KAPITEL 35

An dem Tag, an dem Slim Sherman seinen Freund zur Bahnstation brachte, fuhr er anschließend in die Stadt, wo er sich allerdings nirgendwo lange aufhielt, lieferte Daisys Einkaufsliste in Burke Hershels Kolonialwarengeschäft ab, sagte kurz Mort Cory guten Tag und ging zum Wranglers' Inn, dem größten Saloon in der Stadt, um bei dessen Wirt Nachricht zu hinterlassen, daß er für die Ranch eine Hilfskraft suchte.

Zehn Tage später – Slim bekam schon fast ein schlechtes Gewissen, wenn er an das mittlerweile vernachlässigte Vieh dachte und den nur behelfsmäßig reparierten Nordzaun – ritt tatsächlich ein gewisser Charlie Grovner auf die Ranch, ein Mann aus Montana, der dort eine Mannschaft verlassen hatte, weil es zwischen dem neuen Vormann, dem Sohn des Besitzers, und den Männern immer häufiger zu Reibereien kam. Auf der Suche nach Arbeit war er auch in den Wranglers' Inn in Laramie gekommen, wo der Wirt ihm den Rat gab, auf jeden Fall an der zehn Meilen entfernten Poststation vorbeizureiten. Wenn er Glück hätte und der Job noch nicht vergeben war, könnte er dort sicherlich Arbeit finden.

Charlie Grovner entpuppte sich bald als äußerst zuverlässige Kraft, nicht mehr ganz so jung – Slim schätzte ihn auf Anfang Vierzig –, aber mit enormem Arbeitswillen, ebensolcher Erfahrung, der sich vor allem für keine Arbeit zu schade war, der überall sofort mit anpackte, ohne viele Worte vorher zu verlieren, so daß er zu einer echten Hilfe, ja, richtigen Entlastung wurde, womit sich natürlich auch etwas Slims Laune hob.

Charlie war ein ruhiger, verträglicher Mann, der mit allen gut auskam, nach anfänglichen Schwierigkeiten sogar mit Mike, der zu Beginn ihrer Bekanntschaft sich in kindlicher Eifersucht einbildete, die Stellung seines Pflegevaters mit glühendem Eifer verteidigen zu müssen.

Das Ganze gipfelte dann in einem Zwischenfall beim Abendessen, als Slim meinte, Charlie sollte mit ihnen im Haus essen, anstatt drüben in der einfachen Unterkunft für die Helfer allein zu sitzen. Zunächst zierte sich Charlie, war er es anscheinend nicht gewöhnt, so eng zur Ranchfamilie zu gehören. Auf Wild Goose, der Ranch, wo er während der fünf Jahre zuvor beschäftigt gewesen war, hatte man jedenfalls gewaltigen Wert auf Distanz gelegt.

"Na, kommen Sie, wenigstens solange Sie da drüben alleine sind. Ich weiß zwar nicht, wie das alles hier wird, wenn wir tatsächlich von dem Optionsrecht Gebrauch machen, aber bis dahin sind Sie willkommen. Das heißt, wenn mein Partner zurückkommt – vorbehaltlich dessen Einverständnis, selbstverständlich", hatte Slim beinahe mit Engelszungen auf den Mann eingeredet und diesen schließlich überzeugt.

Mike stand dieser Entwicklung sehr skeptisch gegenüber, bildete er sich wahrhaftig ein, daß da, keine drei Wochen, nachdem sein Pflegevater aus dem Haus war, bereits der Ersatz für ihn am Tisch zur trauten Runde beim Abendessen Platz nahm und das tatsächlich auch noch auf dem Stuhl, auf dem Jess für gewöhnlich saß. Nicht daß bei Tisch eine strenge Sitzordnung eingehalten wurde – jeder nahm seinen Platz aus reiner Gewohnheit ein, ohne jemals darauf bestanden zu haben, nur an diesem bestimmten sitzen zu wollen –; aber seit Jess Harper die Ranch verlassen mußte, war für Mike dieser eine bestimmte Platz für den ihm liebsten Menschen reserviert. Wenn Slim oder Daisy einmal dort saß, war das nicht so schlimm; aber ein Fremder hatte dort nichts zu suchen.

"Das ist Jess' Platz!" empörte sich der Junge mit giftigem Zorn, als müßte er einen wertvollen Schatz verteidigen.

"Mike!" versuchte Slim etwas unbeholfen, seiner kindlichen Eifersucht beizukommen. "Der Stuhl ist leer, und woher sollte Charlie wissen, daß du dich so anstellst?"

"Das ist trotzdem Jess' Platz, und ich will nicht, daß sich dort jemand Fremdes hinsetzt!"

"Charlie ist doch kein Fremder mehr."

"Für mich schon! Er hat da nichts zu suchen!"

"Mike!" Slims Geduldsfaden war am Reißen.

"Lassen Sie es gut sein, Slim", mischte sich Charlie beschwichtigend ein, ehe es Tränen gegeben hätte. "Der Junge hat recht. Zumindest kann ich ihn verstehen."

"Das ist kein Grund, daß er sich so benehmen darf."

"Slim, bitte!"

Der Rancher war schon wieder am Luftholen für einen scharfen Einwand, schluckte ihn jedoch hinunter aus Takt gegenüber Daisy Cooper, die das Essen brachte. Seiner Meinung nach entsprach es nicht unbedingt guten Manieren, wenn er ihre Mühe, die sie sich zweifellos mit dem Essen gemacht hatte, mit im Grunde kindischen Streitereien ignorierte, zudem er sogar annahm, daß sie sich im Zweifelsfall auf Mikes beziehungsweise Charlies Seite gestellt hätte.

Genau das hatte Daisy bereits im stillen getan. Durch die offene Küchentür war sie unvermeidliche Zeugin des kurzen Wortgefechts geworden, hielt es jedoch für wenig sinnvoll, sich einzumischen, zumal Mike genügend Schützenhilfe von Charlie Grovner erhielt.

Zwar wollte sie Mikes vorlaute Reaktion nicht kommentarlos billigen, aber sie verstand seinen Einwand durchaus, denn sie wußte oder ahnte zumindest, was in ihm vorgehen mußte, nachdem er vor nunmehr drei Wochen auf unbestimmte Zeit ausgerechnet von dem Menschen Abschied nehmen mußte, dessen Verlust ihm schon einmal drohte und jetzt mehr denn je auf dem Spiel stand. Sie wollte ihn deshalb gewiß nicht mit Samthandschuhen anfassen und all seine kindlichen, manchmal sogar aufsässigen Launen, die mehr ein Spiegel seiner Sorgen und Ängste als einer sich allmählich einstellenden Ungezogenheit waren, mit blinder Großzügigkeit übersehen; dennoch war sie der Meinung, etwas mehr Nachsicht walten zu lassen und seinen Querelen mit taktvollem Geschick zu begegnen. Denn daß dies alles eine Art Ausnahmezustand für den Jungen war, bewies allein schon die Tatsache, daß er sich bisher nie so angestellt hatte, wenn sein Pflegevater für mehrere Wochen unterwegs gewesen war, sei es mit einer Viehherde oder aus anderen Gründen.

Anscheinend war Slim gerade wieder dabei, dies zu vergessen und vor lauter eigenen Sorgen die des Jungen, die ungleich schwerer wogen, wenn man Mikes kindliches Alter berücksichtigte, zu übersehen. Aus diesem Grund würde sie nach dem Essen nicht Mike eine Standpauke halten wegen seiner vorlauten Ungezogenheit, die letztendlich nur aus seiner schlechteren Position als Kind resultierte, sondern vielmehr mit Slim Sherman ein ernstes Wort reden müssen, der ein weiteres Mal vergessen zu haben schien, daß außer ihm sich auch noch andere Sorgen um Jess Harper machten.

Das Essen wurde dann mehr oder weniger schweigsam eingenommen. Nur Charlie Grovner lobte ein paarmal Daisys Kochkünste, die wie immer aus einfachen Zutaten einen wahren Festschmaus gezaubert hatte, bedankte sich zum x-tenmal, daß man ihn so freundlich im Kreis der Familie aufnahm und bat, sich nach einem abschließenden Stück Apfelkuchen und zwei Tassen Kaffee entschuldigen zu dürfen, weil er nach den nicht geschlossenen Toren sehen und den Feierabend mit ein wenig Lesen ausklingen lassen wollte, um zeitig zu Bett zu gehen, da der nächste Arbeitstag für ihn schon vor Sonnenaufgang begann. Keiner hatte ihm bisher Vorschriften gemacht, wann und wie er sein Tagwerk beginnen sollte. Er tat dies von sich aus, weil er der Meinung war, daß sich dies so gehörte.

Mike, der Daisy heute abend ohne Wenn und Aber in der Küche half, war selbst beim Abtrocknen nicht sehr gesprächig. Erst als er beinahe fertig war, bemerkte die Frau, daß er den einen Teller mindestens zum fünften Mal drehte und mit dem Handtuch darüberfuhr, obwohl er längst trockener war als mittlerweile das Geschirrtuch, das er für seine Arbeit benutzte.

"Was ist?" konnte sie beim sechsten Wenden einfach nicht mehr länger schweigen. "Ist der Teller nicht sauber genug gespült?" wollte sie wissen, wenngleich sie genau wußte, daß Mikes plötzliche Akribie nichts mit dem Sauberkeitszustand des Tellers zu tun hatte.

Der Junge sah überrascht zu ihr auf. An das Porzellan mit dem hübschen blauen Dekor, auf das Daisy so stolz war, gab es doch bei einigen Nachbarsfrauen zum Teil nur dieses häßliche, aber unverwüstliche Blechgeschirr im Küchenschrank, hatte er keinen einzigen Gedanken verschwendet, während er so damit beschäftigt schien.

"Mit dem Teller ist nichts", sagte er abwesend.

"Dann stell ihn doch zu den anderen, ehe du ihn noch fallen läßt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der trockener wird, wenn du ihn noch fünfmal drehst."

"Entschuldige!" Mit betonter Vorsicht stellte er den Teller auf die anderen, die er fein säuberlich gestapelt hatte, und griff nach dem nächsten auf der Spülenablage. "Tante Daisy, wird Charlie jetzt immer mit uns essen?"

Aha, dachte sie, das beschäftigt ihn also.

"Hättest du denn etwas dagegen?" entgegnete sie mit einer Gegenfrage, um ihn behutsam dazu zu bringen, über seine vermeintlichen Probleme zu reden, die seiner übereifrigen kindlichen Phantasie entsprangen.

Für eine Antwort ließ er sich zwei Teller Zeit. Die Frau drängte ihn deshalb nicht. Schließlich hatte er das Gespräch mit diesem Thema begonnen. Außerdem wollte sie ihm ausgiebig Gelegenheit geben, darüber nachzudenken, um so vielleicht selbst darauf zu kommen, daß diese Probleme, an denen er offensichtlich zu knabbern hatte, gar nicht existierten.

Mike stellte den zweiten Teller während seiner Bedenkzeit auf den Stapel und brachte den weißblauen Geschirrturm in Form, indem er den einen oder anderen Teller mehr nach links oder rechts rückte. Der Stapel glich längst einem perfekt ausgeloteten Bauwerk aus lauter Porzellanscheiben, als er endlich damit aufhörte, Daisy aber noch den Rücken zuwandte.

"Eigentlich nicht", murmelte er.

Daisy mit ihrem feinen Gespür für die empfindliche Kinderpsyche merkte natürlich sofort, daß dies nicht die vollständige Antwort war.

"Aber?"

Mit diesem einen erwartungsvoll betonten Wort wollte sie es ihm selbst überlassen, darüber zu sprechen oder es lieber bleiben zu lassen. Wie erwartet, zog es Mike vor, darüber zu sprechen. Schließlich war er es nicht anders gewöhnt, Dinge, die ihn beschäftigten, offen mit seinem Pflegevater zu bereden, der ihn mit Geduld und Verständnis zu Ehrlichkeit und Aufrich-tigkeit erzogen hatte, vor allem natürlich zu Hause. Da seine wichtigste Bezugsperson jedoch nicht verfügbar war, mußte Mike sich mit Daisy Cooper als Ersatz zufrieden geben, denn von Slim konnte er sich im Moment nicht vorstellen, daß er ihn verstand. Wahrscheinlich hatte der Rancher zu viele eigene Sorgen, um in angemessener Weise auf die des Jungen einzugehen.

"Nichts aber!" erwiderte Mike mit einem gleichgültigen Achselzucken, konsequent den Zipfel des Handtuchs um seinen Zeigefinger drehend.

"Na, dann ist doch alles bestens, oder etwa nicht?"

Ein weiteres Achselzucken folgte. Schließlich hielt er es mit seiner Herumdruckserei selbst nicht mehr länger aus.

"Tante Daisy, gehört Charlie jetzt genauso zu uns wie … wie … ich meine … so wie Jess?"

Das war es also! Sie hatte richtig vermutet.

"Aber, Junge, wie kommst du nur auf so etwas?"

"Ich … ich weiß nicht."

"Mike", sie schlang den Arm um seine Schultern, wartete aber vergeblich, daß er sie ansah, "wir sind doch eine Familie, denke ich, du, Jess, Slim und ich. Wir sind zwar nicht richtig miteinander verwandt, weißt du, wie das zum Beispiel zwischen Geschwistern oder Eltern und Kindern der Fall ist, aber deshalb gehören wir doch zusammen, wobei gerade du und Jess besonders eng miteinander verbunden seid. Wie stellst du dir denn vor, könnte man ein Familienmitglied durch einen Fremden oder Bekannten ersetzen, selbst nur vorübergehend? Man kann es nicht einfach so austauschen. Und wenn Charlie mit uns im Haus ißt, hat das doch nichts mit Jess zu tun oder daß Charlie in irgendeiner Weise Jess' Platz einnehmen könnte."

"Da hat er auch überhaupt nichts zu suchen!"

"Nun, ich meinte damit nicht den Stuhl da draußen am Tisch."

"Ich auch nicht!"

"Dann ist doch alles geklärt. Oder siehst du da noch irgendwelche Probleme?"

"Ich weiß nicht", sagte er erneut mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf. Das, was ihn in seinem tiefsten Inneren beschäftigte, konnte er wirklich nicht in klare Worte fassen, zum einen, weil er nicht wußte, wie er sich ausdrücken sollte, zum anderen, weil er sich für das, was er allenfalls an Erklärung zustande gebracht hätte, schämte. "Ich meinte halt nur", kam es dann hilflos, in der Hoffnung, Daisy wüßte, was ihn zum Grübeln veranlaßte, ohne daß er es näher beschrieb.

"Mike, sieh mich an, wenn wir miteinander reden!" forderte sie ihn statt dessen auf, legte den Zeigefinger unter sein Kinn und hob seinen Kopf. Allerdings hob er erst seine niedergeschlagenen Lider, als das erwartungsvolle Schweigen unangenehm zu werden begann. "Siehst du, so gehört sich das für erwachsene Menschen." Daß sie ihn zum Kreis der Erwachsenen zählte, sollte sein Selbstvertrauen stärken, aber diesmal fiel es ihm schwer, es als Ansporn zu betrachten. Ihm war unbehaglich zumute. "Was bedrückt dich denn noch? Charlie ist doch ein ganz netter Bursche – und sehr fleißig dazu! Slim könnte sich keine bessere Hilfe wünschen. Und du verstehst dich doch auch gut mit ihm, so wie ich das schon feststellen konnte."

"Aber er ist nicht Jess!"

"Gott sei Dank ist er das nicht!"

"Und er wird es auch nie werden! Nie! Nie im Leben!"

"Hundertprozentig nicht! Wie kommst du darauf? Bildest du dir etwa ein, Charlie könnte Jess in irgendeiner Weise verdrängen oder gar ersetzen! – Mike?" Er schwieg verbissen, preßte demonstrativ Zähne und Lippen aufeinander, starrte sie an, schien sie jedoch nicht zu sehen. "Junge, das ist völlig absurd! Jetzt geht ganz gewaltig deine Phantasie mit dir durch! Du hast nicht den geringsten Anlaß, so etwas zu denken!" Den Tadel, der in ihrer Stimme mitschwang, konnte sie nicht mehr länger zurückhalten. Das war nun doch ein wenig zuviel für ihr Verständnis. "Wie um alles in der Welt kannst du dir so etwas vorstellen?"

"Ich stelle mir so etwas überhaupt nicht vor, aber … aber ich mag nicht, wenn Slim … wenn … wenn …"

"Slim?" Daisys Überraschung war nahe daran, in Entrüstung überzugehen. "Was könnte er denn … Mike, was spintisierst du dir da nur zusammen?"

"Gar nichts! Aber ich mag halt nicht … Immer steht er auf Charlies Seite … vorhin schon wieder … Das kann ich nicht leiden! Kaum ist Jess weg, da kommt dieser Charlie und ist genauso sein Freund. Ich dachte … ich dachte … das ist doch nicht richtig! Oder denkt er, Jess kommt gar nicht wieder? Oder ist er nur sein Freund, solange Jess hier arbeitet?"

"Um Himmels willen, Junge, was redest du denn?"

Daisy war im ersten Augenblick so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie darauf erwidern sollte. Mit einer hilflos wirkenden Geste fuhr sie über ihre Stirn, ehe sie Mike an beiden Schultern packte. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihn heftig geschüttelt, um sicher zu sein, daß ihre folgenden Worte tatsächlich seinen Verstand erreichten.

"Jetzt hör mir genau zu, du dummer, kleiner, großer Schlauberger! Seit über acht Jahren ist Slim Sherman Jess' bester Freund, hat mit ihm alles Gute und Schlechte geteilt. Die zwei können sich in jeder Situation blind vertrauen, sind wie Brüder, die bedingungslos füreinander da sind, nicht nur, wenn alles in Ordnung ist, sondern erst recht, wenn sie auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind. Daß Slim im Augenblick öfter ungehalten reagiert, hängt nur damit zusammen, daß er sich sehr große Sorgen macht, nicht weil er befürchtet, Jess könnte dieser Ranch nicht mehr in dem Maße nützlich sein wie bisher, sondern weil ihm seine Gesundheit, sein Wohlergehen genauso am Herzen liegt wie sein eigenes, wie deines und meines – das von Jess wahrscheinlich sogar noch um einiges mehr. Das heißt aber nicht, daß Slim zu jemandem unfreundlich sein muß, der ihm keinen Anlaß dazu gibt und obendrein eine zuverlässige Hilfe bei der Arbeit ist. Auch wenn Jess wieder zurück ist, werden die beiden auf Dauer jemanden beschäftigen müssen, weil sie es in Zukunft allein nicht mehr schaffen werden. Das hat nichts damit zu tun, ob und wie schnell Jess wieder gesund wird. Zweifle nie wieder – nie wieder! hörst du? – an Slims aufrichtiger Freundschaft, die ihn nun schon so lange mit Jess verbindet, und zwar in einer Weise verbindet, die ihren Ursprung hier hat", sie tippte ihm mit Nachdruck an die Brust, "und nicht hier oben!" Ihr Zeigefinger klopfte an seine Stirn. "Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich damit sagen will, aber ich hoffe, daß du wenigstens begreifst, daß deine sehr üblen Unterstellungen völlig unbegründet sind. Du solltest dich schämen dafür! Slim wäre sehr enttäuscht von dir, wenn er erführe, wie du von ihm denkst. Aber ich glaube, noch enttäuschter wäre Jess darüber."

Mit dieser Bemerkung traf sie ihn gezielt an seiner empfindlichsten Stelle. Tatsächlich hatte er nicht alles verstanden, was sie in ihrer Erregung versucht hatte zu erklären. Noch nicht einmal der Sinn ihrer Bemerkung über Jess' Enttäuschung wurde ihm klar. Allein jedoch die Möglichkeit, ihm für eine solche Enttäuschung Anlaß zu geben, aktivierte sein schlechtes Gewissen im höchsten Maße. Dafür schämte er sich mehr, als er es für die Ursache tat.

"Aber ich wollte … ich dachte … ich meine … ich dachte doch nur, weil … weil …", stotterte er, weil er das wilde Chaos seiner naiven Befürchtungen nicht in sinnvolle Worte fassen konnte.

Beschämt ließ er den Kopf hängen, vor sich hin schmollend, kurz davor, in Tränen auszubrechen. Von Daisys Gardinenpredigt war er völlig durcheinander. Noch schwerer allerdings bedrückte ihn die Vorstellung, seinen Pflegevater allein schon andeutungsweise enttäuscht zu haben. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken.

"Egal, was du gedacht hast, es war bestimmt falsch!" wollte die Frau ihn nicht mit der Aufforderung quälen, sich gefälligst klarer auszudrücken. Behutsam legte sie wieder ihren Zeigefinger unter sein Kinn und hob seinen Kopf. "Aber trotzdem kann ich auch dich verstehen, mein Junge", sagte sie sanft, mit einem versöhnlichen Lächeln auf ihrem gutmütigen Gesicht. "Glaube mir, ich weiß sehr wohl, was das alles für dich bedeutet."

"Ich … ich habe solche Angst, daß Jess …", begann er mit dünner Stimme. "Tante Daisy, ich habe ganz fürchterliche Angst, daß er nicht wiederkommt."

"Die solltest du nicht haben. Außerdem hat er es dir fest versprochen, denke ich." Sie selbst kannte nicht den detaillierten Hintergrund dieses Versprechens, sonst hätte sie ihn nicht so leichtfertig daran erinnert.

"Schon, aber es kann doch auch sein, daß er sein Wort zwar halten will, aber nicht kann, ohne daß es vielleicht seine eigene Schuld ist. Das wäre doch möglich, oder? Sag, Tante Daisy! Das wäre doch möglich, nicht wahr?"

"Nun, Mike, seinem Schicksal kann sich niemand entziehen. Sollte der liebe Gott tatsächlich beschlossen haben … Ach was! So etwas sollten wir gar nicht annehmen! Jess kehrt ganz sicher zurück! Daran gibt es keinen Zweifel!" Sie versuchte soviel Zuversicht wie nur möglich in ihre Worte zu legen. "Sicher, es kann eine sehr lange Zeit dauern, ehe er wieder nach Hause kommt, aber bisher ist jede Zeit des Wartens vorübergegangen. Du wirst sehen, der liebe Gott läßt ihn bestimmt nicht im Stich. Wenn er das wirklich wollte, hätte er es längst getan. Mit seiner Hilfe wird Jess es schaffen."

"Hoffentlich! Vielleicht kann er Jess überhaupt nicht leiden und will ihm deshalb nicht helfen."

"Gott mag alle Menschen, mein Junge, vor ihm sind alle gleich. Warum sollte er denn ausgerechnet Jess nicht mögen?"

"Keine Ahnung!" Mike zog mißmutig die Schultern hoch. "Wenn er ihn mag, warum hat er es dann zugelassen, daß dieser böse Hal Jess so etwas antun konnte? Warum läßt er überhaupt solche schrecklichen Dinge zu?"

"Tja, das ist eine gute Frage", mußte Daisy zugeben. "Vielleicht wollte er uns alle damit auf eine besonders harte Probe stellen."

"Auf eine Probe stellen?"

"Ja, vielleicht wollte er damit nur prüfen, ob unsere Verbundenheit miteinander und wir selber stark genug sind, eine solche Belastung auszuhalten."

"Heißt das, daß ich auch den lieben Gott ganz fürchterlich enttäuscht habe?" Mike fuhr ein Schreck durch die Glieder, daß er merkte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. "Tante Daisy, ich hab' es doch gar nicht so gemeint! Der liebe Gott muß das doch verstehen! Er wird doch nicht … Dafür darf er nicht … Bitte, bitte, es war wirklich nicht … Jess kann doch nichts dafür, wenn ich … Er muß Jess helfen! Weil … allein schafft er es nicht! Und jetzt …!"

"Beruhige dich, mein Junge!" versuchte sie ihn zu beschwichtigen, da er auf einmal völlig aus dem Häuschen schien, wenn er sich die Sache eingehender überlegte, was seine leichtfertigen Phantastereien eventuell bewirkt haben könnten. "Ich denke, daß der liebe Gott Nachsicht haben wird mit deinen etwas voreiligen Schlüssen. Weißt du, ich glaube, bei Kindern, die ansonsten sehr artig sind und ihre Eltern so lieben, wie du Jess liebst, ist er nicht gar zu streng. Aber du solltest in Zukunft besonnener sein und auch mit Slim mehr Geduld haben."

"Das will ich ganz bestimmt!" gelobte Mike. Er meinte es wirklich ernst und sagte es nicht nur, damit irgendwer zufrieden war. "Weißt du, eigentlich konnte ich mir das sowieso nicht richtig vorstellen, daß Slim … ich meine, daß er … daß er nicht mehr … Ich schäme mich ganz fürchterlich! Ehrlich! Wirst du ihm sagen, was ich … was ich von ihm dachte?"

"Nein, Mike, das mußt du selbst klären – in einem Gespräch von Mann zu Mann."

"Und Jess?"

"Das werde ich erst recht dir überlassen."

"Ich werde es ihm gleich schreiben."

"Nein, Mike, das halte ich nicht für so gut, jedenfalls nicht jetzt gleich."

"Warum denn nicht?"

"Du solltest Jess jetzt nicht zu sehr mit solchen Dingen belasten. Ich kann mir gut vorstellen, daß er im Moment genug mit sich selbst zu tun hat."

"Wie meinst du das?"

"Nun ja, du weißt doch, daß er sich immer gleich Sorgen macht, wenn er merkt, daß du auch nur winzigkleine Probleme haben könntest. Jess muß sich jetzt in erster Linie darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden. Dafür braucht er all seine Kraft. Wenn er sich dann auch noch um dich sorgen muß, könnte ihn das zuviel von dieser Kraft kosten, die er dringend für sich selber benötigt."

"Ich glaube, du hast recht." Mike kaute auf seiner Unterlippe. "Ich kann es ihm ja sagen, wenn er wieder da ist. Dann sieht er gleich, daß er sich keine Sorgen deshalb machen muß."

"Das wird wirklich das beste sein. Und jetzt sollten wir zusehen, daß wir in der Küche fertig werden. Was hältst du davon?"

"Gute Idee!" mußte Mike beipflichten, sichtlich erleichtert darüber, mit ihr seine Probleme ausdiskutiert zu haben. "Weißt du was, Tante Daisy?" meinte er in unbeschwerterem Tonfall. "Wenn du noch ein bißchen jünger wärst, würde ich Jess bitten, daß er dich heiratet. Du bist nämlich die einzige, zu der ich bestimmt auch Mutter sagen könnte."

"Vielen Dank!" schmunzelte die Frau gerührt. "Du machst heute aber interessante Komplimente. Nur, wer weiß, vielleicht würden wir gar nicht zusammen passen."

"Doch, bestimmt! Jess mag dich doch, und du magst ihn auch."

"Aber das ist schließlich mehr eine Beziehung wie zwischen – sagen wir – Mutter und Sohn."

"Ich meinte doch, wenn du jünger wärst."

"Möchtest du denn, daß Jess heiratet?"

"Nicht unbedingt! Mir ist sogar lieber, wenn er es nicht tut."

"Aber dann wäret ihr eine richtige Familie. Das könnte sehr schön sein."

"Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß das schön wäre. Stell dir vor, da wäre so eine komische Ziege, wie Slim sie zuletzt angeschleppt hat. Zu so einer könnte ich nicht Mutter sagen! Die wollte Jess dann nur für sich haben. Ich wäre so einer bloß lästig."

"Na, ich glaube, Jess hätte da auch noch ein Wörtchen mitzureden."

"Was Weiber angeht, sind Jess und ich uns ziemlich einig", meinte Mike altgescheit. "Darüber haben wir uns schon ausführlich unterhalten."

Daisy hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

"Du hältst wohl nicht viel von uns Frauen, junger Mann, was?"

"Oh, das hat nichts mit dir zu tun! Ich habe ja von Weibern gesprochen, weißt du, diese zickigen Dinger, die die Männer so komisch angucken und schmachtendes Zeug reden."

"Aber es sind doch nicht alle so, sondern nur ganz wenige. Die meisten sind, glaube ich, sehr nett."

"Egal! Mir ist lieber, wenn sich Jess von keiner mit ihrem Geschmuse einwickeln läßt."

"Und was wäre mit deiner richtigen Mutter?"

"Ich habe keine richtige Mutter!"

"Jeder hat eine Mutter. Möchtest du nicht erfahren, wer sie ist?"

"Nein! Wenn ich wirklich eine haben sollte, interessiert sie mich nicht! Sie interessiert mich von allen am wenigsten."

"Das sind sehr harte Worte, mein Junge."

"Und wenn schon! Warum sollte sie mich interessieren? Sie wollte mich doch gar nicht haben. Sie hat mich einfach vor eine fremde Tür gelegt und sich nicht weiter um mich gekümmert. Es war ihr egal, was aus mir wird. Warum sollte ich mich dann für sie interessieren?"

"Vielleicht blieb ihr keine andere Wahl. Vielleicht war sie krank oder hatte nicht genug zu essen oder keine Gelegenheit, sich um dich zu kümmern, oder sonst welche Probleme."

"Trotzdem hätte sie mich nicht einfach so loswerden brauchen, daß ich nicht einmal einen Namen hatte! Also war ich ihr gleichgültig. Jedenfalls bin ich froh, daß ich jetzt zu Jess gehören darf. Ihm war ich noch nie lästig, obwohl es ihm auch nicht immer gut ging und er auch nicht immer Zeit für mich hat, früher noch weniger als heute. Trotzdem würde es ihm nicht einfallen, mich vor eine fremde Tür zu legen und so zu tun, als ginge ich ihn nichts an."

"Wo du recht hast, hast du recht", mußte Daisy zugeben. "Aber vielleicht war das alles nicht nur die Schuld deiner Mutter, sondern auch die deines Vaters."

"Wieso Vater? Der interessiert mich genauso wenig. Außerdem glaube ich nicht, daß ich einen habe. Und wenn doch, kann er mir genauso gestohlen bleiben. Wozu brauche ich ihn denn? Ich habe doch Jess. Ich könnte sowieso nur ihn liebhaben. Stell dir vor, ich hätte so einen Vater wie Danny, der den ganzen Tag bloß betrunken ist und mich verprügelt. Das wäre ganz fürchterlich – genauso wie in diesem gräßlichen Waisenhaus, von wo ich weggelaufen bin. Bei so einem Vater könnte ich jedenfalls nicht bleiben."

"Tja, mein Junge, ich sehe es wirklich als ein Glück, daß du diese Probleme Gott sei Dank nicht mehr hast und gewiß auch nicht mehr haben wirst. Egal, was geschieht, das hier ist und bleibt dein Zuhause. Ob es nun dieses Haus sein wird oder ein anderes – Jess und wir alle werden immer für dich da sein." Sie wollte ihm nicht allzu deutlich sagen, daß Jess dafür gesorgt hatte, damit sich daran auch nichts änderte für den Fall, daß die Fahrt nach Colorado Springs eine Reise ohne Wiederkehr für ihn war. "Da brauchst du dir keine Gedanken zu machen."

"Wie meinst du das – dieses Haus oder ein anderes?"

"Nun, du weißt doch, daß Jess mit dir sofort ausziehen würde, wenn Slim heiraten und eine eigene Familie gründen wollte."

"Warum eigentlich? Wären Jess und er dann keine Freunde mehr?"

"Aber das hat doch nichts mit ihrer Freundschaft zu tun. Nur, weißt du, es wäre auf Dauer bestimmt nicht gut."

"Das verstehe ich nicht."

"Macht nichts!" Sie lächelte ihn vielsagend an. "Wenn du einmal älter bist, wirst du das schon verstehen."

"Ist mir eigentlich auch egal. Solange ich bei Jess bleiben kann, spielt es überhaupt keine Rolle, ob wir für immer hierbleiben oder irgendwann einmal woanders hinziehen. Hauptsache, er nimmt mich mit."

"Das tut er ganz gewiß."

"Ich wünschte nur, er hätte mich jetzt auch mitgenommen", sagte er auf einmal wieder etwas trauriger.

"Aber Jess ist doch nicht ausgezogen."

"Trotzdem! Ich vermisse ihn so. Außerdem mache ich mir entsetzliche Sorgen um ihn. Es ging ihm doch so schlecht. Er hat immer öfter so schrecklich gehustet. Und dann hatte er jedesmal ganz schlimme Schmerzen."

"Aber darum ist er doch weg, damit es wieder besser wird."

"Es könnte auch sein, daß es nicht besser wird, nicht wahr?"

"Natürlich könnte das sein", räumte Daisy ein; denn seine berechtigten Befürchtungen als übertriebene Kinderängste abzutun, hätte sie nicht verantworten können. "Aber so etwas darfst du nicht denken. Mach dir keine Sorgen, Mike! Es wird sicherlich alles wieder gut – ganz sicher! Bisher hat sich noch alles irgendwie zum Guten gewendet, oder etwa nicht?"

"Na ja, schon! Trotzdem wäre mir lieber, wenn Jess endlich nicht mehr so krank wäre."

"Das wird schon wieder. Warte erst einmal ab, bis der Winter vorbei ist. Du wirst sehen, wenn es im Frühjahr wärmer und freundlicher wird, ist Jess eins, zwei, drei! wieder zu Hause."

"Ich wünschte, es wäre schon Frühling. Ich gucke jeden Tag auf den Kalender, aber es ist ja eine Ewigkeit bis dahin. Ich glaube, es ist mir noch nie so lange vorgekommen."

"Dann solltest du vielleicht nicht so oft auf den Kalender sehen. Du mußt dich mit etwas ablenken und mit anderen Dingen intensiv beschäftigen, daß du an den Kalender nicht mehr denkst. Du wirst sehen, dann kommt dir das Warten nicht so lange vor."

"Ja, ich weiß, aber das ist gar nicht so einfach. Dann frage ich mich immer, was Jess gerade macht, und schon fange ich wieder an zu zählen."

"Ach, was! Jetzt solltest du dich auf Weihnachten und Neujahr freuen. Wenn erst einmal das neue Jahr begonnen hat, dann geht es auch wieder voran. Ganz bestimmt sogar, mein Junge!"

"Ich kann mich aber nicht freuen, wenn Jess nicht da ist. Es ist so leer hier ohne ihn."

"Das ist keine Frage – alles was recht ist", mußte die Frau zugeben. "Es liegt jedoch bei uns, das Beste daraus zu machen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß es im Sinne von Jess wäre, wenn du während der Zeit, in der er nicht da ist, nur Trübsal bläst und dich mit deinem Kummer in dein kleines Schneckenhaus verkriechst. Helfen könntest du damit niemandem, am allerwenigsten dir selber und auch nicht ihm."

"Das ist schon wieder so etwas, was ich nicht verstehen kann. Ich sollte mich wirklich mit dem Erwachsenwerden beeilen. Aber damit ist es wie mit dieser Warterei: es dauert ewig!"

"Wer weiß, Mike, wenn es einmal soweit ist und du erwachsen bist, wünschst du dir vielleicht manchmal, noch einmal Kind zu sein."

"Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen!"

"Ich schon", schmunzelte sie.

Nach Beendigung seiner Hausarbeitspflichten bei Daisy zog sich Mike beinahe unbemerkt in sein Zimmer zurück, wo er mehr Zeit als üblich seinen Hausaufgaben widmete. Seine schulischen Leistungen hatten nicht gerade nachgelassen, seit sein Pflegevater weg war, aber er tat sich schwerer mit Lernen, wahrscheinlich weil seine Gedanken zu oft abschweiften und mit Dingen beschäftigt waren, die mit Sicherheit nicht auf Miss Finchs Lehrplan standen.

Jetzt hockte Mike an der Schreibplatte seines Bücherregals und mühte sich mit seinem Geographiebuch, dessen Inhalt ihm heute besonders hartnäckige Probleme bereitete. Ziellos begann er darin zu blättern, bis die Seiten wie von selbst an einer bestimmten Stelle auseinanderfielen. Offensichtlich wurde diese Stelle außerordentlich häufig aufgeschlagen, daß der Buchrücken eine Falz bekommen hatte. Auch die untere Ecke des einen Blattes war etwas abgegriffen. Auf der Doppelseite breitete sich die Karte von Colorado aus mit dem nördlich angrenzenden Territorium von Wyoming. Hier hatte Mike schon ungezählte Male mit dem Finger den Weg nach Colorado Springs zurückgelegt. Mittlerweile kannte er jeden Ort, jede Station, jeden markierten Punkt, der auf dieser Strecke lag. Diese Doppelseite des großformatigen Buches kannte er wie seine Hosentasche. Er hätte sogar gewettet, daß er sie besser kannte, als Miss Finch es tat.

Auf der Karte war Colorado Springs nichts weiter als ein winziger Kreis an einem schwarzweißen Strich, der von Cheyenne hinunter bis Pueblo führte, von wo aus er sich als gestrichelte Linie nach Süden fortsetzte – die Strecke der Denver & Rio Grande Eisenbahn, deren Bauvorhaben erst in den letzten Jahren in Angriff genommen worden war.

Mit der Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger maß Mike die Entfernung. Sie kam ihm viel zu lang vor! Verträumt fuhr er über den unscheinbaren Punkt, der Colorado Springs als Station auswies. Dabei versuchte er sich vorzustellen, wie es dort wohl aussah. Der Gedanke daran verblaßte rasch, als er sich zu fragen begann, wo genau in diesem Punkt Jess sich aufhielt und was er genau in diesem Augenblick tat oder dachte.

Auf dem aufgeschlagenen Buch faltete Mike die Hände übereinander, legte den Kopf in den Nacken, starrte zuerst an die Decke und schloß dann die Augen, um ein inniges Gebet zu sprechen. Ein Klopfen an seiner Zimmertür störte ihn jedoch in seiner innigen Versunkenheit. Ein wenig erschrocken wandte er den Kopf.

Da ging auch schon die Tür auf, und Slim Sherman stand im Rahmen.

Kaum war Mike in seinem Zimmer verschwunden, als Slim bei Daisy in der Küche erschien.

"Jetzt sind Sie aber drei Minuten zu spät. Gerade habe ich den Rest Kaffee weggeschüttet. Den hätte ich Ihnen allerdings auch nicht mehr angeboten, weil er schon ganz eingekocht war. Ich werde schnell frischen aufsetzen", sagte die Frau eilfertig und wollte an den Schrank, um die Kaffeedose zu holen.

"Danke, Daisy, für mich brauchen Sie heute keinen mehr zu kochen, sonst liege ich die halbe Nacht wach. Ich sollte mir endlich einmal angewöhnen, abends nicht mehr als höchstens zwei Tassen zu trinken. Es ist mir schleierhaft, wieso Jess kübelweise Kaffee in sich hineinschütten und trotzdem wie ein Murmeltier schlafen kann. Ich kriegte da kein Auge zu."

"Mein Mann konnte das auch." Ein warmherziges Lächeln huschte über ihr Gesicht und hinterließ um ihre Mundwinkel einen Anflug von Schmunzeln. "Mir war das ein Rätsel. Anscheinend reagiert da jeder anders."

"Sieht fast so aus."

"Slim, Sie sind doch nicht in meine Küche gekommen, um sich über die Wirkung von Kaffee mit mir zu unterhalten", bemerkte sie spitzfindig über sein belangloses Gerede.

"Nein, ich wollte mich bei Ihnen bedanken."

"Bedanken?" fragte sie erstaunt. Wenn er gesagt hätte, daß er sich mit ihr über irgendein Problem unterhalten wollte, hätte sie es verstanden. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wofür er sich bedanken wollte. "Wofür denn?"

"Für die Schützenhilfe bei Mike."

"Haben Sie etwa … Slim, jetzt enttäuschen Sie mich aber!"

"Es war nicht meine Absicht! Bestimmt nicht, Daisy! Das sollten Sie eigentlich wissen. Es war wirklich reiner Zufall, daß ich es mitkriegte."

"Auch das, was der Junge …"

"Ja, und ich bin froh, daß ich es gehört habe."

"Sie sind ihm deshalb doch nicht böse?"

"Nein, obwohl er unrecht hatte. Aber er ist schließlich noch ein Kind und sieht alles mit anderen Augen. Das vergesse ich immer wieder. Wenn Jess davon wüßte, würde er behaupten, es geschieht mir recht, obwohl er Mike gegenüber wahrscheinlich genauso reagiert hätte wie Sie oder wenigstens so ähnlich."

"Ich bin nicht der Meinung, daß Ihnen irgend etwas recht geschieht, und ich glaube auch nicht, daß es Jess so sähe."

"Möglich, Daisy, möglich! Aber das ist nicht unbedingt das, was mich beschäftigt, sondern wieso Mike auf solche Gedanken überhaupt kommen kann."

"Ich weiß es nicht, Slim. Ich weiß nur, der Junge hat eine rege Phantasie und muß im Moment mit Ängsten leben, die zu bewältigen für ein Kind in seinem Alter nahezu unmöglich ist, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr er an Jess hängt und ihn auch braucht für die Bewältigung seiner Probleme, nicht nur was die Erinnerung an diese furchtbare Geschichte hier angeht, sondern auch an seine früheste Kindheit. Dann ist es doch nur verständlich, wenn er in mancher Beziehung übersensibel reagiert."

"Obwohl ich das genauso weiß wie Sie, benehme ich mich ständig wie ein Elefant im Porzellanladen."

"Sie sollten nicht so hart gegen sich selbst sein. Schließlich haben Sie sich nichts vorzuwerfen."

"Dessen bin ich mir nicht so sicher."

"Fangen Sie um Himmels willen nicht wieder von Ihrer eingebildeten Schuld an! Bitte nicht ausgerechnet jetzt, Slim!"

"Die meinte ich nicht – ausnahmsweise! Ich rede im Moment nur von Mike. Als Jess mich gebeten hat, mich um den Jungen zu kümmern, hat er mir einen sehr guten Rat gegeben, den ich allerdings bisher so gut wie nicht beachtet habe, mit dessen Befolgung ich jedoch höchstwahrscheinlich bei Mike viel mehr erreichen könnte. Ich habe in seiner Anwendung nur leider zu wenig Erfahrung und anscheinend auch nicht das nötige Fingerspitzengefühl."

"Was war das denn für ein Rat? Vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen, ihn zu befolgen."

"Das glaube ich nicht, Daisy. Meiner Meinung nach liegt es nur an mir, wenn ich diesen Rat nicht nutzen kann, an meinem Mangel an Geduld und Einfühlungsvermögen, das richtige Maß bei dem Jungen zu finden. Jess hat das sehr schön gesagt, sehr treffend. Den genauen Wortlaut kriege ich nicht mehr zusammen. Er war ungefähr so: Behandle ihn wie einen Erwachsenen, aber vergiß niemals, daß er noch ein Kind ist. Ich glaube, das ist der springende Punkt, der seinen Erfolg bei Mikes Erziehung ausmacht und woran ich jedesmal scheitre. Weil ich ihn nämlich wie ein Kind behandle und dabei erwarte, daß er wie ein Erwachsener reagiert. Durch seine bisherigen Erlebnisse ist Mike zwar schon wesentlich reifer als andere Kinder in seinem Alter, aber trotzdem ist er ein erst zehnjähriger Junge, der die Welt anders sieht als ein Erwachsener. Bis mir das jedesmal bewußt wird, ist es meistens zu spät."

"Nun ja", meinte Daisy, mit dem Handtuch über die Anrichte wischend, obwohl dort alles trocken und sauber war, "etwas Wahres ist schon daran. Vor allen Dingen wäre es sicherlich nicht verkehrt, Jess' Rat in Zukunft konsequenter zu beherzigen. Er ist wirklich sehr gut."

"Ich frage mich bloß, woher Jess diese Weisheiten hat."

"Das sind keine Weisheiten, die man irgendwo nachliest und ausprobiert, ob sie funktionieren. Das ist das Ergebnis von eigenen Erfahrungen. Jess selber hatte nicht viel Zeit, Kind zu sein. All das, was er vermissen, worauf er verzichten mußte, will er Mike geben. Und indem er ihm mit Verständnis und Liebe und einer gehörigen Portion Geduld all das nahebringt, was er selbst als Kind nicht erfahren durfte – nämlich Geborgenheit in einer Familie –, hat er die Möglichkeit, einen Teil seiner ihm entgangenen eigenen Kindheit nachzuerleben. Wahrscheinlich ist das auch der Grund für seine Sensibilität, obwohl er ansonsten ein sehr lebenserfahrener und auch rauhbeiniger Bursche ist. Das ist schwer zu erklären und noch schwerer zu verstehen, aber genau das, weshalb Mike ihm so zugetan ist. Da ist auf der einen Seite diese energische Willensstärke, diese Kraft, sich zu behaupten, sich durchzusetzen, diese Selbstsicherheit. So etwas bewundert ein Kind. Aber dann ist da noch etwas anderes. Jess bringt es fertig, Dinge mit den Augen eines Kindes, aber dem Verstand und den Erfahrungen eines reifen Mannes zu sehen und sie Mike auch so zu verstehen zu geben. Ich glaube nicht, daß man so etwas lernen kann. Das soll bei Gott keine Kritik oder Zweifel an Ihren Fähigkeiten sein, aber Respekt und Verehrung sind nun einmal zweierlei Paar Stiefel. Respekt können Sie sich verschaffen; Verehrung bringt man jemandem entgegen. Wenn Sie Jess' Rat versuchen etwas bewußter zu befolgen, wird Mike Sie zwar deshalb trotzdem nicht so verehren, wie er Jess verehrt, aber er wird Sie leichter akzeptieren, weil er merkt, daß Sie nicht nur Jess' Freund sind, sondern auch der seine."

"Aber das weiß er doch."

"Natürlich weiß er das. Das heißt aber nicht, daß Sie es ihm nicht mehr zeigen brauchen. Denken Sie an Jess' Rat!"

"Das ist leichter gesagt, als getan", atmete Slim ein wenig mißmutig auf über seine Schwerfälligkeit in der Beziehung. "Wie soll ich denn gegen eine solch starke Persönlichkeit, die Jess zweifellos für den Jungen ist, ankämpfen?"

"Um Himmels willen! Wer redet denn von Ankämpfen?" Daisys Worte klangen beinahe entrüstet. Slim schien heute abend wirklich sehr schwer von Begriff zu sein. "Das wäre das Unklügste, was Sie tun könnten. Bei Mike würden Sie so jedenfalls nichts erreichen. Und auch Jess könnten Sie damit erheblich verletzen. Im Endeffekt käme nichts dabei heraus außer Tränen auf der einen und womöglich Streit auf der anderen Seite. Versuchen Sie bloß nicht, Jess in irgendeiner Weise zu imitieren. Das kann nicht gutgehen. Sie sind nun einmal nicht er, sondern Sie selbst. Mike nähme an, Sie wollten Jess bei ihm verdrängen und dafür seine Stelle einnehmen. Das könnten Sie nie schaffen, auch wenn Jess nicht zurückkehren sollte. Dieses Bestreben würde nur noch mehr Mikes Widerstand schüren."

"Eigentlich hatte ich auch nicht die Absicht, Jess da irgendwie in die Quere geraten zu wollen. Jess ist mein bester Freund und nur mir wollte er den Jungen anvertrauen. Ich könnte nie …" Slim ließ das Ende des Satzes offen, als schämte er sich dafür. "Ich fürchte nur, daß ich manchmal dieser Verantwortung nicht gewachsen bin."

"Aber nur, weil Sie daraus mehr machen wollen, als dahinter steckt."

"Und was raten Sie mir?"

"Vielleicht sollten Sie sich in bezug auf Mike nicht zu sehr von Ihrem Verstand leiten lassen, sondern einfach versuchen, öfter auf Ihr Herz zu hören und dabei nicht vergessen, daß Mike, wenn Sie in ihm gerade wieder Jess zu erkennen glauben, eben doch nicht Jess ist, sondern ein zehnjähriger Junge."

"Das ist starkes Pulver, was Sie da verschießen."

"Sie wollten meinen Rat."

"Ja, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Jetzt habe ich zwei gute Ratschläge …"

"Es liegt nur an Ihnen, den besten Nutzen daraus zu ziehen."

"Vielleicht sollte ich mich in der Zwischenzeit, in der Jess als Lehrmeister ausfällt, mehr an Charlie halten. Offensichtlich kriegt der das bei Mike auch leichter hin als ich."

"Das habe ich vorhin mitgekriegt. Was Charlie wohl zugute kommt und Ihnen gewiß voraus hat, ist, daß er als Außenstehender frei von diesem Verantwortungszwang ist, mit dem Sie sich in Ihrem Erziehungseifer selber unter Druck setzen. Dadurch sind seine Reaktionen lockerer, natürlicher, während Sie sich durch Ihre Unsicherheit bloß verkrampfen und dabei Dinge von sich geben, die Sie eigentlich gar nicht sagen wollten, mit dem Resultat, daß sich Mike bloß noch mehr verschließt, bis aus seinem Widerstand reiner Trotz wird, nicht nur bei dem Jungen, sondern auch bei Ihnen."

Slim holte geräuschvoll Luft. Für seine Begriffe wurden Daisys Geschosse immer großkalibriger.

"Meinen Sie nicht, daß das jetzt ein bißchen zu sehr Fraktur geredet ist?"

"Finden Sie?" Sie tat abermals geschäftig mit dem Handtuch an der Anrichte, obwohl da wirklich kein Krümelchen mehr lag und kein Fleckchen den Hochglanz beeinträchtigte.

"Nun hören Sie doch auf, so da herumzuwischeln! Sie machen mich ganz nervös damit!" beschwerte sich der Rancher über ihre auffällige Putzwut, womit er indirekt zugab, daß sie mit ihrer Standpauke recht hatte.

"Slim", Daisy hörte tatsächlich mit ihrer Wischerei auf, jedoch nicht, weil er sie so eindringlich darum gebeten hatte, sondern um sich abrupt zu ihm umzudrehen, "Sie sollten auf der Stelle mit Mike reden – ich meine, reden und nicht schimpfen, denn dazu haben Sie keinen Grund!"

"Ich bin mir da nicht so sicher."

"Dann frage ich mich, woher diese Notwendigkeit kommt. Oder besser, ich frage Sie. Sie haben in den letzten drei Wochen zehnmal häufiger einen Grund dafür gefunden als Jess in den letzten drei Jahren. Gibt Ihnen das nicht zu denken?"

"Das wiederum sollten Sie Mike fragen."

"Ich habe aber Sie gefragt. Andauernd haben Sie etwas zu nörgeln an dem Jungen. Sicher, mir paßt auch vieles nicht, mir paßt auch vieles nicht, was Jess hin und wieder bei ihm durchgehen läßt. Aber schließlich ist es sein Pflegesohn und nicht meiner. Wenn ich jedoch etwas einzuwenden habe, dann hört sich das etwas anders an als bei Ihnen. Kein Wunder also, wenn Mike so reagiert und jetzt sogar annimmt, daß sich Ihr Unmut nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf Jess beziehen könnte, weil Sie es vielleicht als ausgesprochen lästig finden, daß Sie sich während seiner Abwesenheit, die nichts mit den Geschäften der Ranch zu tun hat, um ihn kümmern sollen."

"Aber das ist doch Unsinn!"

"Natürlich ist das Unsinn! Oder denken Sie, ich wäre noch in diesem Haus, wenn es kein Unsinn wäre? So etwas könnte ich nämlich nicht ertragen."

Slim machte eine hilflose Geste.

"Wenn Jess wüßte, worüber wir hier reden. Ich glaube, es würde ihn in seinem Zustand umbringen."

"Zum Glück weiß er es nicht", war Daisy seiner Meinung. "Gerade weil Sie sich darüber so im klaren sind, müssen Sie endlich etwas dagegen unternehmen, ehe Mikes Phantasie vollends mit ihm durchgeht. Bitte reden Sie mit dem Jungen, von Mann zu Mann, aber befolgen Sie dabei Jess' Rat und vergessen Sie nicht, daß er noch ein Kind ist!"

"Würde ich gerne tun, Daisy, wenn ich bloß wüßte, was ich ihm sagen soll."

"Lassen Sie einfach nur Ihr Herz sprechen. Dann wird Ihnen schon das richtige einfallen."

"Irgendwie ist mir das – ich glaube, richtiggehend unangenehm."

"Ach, kommen Sie! Stellen Sie sich nicht so an! Was soll denn daran unangenehm sein? Ich glaube, Jess mußte dem Jungen schon weitaus unangenehmere Dinge beibringen."

"Ja, ich weiß. Ich habe ihn darum nie beneidet."

"Das habe ich auch nicht angenommen. Und jetzt drücken Sie sich nicht so lange vor der Verantwortung! Ich glaube sogar fast, der Junge wartet auf eine solche Aussprache. Womit es wieder einmal an der Zeit wäre, ihm zu beweisen, daß Sie nicht nur nach wie vor Jess' bester Freund sind, sondern auch der seine. Ja, ich weiß!" nahm Daisy ihm sofort die Luft aus den Segeln, ehe er sich über diese Bemerkung weiter aufblähen konnte. "Das weiß er doch! Trotzdem kann es nichts schaden, seine Erinnerung etwas aufzufrischen – und Ihre vielleicht auch. Und denken Sie daran, gleich Charlie Grovners Position dahin zu rücken, wohin sie gehört."

"Wie meinen Sie das?"

"Wenn Sie das nicht selber wissen, war unser ganzes Gespräch von eben für die Katz'. So schwer von Begriff kann kein …"

"Schon gut! Schon gut!" winkte Slim mit beiden Händen ab. "Was immer Sie sagen wollen, ich will es nicht hören. Sie haben heute schon genug Keile verteilt."

"Woran Sie selbst schuld sind. Und jetzt machen Sie, daß Sie nach oben kommen, ehe Mike annehmen muß, daß er nicht ganz im Unrecht war. Aber vergessen Sie dabei um Gottes willen nicht, Jess' Rat zu befolgen!"

"Sie sind ganz schön hartnäckig."

"Einer muß schließlich dafür sorgen, daß hier alles seine Ordnung hat. Und jetzt raus aus meiner Küche!" Energisch schob sie ihn zur Tür. "Ich will endlich fertig werden!"

Obwohl diese letzte Bemerkung bei weitem nicht so ernst gemeint war, wie sie sich anhörte, verriet Daisys Ton sehr deutlich, daß es auch für den Hausherrn unklug wäre, dieser Aufforderung Widerstand zu leisten. Gewiß fehlte nicht mehr viel, bis sie zu handfesteren Mitteln griff und zum Nachdruck ihrer Worte das große Nudelholz einsetzte. Zwar war sie ein äußerst geduldiger Mensch, aber heute abend stellte sich Slim besonders schwerfällig an. Sie hatte keine Ahnung, woran das lag. Wahrscheinlich wußte er es selbst nicht. Sie konnte es nur damit erklären, daß er sich unbewußt mehr Sorgen um den Freund machte, als er zugeben wollte, und deshalb den Kopf zu voll von anderen Dingen hatte, als daß er sich um Mikes kindliche Probleme hätte intensiver kümmern können.

Darin unterschied er sich eben von seinem Partner. Während Jess es fertigbrachte, sich auch dann noch mehr Gedanken um andere zu machen, wenn ihm seine eigenen Probleme bereits über den Kopf zu wachsen begannen, stellte Slim die seinen als übermächtigen Wall in den Vordergrund, über den er kaum nach anderen sehen konnte. Da mußte erst eine Frau wie Daisy Cooper mit schweren Geschützen auffahren, damit dieser Wall an Mächtigkeit verlor. Im Grunde jedoch war auch Slim die Seele von einem Menschen, der wie sein Partner seinen weichen Kern häufig hinter einer rauhen Schale versteckte. Was dabei herauskam, mußte Daisy gerade wieder während dieses Gespräches erleben.

Vor Mikes Zimmertür dachte Slim zum erstenmal bewußt an Jess' Rat, und zwar genau in dem Augenblick, als er, ohne sich vorher durch Klopfen bemerkbar zu machen, die Tür öffnen wollte. Seine Hand wollte gerade den Knopf drehen, da fielen ihm im letzten Moment Jess' Worte ein. Normalerweise betrat er nicht einmal das Zimmer des Freundes, ohne seine Absicht durch Klopfen kundzutun, denn schließlich räumte er jedem mit Selbstverständlichkeit eine gewisse Privatsphäre ein, auf die er selbst auch Wert legte. Wenn sich jemand in seine privaten Räume zurückgezogen hatte, hieß das, daß er mit Sicherheit allein sein und nicht durch einen anderen einfach so überfallen werden wollte. Genau das gleiche Recht mußte er Mike einräumen, vor allem in der jetzigen Situation und nach dem Zwischenfall bei Tisch.

Also klopfte Slim an Mikes Zimmertür, wie er dies allein schon aus Höflichkeit bei jedem anderen auch getan hätte. Zwar wartete er keine Aufforderung zum Eintreten ab, gab dem Jungen aber doch ein paar Sekunden Zeit, sich auf sein Erscheinen einzurichten, ehe er endlich den Knopf drehte und die Tür öffnete.

"Mike, ich möchte mich gern ein wenig mit dir unterhalten. Darf ich hereinkommen?"

Mike, der mit dem Rücken zur Tür an der Schreibplatte seines Bücherregals saß, wandte sich überrascht, wenn nicht sogar erschrocken um, nicht weil er ein schlechtes Gewissen zu verbergen suchte, sondern weil er bei einem innigen Gespräch mit Gott gestört wurde, das keinesfalls für die Ohren eines Dritten bestimmt war. Es hätte sonst an Wirkung verlieren können. Davon war der Junge felsenfest überzeugt.

"Sicher", murmelte er, ein wenig verwirrt über die Tatsache, daß Slim gewissermaßen um Erlaubnis fragte, ihm eine Standpauke halten zu dürfen. Daß er dies vorhatte, bezweifelte er nicht eine Sekunde lang. "Du willst bestimmt mit mir schimpfen wegen vorhin, nicht wahr?"

Er drehte sich wieder, schuldbewußt abwechselnd an Ober- und Unterlippe kauend, um und starrte in das aufgeschlagene Geographiebuch vor sich, fixierte den unscheinbaren Kreis an der Bahnstrecke nach Pueblo, als könnte er mit dieser Konzentration eine Art Schutzmauer um sich herum aufbauen.

"Meinst du denn, daß das nötig ist?"

Das Kinn tief auf die Brust gepreßt, zuckte Mike mit den Schultern. Er schämte sich abgrundtief, nicht wegen seines vorwitzigen Mundwerks bei Tisch, sondern wegen seiner unüberlegten Äußerungen in der Küche bei Daisy Cooper.

"Kann sein."

"Weißt du", sagte Slim beim Näherkommen, "ich habe noch einmal darüber nachgedacht und finde eigentlich, daß du nicht ganz so im Unrecht warst, wie ich es im ersten Augenblick gesehen habe. Ähm, darf ich mich ein wenig zu dir setzen? Es unterhält sich angenehmer, wenn ich mir dabei nicht die Beine in den Bauch stehen muß."

Immer noch mit gesenktem Kopf, verbiß sich Mike ein Grinsen. So wie es aussah, hatte Daisy Cooper recht gehabt. Anscheinend war Slim doch nicht dauerhaft verärgert über ihn.

"Klar!"

"Danke." Slim zog sich einen Schemel heran und setzte sich über Eck neben ihn an die Schreibplatte. "So ist es wirklich bequemer." Er warf einen Blick auf die aufgeschlagene Seite des Buches. "Ich störe dich hoffentlich nicht beim Lernen?" fragte er, obwohl er genau wußte, daß er dies nicht tat.

"Nein, das habe ich schon heute nachmittag gemacht."

"Das ist wirklich eine ausgezeichnete Karte von unserer Gegend. He, du hast ja sogar ein Zeichen gemacht, wo unsere Ranch liegt." Slim deutete auf das kleine, mit einem Bleistift markierte Mal. "Ja", sagte er anerkennend, "das ist genau die Stelle."

"Und da ist Jess jetzt!" Allmählich kehrte wieder eine gewisse Unbefangenheit zu dem Jungen zurück. "Meinst du … meinst du, daß er jetzt auch ein bißchen an mich denkt?"

Slim legte den Arm um seine Schultern, um ihm seine Verbundenheit zu zeigen.

"Sicher, ich glaube sogar, daß er den ganzen Tag an dich denkt und nicht nur in diesem einen Augenblick. Ich kann mir vorstellen, daß du ihm sehr fehlst."

"Er fehlt mir auch."

"Das weiß ich, Mike! Uns allen fehlt er. Schließlich ist er ein wichtiger Teil unserer Familie oder dessen, was wir so nennen."

"Dann … dann bist du auch immer noch … ich …ich meine … sein Freund, nicht wahr?" stotterte Mike zusammen, konnte ihm dabei jedoch immerhin in die Augen sehen, wenigstens so lange, bis die Antwort kam.

Diese fiel zu Slims eigener Überraschung sehr ruhig, um nicht zu sagen, einfühlsam aus, daß er stolz auf sich hätte sein können, wenn er sich selber zuhörte.

"Mike, Jess ist seit vielen, vielen Jahren mein allerbester Freund. Mehr noch! Er ist wie ein Bruder für mich! Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich daran jemals etwas ändern wird, egal, wo er sich gerade aufhält, aus welchen Gründen auch immer." Wenn Slim nicht kurz zuvor das Gespräch mit Daisy Cooper geführt hätte, hätte er mit Sicherheit anders reagiert. Auf keinen Fall wäre er dann so ruhig geblieben, hätte sich statt dessen nicht nur gekränkt über die Bemerkung des Jungen gefühlt, sondern wäre regelrecht erbost darüber gewesen und hätte ihn wahrscheinlich dementsprechend angefahren. So ging er jedoch für seine Begriffe geradezu vorbildlich auf ihn ein, ließ sich dabei allerdings nichts davon anmerken, daß er das Gespräch zwischen ihm und Daisy mitgehört hatte. "Wieso fragst du überhaupt danach? Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wieso du plötzlich daran zweifelst. Ich habe dir weiß Gott keinen Anlaß dafür gegeben. Oder etwa doch? Wenn du meinst, ja, dann sollten wir auf der Stelle darüber reden, denn ich möchte nicht, daß du dich vielleicht in Dinge hineinsteigerst, die gar nicht existieren, oder dabei vielleicht etwas zerstört wird, was uns allen so wichtig ist."

"Wie meinst du das?"

"Nun", Slim verzog das Gesicht zu einem Lächeln, während er ihm über den Kopf strich, jedoch aufpaßte, daß diese Geste nicht zuviel Ähnlichkeit besaß, mit der Jess ihm seinen Blondschopf zu zerzausen pflegte, "ich denke in erster Linie an unser gegenseitiges Vertrauen und die Offenheit, mit der wir unsere Probleme besprechen und uns gegenseitig helfen und in heiklen Angelegenheiten beistehen. Wieso kommst du also plötzlich auf so eine Idee?"

"Ich … ich weiß es nicht! Ich … ich weiß es … wirklich nicht! Slim, ich schäme mich … ganz fürchterlich dafür. Bitte, sei mir deshalb nicht böse! Bitte nicht! Ich habe es wirklich nicht … nicht so gemeint. Aber … aber ich dachte halt, weil … weil Charlie jetzt mit uns im Haus ißt und … und du so nett zu ihm bist … und er dir hilft, weil … weil Jess es nicht … weil er so krank ist und vielleicht nicht mehr … und nicht mehr für dich arbeiten kann … und … und dann bist du immerzu so brummig mit mir, wo ich mir doch soviel Mühe gebe, nichts falsch zu machen … ich … ich …"

Mike hatte sich so in Erregung gestammelt, daß er kein Wort mehr hervorbrachte, weil jede Silbe sofort in einem Schluchzen erstickte, obwohl seine Augen trocken blieben.

"He, kleiner Mann, jetzt beruhige dich erst mal!" versuchte Slim ihn zu trösten, schlang wieder den Arm um seine Schultern und zog ihn zu sich, um ihn an sich zu drücken. "Ich glaube nämlich, da ist deine Phantasie gewaltig mit dir durchgegangen. Wie ich zu Jess stehe, habe ich dir bereits gesagt, und schließlich weißt du das auch selbst. Daß sich daran nichts ändern wird, egal wie krank oder gesund er zurückkehren wird, dürfte dir mittlerweile klar sein. Außerdem solltest du wissen, daß Jess nicht für mich arbeitet, sondern wir Partner sind. Ihm gehört diese Ranch genauso wie mir. Wir arbeiten miteinander für uns selber. Und sollte er dies nicht mehr können, wird er trotzdem Miteigentümer bleiben. Aber vor allen Dingen wird er auch dann – und gerade dann! – mein Freund bleiben. Wenn ich hoffe, daß er gesund wiederkommt, dann doch nur, weil ich ihm das von ganzem Herzen wünsche. Du stellst dir nicht vor, wie weh es mir tut, ihn so krank zu wissen."

"So wie mir?"

"Ja, Mike, so wie dir! Weißt du, mein Junge, ich sollte es dir eigentlich nicht sagen, weil ich nicht möchte, daß du noch mehr herumgrübelst, aber ich weiß nicht, wie ich sonst meine – na ja, sagen wir mein zuweilen häufiges Mürrischsein auch dir gegenüber erklären soll. Ich …"

"Du machst dir sehr große Sorgen, nicht wahr?" kam Mike ihm zuvor, als er noch herumdruckste, ob er es eingestehen sollte oder nicht.

"Ja, Mike", nickte Slim schwer, "ich mache mir Sorgen. Es hat wenig Sinn, das zu leugnen. Schließlich bist du alt genug, um das selber zu merken. Und du hast es ja auch gemerkt. Weißt du, Jess war wirklich sehr krank, als er … als er von hier weg ging. Deshalb mußte er ja diese Reise überhaupt erst machen."

"Ja, ich weiß, das hat er mir gesagt. Ich habe es erst nicht ganz verstanden, aber trotzdem ist mir aufgefallen, daß es ihm in den letzten paar Tagen immer schlechter ging, obwohl er immer so getan hat, als ob es nicht wahr wäre. Er mußte wieder öfter so furchtbar husten, und es hat bestimmt ganz schrecklich wehgetan. Denkst du, es ist dort, wo er hin ist, schon ein bißchen besser geworden?"

"Ich nehme es an." Daß Slim dies eben nicht tat, wollte er bei aller Offenheit dem Jungen nun doch nicht anvertrauen. "Schließlich hat ihn der Arzt deshalb dorthin geschickt. Und Jess schreibt doch auch, daß es ihm gut geht und er sich da unten wohl fühlt."

"Aber du machst dir trotzdem Sorgen", erinnerte Mike hartnäckig.

"Natürlich mache ich mir Sorgen! Die werde ich mir so lange machen, bis Jess wieder daheim ist und ich mit eigenen Augen mich überzeugen kann, daß tatsächlich alles mit ihm in Ordnung ist. Bis dahin – nun ja, bis dahin kann es schon das eine oder andere Mal vorkommen, daß ich halt ein bißchen launisch bin", lenkte Slim dann den Faden vom Gesundheitszustand seines Freundes, den er trotz aller guten Vorsätze nicht gar zu ausführlich mit dem Jungen diskutieren wollte. "Ich meine das bestimmt nicht so ekelhaft, wie es sich anhört. Ich weiß, es ist nicht richtig und ich muß mich dafür auch entschuldigen, aber ich merke leider viel zu spät, daß ich ungerecht bin, bloß weil ich mich nicht ein bißchen mehr zusammenreißen kann. Ich bitte dich, nimm es mir nicht gar so übel. Hör am besten einfach nicht mehr hin, wenn es wieder einmal passiert. Ich weiß, ich verlange viel von dir, und ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt von dir verlangen darf. Meinst du, du kannst mir ein wenig helfen, indem du hin und wieder ein Auge zudrückst?" Mike sah ihn offen an und nickte heftig dabei. "Dann sind wir wieder Freunde?"

"Das waren wir doch immer, oder?"

Ein herzliches Lächeln hellte Slims ernstes Gesicht auf.

"Ja, das sind wir, und das wollen wir auch bleiben – du und Jess und ich …"

"… und Tante Daisy!" ergänzte Mike eifrig, daß es der Rancher sofort bestätigte.

"… und Tante Daisy!"

"Und Charlie?" kam es etwas unsicher.

"Nun, Charlie ist im Grunde nur ein netter, zuverlässiger Bursche, der für uns arbeitet, aber – wenn er hoffentlich länger bleibt – bestimmt bald ein Freund unserer Familie wird. Was denkst du?"

"So wie Mort Cory?"

"So wie Mort Cory."

"Ich denke, wenn Jess wieder da ist, wird er ihn bestimmt auch mögen. Er ist wirklich sehr nett."

"Ja, und er arbeitet auch sehr fleißig. Was meine Einladung betrifft, daß er mit uns im Haus essen kann …"

"Das ist schon in Ordnung", fiel Mike ihm ins Wort. "Er weiß ja jetzt … ich meine, wo er sich nicht hinsetzen soll. Slim, war es sehr falsch, daß ich ihm das sagte?"

"Ein wenig vorlaut war das schon, aber ich glaube, Charlie hat das gar nicht so in den falschen Hals gekriegt wie ich. Wenn du nun gar nicht möchtest, daß er bei uns am Tisch sitzt, dann können wir ruhig darüber reden. Dann werde ich ihm sagen, daß es besser ist, wenn er sich sein Essen in der Küche holt und drüben in der Unterkunft ißt. Er verstünde das und es machte ihm bestimmt nichts aus, weil er es nicht anders gewöhnt ist."

"Nein, er soll nur mit uns im Haus essen, sonst ist er vielleicht traurig, weil er denkt, wir mögen ihn nicht."

"Na gut, dann kann er bleiben, zumindest so lange, bis Jess zurückkommt. Wenn er etwas dagegen hat, wird Charlie natürlich gehen müssen."

"Ich glaube nicht, daß Jess das nicht gefällt."

"Ich auch nicht."

"Wird Charlie jetzt immer für uns arbeiten?"

"Ich hoffe, daß er bleiben kann und will. Er ist sehr fleißig und, was ich bis jetzt beurteilen kann, sehr aufmerksam und zuverlässig. Er ist ein echter Glücksgriff. Ich gehe einmal davon aus, daß Jess es genauso sehen wird, wenn er zurückkommt. Nun, und wenn sich die beiden nicht gerade aus irgendwelchen Gründen spinnefeind sind und Charlie bleiben will, wäre es großartig, wenn er dies auch täte. Im Moment jedenfalls ist Jess froh, daß er hier ist, so wie er schreibt. Weißt du, als ich ihn zur Bahnstation brachte, hat er mir richtig damit in den Ohren gelegen, mich ernsthaft nach einer Hilfe umzusehen. Im Grunde haben wir es ihm zu verdanken, daß Charlie heute hier ist. Wenn Jess nicht so hartnäckig gewesen wäre, hätte ich mich bestimmt nicht am selben Tag darum gekümmert."

"Meinst du, ich sollte mich bei Charlie für mein vorlautes Benehmen entschuldigen?"

"Hm", machte Slim nachdenklich, "das ist eine verdammt gute Frage."

"Aber ich weiß die Antwort nicht. Was meinst du?" wollte Mike ziemlich ratlos wissen.

Es hätte ihm nichts ausgemacht, sich bei dem Mann zu entschuldigen; aber er wußte einfach nicht, ob es überhaupt richtig gewesen wäre. Nicht zuletzt zeigte er mit diesem Ratsuchen bei dem Rancher, daß zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war.

"Ach, weißt du, ich denke das eigentlich nicht. Ihr wart euch ja einig. Charlie hat das ganz gut verstanden. Aber wenn dich dein Gewissen plagt, würde ich an deiner Stelle darauf hören und vielleicht bei passender Gelegenheit noch mal mit ihm darüber reden, so von Mann zu Mann. Schließlich ist er kein übler Kerl. So eine Aussprache würde auf jeden Fall die Fronten klären und ihm zeigen, daß du eigentlich nichts gegen ihn hast. Du kannst es dir ja noch einmal überlegen. Du mußt ja nicht gleich zu ihm gehen; am besten erst dann, wenn du weißt, was du ihm überhaupt sagen willst."

"Das ist eine tolle Idee! Vielen Dank, Slim! Soll ich dir einmal was sagen? Du bist wirklich mein bester Freund – aber erst nach Jess."

"Du hättest mich auch fürchterlich enttäuscht, wenn Jess erst nach mir käme."

Damit war der schiefhängende Haussegen wieder gerade gerückt. Allerdings ließ die Sache mit Charlie Grovner Mike keine Ruhe. Unmittelbar nach seiner klärenden Aussprache mit Slim erschien er im Wohnzimmer, wo Slim und Daisy den Abend bei einem Plausch vor dem Kamin ausklingen lassen wollten.

"Nanu, Mike?" wandte sich die Frau erstaunt zu ihm um, als er mit Jacke die Treppe herunterrannte. "Du willst doch hoffentlich keine Nachtwanderung machen!"

"Nicht direkt." Mike nahm die letzten zwei Stufen auf einmal. "Darf ich noch einmal raus?"

"Sicher", mischte sich Slim ein, obwohl Daisy bereits Luft holte, um etwas einzuwenden, "wenn du nicht gerade einen nächtlichen Spazierritt machen willst – warum nicht?"

"Aber wo willst du denn jetzt noch hin?" war Daisy ganz und gar nicht damit einverstanden.

"Och, ich wollte noch einmal nach Browny sehen und ihm gute Nacht sagen. Vielleicht treffe ich dabei Charlie unterwegs. Dann kann ich ihm auch gleich gute Nacht sagen. Das hat er vorhin vielleicht nicht richtig gehört."

"Gute Idee!" mußte der Rancher beipflichten. "Verriegle aber wieder die Stalltür, wenn du fertig bist bei Browny. Um die Jahreszeit treibt sich in der Nacht viel Raubzeug herum. Deshalb ist es besser, wenn du nicht mehr allzuweit gehst allein."

"Keine Angst!" rief Mike von der Tür. "Ich bleibe auf dem Hof – Ehrenwort!"

Beim letzten Wort öffnete er die Haustür, die hinter ihm geräuschvoll ins Schloß fiel.

"Sagen Sie bloß, Sie billigen das!" beschwerte sich Daisy, als sie mit Slim wieder allein war.

"Aber warum denn nicht? So spät ist es noch nicht. Außerdem ist er schließlich kein kleines Kind mehr."

"Mir scheint, jetzt nehmen Sie Jess' Rat ein wenig zu ernst."

"Woher denn! Man könnte meinen, Sie hätten Angst, jemand von uns könnte nach Einbruch der Dunkelheit gestohlen werden", grinste Slim.

"Das nicht, aber deshalb muß man ja nicht gleich so leichtsinnig werden. Ich habe noch nicht vergessen, was hier sogar am hellichten Tag passiert ist. Auch wenn diese Männer mit Sicherheit keinen Schaden mehr anrichten können, bleibt da einfach ein ungutes Gefühl."

"Sicher! Denken Sie, mir geht es anders? Trotzdem – ich kann niemanden deshalb im Haus anbinden – auch den Jungen nicht. Wenn es soweit kommen sollte, daß wir uns nicht einmal mehr vor die eigene Haustür trauen dürften … Das hat mit Leichtsinn nichts zu tun. Außerdem glaube ich, daß Mike heute noch etwas zu erledigen hat."

"Bei Charlie?"

"Ja, anscheinend bedrückt es ihn, daß er ihm heute abend bei Tisch so eine rigorose Abfuhr erteilt hat. Jetzt will er mit ihm bestimmt eine Friedenspfeife rauchen."

Daisy riß die Augen auf.

"Rauchen?" entrüstete sie sich.

"Selbstverständlich nur bildlich gesehen", grinste Slim, amüsiert über ihr Entsetzen, Mike könnte tatsächlich seine erste Bekanntschaft mit Tabaksqualm machen.

"Na, hoffentlich!" Immer noch ein wenig fassungslos schüttelte sie den Kopf. "Um ganz ehrlich zu sein, überraschen Sie mich heute abend."

"Inwiefern denn?"

"Sie fallen von einem Extrem ins andere. Bald wird Mike überhaupt nicht mehr wissen, woran er mit Ihnen ist. Erst zeigen Sie ihm die Peitsche, gleich darauf halten Sie ihm den Honigtopf hin. Es wäre vielleicht besser, da etwas mehr zu differenzieren."

"Ich halte mich nur an Jess' Rat, der in der Tat ein ausgezeichneter ist, wenn man versucht, ihn möglichst konsequent zu befolgen. Seit ich das erkannt habe, verstehen wir uns – ich meine, Mike und ich – wieder prächtig. Sie sollten nicht so streng sein mit uns beiden."

"Wie bitte? Dabei war ich doch diejenige …", wollte sie sich schon empören, brach jedoch ab. Ihr Gesicht hellte sich auf, machte einem warmherzigen Lächeln Platz. "Ach, was rede ich da! Natürlich haben Sie recht. Der Junge ist ja tatsächlich kein kleines Kind mehr und Sie auch nicht. Sie werden schon wissen, was Sie tun."

"Jetzt haben Sie es eingesehen." Mit einem liebevollen Schmunzeln legte er seine Rechte auf ihre Hand auf der Sessellehne und drückte sie herzlich. "Hätte mich auch gewundert."

"Ach, Sie! Jetzt tun Sie genauso scheinheilig wie Jess, wenn ich ihn in meiner Küche mit dem Finger im Topf erwische. Richtige Mannsbilder! Ich bin Gott dankbar dafür, daß ich auf meine alten Tage eine solche Familie finden durfte." Mit einem Schlag wurde sie sehr ernst, fast sogar traurig. "Ich bete jeden Tag zu ihm, daß diese Familie nicht auseinandergerissen wird. Es wäre furchtbar, wenn … Slim, es wäre das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, wenn … wenn wir Jess auf diese Art verlieren müßten."

"Machen Sie sich nicht so viele Sorgen, Daisy."

"Tun Sie nicht so! Ich weiß genau, daß Sie sich auch welche machen. Hin und wieder geben Sie das sogar zu. Und wenn nicht … Woher kommen denn sonst Ihre zuweilen miesepetrigen Launen? Sagen Sie jetzt bloß nicht, vom Wetter!"

"Nein, natürlich nicht!" Jetzt wich er ihrem herausfordernden Blick aus. Auch seine Stimme klang ernster. "Und natürlich haben Sie recht", gab er aufatmend zu. "Ich mache mir sogar sehr große Sorgen. Das kann ich nicht leugnen. Bei mir ist es nur noch mehr als nur Sorge. Es … es ist dieses furchtbare Schuldgefühl, das ich einfach nicht los werde. Daisy, glauben Sie mir, ich würde wirklich … Schon allein Jess zuliebe täte ich nichts lieber, als es einfach abzulegen wie ein schmutziges Hemd. Aber der Dreck ist bis zur Haut durchgegangen, durch die Poren gedrungen, daß er sich nicht mehr abwaschen läßt. Ich habe das Gefühl, es vergiftet mich. Ich kann mich nicht damit abfinden, daß es damals keine Alternative gegeben haben soll. Ich kann es einfach nicht! Je mehr ich es versuche, desto stärker wird es."

Nun war Daisy diejenige, die ihre Hand in mitfühlender Teilnahme auf seinen Unterarm legte. Obwohl sie über dieses Thema schon so oft diskutiert hatten und immer noch geteilter Meinung waren, spürte sie, daß er gerade in diesen endlosen Debatten eine Art Hilfe suchte. Offensichtlich fing er nur deshalb ständig von neuem davon an, in der Hoffnung, früher oder später doch noch eine akzeptable Lösung für sich zu finden, eine plausible Entschuldigung für sein Versagen, für das sein bester Freund büßen mußte.

Dieser festen Ansicht war Slim nach wie vor. Sein Gewissen sah es unumstößlich als Verrat an ihrer Freundschaft, an ihrem Vertrauen, sich in heiklen Situationen blindlings aufeinander verlassen zu können. Da konnte ihm selbst Jess tausendmal etwas anderes versichern! Von diesem Vergehen war er seiner Meinung nach nicht freizusprechen. Daß er erst recht im nachhinein nichts ändern, nichts ungeschehen machen konnte, war das schwächste Argument, das ihn nur noch mehr belastete.

"Trotzdem müssen Sie versuchen, darüber hinwegzukommen. Sie tun sich und uns allen keinen Gefallen damit, indem Sie sich ständig damit quälen. Das wissen Sie genau!"

"Ja, ich weiß. Es tut mir auch leid, daß ich Ihnen damit schon wieder die Ohren voll jammre, aber manchmal kommt es einfach über mich. Da muß ich es loswerden. Es ist … wie Wechselfieber, das regelmäßig aus heiterem Himmel kommt und geht. Man kann nichts dagegen tun. Entweder heilt es von alleine oder überhaupt nicht. Vielleicht – das heißt, ich hoffe es! – wird es besser, wenn Jess gesund zurückkommt. Allerdings weiß ich nicht, wie es sich entwickeln wird, wenn er … Daisy, ich fürchte, dann zerfrißt es mich."

"Hoffentlich nicht – sowohl in Ihrem als auch in Jess' Interesse!"

"Ja, mehr noch in seinem!"

Fortsetzung folgt