KAPITEL 34

In den folgenden Tagen verschlechterte sich Jess' Gesundheitszustand so augenfällig, daß es beinahe an ein Wunder grenzte, wenn er soviel Kraft aufbrachte, um wenigstens für kurze Zeit das Haus zu verlassen und in Begleitung seines fürsorglichen Betreuers sich ein paar Augenblicke draußen auf der Terrasse oder im Garten aufzuhalten, sofern es die zwar kälter gewordene, aber immer noch trockene Witterung zuließ. Allerdings erschöpften ihn diese manchmal nur Minuten dauernden Ausflüge an die frische Luft derart, daß er danach Stunden brauchte, um sich davon zu erholen.

Schon allein deshalb hätte Professor Tyler sie ihm verbieten müssen, aber er tat es nicht aus gutem Grund, halfen sie seinem Patienten, in dem er immer mehr den hoffnungslos verlorenen Todeskandidaten gewahrte, sich nicht gar zu sehr in fataler Lethargie hängenzulassen oder sich in ebensolchen Depressionen zu verlieren. Ansonsten konnte auch Jonathan Tyler nicht viel für ihn tun. Bis zu seinem völligen körperlichen Zusammenbruch war es somit nur noch eine Frage der Zeit.

Dieser kündigte sich nur wenige Tage nach Weihnachten an während seines vorerst letzten Versuchs, die Partie Gartenschach, die sich schon über mehrere Nachmittage hinzog, zu beenden. George, der auf seine Anweisungen auch Jess' Figuren rückte, da Olaf ausnahmsweise mit der Instandhaltung der technischen Anlagen beschäftigt war, merkte, wie schwer es ihm fiel, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Erst recht wurde er jedoch darauf aufmerksam, als Jess meinte, heute sei es zum erstenmal auch hier auffallend kalt, obwohl George eher fand, daß die Wintersonne sie besonders mit Wärme verwöhnte und das große Thermometer neben dem hinteren Treppenaufgang dies nur bestätigte.

"Ich fürchte, Sie haben Fieber. Schon heute morgen hatte ich den Verdacht."

"Ach was!" winkte Jess mit einer schwachen Handbewegung ab. Dabei sprach er so leise wie jemand, der selbst dafür kaum genügend Kraft besaß.

"Sie sehen heute sehr erschöpft aus."

"Bin nur ziemlich müde. Vielleicht … vielleicht ist mir deshalb auf einmal so kalt."

"Wir sollten besser ins Haus gehen." George kam auf ihn zu, weil er befürchtete, daß er gleich einen Schwächeanfall bekam. Mit unguter Vorahnung legte er ihm die flache Hand an die Stirn, obwohl seine fieberglänzenden Augen ihn bereits verrieten. "Mein Gott, Sie haben wirklich Fieber!" Sofort zog er seinen Mantel aus und warf ihn Jess über die Schultern. "Kommen Sie! Sie gehören auf dem schnellsten Weg ins Bett."

"Mir muß es wirklich dreckig gehen. Der beste Beweis dafür ist, daß ich Ihnen nicht widerspreche."

Jess war froh, daß George den Arm um ihn legte und ihn zum Terrasseneingang führte. Er klammerte sich an seinen Begleiter mit all seiner verbliebenen Kraft. In seiner Brust begannen die Schmerzen zu toben. Mit jedem Schritt wurde das Atmen für ihn mehr zur Hölle. Ein heftiger Hustenanfall zwang ihn in die Knie, daß er an Georges Seite abrutschte und dieser ihn beinahe nicht mehr halten konnte. Aber er wußte genau, wie er ihn packen mußte, um die Hebelwirkung seiner Arme bestmöglich zu nutzen, ohne Jess dabei wehzutun.

Irgendwie brachte er ihn in sein Zimmer und auch ins Bett, wo ihn ein regelrechter Schüttelfrost überfiel, daß er am ganzen Körper zu zittern begann. Mit raschen Griffen sorgte George dafür, daß das hochgestellte Kopfteil des Bettes seinen Oberkörper stützte und ihn in halbsitzender Lage hielt. Trotzdem rang Jess nach Atem wie ein Ertrinkender, selbst als George die Belüftung so einstellte, daß der angenehme Luftstrom direkt auf sein schweißbedecktes Gesicht traf. Hustend und röchelnd wälzte er sich auf dem Bett, ehe George ihn endlich weiter aufrichten konnte, um ihm zu helfen. Während er beruhigend auf ihn einredete und ihn zu halten versuchte, betätigte er mit einer raschen Handbewegung den Klingelzug über dem Bett, um Professor Tyler zu verständigen.

"George!" keuchte Jess, blind vor Schmerzen, nach dem treuen Gefährten tastend, der nach seiner Hand faßte, um ihm mit sanftem Druck zu zeigen, daß er bei ihm war. "Ich ersticke!"

"Bleiben Sie ganz ruhig! Und nicht sprechen! Versuchen Sie, gleichmäßig zu atmen!"

"Das … das tut so weh!"

"Ich weiß. Versuchen Sie es trotzdem!"

Wie in Panik nach ihm suchend, entriß er seine Hand der seines Helfers, um sie erneut suchend nach ihm auszustrecken.

"George!"

"Keine Angst, Jess, ich bin bei Ihnen. Beruhigen Sie sich! Es wird alles wieder gut. Professor Tyler kommt gleich und wird Ihnen helfen."

Unablässig bemühte sich George, ihn zu beschwichtigen und zu einer einigermaßen normalen Atmung zu bringen; aber Jess verkrampfte sich immer mehr. Sein geschwächter Körper erlag jedoch sehr schnell einer nahezu totalen Erschöpfung, so daß er bald ruhiger wurde, weil ihm die Kraft fehlte, sich gegen Schmerzen und Atemnot weiter aufzulehnen. Die Folge war, daß er nun beinahe apathisch da lag, fiebernd und einem völligen Zusammenbruch nahe.

So bekam er kaum mit, wie Professor Tyler ihn gewissenhaft untersuchte, nachdem George mit wenigen Handgriffen aus der Umgebung des Bettes eine perfekte Krankenstation gezaubert hatte dank einer ausgeklügelten Technik von verschiebbaren Wänden und eingebauten Klappschränken. Tyler hoffte, das Fieber in seiner Entstehungsphase mit entsprechenden Dosen von Chinin unter Kontrolle zu halten, ehe es zur ernsthaften Gefahr werden konnte.

"Ich werde Ihnen etwas gegen das Fieber und die Schmerzen geben", erklärte Tyler in seiner väterlichen Art, während George, der die Mixtur hergestellt hatte, ihm das Becherglas mit der milchigen, bitterschmeckenden Flüssigkeit reichte. "Kommen Sie, trinken Sie! Schön langsam und vorsichtig!" Er ließ ihn trinken, und Jess gehorchte ohne Widerrede, trank in kleinen Schlücken, als wüßte er nicht recht, was mit ihm geschah. "Es dauert einen Moment, bis es wirkt. Dann werden Sie schlafen. Wenn Sie aufwachen, fühlen Sie sich garantiert besser."

"Jetzt … dauert es … nicht mehr lange, nicht wahr?" flüsterte Jess so leise, daß er kaum zu verstehen war, während über sein aschfahles Gesicht gespenstische Schatten von heftigen Schmerzen zuckten.

"Sie werden das schaffen, mein Junge!" versicherte Tyler, um soviel Zuversicht bemüht, wie er ihm in diesem Augenblick nur vermitteln konnte. Jess wollte schon fragen, wie er das genau meinte, aber den Kraftaufwand dafür konnte er sich sparen, als er Tyler mit fiebrigen Augen ansah. Seine ernste Miene, mit der er ihm so hartnäckig Arglosigkeit vorspielen wollte, machte jede weitere Erklärung überflüssig. "Machen Sie sich keine Sorgen, Jess! Ruhen Sie sich jetzt nur gut aus. George wird solange bei Ihnen bleiben."

Mit einer schwachen Kopfbewegung zeigte Jess, daß er verstanden hatte; und Tyler wußte, daß er auch über das genau im Bilde war, was er vor ihm verbergen wollte. So kam er dem Arzt entgegen, indem er ihm durch sein feines Gespür dafür ersparte, allzu unangenehme Dinge erklären zu müssen.

Tyler wartete geduldig bei ihm auf der Bettkante, bis ihn das Beruhigungsmittel einschläferte. Jess unternahm keinerlei Versuche, sich dagegen zu wehren. Im Gegenteil! Er war froh, daß die Schmerzen nachließen und sich diese wohlige Schwere in seinem Körper ausbreitete. Nach dem, was er in der letzten Zeit durchmachen mußte, empfand er es als Erlösung, einzuschlafen und von den entsetzlichen Schmerzen in seiner Brust nichts mehr zu spüren.

"Er wird sterben, nicht wahr?"

"Ja", nickte Tyler mit verhaltener Stimme. "Ich kann ihm nicht mehr helfen. Das war mir von Anfang an klar. Und das schlimme ist, er wußte es auch. Trotzdem hat er die Strapazen dieser Reise auf sich genommen."

"Ich glaube, er wollte es seinen Leuten zu Hause ersparen."

"Das traue ich ihm zu. Ich hätte ihm so gerne geholfen. Jetzt kann ich nichts weiter für ihn tun, als seine Schmerzen betäuben, um ihm das Sterben so leicht wie möglich zu machen."

"Wollen Sie nicht lieber Slim Sherman benachrichtigen?"

"Nein!" Tyler warf einen Blick auf das Krankenlager. "Nein, noch nicht! Ich bin zwar wie Sie der Meinung, daß es längst höchste Zeit ist, aber ich weiß, daß Jess es nicht haben will. Obwohl ich es nicht für richtig halte, muß ich seinen Wunsch respektieren. Wir dürfen uns nicht darüber hinwegsetzen. Jess sähe das als schweren Vertrauensbruch. In der Beziehung ist er sehr empfindlich, schätze ich. Wir sollten ihn nicht enttäuschen, nicht in seinen letzten Stunden. – Passen Sie gut auf ihn auf, George! Kontrollieren Sie regelmäßig seine Atmung und seinen Herzschlag. Informieren Sie mich sofort, wenn es zu irgendwelchen Anomalien kommt. Es sind dann vielleicht nur ein paar wenige Stunden, die ich herausschinden kann, aber ich möchte mir nicht vorwerfen müssen, nicht alles Menschenmögliche getan zu haben. Dan Higgins hatte leider recht mit seinen Befürchtungen. Tja, medizinischer Fortschritt hin oder her – das Schicksal ist leider Gottes nicht aufzuhalten. – Kümmern Sie sich um ihn!"

"Ich werde nicht von seiner Seite weichen", versprach George mit einem traurigen Lächeln.

Vorerst war Jess' Fieber mit unbedenklichen Mengen von Chinin unter Kontrolle zu halten, obwohl es ihn sehr schwächte und er deshalb das Bett nicht mehr verlassen konnte. Die Schmerzen kamen, zwar in regelmäßigen Abständen, aber mit ebenso regelmäßigen Unterbrechungen, so daß er sich in den ruhigeren Phasen ein wenig erholte, sofern ihm die Hustenanfälle die nötigen Verschnaufpausen gewährten. Jeder Anfall steigerte seine Atemnot, daß ihn sein Lufthunger ohne die ausgezeichnete Belüftungsanlage des Hauses längst erstickt hätte.

George erwies sich nun als der Krankenpfleger schlechthin, der ihn regelmäßig wusch und rasierte, ihm beim Essen half und sofort zur Stelle war, wenn es nur den vagen Anschein gab, daß er seine Hilfe benötigte.

Jess ließ diese aufmerksame Fürsorge mehr oder weniger kommentarlos über sich ergehen, weil ihm die Kraft fehlte, ihr irgendwelchen Widerstand entgegenzusetzen, denn er brauchte jedes Quentchen davon, um seine fundamentalen Existenzgrundlagen am Leben zu halten. Sicher trug die beruhigende Wirkung der Medikamente erheblich dazu bei, daß er alles mit gewissem Gleichmut zu betrachten begann, der ihm sonst gewiß nicht so leicht gefallen wäre.

"Wissen Sie was, Jess?" meinte George, redlich darum bemüht, unbeschwert zu klingen, nachdem er eine sehr gewissenhafte Morgentoilette beendet und ihn in frische Laken und Decken gewickelt hatte. "Ich würde eigentlich gerne unsere Partie Schach zu Ende spielen."

"Daraus wird leider nichts mehr werden", flüsterte Jess, weil seine kranke Lunge für normales Sprechen nicht genug Luft zur Verfügung stellen konnte.

"So etwas sollten Sie nicht sagen. Sie werden wieder gesund. Ganz bestimmt!"

"Ich weiß, Sie … Sie meinen es gut." Immer wieder zuckte Jess vor Schmerzen und stöhnte ins Kissen, weil nahezu jedes zweite Wort von einem dieser dumpfen Stiche begleitet wurde, die er mittlerweile nicht nur in der Nähe seiner zerschossenen Rippe spürte, sondern überall auf seiner linken Brustseite. "Aber es hat keinen Sinn mehr." Nach einem heftigen Aufstöhnen meinte er auf einmal, auf den ersten Blick ohne ersichtlichen Bezug zu dem vorher Gesagten: "Ich hätte es tun sollen, solange ich noch dazu imstande war. Jetzt ist es … zu spät."

"Um Himmels willen, wovon sprechen Sie?"

"Von der Möglichkeit, aus diesem Leben mit etwas … mehr Würde zu treten."

"Nein, Jess, nein! Es wäre nicht recht gewesen. Ich bin froh, daß Sie es nicht getan haben. Sie reden, als ob …"

"Ich werde bald sterben. Das wissen Sie genau. Machen Sie es mir bitte nicht … so schwer."

"Wenn ich damit Ihre Selbstaufgabe verhindern kann, werde ich es Ihnen so schwer wie möglich machen." Er wusch sein schweißbedecktes Gesicht und kühlte seine Schläfen. "Es ist noch lange nichts verloren. Sie haben schon so viel überstanden, daß Sie sich von dem bißchen Fieber hoffentlich nicht unterkriegen lassen."

"Es ist nicht das Fieber, George, und es sind auch nicht die Schmerzen, sondern ganz einfach, daß die Natur der Sache ihren Tribut fordert. Wie soll ich mich dagegen wehren?"

"Jess, Sie sagten einmal, Sie seien ein schlechter Verlierer."

"Das bin ich. Und ich habe gelernt zu kämpfen. Deshalb weiß ich auch, wann ein Kampf sinnlos geworden ist. Das hat weder etwas mit Verlieren noch mit Aufgeben zu tun."

"Sagen Sie jetzt bloß nicht, das ist Ihre Version von Selbsterhaltungstrieb."

"Nein, aber von Selbstachtung."

"Die bei Ihnen anscheinend mehr mit dem Tod zu tun hat als mit dem Leben. So wie Sie reden, muß man jedenfalls diesen Eindruck gewinnen."

"Das eine gehört doch zum anderen … oder etwa nicht?"

"Sicher."

"Ich habe keine Angst vorm Tod oder vorm Sterben. Ich hatte nur Angst vor der Art und Weise, wie ich dieses Leben verlassen muß. Aber selbst die wird immer unbedeutender, weil ich es hier tun kann und darf, anstatt es zu Hause tun zu müssen … vor den Augen meiner Leute. Dafür bin ich sogar bereit, einen Teil meiner Selbstachtung zu opfern."

Jess keuchte. Das viele Sprechen hatte ihn sehr angestrengt, daß ihm das Atmen zur Qual wurde. Die Stiche in seiner Brust steigerten sich zu einem nagenden Bohren. Er preßte die Lippen aufeinander, um ein lautes Aufstöhnen zu unterdrücken.

"Sie sollten jetzt nicht mehr soviel reden. Das kostet Sie viel zuviel Kraft. Versuchen Sie lieber, sich etwas auszuruhen. Bitte!"

George steckte sich das Stethoskop in die Ohren und setzte das Endstück gezielt auf seine Brust. Mit jedem Mal wirkte sein ernstes Gesicht besorgter.

"Nicht gut, was es da zu hören gibt, was?" stieß Jess mühsam hervor, während sich seine Rechte auf der Bettdecke zur Faust verkrampfte.

"Jess, bitte! Seien Sie jetzt still! Oder wollen Sie es mit Gewalt herausfordern? Ihre Schmerzen werden dadurch auch nicht besser."

"Tut mir leid, daß ich so ein … schwieriger Patient bin."

Ohne weiter darauf einzugehen, legte George das Ende des Stethoskops auf seinen Hals, um seinen Puls zu kontrollieren. Die erhöhte Frequenz und seine heiße Stirn verrieten ihm auch ohne Fieberthermometer, daß es höchste Zeit war für eine weitere Dosis Chinin.

"Eh Ihr Fieber noch weiter steigt, werde ich Ihnen lieber etwas geben. Vielleicht können Sie dann auch ein wenig schlafen." George rührte etwas von einem weißen Pulver in ein Becherglas, von dem er sehr gewissenhaft nur eine bestimmte kleine Menge abgemessen hatte. "So, das werden Sie jetzt schön trinken. Warten Sie, ich helfe Ihnen."

Er stützte ihn und hielt ihm das Glas, während Jess den bitteren Inhalt in kleinen Schlücken hinunterwürgte – ohne viel zu fragen, ob das tatsächlich nur Chinin war oder vielleicht noch ein paar Tropfen von irgend etwas anderem. Allmählich hatte er das Stadium erreicht, in dem er dankbar war für alles, was seine siechen Beschwerden erträglicher machte. Was spielte es jetzt noch für eine Rolle, ob ihn irgend so ein Betäubungsmittel abhängig machte oder langsam vergiftete? Warum sollte er mehr von diesen furchtbaren Schmerzen aushalten, als unbedingt nötig war, hatte er doch schon mehr als genug von ihnen ertragen? Vielleicht half es ihm, was immer es war, irgendwann friedlich einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Mittlerweile empfand er dies, wollte er ehrlich vor sich selber sein, für wesentlich angenehmer als, halb wahnsinnig vor Schmerzen, zu ersticken, weil sich da offensichtlich irgend etwas in seiner Lunge ausbreitete, was keinen Platz mehr ließ für genügend Luft zum Atmen.

"George!" rief er nach einer Weile mit gebrochener Stimme nach seinem Betreuer, der neben dem Bett saß und angenommen hatte, er schliefe längst.

"Jess!" Überrascht beugte er sich über ihn, um ihn besser verstehen zu können. "Sie sollten doch endlich schlafen!" Er wusch sein Gesicht, auf dem der Schweiß glänzte. Seine halb geöffneten Augen waren vom Fieber gerötet und seine Lider so schwer wie Blei. "Haben Sie noch sehr starke Schmerzen?"

Jess machte eine schwache verneinende Kopfbewegung. Tatsächlich hatten diese nachgelassen und hielten sich in erträglichem Rahmen.

"George, versprechen Sie mir etwas?" fragte er leise, daß dieser erhebliche Schwierigkeiten hatte, sein beinahe unartikuliertes Hauchen zu verstehen.

Er war so entsetzlich müde, aber er hatte seiner Meinung nach noch etwas Dringendes zu sagen. Da er nicht wußte, ob es nicht die letzte Gelegenheit war, wichtige Dinge zu klären, durfte er nichts aufschieben.

"Gern, wenn ich kann."

"Wenn … wenn Slim kommt, um mich nach … nach Hause zu holen, sagen Sie ihm bitte nicht, daß ich … daß ich noch durch diese … Hölle gegangen bin; er würde sonst mit seinen … Schuldgefühlen überhaupt nicht mehr fertig werden."

"Jess, Sie wollen Ihrem besten Freund doch keine Unaufrichtigkeit hinterlassen!"

"Ist nur … ein Freundschaftsdienst – der letzte, den ich ihm erweisen kann. Bitte, George! Sie … Sie kennen die Hintergründe nicht, und ich habe keine Kraft mehr, sie Ihnen … zu erklären." Jess schluckte ein Stöhnen hinunter. "Versprechen Sie es mir einfach! Bitte!"

"In Ordnung!" Zum Nachdruck ergriff George seine schlaffe Hand auf der Bettdecke. Seine Stimme zitterte leicht vor Bewegtheit. "Wenn Sie es so wollen, verspreche ich es Ihnen. Es wird aber gewiß nicht nötig sein, daß er kommt."

"Es wird, George, bald sogar! Sehr bald! – Danke!" konnte Jess nur undeutlich flüstern.

Was immer George in dem Becherglas gemixt hatte – es wirkte endlich. Nach ein paar röchelnden Atemzügen fiel sein Kopf langsam zur Seite. Dann schlief er für ein paar Stunden, frei von Schmerzen und quälender Atemnot. Geduldig hielt George bei ihm Wache, kontrollierte in gleichmäßigen Abständen Puls und Atmung und maß sein Fieber, das jedoch dank des Chinins ziemlich konstant blieb. Für wie lange es mit Medikamenten unter Kontrolle zu halten war, ohne daß es zu einer echten Bedrohung wurde, vermochte niemand zu sagen, auch nicht Professor Tyler, der George um die Mittagszeit kurz ablöste, damit er bei Liz in der Küche etwas essen konnte.

Hier hatte sich auch Olaf eingefunden, der am Morgen im Ort unten war, um ein paar Besorgungen zu machen, und bei der Gelegenheit gleich die Post mitgebracht hatte. Unter all den Rechnungen, Fachzeitungen, einer Kiste mit Medikamenten und Chemikalien, einem Modekatalog für Liz, sonstigem wichtigem und unwichtigem Papierkram befand sich auch einer der mehr oder weniger regelmäßigen Briefe von der Sherman-Ranch, von denen alle paar Tage einer eintrudelte. Anfangs hatten diese Lebenszeichen von zu Hause Jess' Laune sofort um einiges gehoben, denn Mike hielt es anscheinend für seine Pflicht, ihn über sämtliche Vorgänge zu Hause und von seinen Schulerlebnissen zu informieren. Manchmal waren es nur ein paar Zeilen, die da alle zwei oder spätestens drei Tage ins Haus flatterten, aber mit solch kindlicher Unbefangenheit geschrieben, gerade so, als vertraute er seine Gedanken nicht zuerst dem Papier an, sondern wäre selbst gekommen, um munter drauflos zu plaudern, obwohl Jess zwischen den Zeilen sehr oft eine gewisse Traurigkeit herauslesen konnte.

Immerhin hatte es Jess bisher dreimal geschafft, seinerseits Lebenszeichen von sich zu geben, das kurze Telegramm gleich nach seiner Ankunft in Colorado Springs nicht mitgezählt. Eine enorme Leistung, wenn man ihn kannte und wußte, daß Briefe Schreiben ganz und gar nicht zu den Beschäftigungen gehörte, für die er mit Überredungskunst oder gutem Willen zu begeistern war.

Mit dem Argument seiner angeblich so schlechten Handschrift hatte er versucht, seinen Angehörigen zu verkaufen, warum er die drei Briefe der letzten vier Wochen nicht selbst, sondern sein aufmerksamer Betreuer für ihn zu Papier gebracht hatte, während er ihm nur den Wortlaut diktierte. Zuerst wollte sich George vehement dagegen wehren, denn so tief in seine Privatsphäre einzudringen, war ursprünglich nicht seine Absicht, obwohl er sich geschmeichelt fühlte über das Vertrauen, das er ihm damit bekundete. Schließlich konnte Jess ihn doch dafür gewinnen, zumal er sich zur Ausrede nahm, durch seine Behinderung, mit nur einer Hand das Papier nicht festhalten und gleichzeitig damit schreiben zu können, so sehr seine Schrift zu verunstalten, daß das Gekrakel kein Mensch mehr entziffern könnte. Womit er natürlich nicht ganz unrecht hatte.

Die Reaktion von zu Hause entlockte dann sogar George ein Schmunzeln, hatte Mike nichts Eiligeres zu tun, als Slims Kommentar zu melden: "… und Slim hat gemeint, daß Du wohl einen bedauernswerten Dummen gefunden hast, der Dir die Arbeit abnimmt und uns Dein Geschmiere erspart. Ehrlich, genauso hat er gesagt! Ich habe ihn extra noch einmal gefragt und er hat es mir genauso diktiert, weil ich es sonst nicht so genau hätte schreiben können."

Als Jess diesen Abschnitt seinem Privatsekretär vorlas, gab es natürlich lauthals Gelächter. Ab sofort fand George nichts Schlimmes mehr dabei, das zu Papier zu bringen, was Jess ihm für seine Angehörigen diktierte.

Jetzt lag wieder ein Brief für ihn auf dem Tisch. Sein Vorhandensein trug allerdings kaum dazu bei, daß sich Georges Appetit beim Essen steigerte, denn er befürchtete, daß der Brief die Melancholie noch vertiefte, in die Jess immer häufiger fiel, vor allem wenn eine Nachricht von zu Hause eintraf.

Zu allem Überfluß behielt George tatsächlich recht mit seiner Befürchtung, daß der Brief von zu Hause bei Jess nicht gerade einen Freudentaumel auslöste, als er eine Stunde später aufwachte. Überhaupt brauchte er diesmal eine Weile, ehe er endlich seine fiebergeplagten Sinne einigermaßen beisammen hatte. Ausgerechnet die beständigen Stiche in seiner Brust waren es, die ihm halfen, relativ rasch in die Wirklichkeit zurückzufinden, obgleich sie gegenüber sonst geradezu erträglich schienen.

"Fühlen Sie sich besser?" fragte George mit freundlicher Stimme, während er sich über ihn beugte und gleich die kritischen Punkte seiner wichtigsten Lebensfunktionen überprüfte.

"Etwas", keuchte Jess, da seine Kehle wie ausgedörrt war.

George benötigte keinen ausdrücklichen Hinweis, sondern füllte sofort ein Glas aus der vollen Karaffe auf dem Nachttisch.

"Hier, trinken Sie erst einmal einen Schluck. Sie müssen viel Flüssigkeit zu sich nehmen, solange Sie noch Fieber haben."

"Wieso noch?" ächzte Jess ungläubig. Er hatte nicht genügend Kraft, das volle Glas selbst zu halten, so daß George ihm helfen mußte. "Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß ich das noch einmal los werde?" setzte er hinzu, nachdem er das Glas beinahe gierig geleert hatte.

"Sie sollten nicht gleich wieder so pessimistisch sein!" George, redlich um ein zuversichtliches Lächeln bemüht, wusch sein Gesicht und seinen Hals. "Olaf war heute morgen im Ort und hat die Post geholt", fing er deshalb von etwas anderem an, womit er ihn hoffentlich trotz seiner Befürchtungen etwas aufmuntern konnte. "Es war auch ein Brief für Sie dabei." Er legte den Umschlag direkt vor seiner Hand fast feierlich wie ein wertvolles Kleinod auf die Bettdecke. "Ich bin sicher, das wird Sie gleich auf andere Gedanken bringen."

Langsam, beinahe unsicher, tasteten Jess' Finger nach dem Umschlag. Seine Hand zitterte, als er ihn gerade soviel hochhielt, um die Vorderseite mit der Anschrift erkennen zu können, die Mike wie immer mit seiner akkuratesten Sonntagsschrift darauf gesetzt hatte, damit keinerlei Mißverständnisse bei der Zustellung eine etwaige Verzögerung verursachten.

"Ist von Mike." Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein eingefallenes Gesicht. "Wird mir bestimmt erzählen, wie Daisy beinahe … in Ohnmacht gefallen ist, als … als sie die Nähmaschine zu Weihnachten kriegte."

"Ich wette mit Ihnen, sie hat sich sehr darüber gefreut."

"Ja, bestimmt."

"Während Sie ihn lesen, werde ich Liz sagen, daß sie Ihnen etwas zu essen bringt." George betätigte die Klingel für die Küche. "Ich habe sie vorhin gebeten, Ihnen eine kräftige Suppe zu kochen."

"Danke, aber ich habe nicht viel Hunger."

"Ach, der kommt beim Essen. Sie werden sehen." George ging zur Tür und trat hinaus auf den Korridor, um zu sehen, ob Liz die Klingel gehört hatte. Sie erschien in der Küchentür. "Liz!" rief er die Treppe hinunter, gerade so laut, daß sie es hörte. "Ist das Essen für unseren Gast fertig?"

"Natürlich, ich bringe es gleich."

Während George auf dem Flur wartete, bis sie das volle Tablett brachte – er wollte seinen Patienten keine Sekunde ohne Aufsicht lassen; es hätte diesem zum Verhängnis werden können, wenn ihn plötzlich ein Husten- oder Erstickungsanfall heimsuchte –, dachte Jess, daß die Bezeichnung "Gast" in bezug auf ihn eine makabre Titulierung war. Überdies konnte er nicht genügend Energie aufbringen, den Umschlag zu öffnen und Mikes Brief zu lesen, weil er wußte, daß dies nicht nur eine anstrengende Angelegenheit für sein stark in Mitleidenschaft genommenes Konzentrationsvermögen war, sondern seine größer werdende Melancholie steigerte, wenn er sich Mikes lebhafte Schilderungen in plastischen Bildern vorstellte.

Bald kam George mit einem vollen Tablett zurück ins Zimmer, wie sieben Sonnen strahlend, in der Hoffnung, damit seinen recht trübsinnig dreinschauenden Patienten anzustecken, den es jedoch zuviel Kraft kostete, sich zu verstellen, was ihn allerdings nicht hindern konnte, es wenigstens zu versuchen. Natürlich merkte George es sofort, aber er tat einfach so, als hätte er nichts dergleichen festgestellt.

"Ah, wie das duftet!" schwärmte er genießerisch. "Liz hat es wieder mit besonders viel Liebe zubereitet. Sie sagt, sie hat einen ganzen Topf davon."

"Schätze, ich werde Mühe haben, das zu schaffen, was auf dem Tablett ist." Jess schien sich allen Ernstes für seinen mangelnden Appetit zu schämen. "Ich würde wirklich gern mehr essen, aber … aber es fällt mir mit jedem Mal schwerer."

George setzte das Tablett auf dem Nachttisch ab, kurbelte das Oberteil des Bettes höher, zog den Klapptisch vor seinen Patienten und stellte das volle Servierbrett darauf.

"Ist es Ihnen recht so, oder soll ich das Bett noch etwas höher drehen?"

"Es … es wird schon gehen."

Aber es ging nicht. Jess fehlte bereits die nötige Kraft, um alleine zu essen.

"Warten Sie, ich helfe Ihnen", war George sofort zur Stelle und setzte sich zu ihm.

Während Jess anfangs wenigstens noch den Löffel halten konnte, so daß George nur seinen Arm zu stützen brauchte, wurde ihm selbst dieser bald zu schwer.

"Soweit war ich schon einmal", bemerkte er, unzufrieden mit sich selbst und der Unfähigkeit, wie ein erwachsener Mensch zu essen, als er es mit Mühe und Not geschafft hatte, den Teller zu leeren. "Nur war es damals umgekehrt, ist besser anstatt schlimmer geworden."

"Das braucht Sie nicht weiter zu beunruhigen. Das wird wieder. Und mir macht das nichts aus. Schließlich bin ich dazu da, Ihnen bei allem zu helfen."

"Ist mir trotzdem peinlich."

"Es braucht Ihnen um Himmels willen nicht peinlich zu sein." George wusch ihn, weil er sich beim letzten Löffel beinahe verschluckt hätte und ihm mit Essensresten vermischter Speichel über das Kinn rann. "Sie können doch nichts dafür, daß Sie so krank sind. Und selbst wenn – wäre es keine Schande. – Möchten Sie noch mehr?"

"Nein, danke."

George räumte das Geschirr weg und klappte das Tischbrett zur Seite. Dabei fiel sein Blick auf den Brief, der ungeöffnet auf der Bettdecke lag.

"Sie haben ja noch gar nicht die Nachricht von zu Hause gelesen. Interessiert es Sie denn nicht, was Ihr Junge geschrieben hat?" fragte George erstaunt, weil er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, daß er nicht neugierig war. "Soll ich Ihnen den Umschlag öffnen?" Auf Jess' schwaches Nicken hin, riß er das Kuvert auf. "Warum haben Sie denn nichts gesagt? Ich hätte Ihnen doch längst …"

"Bitte lesen Sie ihn mir vor!" bat Jess leise. Sein schwerer Atem verriet, daß es ihm nur halb so gut ging, wie er zeigen wollte.

"Aber, Jess, da stehen sicherlich persönliche Dinge drin, die nur für Sie bestimmt sind."

"Bitte, George! Ich kann ihn jetzt nicht lesen, könnte nicht einmal die Buchstaben richtig erkennen." Jess schluckte geräuschvoll. Die Stiche in seiner Brust wurden wieder heftiger. "Bitte lesen Sie!" wiederholte er leise. "Das bloße Zuhören ist anstrengend genug."

George preßte die Lippen aufeinander und nickte, tief bewegt von soviel Vertrauen, aber auch von soviel Hoffnungslosigkeit, die das absehbare Ende unaufhaltsam näher brachte. Nur ungern zog er den Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn etwas umständlich, um Jess Gelegenheit zu geben, ihm doch noch Einhalt zu gebieten. Aber dieser hatte die Augen geschlossen, um sich anscheinend besser konzentrieren zu können.

"Er ist wirklich von Ihrem Jungen", sagte George erklärend, als er den Namen darunter sah und die kindliche Schrift, die die Buchstaben gleichmäßig auf das Papier gebracht hatte, fast wie hingemalt. "Er schreibt: 'Lieber Jess!'" Er hielt inne. "Möchten Sie nicht doch lieber …"

"Bitte, George!" fiel Jess ihm leise, aber sehr eindringlich ins Wort, ohne die Augen zu öffnen. "Lesen Sie weiter!"

George schluckte betreten und las ohne weitere Unterbrechung die zwei eng beschrifteten Seiten.

"Das ist sehr schön geschrieben", bemerkte er abschließend. "Er muß Sie von ganzem Herzen lieben. Sie sind darum zu beneiden!" Als Jess nicht darauf reagierte, dachte George, er wäre eingeschlafen. "Jess, sind Sie noch wach?"

"Sicher." Er öffnete halb die Augen. "Ich wünschte, er täte es weniger", antwortete er auf seine Bemerkung wegen Mikes kindlicher Zuneigung. "Dann wäre es für uns beide leichter."

George wußte darauf nichts zu sagen. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

"Da ist auch noch ein Postskriptum von Slim Sherman – nur ein kurzer Absatz", machte er ihn statt dessen aufmerksam. "Das werden Sie aber gewiß selbst …"

"Lesen Sie!" keuchte Jess.

George las: "'P.S. Hallo, Partner! Mike hat Dir ja schon alles geschrieben. Wie immer war er versessen darauf. Anscheinend hilft es ihm ein wenig, wenn er Dir seine Gedanken sofort anvertrauen kann. Trotzdem … Wir vermissen Dich! Verdammt, wir vermissen Dich sogar gewaltig! Sieh zu, daß Du bald wieder nach Hause kommst! Ich habe übrigens Charlie gesagt, er soll Dir noch etwas von der Arbeit übrig lassen. Nicht daß Du denkst, Du wärst hier überflüssig. Oder hast Du Dich schon so sehr an das süße Nichtstun gewöhnt? – Wir haben zu Weihnachten versucht, das Beste daraus zu machen, Mike zuliebe. Ich bin sicher, Du hast auch ein wenig an uns gedacht. An Neujahr werden wir laut auf Dich anstoßen, damit Du es hören kannst. Ich hoffe, es geht Dir gut, Partner, und Deine Genesung macht weiterhin Fortschritte. Mike, Daisy und ich – wir alle drei wünschen Dir jedenfalls nur das Beste und drücken Dir weiterhin fest die Daumen. Wir brauchen Dich! Komm bald nach Hause! Slim.'"

"Es dauert nicht mehr lange, Partner, und ich werde nach Hause kommen", sagte Jess spontan, als hätte der Freund persönlich mit ihm gesprochen. "Allerdings wirst du mich holen müssen."

George verschluckte beinahe seine Zunge. Irgendwie hatte er das Gefühl zu stören, wußte nicht, wie er reagieren sollte.

"Jess …?" machte er sich deshalb mit unsicherer Stimme bemerkbar, weil er sich nicht sicher war, ob dieser überhaupt noch mit seiner Anwesenheit rechnete.

"Ich danke Ihnen, George", tat er jedoch so, als hätte es seine Bemerkung nicht gegeben. Er schlug sogar die Augen auf und konnte sich ein müdes, trauriges Lächeln entlocken. "Jetzt … jetzt müssen Sie mir nur noch einen Gefallen tun."

"Selbstverständlich!" George faltete den Brief sorgfältig, steckte ihn zurück in den Umschlag und legte ihn neben Jess' Hand auf die Bettdecke. "Vielleicht möchten Sie ihn später selbst noch einmal lesen", warf er ein. "Er ist wirklich schön geschrieben."

"Vielleicht …" Jess schloß seine Rechte um das Kuvert, als wäre es Mikes Hand. "Auf jeden Fall ist es der letzte gewesen, der noch rechtzeitig gekommen ist."

"Bitte reden Sie nicht so!" Diese Bitte klang beinahe wie ein Flehen. "Bitte nicht! Sagen Sie mir lieber, welchen Gefallen ich Ihnen tun kann", versuchte George ihn abzulenken, nicht ahnend, daß es ihm damit nicht gelingen konnte, wusch sein nasses Gesicht und strich ihm die schweißverklebten Haare aus der bleichen Stirn.

"Ich möchte, daß Sie ihn für mich beantworten."

"Das ist doch selbstverständlich! Ich werde wieder für Sie schreiben, was Sie mir diktieren."

"So … so meinte ich das nicht."

"Aber wie denn?"

"Ich kann Ihnen nicht mehr diktieren", keuchte Jess, nur mühsam verständlich. "Sie … Sie müssen das für mich erledigen."

"Aber ich kann doch nicht … Das wäre nicht richtig … Ihrem Jungen gegenüber … Ihrem besten Freund … Jess, das … das darf ich nicht!"

"Bitte, George, nur dieses eine Mal, das einzige und letzte Mal! Schreiben Sie … schreiben Sie, daß es mir gut geht und ich zum Jahreswechsel an zu Hause denken werde … und daß ich sicher bald nach Hause komme. Und fragen Sie, ob es schon sehr kalt und der Boden gefroren ist … Wenn Sie das geschrieben haben, lesen Sie es mir vor. Ich werde dann unterschreiben."

"Jess, ich …", wollte George protestieren, da dies für seine Begriffe zu weit ging.

"Bitte! Stellen Sie sich nicht so an! Ich … ich weiß schon, was ich tu'. Sie … Sie wissen ja so ungefähr, wie ich es Ihnen vorsagen würde. Lassen Sie sich nichts anmerken, daß es mir …"

"Aber, Jess, der Junge wird das merken. Sie wollen ihn doch nicht so belügen!"

"Er wird es nicht merken."

"Und was ist mit Slim Sherman?"

"Wenn Sie es richtig schreiben, wird Slim es verstehen. Machen Sie sich keine Gedanken. Bitte beeilen Sie sich, solange ich noch die Feder halten und einigermaßen … meinen Namen darunter setzen kann. Ich weiß nicht, wie lange ich noch … genügend Kraft dazu habe."

"Es ist nicht richtig!"

"Bitte, George, keine Debatten über richtig oder falsch!" Um ein Haar wurde Jess ungehalten, begann sich beinahe über Georges Ziererei aufzuregen. "Bitte schreiben Sie endlich! Nur ein paar Zeilen … das genügt schon!"

Das lange Hin und Her steigerte Jess' Atemnot und diese wiederum seine Schmerzen, daß George ihm beschwichtigend die Hand an die Schulter legte und ihn zu besänftigen suchte.

"Bitte, regen Sie sich nicht so auf deshalb! Sie fügen sich nur selbst Schmerzen zu, und das muß doch nicht sein. Ich meine, wenn Ihnen wirklich soviel daran liegt, daß ich das mit dem Brief für Sie erledige, werde ich es in Gottes Namen tun. Sie werden schon wissen, warum Sie es so haben wollen." Zur Bestätigung drückte er kräftig seine Rechte auf der Bettdecke. "Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie ruhig bleiben und sich nicht mehr aufregen."

Jess wandte halb den Kopf, blickte ihn mit müden, fieberverschleierten Augen an und deutete ein schwaches Nicken an.

"Danke, George", sagte er leise, aber zufrieden. "Sie sind wirklich ein guter Freund. Tut … tut mir leid, daß ich soviel … von Ihnen verlange."

"Das ist schon in Ordnung." George lächelte versöhnlich auf ihn hinab. "Ruhen Sie sich ein wenig aus, während ich für Sie den Brief schreibe."

Jess nickte nur und schloß die brennenden Augen, während George sich kopfschüttelnd an den Schreibsekretär zurückzog, um seinen Wunsch zu erfüllen, von dem er nach wie vor der Meinung war, daß er eine Art Vertrauensbruch vor allem gegenüber Slim Sherman darstellte.

"Ich weiß schon, was ich tu'", hatte Jess zwar versichert, aber George bezweifelte das. Allmählich befürchtete er, daß das trotz des Chinins weiterhin steigende Fieber Jess' Urteilsvermögen zu beeinträchtigen begann und er gerade dann, wenn er behauptete, genau zu wissen, was er tat, sehr weit davon entfernt war, es tatsächlich zu tun. Das mußte einfach der Fall sein, denn er kannte niemanden, der soviel Wert auf Aufrichtigkeit legte, wie Jess es bisher getan hatte. Daß er ständig versuchte – auch ihm gegenüber und den anderen in diesem Haus einschließlich Professor Tyler – etwas vorzumachen, wenn es sich um seinen Gesundheitszustand handelte, konnte er ihm noch verzeihen. Nur hatte das nichts mit dem Theater zu tun, das er nun seinen engsten Vertrauten vorspielen wollte. Oder doch? Von seinem Standpunkt aus betrachtet?

George begann zu zweifeln – diesmal an sich und seinem vorschnellen Urteil. Vielleicht weiß er doch, was er tut, dachte er im stillen, schließlich kenne ich nur ihn und das oberflächlich erst seit ein paar Wochen. Slim Sherman tut es immerhin schon seit mehr als acht Jahren, hat er behauptet. Und ich wiederum kenne diesen nicht …

Er warf einen nachdenklichen Blick zu Jess hinüber, konnte von Glück reden, daß dieser in so schlechter Verfassung war, sonst hätte er ihm eine entsprechende bissige Bemerkung dazu an den Kopf geworfen, weil selbst für einen unaufmerksameren Beobachter, wie es Jess normalerweise war, seine Gedanken spielend leicht zu lesen gewesen wären.

Ich habe kein Recht, an der Aufrichtigkeit dieses Mannes zu zweifeln. Wie oft muß ich mir das eigentlich noch sagen, fragte sich George und wollte sich die größte Mühe geben, die paar Zeilen in seinem Sinn zu verfassen. Trotzdem tat er sich schwer damit. Aber schließlich hatte er nach etwas mehr als einer halben Stunde ein Antwortschreiben fertig, das seiner Meinung nach ganz gut gelungen war.

Zufrieden aufatmend, daß er es nun doch geschafft hatte, seinem sterbenskranken Anvertrauten eine seiner letzten Bitten zu erfüllen, aus welchem Grund oder zu welchem Zweck auch immer, erhob er sich, um ihm das Ergebnis vorzulesen. Als er ans Bett trat, lag Jess still mit geschlossenen Augen da, schweißgebadet, und schien zu schlafen.

"Jess, sind Sie eingeschlafen?" fragte er mit verhaltener Stimme, um ihn keinesfalls zu stören; aber Jess schlug sofort die Augen auf und schien hellwach zu sein, wenn auch nicht ganz so wachsam, wie es sogar George von ihm gewöhnt war. "Entschuldigen Sie, ich hätte vorsichtiger sein müssen und Sie nicht wecken dürfen."

"Ich habe nicht geschlafen. Haben … haben Sie die Antwort fertig?"

Obwohl er froh war, daß sein Pfleger ihn zuallererst wusch und seine glühenden Schläfen kühlte, schien er regelrecht versessen darauf zu sein, daß der Brief fertig wurde. Etwas ungewöhnlich war dies schon, ließ er sich sonst recht viel Zeit mit der Beantwortung der Korrespondenz und tat dies erst, nachdem er mehrere Schreiben von zu Hause erhalten hatte.

"Ja, ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie Ihren Wünschen entspricht. Sie sollten vielleicht …"

"Lesen Sie es mir vor, bitte!" drängte er, an keinerlei Einwänden interessiert. "Bitte! Wir haben nicht mehr soviel Zeit!"

Diesmal verzichtete George darauf, seinen Unmut über diese Bemerkung kundzutun, setzte sich neben das Bett und begann zu lesen. Jess hörte aufmerksam zu und schwieg eine Weile, nachdem George zu Ende gelesen hatte, als überprüfte er, ob er an alles gedacht hatte.

"Vielen Dank, George! Das haben Sie besser hingekriegt als ich", sagte er schließlich zufrieden. "Mike wird nichts merken. Das ist sicher. Schreiben Sie bitte noch, daß er viele Grüße an Daisy sagen soll und den Brief auf jeden Fall an Slim weitergibt, damit er ihn selbst lesen kann."

"Soll ich ihn dann nicht besser an Ihren Freund richten anstatt an den Jungen?"

"Nein!" entschied Jess energisch. "Nein!" wiederholte er, etwas ruhiger. "Mike wird ihn auf jeden Fall zu Hause vorlesen, und er wird tun, worum ich ihn bitte. Und dann schreiben Sie bitte noch ein PS an Slim! Schreiben Sie: 'Hallo, Slim! Ich halte es für wenig sinnvoll, wenn Du Charlie sagst, daß er Arbeit für mich aufheben soll. Alles Gute, Partner!'" George schrieb und sah ihn erwartungsvoll an, um ihm zu zeigen, daß er fortfahren könnte. "Das ist alles", sagte er jedoch aufatmend. Anscheinend hatte der eine Satz, den er ausdrücklich selbst formuliert hatte, soviel Energie erfordert, daß er richtiggehend ausgelaugt schien.

"Soll ich Ihnen den ganzen Brief nicht noch einmal vorlesen oder möchten Sie ihn nicht lieber selbst …"

"Nicht nötig."

"Aber vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein, was Sie Ihrem Freund sagen möchten."

"Es steht alles drin, was er wissen muß."

Ein wenig merkwürdig fand George das schon. Nicht daß er direkt enttäuscht war über die an sich nichtssagende Bemerkung, die Jess offensichtlich als einziges an seinen Partner zu richten hatte, aber er wunderte sich doch darüber. Immerhin war Jess fest davon überzeugt, daß dies seine letzte Nachricht für ihn war.

"Aber …", meinte George, ihn deshalb noch einmal aufmerksam machen zu müssen.

"Glauben Sie mir", fiel Jess ihm sofort ins Wort, "Slim wird besser Bescheid wissen, als … als Sie sich vorstellen können."

"Ich kann mir aber einfach nicht denken …"

"George, bitte!" gebot Jess ihm Einhalt. "Geben … geben Sie mir lieber die Feder, damit ich meinen Namen darunter setzen kann, solange ich noch … dazu imstande bin."

Mißbilligend schüttelte George den Kopf, tauchte die Feder in die Tinte und half ihm sogar, seine Hand an die für seine Unterschrift vorgesehene Stelle hinter den Grüßen an zu Hause zu setzen. Jess nahm alle Kraft zusammen und hatte Mühe, seine Muskeln zu beherrschen und die Feder zu führen. Sie kratze über das Papier und verlängerte das zweite "S" in seinem Namen zu einem unkontrollierten Strich bis beinahe zum unteren Blattrand, um dort mit einem Klecks zu enden. Für jemanden, der es nicht besser wußte, mußte die Unterschrift sehr markant wirken. Auf keinen Fall verriet sie diesem, daß der Schreiber kaum noch Gewalt über seinen Körper und dessen Bewegungen hatte und dieser auffällige Abstrich nichts weiter als Kraftlosigkeit und Schwäche verriet.

"Wenn Sie möchten, schreibe ich den Brief noch einmal", bot sich George an, der dachte, ihm wäre die Feder ausgerutscht.

"Es … es ist gut so, George, bestimmt!" versicherte Jess. "Mike wird es nicht auffallen, und Slim kann mein Geschmiere lesen."

George löschte die Tinte und starrte dann nachdenklich auf den kaum eine Seite umfassenden Brief, mit dem er so ganz und gar nicht einverstanden schien. Nicht genug damit, daß ihn Jess nicht selbst verfaßt und seinem langjährigen Freund nur Banalitäten mitzuteilen hatte; zu allem Überfluß hatte er ihn mit einer kaum leserlichen Unterschrift versehen, die George nur mit Mühe als die seines Patienten erkennen konnte. Irgend etwas stimmte da nicht, entweder mit dem Brief, mit Jess, mit Slim Sherman oder aber mit beiden und ihrer langjährigen freundschaftlichen Beziehung, die vielleicht gar nicht das war, was sich George nach allem darunter vorstellte. Damit war er so beschäftigt, daß er nicht auf die Idee kam, der Brief könnte eine Art verschlüsselte Nachricht enthalten, die niemand außer Slim Sherman verstand.

"Wie Sie wollen", zuckte George nur verständnislos und jetzt auch etwas gleichgültig mit den Schultern. "Sie kennen Ihre Leute schließlich besser als ich."

"Mit Sicherheit!" Jess keuchte, verbiß sich aber seine Schmerzen. Zuerst mußte die Sache mit dem Brief erledigt sein. Dann hatte er wieder Zeit, an sich selbst zu denken. "Adressieren Sie ihn bitte an Slim Sherman."

"Nicht an Mike?"

"Nein."

"Aber …"

"Bitte nicht schon wieder ein Aber! Tun Sie einfach nur, was ich Ihnen sage – bitte!"

"Sicher, Jess." Er berührte ihn flüchtig an der Schulter, wie um sich für seine ewigen Einwände zu entschuldigen. Dann faltete er das Papier, steckte den Brief in einen Umschlag und beschriftete ihn, wie geheißen. "Ich werde Olaf bitten, daß er ihn heute noch zur Post bringt. Ich nehme an, das möchten Sie."

Jess nickte.

"Danke, George, für alles!"

Zufrieden atmete er auf und schloß die Augen. Er hielt es nicht für nötig, sich davon zu überzeugen, ob George tatsächlich dafür sorgte, daß Olaf an diesem Nachmittag noch einmal in den Ort hinunter ging, um seine Post aufzugeben. Er wußte, daß er es tun würde. Und er war dankbar dafür.

In spätestens drei Tagen würde Slim die Nachricht erhalten und Bescheid wissen. Es würde keine drei Tage mehr dauern … aber die Post war erfahrungsgemäß nicht schneller.

Über diesem Gedanken schlief er völlig erschöpft, trotz seiner Schmerzen ein, daß er nur noch wie aus weiter Ferne mitbekam, wie George Olaf durch Liz verständigen ließ, er möge bitte so schnell wie möglich heraufkommen.

Beinahe weitere vier Tage lang kämpfte Jess mehr oder weniger verbissen gegen Fieber und Schmerzen und völligen körperlichen Verfall. Am Morgen, zwei Tage nach Neujahr, hatte das Fieber seine letzten Reserven verbrannt, und er war kaum noch in der Lage, seine Umgebung wahrzunehmen. Seine Schwäche war so groß, daß sie sogar seine Schmerzen in den Hintergrund rücken ließ.

"George!" rief er so gut wie nicht verständlich und tastete mit einer schwachen Bewegung blind nach seinem Vertrauten, der an seinem Bett wachte und sofort zur Stelle war, seine Hand ergriff und beruhigend auf ihn einredete.

"Ich bin hier, Jess. Bleiben Sie nur ganz ruhig!"

Er wusch sein Gesicht, tupfte ihm den Schweiß aus den nur halb geöffneten Augen, die ihn nicht mehr erkennen konnten.

"Sie … Sie müssen noch etwas für mich tun!" lallte er, daß George Mühe hatte, ihn zu verstehen.

Er beugte sich weit über ihn und brachte sein Ohr direkt vor seine Lippen, damit keiner der wenigen Wortfetzen, die die brechende Stimme nur mühsam formen konnte, verloren ging.

"Sicher, Jess, sicher!" In bewegter Teilnahme drückte George seine Hand fester. "Was wollen Sie mir sagen?"

Jess bot all seine schwindende Kraft auf, um sich auf das zu konzentrieren, was er George unbedingt noch für seinen Freund und Partner anvertrauen mußte. Es bedeutete für ihn eine fast übermenschliche Anstrengung, diese letzten Worte für ihn zu hinterlassen. Aber sie waren ihm so wichtig, daß ihn selbst der geduldig auf ihn wartende Tod nicht hindern konnte, sie ihm als letzte Nachricht und Bitte zukommen zu lassen. Selbst wenn es das letzte war, was er in seinem Leben sagen und tun konnte – erst nach Erfüllung dieser verbliebenen Pflicht konnte er sein Leben in Frieden beschließen und diese Welt verlassen.

In einem verzweifelten Auflehnen, einem zum Scheitern verurteilten Versuch, dem ihn einhüllenden Schatten des Todes zu entkommen, dem nahenden Ende ein paar wenige Augenblicke abzutrotzen, klammerte er sich an George und bemühte sich, in einigermaßen zusammenhängenden Worten die letzte Nachricht für seinen Freund zu hinterlassen.

"Was möchten Sie, was ich für Sie tue?" wiederholte George eindringlich, als er sah, wie sehr er sich quälte. "Jess! Verstehen Sie mich? Regen Sie sich nicht auf! Bleiben Sie ganz ruhig! Dann wird es schon gehen."

Beschwichtigend strich er ihm über die nasse Stirn, drückte seine Hand, versuchte sogar, ein zuversichtliches Lächeln, obwohl er annahm, daß Jess ihn gar nicht sehen konnte. Aber er sollte spüren, daß er für ihn da war, daß er bei ihm und er nicht allein war, daß er bereit war, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Um so erstaunter war George, als Jess es endlich schaffte, in einem beinahe zusammenhängenden Redefluß, wenn auch mehr gehaucht als gesprochen, unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kraft zu flüstern:

"Wenn … Slim kommt, um mich … zu holen … sagen Sie … sagen Sie ihm bitte, daß … daß es mir leid tut und … und er das … verdammte Ding mit mir … begraben soll."

George hatte seine Worte zwar deutlich gehört, konnte mit deren Sinn jedoch nicht viel anfangen, weshalb er ihn fragen wollte, was er mit dem verdammten Ding meinte; aber es war zu spät. Ein krampfartiges Zucken und Beben verzerrte seinen Körper, ein Röcheln und Bäumen vor entsetzlichen Schmerzen, ehe er plötzlich ruhig wurde, sein Kopf sich langsam zur Seite neigte, und er ganz still lag.

"Um Gottes willen!" schrie George und versuchte, ihn zu sich zu bringen. "Jess! Verdammt, Jess, Sie können doch nicht … Jess!" Aber dieser regte sich nicht und zeigte äußerlich keinerlei Lebenszeichen mehr.

George preßte sein Ohr auf seine Brust, bildete sich ein, ein entferntes, dahinschwindendes Klopfen zu hören, riß das Stethoskop vom Nachttisch und suchte fieberhaft nach eindeutigeren Lebenszeichen. Durch das Hörrohr drangen schwache Herztöne an sein Ohr und kaum wahrzunehmende Atemgeräusche. Noch während er beinahe vergeblich so etwas wie einen Puls an Jess' Halsschlagader suchte, nervös die dafür in Frage kommende Stelle mit dem Stethoskop abtastete, griff er mit der anderen Hand blindlings nach dem Klingelzug über dem Bett, um mit aufgeregtem Läuten Professor Tyler zu rufen.

"Bitte, Jess, bitte! Sie dürfen nicht sterben! Halten Sie durch! Bitte, halten Sie durch!" flehte George, während er ihn zu massieren begann, um so die Pumpwirkung des versagenden Herzens zu unterstützen.

Zwischendurch versuchte er immer wieder, seinen Herzschlag zu kontrollieren, hatte aber erhebliche Schwierigkeiten, das unscheinbare Pochen überhaupt wahrzunehmen.

Endlich ging die Tür auf, und Professor Tyler eilte herein. Nach dem aufgeregten Läuten der Notglocke wußte er sofort, daß etwas Schwerwiegendes passiert sein mußte.

"George, was …?" wollte er sich beim Öffnen der Tür erkundigen, als er aber sah, daß sich jede Frage erübrigte.

"Professor, schnell, sonst verlieren wir ihn!" drängte George beschwörend.

Tyler war nach wenigen Schritten heran, nahm ihm das Stethoskop ab und steckte es sich selbst in die Ohren. Im Gegensatz zu seinem Assistenten, der zwar nicht aufgeregt, jedoch sehr hektisch schien, wirkte Tyler ruhig und außerordentlich konzentriert.

"Bereiten Sie eine Ätherinjektion vor, rasch!" ordnete er an, ohne sich bei seiner Arbeit stören zu lassen, wobei er bei aller Erhabenheit, mit der er über der Situation zu stehen schien, ein recht bedenkliches Gesicht machte.

George, dem die Anwesenheit des kompetentesten Mediziners, den er sich vorstellen konnte, sein besonnenes Selbstvertrauen zurückgab, das angesichts des nahenden Todes seines Anvertrauten, für ihn längst mehr Freund als gut zahlender Privatpatient, um ein Haar ins Wanken geraten war, arbeitete mit flinken Handgriffen, die den geschulten Pfleger verrieten, und reichte nur Momente später Tyler die fertige Injektionsnadel. Dieser spritzte das Mittel seinem Patienten unter die Haut und wartete mit beinahe bangem Hoffen, bis eine Wirkung einsetzte. Jess' Reaktion, ob und wie sein völlig ausgezehrter Körper darauf ansprach, würde darüber entscheiden, was die nächsten Augenblicke brachten: Leben oder Tod.

Nach unendlichen Augenblicken, die wie Ewigkeiten schienen, voller Ungewißheit, ob das überstrapazierte, dem Versagen nahe Herz nicht ganz aussetzte, atmete Tyler auf, sah seinen Assistenten mit einem tiefen Seufzer an.

"Wir haben ihn wieder, George. Ich weiß zwar nicht, für wie lange, aber wir haben ihn wieder."

"Gott sei Dank! Ich dachte schon …" George atmete erleichtert auf, obwohl auch er genau wußte, daß sie mit ihren Bemühungen nur einen vorübergehenden Erfolg erzielt hatten, ein Aufschub, der ihrem Patienten wenige Stunden mehr in tiefer Bewußtlosigkeit schenkte; denn aufwachen würde er nicht mehr. Aber er lebte! "Hat er eine Chance?"

"Nein! Das Fieber wird ihn verbrennen. Noch mehr Chinin können wir ihm nicht geben. Das würde sein Herz nicht verkraften. Machen Sie ihm kalte Umschläge und fahren Sie mit den Abreibungen fort. Das wird dem überlasteten Herzen helfen, die Blutzirkulation einigermaßen aufrecht zu halten. Sobald es wieder etwas kräftiger arbeitet, werde ich mit Digitalis versuchen, den Rhythmus zu festigen. Obwohl ich genau weiß, es hat keinen Sinn … und wahrscheinlich tue ich ihm auch keinen Gefallen damit … Aber ich werde trotzdem alles versuchen …" Tyler setzte wieder das Stethoskop an, kontrollierte diesmal auch seine schwache, durch die großen Flüssigkeitsansammlungen in seiner Lunge stark beeinträchtigte Atmung. "Wenn jetzt noch seine Atmung ausfällt … ein Hustenanfall oder eine akute Atemlähmung … das wäre sein sofortiger Tod." Er wusch sein Gesicht, prüfte die Reaktion seiner Pupillen, maß das Fieber und hörte ihn zwischendurch immer wieder ab. "Wenn die Temperatur noch sehr viel steigt, kann ich mir die weitere Behandlung sparen", murmelte er unzufrieden über das, was das Fieberthermometer anzeigte.

"Es ist wirklich erstaunlich, was dieser Mensch aushalten kann", bemerkte George beinahe ehrfurchtsvoll.

"Ja, dabei hatte ich ihn gerade in den letzten zwei Wochen in Verdacht, daß er nach einer unauffälligen Möglichkeit sucht, sein Leben zu beenden."

"Das ist nicht Ihr Ernst! Dachten Sie wirklich, er wollte …"

"Könnte doch immerhin möglich sein. Wundert mich, daß er Sie nicht versucht hat zu überreden, ihm irgend etwas zu geben."

"Das hätte er nie getan!"

"Ja, wahrscheinlich, weil er Sie nicht mit hineinziehen wollte. Wenn, dann hätte er es selbst getan. Ich weiß genau, wie dazu seine Einstellung ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er seine Waffe nur zum puren Zeitvertreib mit hierhergebracht hat. Einem Mann wie ihm würde so etwas gewiß leichter fallen, als derart hilflos dazuliegen und einem Ende entgegenzudämmern. Dazu hat er zuviel Selbstachtung."

"Das stimmt allerdings. Einmal dachte ich sogar, er hätte das tatsächlich vor. Ich glaube, da war er sehr nahe daran. Gewiß hat er es in allerengste Erwägung gezogen. Ich weiß das. Ich habe ihn nämlich überrascht, als er vor der Kommode gestanden und seine Waffe angestarrt hat wie … ich weiß gar nicht, wie! Mir ist dabei jedenfalls eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Trotzdem bin ich ziemlich sicher, daß er es nie wirklich tun wollte. Nicht daß er es nicht könnte oder ich es ihm nicht zutraute. Nein, aber er will leben, selbst wenn er noch so sehr etwas anderes behauptet, sonst wäre er nämlich längst tot."

"Ja, ich denke, Sie haben recht", nickte Tyler, wobei er sinnend auf Jess hinabblickte, dessen eingefallenes Gesicht nur aus Nase und Backenknochen zu bestehen schien, mit hohlen Wangen und tiefen dunklen Schatten um die geschlossenen Augen. Sein Mund mit den trockenen Lippen, die genauso aschgrau wie sein Gesicht schienen, war halb geöffnet, das Kinn leicht heruntergefallen. Er sah aus wie ein Toter. "Achten Sie auf ausreichende Frischluftzufuhr. Ich fürchte, seine Atmung wird uns als nächstes Sorgen machen. Lassen Sie ihn keine Sekunde aus den Augen, George! Hier, nehmen Sie!"

"Wo wollen Sie denn hin?" fragte dieser beunruhigt, als Tyler ihm das Stethoskop reichte und Anstalten machte, sich zu erheben.

"Ich bin sofort wieder da. Ich werde Slim Sherman benachrichtigen lassen. Es ist höchste Zeit, eigentlich schon viel zu spät. Passen Sie um Himmels willen gut auf ihn auf!" schärfte er seinem Assistenten ein, obwohl er genau wußte, daß dies überflüssig war.

Draußen auf dem Korridor entdeckte er Olaf, der gerade aus der Küche kam, wo er bei Liz einen Stapel Brennholz für den Herd abgeliefert hatte. Tyler kam die Treppe herunter und verschwand mit dem jungen Mann in dem Raum am Ende des vorderen Flurabschnitts.

"Ist etwas mit Jess?" hatte Olaf endlich Gelegenheit zu fragen. "Liz sagt, sie hätte vorhin aufgeregtes Läuten bei Ihnen gehört. Wird … wird … ich meine, er wird doch nicht …"

"Es kann jeden Augenblick zu Ende sein", erwiderte Tyler, ohne von seinem Schreibtisch aufzublicken, hinter den er sich flüchtig gesetzt hatte, um den Wortlaut des Telegramms aufzuschreiben. "Hier!" sagte er jetzt, faltete den Zettel und drückte ihn dem sprachlos gewordenen jungen Mann in die Hand. "Sorge dafür, daß der Mann am Schalter die Nachricht sofort durchgibt und warte auf Empfangsbestätigung vom Telegrafisten in Laramie. Er soll die Nachricht unverzüglich an Mr. Sherman weiterleiten. Auf dem schnellsten Weg, egal wie, und wenn er es selbst zur Ranch bringt – Sherman-Ranch!" erklärte er überflüssigerweise. "Steht alles auf dem Zettel. Beeil dich, mein Junge!"

Olaf nickte fassungslos, starrte sekundenlang auf das Papier in seiner Hand und sah den Mann, der seit zehn Jahren wie ein Vater für ihn war, tief betroffen an.

"Es tut mir so leid wegen Jess", schluckte er.

"Es tut uns allen leid, aber es ist nicht zu ändern. Sieh zu, daß Slim Sherman die Nachricht so schnell wie möglich erhält. Das ist wahrscheinlich das letzte, was du für Jess tun kannst. Beeil dich, mein Junge!" wiederholte er.

Fortsetzung folgt