasierte, spürte ihn sogar besonders, wenn ihn Husten oder Atemnot quälten und seine zerschossene Rippe heftiger denn je an ihre Existenz erinnerte, der es fertig brachte, ihm kalte Schauer über den Rücken zu jagen, selbst wenn er in der wärmenden Sonne saß: es war der Schatten des Todes.

Obwohl er sich die größte Mühe gab, den Gedanken daran zu verdrängen angesichts der angenehmen Umgebung und freundlichen Menschen, die sich um ihn bemühten, konnte er dessen Existenz nicht leugnen. Das konnte erst recht nicht Professor Tyler, der ihn regelmäßig untersuchte und dabei stets das gleiche ernste Gesicht machte, daß sich Jess die Mühe sparte, Fragen zu stellen, auf die Tyler nur ungern geantwortet hätte. Auf diese Art verleitete er ihn wenigstens nicht dazu, unaufrichtig sein zu müssen.

Zwei Tage vor Weihnachten bemerkte George zum ersten Mal bewußt, daß sich offensichtlich Professor Tylers Verdacht bestätigte, den er in einem kurz zuvor geführten Gespräch mit seinem Assistenten angedeutet hatte. Die vorübergehende leichte Besserung des Befindens ihres Gastes stagnierte nicht nur, sein Gesundheitszustand begann sich sogar wieder zu verschlechtern, anfangs zwar kaum feststellbar – wohl weil Jess aus purer Macht der Gewohnheit es vortrefflich verstand, die ersten Anzeichen seiner größer werdenden Schwäche zu verbergen –, aber für seinen aufmerksamen Betreuer und einen hochqualifizierten Spezialisten wie Tyler unverkennbar. Dieser hatte schon zu Beginn befürchtet, daß die nahezu unbedeutende Erholung nichts weiter war als ein durch die günstigen Umstände bedingtes kurzes Aufflackern eines unaufhaltsam dem Ende zustrebenden Lebens. Daran konnte offensichtlich keiner etwas ändern.

Am frühen Nachmittag dieses sonnigen Dezembertages wollte George ihn wie immer zu ihrem täglichen Spaziergang abholen. Während Jess sonst bereits mehr oder weniger unternehmungslustig auf ihn wartete, ihm manchmal auch schon auf der breiten Treppe, die hinunter ins Erdgeschoß führte, in die Arme lief, fand er ihn heute vor der Wäschekommode, wie geistesabwesend auf irgend etwas in der aufgezogenen oberen Lade starrend. Dabei hatte er die Zähne so fest aufeinandergebissen, daß George deutlich erkennen konnte, wie seine Kiefermuskeln zuckten. Er sah aus wie jemand, der vor einem Abgrund stand und nicht wußte, ob er springen sollte, als ob er erst jegliches Für und Wider vorher abwägen müßte, als ob er nicht sicher wäre, ob die Tiefe für seine Zwecke groß genug war.

Jedenfalls hatte George ihn so noch nie gesehen, daß er ihm einen gewaltigen Schrecken einjagte, vor allem auch, weil er wußte, was sich in der oberen Lade der Kommode befand. Dort verwahrte er den breiten, mattschwarzen Ledergurt mit dem Holster, in dem die sorgfältig gepflegte, auch jetzt geladene Waffe steckte, dessen Schlaufen lückenlos mit blitzenden Patronen gefüllt waren, aufgereiht wie auf einer Gliederkette. Seit Jess hier war, hatte er ihn nicht mehr getragen. Jetzt stand er da und starrte ihn an, voller Sehnsucht und Abscheu, voller Begierde und Unsicherheit, Verlangen und – Angst.

Es war diese Angst vor dem anderen Ich, diesem unberechenbaren Unbekannten, diesem Jess Harper, der ihm so fremd war, vor dem er sich fürchtete, der ihn zu etwas treiben wollte, wogegen er sich mit aller Macht wehrte – wehren mußte! Allerdings fühlte er seit ein paar Tagen wieder diese ständig wachsende Schwäche in sich, die nicht nur seine körperliche Kraft immer mehr schwinden ließ, sondern auch seinen Widerstand, diese geistige Hemmschwelle, die ihn bisher davor bewahrt hatte, dem selbstzerstörerischen Feind in seinem Inneren nachzugeben. Noch schien sein Lebenswille stärker zu sein als der Wunsch nach einem würdevollen Abgang. Wie lange er sich jedoch gegen dieses Verlangen auflehnen konnte, vermochte er nicht zu sagen. Seine Kraft, sich dagegen zu wehren, neigte sich unaufhaltsam ihrem Ende.

Für jemanden wie George, dem menschliches Leben etwas Unantastbares, auf alle Fälle Erhaltungswürdiges war, erweckte er den Eindruck eines unerbittlich zu allem Entschlossenen, eines in die Enge getriebenen Kämpfers, der lieber bereit war, sich selbst zu zerstören, als vor einem Feind zu kapitulieren, vor allem, wenn sein Gegner der Tod selbst war.

Einen Augenblick lang wußte George nicht, wie er reagieren sollte. Auf der einen Seite war ihm die Situation unheimlich, daß ihn sein Instinkt drängen wollte, sich auf dem schnellsten Weg zurückzuziehen; auf der anderen Seite befahl ihm jedoch gerade seine innere Stimme, diese unheilvolle Spannung zu lösen und Jess' Ringen mit sich selbst zu beenden.

"Jess, können wir gehen?" machte er sich bemerkbar, da Jess mit sich selbst und dem Inhalt der Schublade so beschäftigt schien, daß er seine Anwesenheit nicht registriert hatte.

Jedenfalls fühlte er sich bei seinen finsteren Grübeleien ertappt. Mit einer heftigen Bewegung knallte er die Schublade zu, als hätte er darin Geheimnisvolles entdeckt, was außer ihm niemanden etwas anging.

"Sicher", sagte er ohne jede Begeisterung, aber trotzdem bemüht, sich nichts weiter anmerken zu lassen.

"Ist mit Ihnen alles in Ordnung?"

"Ich denke schon", war er etwas kurz angebunden, verzog aber doch das Gesicht zu einem dankbaren Lächeln, als George ihm in die Jacke half – nicht allein für die Hilfe beim Anziehen. "Gehen wir!" versuchte er, Unternehmungslust vorzutäuschen, obgleich er spürte, daß George so wie er etwas zu verbergen suchte, wahrscheinlich sogar dasselbe wie er, nur aus anderer Perspektive.

"Sie sollten die Jacke lieber zuknöpfen", riet George ihm und tat, als hätte es den Zwischenfall an der Wäschekommode nicht gegeben. "Trotz der Sonne ist es heute sehr kalt."

Jess wollte schon fragen, was das denn noch für eine Rolle spielte; aber er sagte dazu nichts weiter, sondern befolgte den Rat.

Überhaupt war er zunächst nicht sehr gesprächig, was heute ausnahmsweise auch auf George zutraf. Eine Weile schlenderten sie schweigend nebeneinanderher, wobei George sofort auffiel, daß Jess offensichtlich erhebliche Mühe hatte, Schritt zu halten, obwohl sie eher langsam den ausgetretenen Pfad entlang bummelten, der unter uralten Baumriesen zu einem kleinen See auf einer sonnenüberfluteten Lichtung führte, die den atemberaubenden Blick auf die umliegenden Berge freigab.

Der idyllische Platz war so friedlich, daß man nur allzu gern sämtliche Probleme dieser Welt vergessen wollte, seine eigenen eingeschlossen. Vielleicht kam Jess deshalb so gern hierher, weil er hier seine Sorgen einfach im Wasser des Sees ertränken konnte; vielleicht erinnerte ihn der Ort auch nur an den abgeschiedenen Bergsee, wo die Jagdhütte stand, in der er mit Mike während der Schulferien immer ein paar Tage verbrachte, um dem Jungen und sich selbst wenigstens etwas Abwechslung zu gönnen.

Auf halbem Weg zur Lichtung mußte George das Schweigen brechen. Nicht daß es ihm unangenehm geworden wäre, aber er konnte nicht länger so tun, als hätten sie sich an diesem Tag nicht besonders viel zu sagen, zudem er sehr deutlich spürte, daß mit dem Mann, der ihm in den letzten Wochen zu einem richtigen Freund geworden war, irgend etwas nicht stimmte, nicht nur was seinen sich allmählich verschlechternden Gesundheitszustand betraf.

"Jess, darf ich Sie einmal etwas fragen?" sprach er ihn vorsichtig an, weil er nicht genau wußte, ob er die Stille überhaupt stören sollte. So gut, daß er dies eindeutig hätte spüren können, kannte er ihn doch noch nicht.

"Nur zu!"

"Es geht mich bestimmt nichts an, aber es ist mir aufgefallen. An dem Tag, als Sie hier ankamen, trugen Sie … ich meine, da trugen Sie eine Waffe."

"Und?" Es klang nicht abweisend, sondern eher erwartungsvoll.

"Wie gesagt, es geht mich nichts an, aber seitdem habe ich Sie nicht mehr damit gesehen."

"Vermissen Sie sie etwa an mir?"

"Nein, bestimmt nicht. Es ist mir halt nur aufgefallen, daß Sie damals eine trugen."

"Sind Sie denn der Meinung, daß ich sie hier tragen sollte?"

"Gewiß nicht." George lächelte verlegen. "Ich frage mich nur, wozu Sie sie überhaupt hierher mitgebracht haben."

Jess musterte seinen Begleiter mit einem schiefen Seitenblick.

"Komisch, Slim wollte das auch von mir wissen. Wieso er das fragte, kann ich zur Not noch verstehen. Aber bei Ihnen … Ist das nur Neugierde, oder verfolgen Sie damit einen bestimmten Zweck?"

George ließ sich mit der Antwort Zeit, weil er befürchtete, er könnte damit zu sehr in Jess' Privatsphäre dringen. Aber an dem Schicksal dieses Mannes lag ihm mittlerweile so viel, daß er sich dieses Recht ganz einfach herausnahm.

"Ich habe Sie vorhin beobachtet, vor der Wäschekommode."

Diesmal war Jess' Blick beinahe herausfordernd. Seine zusammengekniffenen Augen fixierten ihn wie einen genau zu taxierenden Gegenstand, von dem er sich nicht sicher schien, ob er ihm von Nutzen oder von Schaden war.

"Spionieren Sie mir nach?"

"Gott bewahre! Es war reiner Zufall. Ich wollte nicht … aber Sie waren so weggetreten, daß Sie mich nicht bemerkt haben. Und, ehrlich gesagt, ich habe mich nicht getraut, Sie anzusprechen. Ich weiß, daß Sie …" George verschluckte den Rest, von dem er nicht wußte, wie er ihn in Worte fassen sollte.

"Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe."

"In der obersten Schublade liegt der Revolver, nicht wahr?"

"Ja", brummte Jess. "Ist schließlich keine ungefährliche Gegend zwischen Laramie und hier", beantwortete er erst jetzt und ziemlich hintersinnig seine Frage von zuvor.

George faßte allen Mut zusammen, ehe er spitzfindig sagte:

"Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie ihn nur deshalb dabei haben?"

"Weshalb denn sonst?"

"Sie wissen ganz genau, was ich meine."

Diesmal durchbohrte ihn der scharfe Blick aus den dunkelblitzenden Augen und nagelte ihn an einen der mächtigen Baumstämme ringsum.

"Was soll das heißen?" fragte Jess ärgerlich über diese Bemerkung, die er auslegen konnte, wie er wollte, und die gerade deshalb so scharf war wie ein Rasiermesser.

Für einen Augenblick dachte er, Slim Sherman redete mit ihm. Aber es war nicht Slim Sherman, dem er als einzigem das Recht für diesen Ton einräumte, sondern George, der ihm zwar zu einem treuen Gefährten geworden, aber eben doch nicht sein bester Freund seit mehr als acht Jahren war, der sich solche und noch ganz andere Dinge erlauben durfte.

"Muß ich Ihnen das wirklich erklären?" vergewisserte sich George, der sich über seine eigene Courage wundern mußte.

Sie waren stehen geblieben und starrten sich an, das heißt, eigentlich war es Jess, der seinen Begleiter anstarrte, während dieser eher bekümmert dreinblickte, als hätte er Angst, einen gerade erst gewonnenen Freund zu verlieren.

"George, ich glaube nicht, daß Sie das Recht haben …"

"Jess!" fiel er ihm ins Wort; was er jetzt sagen wollte, wollte George gar nicht wissen. Er wollte ihn nur nicht einfach so aufgeben wie jemanden, der seiner Meinung nach die Mühe nicht wert war. "Sicher habe ich nicht das Recht. Ich will es mir auch nicht anmaßen. Ich bitte Sie nur um eines: tun Sie es nicht! Um Gottes willen – tun Sie es nicht!"

"Wollen Sie mich etwa daran hindern?"

"Ich kann Sie nicht daran hindern, denn Sie sind nicht der Mann, der sich von irgend jemandem an irgend etwas hindern läßt. Bestimmt nicht! Das weiß ich. Deshalb bitte ich Sie auch, es nicht zu tun."

Die harte Fassade begann überraschend schnell zu bröckeln. Jess kaute verdrossen auf seiner Unterlippe, ehe er sich kopfschüttelnd abwandte.

"Ich kann dafür nicht garantieren, so gern ich es möchte", sagte er leise den Waldweg in die eingeschlagene Richtung entlang. "Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß … Sie wissen ganz genau, daß ich auch hier keine Chance mehr habe. Seit ein paar Tagen … Hierherzukommen war nur ein Aufschub. Ich habe das von Anfang an befürchtet." Mit einem wehmütigen Lächeln wandte er sich wieder seinem Begleiter zu. "Sie alle haben Ihr Bestes getan, aber es gibt nun einmal Dinge, die kann man nicht ändern. Man kann sie nicht aufhalten, egal, was man auch versucht. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden und das Beste daraus zu machen. Wenn es soweit ist, werde ich es auf meine Weise tun, sofern mir die Kraft dafür bleibt. Das wissen meine Leute zu Hause, und jetzt wissen auch Sie es. Ich kann Sie nicht bitten, mir dabei zu helfen, aber Sie sollten mir die Möglichkeit geben, mein Leben mit einer gewissen Würde zu beenden, wenn es soweit ist. Ich glaube, darauf hat jeder Mensch ein Anrecht. Das müßte sogar Gott verstehen, wenn es ihn tatsächlich gibt."

"Jess, bitte!" George wurde es ganz anders zumute. "Hören Sie auf, so zu reden! Noch ist nichts verloren. Sie werden das schaffen! Das weiß ich! Ganz bestimmt sogar! Sie wollen … Mein Gott, Sie haben sich doch nicht schon aufgegeben! Doch nicht so schnell! Das kann ich nicht von Ihnen glauben! Nicht von Ihnen!"

"Was heißt aufgegeben? Sagen wir lieber, ich mache mir keine Illusionen." Jess machte eine hilflose Geste. "Tut mir leid, wenn ich Sie mit meinem Verhalten und dem Gerede von eben erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber ich hänge trotz allem sehr an diesem Leben, das ich oftmals so leichtfertig aufs Spiel gesetzt habe; denn ich weiß, daß es Menschen gibt, die mich brauchen. Ihretwegen werde ich es nicht einfach so wegwerfen – nur ihretwegen bin ich überhaupt noch am Leben. Das kann mich aber nicht daran hindern, zu gegebener Zeit eine Entscheidung zu treffen. Und die Zeit wird bald kommen. Das wissen Sie so gut wie ich."

"Aber um Himmels willen! Das ist doch keine Lösung!"

"Lösung?" wiederholte Jess verächtlich. "Für dieses Problem gibt es keine Lösung, jedenfalls keine, die ich überleben werde. Man kann nur einen Strich darunterziehen, um es damit abzuschließen. Und ich werde mir verdammt noch mal das Recht herausnehmen zu bestimmen, wann dieser Punkt erreicht ist."

"Sie machen mir richtig Angst."

"Sie sind nicht der erste, der das sagt."

"Gibt Ihnen das nicht zu denken?"

"Warum sollte es? Ich kann es Ihnen nicht verübeln. Sie stellen sich nicht vor, wie oft ich in der letzten Zeit vor mir selber Angst habe. Sie werden das vermutlich nicht verstehen und mir womöglich auch nicht glauben. Machen Sie sich nichts daraus! Ich habe zuweilen selber Schwierigkeiten. Darum ist es besser, wenn wir es dabei bewenden lassen."

"Das beunruhigt mich um so mehr. Wenn ich ehrlich bin, wünschte ich, ich hätte Sie nicht zufällig da vor der Kommode stehen sehen."

"Vergessen Sie es einfach!" machte Jess den naivsten Vorschlag, der ihm im Moment einfiel. Darüber hinaus war es der einzige, der ihm dazu in den Sinn kam. "Im übrigen möchte ich mich für meine Unterstellung von vorhin entschuldigen. Wenn ich wirklich der Meinung gewesen wäre, Sie würden mir in irgendeiner Weise nachspionieren, hätte dieses Gespräch von soeben mit Sicherheit nicht stattgefunden. Über so etwas rede ich normalerweise nicht mit jedem und ich möchte auch, daß es unter uns bleibt. Ich habe zwar nichts zu verbergen, aber auch nichts an die große Glocke zu hängen."

George grinste gequält entschuldigend.

"Ich rede zwar gern, aber Tratscherei kann ich nicht leiden."

"Dann sind wir uns ja einig."

Jess wollte sich endlich wieder zum Gehen wenden, obwohl ihm eigentlich nicht besonders danach war, den Spaziergang fortzusetzen.

"Jess!" rief George ihm nach, als er schon zwei Schritte Richtung Waldschneise gemacht hatte.

"Ja?" Halb erwartungsvoll, halb ungeduldig wandte er sich zu ihm um, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, was es zu diesem Thema noch zu sagen gab.

"Danke."

"Wofür?"

"Für Ihre Offenheit und Ihr Vertrauen. Ich weiß, daß Sie nur sehr sparsam damit umgehen und nicht jedem bedenkenlos entgegenbringen. Ich fühle mich geehrt, daß ich zu diesem kleinen Kreis Auserwählter zählen darf."

Jess sah ihn verwirrt an. Für einen Augenblick wußte er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Endlich huschte der Anflug eines traurigen Lächelns über sein fahles Gesicht.

"Zuerst hatten wir uns heute überhaupt nicht viel zu sagen. Dann habe ich zuviel geredet, und jetzt tun Sie es. Gehen wir lieber noch ein Stück."

Bis zum See kamen sie an diesem Nachmittag jedoch nicht mehr.

Bald hatte George das Gefühl, er müßte seinen ohnehin gemächlichen Schritt immer mehr verlangsamen, damit Jess nicht zurückblieb. Schließlich hielt er inne, weil dieser nun überhaupt nicht mehr nachkam. Zuerst blickte er nur über die Schulter zurück, drehte sich dann aber ganz zu ihm um. Jess stand drei Schritte hinter ihm, die Rechte zwischen zwei Knöpfen unter die Jacke geschoben, leicht nach vorn gekrümmt und den Kopf halb zur Seite gewandt, um sich verstohlen auf die Unterlippe zu beißen. Anscheinend hatte er heftige Schmerzen, denn er versuchte, so wenig wie möglich zu atmen und hielt jedesmal so lange die Luft an, bis seine Lungen förmlich nach Sauerstoff lechzten.

"Jess, was haben Sie denn?" fragte George besorgt, kam an seine Seite, weil er befürchtete, daß er gleich zusammenbrach, und faßte ihm deshalb vorsorglich an die gesunde Schulter. Jess konnte nicht sprechen, machte nur eine abweisende Kopfbewegung und wandte sich etwas mehr zur Seite, um sein verzerrtes Gesicht besser verbergen zu können. "Ich hatte schon heute morgen den Verdacht, daß es Ihnen nicht besonders gut geht. Wir hätten nicht so weit gehen dürfen. Ich hätte wissen müssen, daß es zu anstrengend für Sie wird. Sie haben schlimme Schmerzen, nicht wahr?"

"Ist gleich vorbei!"

"Soll ich den Wagen holen?"

"Nicht nötig."

"Sind Sie sicher?"

Jess nickte verbissen.

"Kommen Sie, setzen Sie sich da rüber und ruhen Sie sich einen Moment aus. Es ist gleich hier drüben. Nur ein paar Schritte." Er geleitete ihn zu ein paar aufgestapelten Baumstämmen, die Olaf nach dem letzten Windbruch zur Seite geräumt hatte, um später Brennholz daraus zu machen. "Ganz langsam! Gleich haben Sie es geschafft. Vorsichtig!" Er hielt ihn sogar, als er sich endlich, halb sitzend, gegen einen Strunk lehnen konnte. "Hier bleiben Sie erst einmal sitzen und verschnaufen ein wenig. Dann werde ich Sie auf dem schnellsten Weg zurückbringen. Tut es noch sehr weh?"

"Es sticht wie lauter stumpfe Messer mit Widerhaken dran", stöhnte Jess. "Weiß zwar nicht, wie die tatsächlich stechen, aber … aber ich stell' es mir so vor."

"Nicht soviel sprechen!" George setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern, um ihn besser halten zu können. "Wo genau tut es weh?"

"Weiß nicht!" stieß er mühsam hervor. "Überall!"

Ein heftiger Hustenanfall raubte ihm beinahe die Sinne, ließ aus dem Stechen ein fürchterliches Reißen werden, daß ihm der Atem stockte und er sich verzweifelt an George klammerte, während sich ein Aufschrei aus seiner Kehle quälen wollte, jedoch in einem entsetzlichen Röcheln erstickte. George faßte ihn fester.

"Nehmen Sie die Hand von der Wunde!" Er griff nach seinem Handgelenk, versuchte seine verkrampften Finger zu lösen, um ihm mit sanftem Nachdruck die Rechte herunterzuschieben, die sich unter der Jacke regelrecht auf seiner Brust verkrallt hatte. "Lassen Sie los! Sie machen es doch nur noch schlimmer!"

"Ich kann nicht!"

"Natürlich können Sie! Hier, packen Sie meine Hand und drücken Sie fest zu. Von mir aus brechen Sie mir die Knochen, wenn Sie wollen, aber lassen Sie Ihre zerschmetterte Rippe!"

"Das … das tut so weh!"

"Ich weiß." George massierte behutsam seinen linken Oberarm, um ihn vom eigentlichen Herd des Übels etwas abzulenken und auch seine Verkrampfung zu lösen. "Packen Sie nur richtig zu!" forderte er ihn auf, während er kräftig dem harten Druck seiner Rechten entgegenwirkte. "Konzentrieren Sie sich dabei nur auf Ihre Atmung, genauso wie ich es Ihnen beibrachte. Dann wird es gleich besser werden. Lassen Sie sich einfach gehen! Schreien Sie, wenn Sie wollen, aber versuchen Sie bitte nicht, etwas vor mir zu verstecken! Glauben Sie mir, ich weiß, was Sie da aushalten müssen."

Diesmal hatte Jess sehr lange zu kämpfen, bis er endlich wieder einigermaßen die Kontrolle über sich und seinen geschundenen Körper erlangte. Zusammengekauert, manchmal heftig zuckend, lehnte er, vornübergebeugt, mit dem Kinn auf der Brust, an George, der fürsorglich seine Schultern umschlungen und auch seine Rechte noch hielt, mit der er sich an ihn geklammert hatte wie ein Ertrinkender, den ein Unwesen in eine endlose Tiefe zerren wollte.

"Warum … warum muß das nur so verflucht wehtun?" fragte Jess mit brüchiger Stimme, hob langsam den Kopf und versuchte, seinen verkrümmten Körper etwas aufzurichten, wobei er sich jedoch eher an George hochziehen mußte. "Warum kann … es nicht einfach zu Ende gehen ohne diese Quälerei?"

"Gar nichts wird zu Ende gehen! Warum denken Sie immer nur an so etwas?"

"Weil … weil es bald soweit sein wird."

"Aber das ist doch Unsinn!"

"Fangen Sie jetzt bloß nicht an, mir irgendwelche Geschichten zu erzählen! Denken Sie, ich wüßte nicht, daß es seit ein paar Tagen unaufhaltsam schlimmer wird? Wenn ich mich morgens beim Rasieren im Spiegel betrachte, erschrecke ich jeden Tag etwas mehr. Bald werde ich mich wahrscheinlich selbst nicht mehr erkennen."

"Ach, Jess, nicht jeder Tag ist gleich. Jeder hat mal Höhen und Tiefen. Manchmal, da fühlt man sich völlig ohne Grund zerschlagen und ganz miserabel, und dann ist es wieder vorbei. Das geht jedem so, auch mir."

"Bitte hören Sie auf, mir irgendwelche Bären aufzubinden! Sie würden mich sonst sehr enttäuschen. Sie tun uns beiden keinen Gefallen damit. Eines steht jedenfalls fest: das heute war wohl unser letzter Spaziergang hierher. Ich schätze, daß ich dafür nicht mehr genügend Kraft aufbringen kann." Nachdem George hierzu schwieg, sah Jess ihn erstaunt von der Seite her an. "Nanu! Kein Kommentar?"

"Was soll ich dazu sagen?"

"Und wie lange … geben Sie mir noch?"

"Ich weiß es nicht." George hob ratlos die Schultern und machte ein betretenes Gesicht. "Ich weiß es wirklich nicht. Trotzdem … Sie dürfen sich nicht aufgeben! Manchmal geschehen Dinge, für die es keine Erklärung gibt. Allein die Tatsache, daß Sie diese schwere Verwundung überhaupt überlebt haben, ist fast ein Wunder. Ich habe eine Menge Leute sterben sehen an weitaus harmloseren Blessuren. Die Medizin ist zwar nichts anderes als eine Wissenschaft, aber gerade deshalb muß man auch bei ihr auf Überraschungen gefaßt sein, nicht zuletzt weil die Natur des menschlichen Körpers nicht nur mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen ist. Hinzukommt, daß Sie ein Mensch sind mit einer sehr ausgeprägten Persönlichkeit, einem außergewöhnlich starken Willen. Deshalb sehe ich keinen Grund, irgendwelche Spekulationen anzustellen. Es wäre unverzeihlich, wenn ich Sie dadurch – bewußt oder unbewußt – in der falschen Richtung beeinflußte."

"Das haben Sie wirklich schön gesagt", brummte Jess bissig vor sich hin. "Allerdings glaube ich nicht, daß dies den Teufel beeindrucken wird, wenn er kommt, um sich meine Seele zu stehlen."

"Wieso der Teufel?" wollte George dem Ganzen ein wenig die Schärfe nehmen. Die nackten Tatsachen begannen ihn selbst unerträglich zu schmerzen.

"Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß sich jemand anderes daran vergreifen könnte!"

"Es wird sich hoffentlich niemand daran vergreifen."

"Er wird kommen, George, er wird! Er ist sogar schon in der Nähe."

"Nein, Jess, er oder wer auch immer kommt nur, wenn Sie es zulassen."

"Daran habe ich einmal geglaubt, aber das ist vorbei." Jess starrte finster vor sich hin, ehe er leise fortfuhr. "Es ist jetzt fast vier Monate her, seit er mir zum erstenmal leibhaftig begegnet ist. Damals bildete ich mir ein, Slim sei der einzige, vor dem er zurückwich, der ihn mit seiner freundschaftlichen Verbundenheit von mir fernhalten könnte. Dann war es Mike mit seiner kindlichen Zuneigung, der mir half, gegen ihn zu kämpfen. Diese Menschen gaben mir bisher die Kraft, meinen Willen aufrecht zu halten, diesen Kampf mit aller Zähigkeit und Verbissenheit zu führen. Diese Kraft erschöpft sich allmählich. Ich fühle es, aber ich kann nichts dagegen tun. Sie rinnt dahin so unaufhaltsam wie die Zeit. Sie haben recht, ich habe einen starken Willen. Aber er wird nicht genügen, um den Lauf der Dinge aufzuhalten, denn bald wird er gebrochen sein. Dann habe ich diesem wachsenden Schatten nichts mehr entgegenzusetzen."

"Mein Gott, wenn ich Sie so reden hör', kriege ich eine fürchterliche Gänsehaut." Kameradschaftlich legte George ihm die Hand auf die Schulter. "Vielleicht … vielleicht würde es Ihnen helfen, wenn Sie es zuließen, daß Ihre Leute Sie einmal besuchen. Vielleicht würde das …"

"Nein!" fuhr Jess energisch dazwischen. "Das möchte ich nicht!"

"Aber warum denn nicht? Sie vermissen sie doch. Das spüre ich. Vor allem Ihren Jungen. Wäre es …"

"Nein, George! Es ist zwar richtig, daß er mir fehlt, aber ich kann ihm das nicht antun. Ich will nicht, daß er mich so oder vielleicht sogar noch schlimmer sehen muß. Er hat es wochenlang ertragen müssen. Ich bin froh, daß ich ihm den traurigen Rest ersparen kann. Es wäre unverantwortlich."

"Aber …" George schluckte. "Entschuldigen Sie!" bat er, peinlich berührt, und verstärkte den Druck seiner Finger auf Jess' Schulter. "Ich wußte, daß es Ihnen nahegeht, aber ich habe nicht damit gerechnet …"

"Bitte, George!" ließ Jess ihn nicht ausreden. "Gehen wir lieber zurück, solange mir meine Beine noch gehorchen. Wird bestimmt nicht lange dauern, bis sie ihren Dienst versagen."

George gelang es tatsächlich, ihn zurückzubringen, ohne daß er unterwegs zusammenbrach, obwohl sie mehrmals Halt machen mußten, wenn ihn vor lauter Anstrengung doch noch seine Kräfte verlassen wollten. Endlich in seinem Zimmer, hätte George es am liebsten gesehen, wenn er sich sofort hingelegt hätte, aber Jess wollte sich lieber draußen in die Sonne setzen.

"Dann werde ich Ihnen aber auf jeden Fall eine Decke bringen!" bestimmte er und erschien gleich darauf mit einer warmen Wolldecke, die er trotz heftigen Protests über ihn breitete. "Ich werde Olaf sagen, daß er Professor Tyler verständigt. Er ist noch unten im Ort."

"Nein, lassen Sie ihn! Die Leute da unten brauchen ihn dringender als ich. Schließlich könnte er auch nichts weiter für mich tun."

"Jess, er würde es mir nie verzeihen, wenn …"

"Es wird nichts zu verzeihen geben. Machen Sie sich nicht so viele Sorgen um mich!"

"Das dürfte mir schwerfallen."

"Würden Sie mich jetzt bitte allein lassen?"

"Na schön!" gab George nach, obwohl es ihm nicht recht war, was er da von ihm verlangte. "Kann ich noch irgend etwas für Sie tun? Möchten Sie noch irgend etwas?"

"Nein, danke! Gehen Sie jetzt, bitte!" sagte Jess sehr nachdrücklich, daß es sich wirklich so anhörte, als ob er ihn loswerden wollte, weil er ihn für das, was er vielleicht vorhatte, nicht brauchen konnte.

"Wie Sie wollen. Ich bin ganz in der Nähe, falls Sie mich doch noch brauchen sollten."

"Danke!"

Widerstrebend wandte sich George zum Gehen. Als er an der Wäschekommode vorbeikam, verhielt er einen Moment den Schritt. Jess wandte ihm zwar den Rücken zu, schien sogar bereits am Einschlafen zu sein, als seine Stimme jedoch sehr ungehalten von draußen durch die halb offene Balkontür hereindrang.

"Das, woran Sie jetzt denken, beschäftigt mich im Moment nicht so sehr wie Sie. Ich bin viel zu müde, um aufzustehen und an die Schublade zu gehen. Ich rate es Ihnen auch nicht, denn dieses Privileg hätte nur einer – und das ist Slim Sherman."

George schluckte. Dieser Mann war ihm zuweilen tatsächlich unheimlich, besonders wenn er so eindeutig seine Gedanken las, ohne ihn dabei überhaupt ansehen zu müssen. Dies war schon so oft geschehen, daß es sich unmöglich nur um Zufälle handeln konnte.

Jedenfalls empfand er es als wenig zweckmäßig, ihm in irgendeiner Weise widersprechen zu wollen. Es hätte wahrscheinlich nur eine nervenaufreibende Diskussion über Dinge gegeben, über die sie verschiedener Ansicht waren. Das durfte er Jess nicht zumuten in der furchtbaren Verfassung, in der er sich befand.

"Natürlich", murmelte George statt dessen verlegen und war froh, daß er ihn dabei nicht ansehen mußte. "Bis später."

Mit einem sehr unbehaglichen Gefühl in der Magengegend ließ er ihn endlich allein.

Fortsetzung folgt