KAPITEL 37

Gegen Mittag des folgenden Tages erreichte Slim Colorado Springs. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um Tylers Telegramm und den schwer erkrankten Freund, von dem er nicht wußte, ob er überhaupt noch lebte, daß er während der langen Fahrt sogar kaum in der Lage war, ein Auge zuzumachen.

Jetzt stampfte Slim zielstrebig in den Ort, der ihn sehr an Laramie vor etwa zehn, zwölf Jahren erinnerte, als die Stadt oder das, was sie damals war, in bescheidenen Anfängen steckte und keiner wußte, ob sie jemals das Zeltplanendasein überdauerte oder gleich wieder starb, ehe sie zu anständigem Leben erwachte. Wieso ein Professor Tyler sich ausgerechnet diesen häßlichen Ort ausgesucht hatte, entzog sich Slims Kenntnis.

Immerhin befanden sich im Ortsinneren ein paar feste Gebäude, in denen überwiegend die Büros der umliegenden Bergwerksgesellschaften untergebracht waren, eine Bank, ein paar Geschäfte, jede Menge Kneipen, sogar ein Sheriffbüro mit einem Gefängnisanbau aus grob gehauenen Steinquadern, eine Holzkirche und ein paar hübsche Wohnhäuser, die sich am Ortsende einen Hügel hinaufschmiegten mit atemberaubender Aussicht auf die umliegenden Berge, anscheinend die mehr oder weniger herrschaftlichen Domizile der Manager einiger Kohle- und Erzminen.

Das einzige Gebäude, das im Moment Slims Interesse weckte, war der Mietstall, der sich ebenfalls mitten im Ort befand. Hier konnte er sich nicht nur ein Fortbewegungsmittel organisieren, sondern sich gleich erkundigen, wo sein Endziel lag. Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, daß sich Tylers Privatsanatorium inmitten dieses Sammelsuriums aus Baracken, Zelten und mehr oder weniger stabil gebauten Häusern befand, zwischen denen sich auf miserablen Gassen der Unrat türmte und sich Heerscharen von Ratten und Ungeziefer tummelten.

Dieses Colorado Springs machte auf Slim keinen einladenden Eindruck. Dagegen überraschte ihn der Mietstallbesitzer mit angenehmer Freundlichkeit, als er ihn fragte, wie er denn am schnellsten und einfachsten ans Ziel käme. Der Mietstallbesitzer wollte schon nach hinten, um eines der Mietpferde für seinen Kunden zu holen, als seine Aufmerksamkeit von einem vorbeifahrenden Fuhrwerk nach draußen durch das offene Schiebetor gelenkt wurde.

"Den Ritt können Sie sich vielleicht sparen. Da kommt gerade Olaf. Wird sicher noch die Post holen wollen. Der kann Sie mitnehmen. Olaf arbeitet bei Professor Tyler." Der freundliche Mietstallbesitzer ging mit Slim vor die Tür, wo er hinter dem Wagen her deutete, der ein Stück weiter die Straße entlang vor der Poststation hielt. "Der junge Mann dort. Er ist sehr nett und hilfsbereit. Sind sie eigentlich alle, die beim Professor beschäftigt sind. Wenn Sie Olaf fragen, wird er gewiß nicht nein sagen."

"Vielen Dank."

Slim verabschiedete sich, um die paar Schritte zur Poststation zu gehen, in der Olaf gerade verschwunden war. Soviel stand jedenfalls fest für ihn: so trostlos dieser Ort wirkte – die Leute schienen freundlicher zu sein, als die Fassaden, hinter denen sie hausten.

Er wartete vor der Station bei dem Wagen, der mit Säcken und Kisten beladen war. Offensichtlich hatte sein Fahrer Vorratseinkäufe getätigt. Keine zwei Minuten später trat Olaf aus der Tür, die eine Hand voller Post, die er mit der anderen oberflächlich durchblätterte, ob etwas besonders Eiliges dabei wäre; das wollte er gleich obenauflegen. Aber auf den ersten Blick schien heute nichts auffallend Wichtiges dabei zu sein. Noch während er in den Inhalt seiner Linken vertieft war, merkte er, wie ein Schatten auf ihn fiel.

"Olaf …?" sprach Slim ihn verhalten an, daß der junge Mann überrascht den Kopf hob.

"Ja?" kam es ein wenig verwirrt, denn der Angesprochene konnte sich nicht erinnern, diesen Fremden da vor sich zu kennen.

"Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so überfalle, aber der Mietstallbesitzer meinte, Sie könnten mich mitnehmen."

"Mitnehmen?" vergewisserte er sich, und zwischen seinen strahlend blauen Augen erschien eine steile Furche. "Ich wüßte nicht …"

"Sie müssen nochmals entschuldigen! Sie können ja nicht wissen …" Slim hatte in der Hektik völlig vergessen, sich vorzustellen. "Mein Name ist Sherman – aus Laramie."

"Sie sind Mr. Sherman?" Sofort hellte sich Olafs Gesicht auf und er bot Slim freudig überrascht die Rechte zum Gruß.

Slim nickte nur und erwiderte den kräftigen Händedruck.

"Freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Jess hat immer von Ihnen gesprochen wie von einem Bruder."

Das Stichwort war gefallen. Der Rancher konnte sich nicht mehr länger beherrschen.

"Wie geht es ihm?" wollte er wissen, schien sich vor der Antwort allerdings zu fürchten.

"Nicht gut. Professor Tyler wird froh sein, daß Sie so schnell kommen konnten. Wir sollten uns beeilen. Bitte steigen Sie auf!" Olaf bestieg den Bock und wartete, bis Slim um den Wagen herum gegangen war und ebenfalls hinaufkletterte. "Ich muß noch bei Ben vorbei und ihm Bescheid sagen, daß der Professor heute nicht kommen kann."

"Wer ist Ben?"

"Ben ist Professor Tylers erste Kraft in der Krankenanstalt hier unten." Olaf trieb die Pferde an. "Wissen Sie, es gibt hier keinen richtigen Arzt außer dem Professor, seit im letzten Frühjahr der alte Doc Sconery starb. Ursprünglich war es gar nicht die Absicht von Professor Tyler, hier zu praktizieren. Er wollte nur das Sanatorium aufbauen und sich in Ruhe um seine Forschungen kümmern. Aber ein guter Arzt mit Leib und Seele kann und darf wohl nicht seine Augen verschließen, wenn Menschen Hilfe brauchen. Deshalb betreut er die Leute hier mit, bis sich endlich ein Nachfolger für Doc Sconery gefunden hat. Ein untragbarer Zustand, diese mangelnde medizinische Versorgung in dieser Wildnis! Ben ist nur Krankenpfleger; aber für die Leute hier ist es besser, wenn sie von ihm anstatt vom Barbier oder sonst einem Scharlatan notdürftig behandelt werden."

"Kann ich mir vorstellen."

Olaf hielt den Wagen vor einem Backsteingebäude am Ortsrand, sprang vom Bock und verschwand in dem soliden, zweistöckigen Gebäude, das sowenig in diesen armseligen Ort paßte wie die Tatsache, daß sich ein Professor Tyler ausgerechnet in diese trostlose Gegend des westlichen Grenzlandes am äußersten Ende der Zivilisation verirrt hatte. Es dauerte nicht lange, bis Olaf wieder auftauchte und mit der geschmeidigen Behendigkeit seiner Jugend erneut auf den Wagen kletterte, um ihn zu wenden, im flotten Tempo durch den Ort zurückfuhr und hinter der Bahnstation in den Weg hinauf in den Wald abbog.

Eine ganze Weile saßen die zwei Männer schweigend nebeneinander auf dem Bock, Olaf, weil er eigentlich von Natur aus nicht besonders redselig war und seiner Meinung nach schon viel zuviel geplappert hatte, und Slim, weil sich seine Gedanken fast ausschließlich mit dem beschäftigten, was ihn womöglich in diesem Sanatorium erwartete. Schließlich quälte ihn die Ungewißheit so sehr, daß er es nicht mehr länger aushalten konnte und den Mann neben sich ansprechen mußte, ob er vielleicht etwas Näheres wußte.

"Olaf … Tut mir leid, aber ich weiß leider nicht Ihren Nachnamen."

"Mit dem sollten Sie sich auch nicht belasten. Einfach nur Olaf. Alle nennen mich so."

"Na schön … Olaf. Ich wollte Sie eigentlich nur … Es ist wegen … wegen Jess. Wissen Sie, ob … ich meine, ist er sehr krank?"

"Ich fürchte, ja. Ich kann Ihnen leider nicht viel dazu sagen, aber es muß sehr schlimm sein. Es tut mir so leid, daß er … Wir bedauern es alle … Wir haben ihn alle irgendwie ins Herz geschlossen. Er ist so ein netter Mensch – und ein tapferer Kämpfer. Er hat sich nie viel anmerken lassen."

"Ist er schon lange so krank?"

"Schon ein ganze Weile, aber gestern morgen muß es beinahe zu Ende gewesen sein. Da hat mich Professor Tyler gebeten, Ihnen das Telegramm zu schicken." Olaf schielte zu ihm hinüber. Slim brütete vor sich hin, als schien er Olafs Anwesenheit völlig vergessen zu haben. "Er muß wirklich ein sehr guter Freund von Ihnen sein, nicht wahr?" sprach er ihn deshalb direkt an, um ihm eine Äußerung zu entlocken.

"Ja, das ist er, mein allerbester sogar! Und das schon seit sehr langer Zeit!"

"Das merkt man, sonst würden Sie sich nicht solche Sorgen machen."

"Sieht man das?"

"Sie wollen es doch nicht etwa abstreiten?"

"Nein", brummte Slim vor sich hin. "Wozu auch? Ich hoffe nur, daß ich nicht … nicht zu spät komme. Ist es noch sehr weit?"

"Wir sind gleich da."

Die nächsten paar Minuten, die Slim wieder in tiefes Schweigen fiel, erschienen ihm wie unendliche Stunden, bis schließlich das doppelstöckige Haus mit den großen Fenstern und den luftigen Balkonen vor ihnen auftauchte. Olaf fuhr direkt vor den Haupteingang. Mit einem äußerst unbehaglichen Gefühl folgte Slim dem jungen Mann über den Treppenaufgang zur Tür. Olaf öffnete sie und ließ Slim vor sich eintreten. Schon auf dem Flur begrüßte ihn Professor Tyler, als hätte er sehnsüchtig auf den Mann aus Laramie gewartet.

"Herzlich willkommen. Ich bin froh, daß Sie so schnell kommen konnten", sagte er sichtlich erleichtert. "Demnach haben Sie also mein Telegramm erhalten."

"Ja, aber da war ich eigentlich schon so gut wie unterwegs."

"Ach? Hat George etwa … Ich dachte, Jess wollte das nicht."

"Ich hatte schon längere Zeit ein ungutes Gefühl. Nach seinem letzten Brief begann ich mir noch mehr Sorgen zu machen."

"Hatte er irgend etwas angedeutet?"

"Nicht direkt, aber er hat mir auf seine Art mitgeteilt, daß etwas nicht in Ordnung ist und er mich braucht. Ich habe es nur nicht gleich verstanden, sonst wäre ich schon unterwegs gewesen, als Ihr Telegramm kam. Professor, bitte, was ist mit ihm?"

"Ihr Freund liegt im Sterben", sagte er klipp und klar, wie die Dinge standen. "Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich gebe ihm keine zwölf Stunden mehr. Ich bin sehr froh, daß Sie noch rechtzeitig gekommen sind. Es ist besser, wenn Sie jetzt bei ihm sind."

"Kann … kann ich gleich zu ihm?" würgte Slim mühsam hervor, während die Kugel in seiner Brusttasche Weißglut erreichte.

"Ich möchte Sie nur vorbereiten auf das, was Sie da oben erwartet."

"Vorbereiten?"

"Ja, es ist nämlich kein schöner Anblick."

"Schöner Anblick?" wiederholte er mit zitternder Stimme, einen gewissen Vorwurf nicht zu verbergen suchend. "Jess ist mein bester Freund. Was kümmert mich da ein oder kein schöner Anblick?"

"Ich wollte es nur gesagt haben."

Slim mußte sich sehr zusammennehmen, um die Fassung nicht zu verlieren, was sich auch auf seine Geduld bezog.

"Sie haben es mir gesagt, und jetzt möchte ich bitte zu ihm!"

"Er ist ohne Bewußtsein."

"Ich möchte trotzdem zu ihm!"

"Natürlich!" Tyler nickte verständnisvoll und beschwichtigend zugleich. "Bitte kommen Sie!"

Slim stieg mit ihm die breite Treppe hoch, wobei es schien, als müßte er sich am Handlauf hochziehen, weil ihm seine Beine nicht recht gehorchen wollten und seine Knie weich zu werden drohten. Die unumstößliche Endgültigkeit, mit der Tyler die Lage ohne Umschweife geschildert hatte, kam ihm erst nach und nach voll zu Bewußtsein, mit jeder Stufe etwas mehr, bis er erschauderte und ihn das Bedürfnis überfiel, sich vor Entsetzen zu schütteln wie unter einem plötzlichen Schüttelfrost. Oben auf dem langen Flur blieb er drei Schritte zurück. Mit einem Mal hatte er panische Angst vor dem, was ihn erwartete, nicht vor irgendeinem unschönen Anblick, sondern vor der Tatsache, seinen Freund sterbend vorzufinden.

Tyler öffnete eine Tür auf dem breiten Gang, ließ ihn an sich vorbeigehen und eintreten. Slim getraute sich jedoch nicht weiter als bis zwei Schritte hinter die Tür. Obwohl der weitläufige Raum von einer blassen Wintersonne hell erleuchtet war, machte er auf ihn einen düsteren Eindruck, woran weder die Einrichtung noch die in freundlichem Weiß getünchten Wände schuld waren. Ein drohender Schatten schien das Tageslicht zu verdunkeln. Sofort spürte Slim die Anwesenheit des Todes, so deutlich, als wäre er ihm leibhaftig erschienen.

Eine lähmende Unbehaglichkeit machte sich in ihm breit. Er stand da, wie angewurzelt, während er sich beinahe scheu umschaute. Sein Blick blieb auf einem hohen Wandschirm haften, der die Sicht auf einen Großteil des Raumes verwehrte. Seine Augen brannten förmlich ein Loch in die Bespannung. Als Tyler ihn ansprach, fühlte er sich regelrecht ertappt, ohne genau zu wissen, wessen er sich schuldig fühlen sollte oder ob es überhaupt etwas gab, weswegen er ein schlechtes Gewissen haben müßte.

"Bitte zuerst da hinein", hörte er Tyler wie aus weiter Ferne sagen und spürte seine Hand auf seinem Rücken. "Ich lege besonderen Wert auf ein gewisses Maß an Hygiene, vor allem, wenn jemand sowenig Abwehrkräfte besitzt wie Ihr Freund." Als Slim ihn nur verwirrt anstarrte, fügte er erklärend hinzu: "Wir sollten uns zuerst die Hände waschen."

"Natürlich!" Slim warf einen letzten Blick auf den Wandschirm, ehe er Tyler in das großzügige, sehr komfortable Badezimmer folgte, wie er es nicht einmal aus den besten Hotels kannte. "Zu Hause legt Daisy auch immer großen Wert darauf", sagte er, nur um sich von seiner brennenden Ungeduld abzulenken.

"Das ist Ihre Haushälterin, nicht wahr?"

"Sie ist eigentlich mehr als das. Daisy ist Teil unserer Familie."

"Ich verstehe." Tyler überließ dem Rancher Waschbecken und Seife, während er sich die Hände trocknete. "Genauso hat Jess von ihr gesprochen. Er sagte, er verdanke es zum Großteil ihrer guten Pflege, daß er überhaupt noch lebt."

"Daisy ist ausgebildete Krankenschwester. Ihr Mann war Arzt, Chirurg. Sie haben beide während des Krieges in einem Lazarett gearbeitet."

"Verstehe", sagte Tyler abermals und reichte Slim das Handtuch. "Wenn Sie dann soweit sind, folgen Sie mir bitte!"

Sie kamen zurück in den großen, hellen Raum, wo Slim trotz aller Ungeduld nur zögernd dem Professor hinter den Wandschirm folgte. Hier war George mit etwas beschäftigt, das sich erst bei näherem Hinsehen als lebender menschlicher Körper in einem Bett entpuppte und nicht als ein zur Totenwache aufgebahrter Leichnam. Slim, der wieder zwei Schritte hinter Tyler zurückgeblieben war, konnte zunächst nur einen Berg von Kissen, Decken und eisbepackten Wickeln erkennen, weil ihm der stattliche Mann vor ihm die Sicht auf alles Weitere versperrte.

"George, wir haben Besuch bekommen. Das ist Mr. Sherman", machte der Professor seinen Assistenten aufmerksam, trat etwas zur Seite, um Slim vorbeizulassen. "George war die ganze Zeit bei ihm", fügte er, an den Rancher gewandt, erklärend hinzu.

"Mr. Sherman", sagte George nur zur Begrüßung, zwar um ein freundliches Gesicht bemüht, aber sein dürftiges Lächeln fiel sehr ernst aus.

Slim nickte nur kaum merklich, stumm, unfähig, einen Laut von sich zu geben, mit zusammengepreßten Lippen und mahlendem Unterkiefer. Daß er ihn nicht weiter beachtete, sollte gewiß keine Geringschätzung sein – was George in diesem Augenblick auch nicht so verstand –; aber jetzt, da Tyler nicht mehr zwischen ihm und dem Krankenlager stand, gewahrte Slim zwischen all den Kissen und weißen Laken den Kopf eines Mannes, ein aschgraues, eingefallenes Gesicht, das nur aus tief verschatteten Augenhöhlen, hervorstehenden Wangenknochen, spitzem Kinn und einer viel zu großen Nase zu bestehen schien, die Stirn teilweise bedeckt von dunklen, naßglänzenden Strähnen schweißverklebter Haare. Nur mit äußerster Mühe konnte er das befremdlich, ja, gespenstisch wirkende Antlitz als das seines langjährigen Freundes und Partners erkennen.

"O Gott!" würgte er hervor, merkte, wie sein Kopf blutleer zu werden und ihm zu schwindeln drohte.

Der Magen wollte sich ihm umdrehen, nicht weil er zartbesaitet war und dieser Anblick für einen nahestehenden Angehörigen wirklich entsetzlich war, sondern weil es ausgerechnet Jess sein mußte, der da lag und sie alle lehrte, was ein Mensch imstande war auszuhalten.

"Ich weiß, es muß furchtbar sein, so etwas zu sehen, wenn man jemanden sehr gern hat und er einem soviel bedeutet", bemerkte Tyler, weil er nicht wußte, was er sonst sagen sollte.

Slim schluckte. Darauf konnte er nichts erwidern. Er starrte nur den sterbenden Freund an, mit glasigen Augen, die seine schwindende Beherrschung verrieten.

"Sind … sind Sie sicher, daß … daß er noch … lebt?" stotterte er krächzend eine Frage zusammen, während die Kugel in seiner Brusttasche den Siedepunkt zu erreichen schien.

"Gewiß doch."

"Wie … wie lange liegt er schon so da?"

"Seit gestern früh ist er ohne Besinnung. Ich fürchte, er wird auch nicht mehr zu sich kommen. Für ihn ist es wahrscheinlich besser so."

"Das heißt, daß er viel leiden muß, nicht wahr?" Die zu flüssigem Blei geschmolzene Kugel bereitete ihm unvorstellbare Höllenqualen. Er hatte das Gefühl zu ersticken. "Nicht wahr?" bohrte er mit Nachdruck, um sicher zu sein, daß Tyler seine Frage in gutgemeinter Absicht nicht überhört hatte. Daß er so ungehalten über Tylers Schweigen reagierte, konnte ihm niemand nachtragen, zudem er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie der Professor mit seinem Assistenten ein paar vielsagende Blicke wechselte.

"George mußte ihm versprechen, Ihnen nichts zu sagen", rückte Tyler zunächst nur vorsichtig mit der Sprache heraus, worauf er einen scharfen, mißbilligenden Blick des Ranchers erntete, während George sich intensiver mit dem Patienten zu beschäftigen begann und das aufkommende schlechte Gewissen damit beruhigte, indem er einfach so tat, als wären die zwei Männer nicht anwesend. "Nun gut, zum Glück oder wie auch immer, brauchte ich ihm dieses Versprechen nicht zu geben. Deshalb darf ich auch offen zu Ihnen sein."

"Bitte reden Sie nicht so lange um den heißen Brei!"

"In der Beziehung ähneln Sie beide sich sehr."

"Kommen Sie zur Sache!"

"Ihr Freund … er hat Furchtbares durchgemacht, entsetzliche Schmerzen und Erstickungsanfälle, schreckliche Krämpfe und Fieberdelirien. Letzte Nacht hätten wir ihn erneut um ein Haar verloren."

"Erneut?" schluckte Slim; ihm war speiübel.

"Ja, das erste Mal gestern morgen. Ich versuche mit Digitalis, Kampfer, Äther und einem halben Dutzend anderer Drogen sein völlig überfordertes Herz zu unterstützen. Ich kann die Dosen nicht beliebig erhöhen, wenn ich ihn damit nicht vergiften will. Sein Herz wird der enormen zusätzlichen Belastung durch das hohe Fieber nicht mehr lange gewachsen sein. Wenn er ansonsten organisch nicht so gesund wäre, lebte er schon längst nicht mehr."

"So etwas hat Doc Higgins auch einmal erwähnt. Ich wünschte nur, er müßte nicht mehr soviel leiden. Muß … muß er noch sehr große Schmerzen aushalten?"

"Nicht in seinem momentanen Zustand, den ich als empfindungsloses Dahindämmern bezeichnen möchte. Tut mir leid, wenn ich das so häßlich sage, aber ich will Sie nicht mit medizinischen Vokabeln und lateinischen Fremdwörtern im unklaren lassen. Obwohl er wollte, daß Sie es nicht erfahren, bin ich der Meinung, daß Sie als sein bester Freund ein Recht darauf haben. Solange er seinen Körper einigermaßen unter Kontrolle hatte, hat er sich nie viel anmerken lassen. Wenn die Schmerzen so schlimm wurden, daß er sie nicht mehr verbergen konnte, hat er sich regelrecht dafür geschämt. Er hat nie nach einem Analgetikum verlangt. Ich meine, nach einem Schmerzmittel", erklärte er auf Slims düsteren, fragenden Gesichtsausdruck hin. "Erst als seine Quälerei seinen ohnehin schon schwächlichen Zustand zu sehr zu belasten begann, hat er eine entsprechende Behandlung akzeptiert."

"Ja, ich weiß", nickte Slim schwer. "Er hat etwas gegen diese Mittelchen. Er hatte immer Angst davor, sich zu sehr daran zu gewöhnen oder daß sie sein Gehirn benebeln könnten."

"Was bei seinem starken Willen nur eine untergeordnete Rolle spielt. In den letzten Tagen mußten wir ihm immer stärkere Medikamente gegen seine Schmerzen geben. Trotzdem war er völlig klar bei Verstand bis zu dem Moment, als er besinnungslos wurde. Daran hat auch das mittlerweile lebensbedrohlich gewordene Fieber nichts geändert. Was dieser Mann bisher ausgehalten hat, ist unglaublich."

"Ja, und das schon seit Monaten!" Unwillkürlich mußte Slim daran denken, wie alles begonnen hatte. "Und das alles, bloß um am Ende auf der Strecke zu bleiben. Warum mußte er das alles nur durchmachen, wenn letztendlich doch alles umsonst war? Er wußte, daß es sinnlos war, hierherzukommen. Trotzdem hat er es getan – für uns hat er es getan, weil er wußte, was ihn erwartete und er es uns ersparen wollte. Jetzt weiß ich, daß er das um so mehr beabsichtigte, je mehr er es zu leugnen versuchte. Er war ständig zwischen Kampf und Aufgabe hin und her gerissen. Zuletzt wollte er nur noch kämpfen."

"Das hat er auch getan, und er tut es noch."

"Dabei hat er mehr vom Tod als vom Leben geredet. Jetzt kann ich ihn verstehen, warum er insgeheim vorm Leben mehr Angst hatte als vorm Tod. Ich frage mich nur, warum es nicht einfach zu Ende sein kann, warum er sich noch so quälen muß."

"Sie wollen ihn einfach aufgeben?" war Tyler ein wenig enttäuscht über Slims Worte.

"Aufgeben?" vergewisserte sich dieser in nadelspitzem Ton. "Meinen besten Freund aufgeben? Eher würde ich mich selber aufgeben als ihn!"

"Es hat sich fast so angehört."

"Was denken Sie, weshalb ich hier bin? Um ihn aufzugeben? Diesen Menschen werde ich nie aufgeben! Und wenn er selbst keine Kraft mehr hat zum Kämpfen, dann werde ich versuchen, den Teufel von ihm fernzuhalten. Und ich werde noch nicht einmal dann aufhören, wenn es alle anderen schon längst getan haben."

"Ich weiß, daß es schwer für … einen Angehörigen ist zu akzeptieren, was nicht mehr zu ändern ist, aber es ist meine Pflicht, Ihnen die Dinge so zu schildern, wie sie sind. Ich kann für Ihren Freund nichts mehr tun. Ich kann ihm nur noch im Rahmen meiner medizinischen Kenntnisse das Sterben so leicht wie möglich machen, ohne dabei den Eid verletzen zu müssen, den ich geleistet habe. Das heißt, ich werde versuchen, sein Leben so lange zu erhalten, wie es mir irgendwie möglich ist. Aber ich bin nicht der liebe Gott. Nur er ist imstande, diese Quälerei zu beenden auf die eine oder andere Art. Und so, wie es im Moment aussieht, hat er sich bereits entschieden. Wie ich Ihnen bereits sagte, es wird nicht mehr lange dauern."

"Das sagte auch Doc Higgins, unmittelbar nachdem es passierte, und irrte sich. Woher soll ich wissen, daß Sie sich nicht auch irren? Auf der einen Seite soll ich Jess nicht aufgeben; auf der anderen Seite jedoch soll ich auch nicht hoffen dürfen. Ist das nicht ein bißchen zuviel verlangt?"

"Sie haben mich falsch verstanden."

"Ach?"

"Ich möchte nicht, daß Sie sich in etwas hineinsteigern, das Ihnen die Möglichkeit zur Hoffnung nimmt. Ich bin Wissenschaftler, Mr. Sherman, aber trotzdem weiß ich, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man manchmal weder mit Wissenschaft noch mit Logik erklären kann. Daß dieser Mann", er nickte in Richtung des Krankenlagers, "überhaupt noch lebt, ist so etwas. Ich weiß nicht, was ihn am Leben hält, jedenfalls nicht allein die Medikamente, die ich ihm gebe, oder die gute Pflege, die er hier erhält; weder sein starker Wille noch seine Zähigkeit, auch nicht die Widerstandskraft seines ansonsten abgehärteten, organisch völlig gesunden Körpers. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, ab einem gewissen Grad die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind. Auch die Wissenschaft stößt zuweilen an Grenzen, die sie nicht zu öffnen vermag. Mein Glaube an Gott, meine Ehrfurcht vor seiner Macht und Schöpfung verbieten es mir sogar, es zu versuchen. Und ich werde es auch nicht auf Kosten eines Menschenlebens tun. Deshalb habe ich Sie benachrichtigen lassen und habe gehofft, daß Sie noch rechtzeitig kommen, ehe es mit Ihrem Freund zu Ende ist, obwohl ich wußte, daß es sein ausdrücklicher Wunsch war, Sie erst kommen zu lassen, wenn alles vorbei ist. Ich kann ihm nicht mehr helfen, und auch Sie können nichts für ihn tun. Aber ich weiß, daß er Sie braucht. Und Sie wissen es auch, sonst wären Sie noch nicht hier."

"Ja", murmelte Slim mit trockener Kehle, "dabei wird er es wahrscheinlich nicht einmal mehr erfahren, daß ich doch noch bei ihm war."

"Wer weiß, vielleicht weiß er es schon längst."

Slim hob rasch den Kopf. Verständnisloser konnte man kaum dreinblicken.

"Ich denke, er ist bewußtlos."

"Sicher ist er das. Aber der Tod ist oft von seltsamen Phänomenen begleitet, die eindeutig hinter diesen ewig verschlossen bleibenden Grenzen liegen. George kann ihm zwar die erdenklich beste Pflege zukommen lassen, aber nur Sie können ihm die Hilfe geben, die er jetzt braucht. Ich nehme nicht an, daß Sie sein furchtbarer Anblick dermaßen abstößt, um nicht bei ihm bleiben zu können."

"Wie bitte?" Slim dachte, er hätte sich verhört.

"Nichts für ungut!" lenkte Tyler sofort ein. Diesmal hätte er beinahe zu tief ins Fettnäpfchen getreten. "Ich hätte mir das auch nicht vorstellen können."

"Er hat mich im ersten Augenblick erschreckt, wenn Sie das meinen", akzeptierte Slim überraschend schnell die angebotene Friedenspfeife. Am Sterbebett seines Freundes wollte er sich mit niemandem überwerfen, schon gar nicht mit jemandem, der sein Bestes tat. Daß die Verfassung seiner Nerven schon einmal eine bessere war, beruhte schließlich nicht auf einem Fehler oder einer Unzulänglichkeit Professor Tylers, sondern lag an den gegenwärtigen Umständen. "Weil ich mit einigem gerechnet habe, aber nicht damit. Als er damals, nachdem es passierte, so kurz vor der Hölle stand, hat er zwar auch schlimm genug ausgesehen, aber nicht so wie jetzt. Er ist …" Slim schluckte. "… ja nur noch Haut und Knochen", vollendete er mühsam den Satz.

"Sie dürfen nicht vergessen, daß sein Körper von der lang anhaltenden Krankheit völlig ausgezehrt ist. So etwas hinterläßt Spuren. Sie können sich ruhig zu ihm setzen. Es ist nicht ansteckend."

Jetzt hätte Slim doch beinahe seine guten Vorsätze vergessen, in der Nähe des sterbenden Freundes keine Streitereien und unüberlegten Zwistigkeiten aufkommen zu lassen. Diesmal fehlte wirklich nicht mehr viel, und er wäre aus der Haut gefahren, auch wenn er es einen Atemzug später bereut hätte. Statt dessen holte er tief Luft, ließ seine Entrüstung über diese Bemerkung jedoch nicht ganz seiner Beherrschung zum Opfer fallen. Seine Gereiztheit schwang in jedem seiner Worte mit.

"Soll ich Ihnen etwas sagen? Das interessiert mich einen feuchten Kehricht! Selbst wenn es das wäre, würden weder Sie noch sonst jemand es schaffen, mich von ihm fernzuhalten."

Tyler nickte entschuldigend, obwohl er keine Veranlassung dafür sah. Aber die Situation verlangte nach Verständnis und Nachsichtigkeit.

"Sie sind sich wirklich sehr ähnlich", stellte er mit einer gewissen Bewunderung fest. "Zumindest in gewisser Hinsicht."

"Die wäre?" brummte Slim.

"In der Art, zueinander zu stehen. Sie müssen ihn wirklich sehr gern haben."

"Ich kann mir nicht vorstellen, daß mir ein Bruder – hätte ich einen – mehr bedeuten könnte, wenn Sie das meinen."

"Genau das meinte ich."

Das zuweilen unbeabsichtigt heftige Gespräch mit Professor Tyler hatte Slim etwas vom eigentlichen Grund seines Hierseins abgelenkt. Dieser war jedoch sofort wieder präsent, als er neben dem Bett saß und George zunächst stumm dabei beobachtete, wie er seine Arbeit tat, nachdem Tyler nach einem kurzen Vergewissern, daß er den Patienten weiterhin seinem Assistenten überlassen konnte, aus dem Raum gegangen war.

"Tut mir leid, daß ich Sie noch nicht richtig begrüßt habe", sagte er über das Bett hinweg. "Aber ich …"

"Ist schon in Ordnung", erwiderte George in seiner ruhigen, verständnisvollen Art. Für eine Entschuldigung sah er nicht die geringste Notwendigkeit.

"Sie waren die ganze Zeit bei ihm, sagte der Professor."

"Ja, zuerst war ich sein Betreuer, und jetzt bin ich sein Pfleger. Ich möchte fast sagen, zwischen uns hat sich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt." George verzog das Gesicht zu einem wehmütigen Lächeln. "Natürlich nicht so eine wie zwischen Ihnen beiden, aber ich bin doch in gewisser Weise zu seinem Vertrauten geworden."

"Ich weiß, sonst hätte er Ihnen nicht seine Briefe diktiert."

"Mr. Sherman, ich muß Ihnen da etwas gestehen, wegen der Briefe, eigentlich hauptsächlich wegen des letzten. Ich nehme an, Sie haben ihn bereits erhalten."

"Ja, ich weiß Bescheid."

"Sie wissen Bescheid?"

"Ja, Sie haben ihn geschrieben."

"Ich meine nicht nur geschrieben, ich … ich habe ihn auch verfaßt", hatte George das unwiderstehliche Bedürfnis, sein vermeintlich schlechtes Gewissen entlasten zu müssen, weil er es als so etwas wie einen Vertrauensbruch gegenüber dem Rancher sah.

"Ich weiß."

"Sie wissen …"

"Natürlich, oder denken Sie, ich würde ihn so schlecht kennen, um das nicht zu merken?"

"Nein, es wunderte mich nur, wieso er ausdrücklich darauf bestanden hat, diesen Brief für ihn zu schreiben. Sicher, er war zu diesem Zeitpunkt schon sehr krank, aber trotzdem hielt ich es für eine Unehrlichkeit, die ich mit seiner sonstigen Aufrichtigkeit nicht in Einklang bringen konnte. Er muß Sie damit doch fürchterlich verletzt haben."

"Nein, er wußte genau, was er tat. Er wollte mir mitteilen, daß etwas nicht in Ordnung ist, ohne daß es außer mir jemand bemerkt. Genau das hat er erreicht. Ich brauchte zwar einige Zeit, um mir sicher zu sein; aber als das Telegramm von Professor Tyler eintraf, hatte ich bereits vor, mit derselben Kutsche die Ranch zu verlassen, die es brachte."

"Und ich dummer Kerl dachte, er hätte seinem besten Freund nicht mehr zu hinterlassen als eine Lüge in Form eines banalen Briefes, den er nicht einmal selbst geschrieben hat. Dafür muß ich mich schämen. Ich hatte sogar angenommen, er wäre zeitweise nicht mehr bei Verstand. Bitte verzeihen Sie mir, daß ich so etwas …"

"Lassen Sie sich deshalb bitte keine grauen Haare wachsen! Wir kennen uns schon sehr lange und wissen, wie wir uns verständigen müssen, ohne daß gleich jeder mitkriegt, was wir uns zu sagen haben."

"Aber warum ein Umweg über diesen Brief? Uns gegenüber betonte er ausdrücklich, daß er es nicht wünschte, Sie zu benachrichtigen. Wir wunderten uns alle, daß er nicht wenigstens Sie bei sich haben wollte. Demnach hat er uns etwas vorgemacht. Er hätte nur etwas zu sagen brauchen, dann hätten wir Sie sofort verständigt. Ein wenig merkwürdig finde ich das schon."

"Wenn Sie mich verständigt hätten, hätte Daisy Cooper mit Sicherheit etwas bemerkt und Mike wahrscheinlich auch. Das wollte er mit dem Umweg über diesen Brief verhindern. Und genau das ist ihm gelungen. Der Junge hat keine Ahnung, was los ist, und bei Daisy Cooper war es nicht anders. Es hat mich einiges gekostet, sie davon zu überzeugen, was hinter dem Schreiben steckte. Für Jess war dieser Brief die einzige Möglichkeit, sich mir mitzuteilen. Ich wollte, er hätte es früher getan, obwohl ich nichts hätte aufhalten können – jetzt nicht mehr!" fügte Slim versonnen hinzu, während er Jess ein paar schweißverklebte Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, ehe George den eiswassergetränkten Lappen auf seiner Stirn erneuerte.

"Wie meinen Sie das – jetzt nicht mehr?"

"Bitte fragen Sie mich jetzt nicht", wich Slim aus. Statt dessen legte er dem Freund die flache Hand auf die glühende Stirn. An den furchtbaren Anblick hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Dafür erschreckte ihn das offenbar sehr hohe Fieber um so mehr. Mit der anderen Hand umschloß er seine schlaffe Rechte und erschauderte vor ihrer Kälte. "Wie lange hat er schon dieses entsetzliche Fieber?"

"Es fing vor etwa einer Woche an. Zuerst war es nicht so schlimm, und wir konnten es relativ gut mit Chinin unter Kontrolle halten. Seit zwei Tagen ist es so schlimm, daß er immer häufiger anfing zu phantasieren, obwohl er dann wieder Zeiten hatte, in denen er völlig klar war, ehe er gestern endgültig die Besinnung verlor. Seine letzten Gedanken galten Ihnen."

Hastig riß Slim den Kopf hoch, um George erwartungsvoll und auch betroffen anzusehen. Es schmerzte ihn, die vielleicht letzten Worte seines Freundes, die an ihn gerichtet waren, nicht selbst gehört zu haben.

"Hat er etwas für mich hinterlassen?"

"Ja, mit seiner letzten Kraft hat er mich gebeten, Ihnen etwas mitzuteilen. Er war kaum zu verstehen, aber er hat in einem Fluß gesprochen. Ich weiß nicht, woher er die Kraft nehmen konnte."

"Was hat er gesagt?"

"Ich hoffe, daß ich es wörtlich zusammenkriege. Es war nicht viel, nur ein Satz. Ich habe den Sinn nicht richtig verstanden. Hoffentlich können Sie mehr damit anfangen." George erneuerte zuerst den kalten Umschlag auf Jess' Stirn und starrte ihm dann in das verfallende Gesicht, um sich besser auf seine letzten Worte konzentrieren zu können. "Ich sollte …", wollte er schon beginnen, als er jedoch bemerkte, wie sich Slims Hand fester um die des Freundes schloß und seine von tiefer Trauer erfüllten Augen an seinen stummen Lippen hingen, als wartete er sehnsüchtig darauf, daß er diese letzte Mitteilung, den letzten Gruß aus diesem Leben an ihn – was immer es auch war – selbst wiederholen könnte. Da wußte George, daß er diesen genauso wiedergeben mußte, wie Jess ihn hinterlassen hatte. "Seine letzten Worte waren: 'Bitte sagen Sie Slim, wenn er kommt, um mich zu holen, daß es mir leid tut und er das verdammte Ding mit mir begraben soll.' Ich wollte ihn noch fragen, was er damit meinte, aber es war schon zu spät. Er konnte mich nicht mehr hören und selbst wenn, konnte er mich nicht mehr verstehen. Ich hoffe, Sie wissen, was er damit meinte. Ich kann es mir nämlich nicht erklären. Ich hatte nur das Gefühl, was immer es auch bedeutet, daß er es Ihnen lieber selbst gesagt hätte."

"Ja", brummte Slim vor sich hin mit tränengefüllten Augen, die unentwegt den Freund anstarrten. "Jess, du weißt ganz genau, daß ich das nicht kann!" redete er mit ihm, als führten sie eine ihrer heißen Diskussionen über dieses Thema. Anscheinend hatte er völlig die Welt um sich vergessen einschließlich der Tatsache, daß Jess ihn überhaupt nicht hören konnte. "Ich konnte es bisher nicht und jetzt erst recht nicht! Das mußt du verstehen! Nicht dir muß es leid tun, sondern mir! Wieso behauptest du immer, daß es deine Schuld ist, obwohl du genau weißt, daß es nicht stimmt? Es ist meine ganz allein! Deshalb kann ich nicht tun, was du da von mir verlangst. Verdammt, Jess! Laß uns nicht so auseinandergehen! Bitte nicht!" schluchzte er; er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen.

George wandte sich betreten ab. Am liebsten wäre er hinausgegangen, um ihn mit dem sterbenden Freund allein zu lassen. Aber obwohl er wußte, daß er störte, durfte er seine Pflicht nicht vergessen. Der ihm anvertraute Patient benötigte seine pflegende Fürsorge, die er auch wegen des unvermittelten Gefühlsausbruchs des Ranchers nicht vernachlässigen durfte, so gerne er sich ihm zuliebe zurückgezogen hätte.

"Mr. Sherman?" sprach er ihn nach einer Weile vorsichtig an. Es widerstrebte ihm, ihn zu stören in seinem andächtigen Verharren, seinem tiefen Versunkensein in ein inniges Fürbitten, den Freund nicht noch länger für seine eigenen Fehler büßen zu lassen; aber George fand, daß es höchste Zeit war, dem Kranken wieder erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. "Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie in diesem ungeeigneten Augenblick störe, aber ich muß dringend die Wickel erneuern und ihn umbetten."

Slim blickte verstört auf, bis Georges Worte endlich seinen Verstand erreichten und er sich seiner Umgebung und der Tatsache bewußt wurde, nicht allein zu sein.

"Natürlich", sagte er zerstreut, sich mit einer zittrigen Bewegung über das von Trauer und Verzweiflung gezeichnete Gesicht wischend. "Entschuldigen Sie, ich fürchte, ich habe mich gehenlassen. Ich sollte mich mehr beherrschen, anstatt mich in so unkontrollierter Art und Weise meinen Gefühlen hinzugeben."

"Ich bitte Sie! Da gibt es doch nichts zu entschuldigen. Wenn man sich so nahe steht, ist das ganz verständlich. Ich bin nur froh, daß Sie offensichtlich zu wissen scheinen, was er meinte."

"Ja", Slim raffte sich auf, "ja, das weiß ich."

"Ich möchte nicht neugierig sein, es steht mir bestimmt auch nicht zu, danach zu fragen, aber trotzdem würde mich interessieren, was er mit diesem verdammten Ding meinte."

Slim sah keine Veranlassung, mit diesem Mann nicht darüber zu reden, wenigstens oberflächlich; denn er war sich sicher, daß Jess es getan hätte, hätte er die Möglichkeit gehabt, zumindest hätte er seinem Vertrauten erklärt, was genau dieses verdammte Ding war. In seiner Brusttasche fingerte Slim nach der Kugel, die ihn seit Monaten peinigte wie diese furchtbare Erinnerung an das Geschehen und die Schuld, die er sich vorwarf, seit er Jess in seinem bejammernswerten Zustand erleben mußte.

"Das hier!" erklärte der Rancher und hielt das blaugrau schimmernde Geschoß hoch.

"Was ist das?" wollte George wissen, obgleich er es ahnte.

"Das ist das Stück Blei, das ihn …" Slim schluckte gequält und ließ die Kugel wieder in seiner Brusttasche verschwinden. "… das ihn ins Grab bringen wird", vollendete er mit erstickender Stimme den Satz.

"Sie heben diese Kugel auf?" verwunderte sich George mit hochgezogenen Brauen. Zwar hatte er so etwas vermutet, aber als er jetzt die Bestätigung erhielt, versetzte es ihn in einige Verblüffung. "Weshalb denn bloß?"

"Sie ist das todsichere Mittel gegen das Vergessen."

"Vergessen? Wovon reden Sie?"

"Hat Jess nicht mit Ihnen darüber gesprochen?"

"Worüber?"

"Darüber, wie es passierte."

"Nicht sehr viel. Ich wollte nicht zuviel fragen. Ich kann mir vorstellen, daß es nicht besonders angenehm ist, über so etwas lange zu reden. Er hat genug ertragen müssen. Damit wollte ich ihn nicht auch noch quälen. Mir scheint es nur fast, daß Sie sich damit mehr quälen als er."

"Schon möglich, obwohl es bei mir etwas anderes ist."

"Möchten Sie mit mir darüber sprechen?"

"Ich weiß es nicht." Slim machte eine hilflose Geste. "Es ist kein medizinisches Problem, und ich glaube nicht, daß mir da irgendein Arzt helfen könnte. Ich muß allein damit fertig werden, genauso wie Jess diesen Weg allein gehen muß."

"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, aber sollten Sie jemanden brauchen, mit dem Sie reden wollen, bin ich jederzeit bereit, Ihnen zuzuhören. Vielleicht würde es Ihnen helfen, sich einem Außenstehenden anzuvertrauen."

"Vielleicht. Wenn es soweit ist, lasse ich es Sie wissen – vielen Dank. – Kann ich irgend etwas tun? Es macht mich verrückt, nur hier zu sitzen und ihn anzustarren, einfach nur zu warten, bis … bis …"

"Wenn Sie möchten", nickte George verständnisvoll, "selbstverständlich! Sie können mir helfen, die Wickel zu wechseln. Das ist anscheinend das einzige, womit wir im Moment das Fieber unterhalb der tödlichen Grenze halten können. Ich frage mich nur, für wie lange."

"Ich frage mich lieber nicht. Auf der einen Seite wünsche ich mir, daß er möglichst bald erlöst wird, aber auf der anderen Seite will ich mich nicht damit abfinden. Manchmal denke ich, ich träume das alles nur. Jess wußte genau, was ihn erwartete. Deshalb kann ich ihn heute verstehen und weiß, daß er es ernst meinte, als er davon gesprochen hat, über das Ende selbst entscheiden zu wollen."

"Dann hatte er also doch die Absicht, es zu tun!" konnte George einen gewissen Vorwurf nicht ganz verbergen, während er sich vom Reden jedoch nicht mehr von seiner gewissenhaften Arbeit abhalten ließ.

"Sie wissen davon?"

"Ja, zumindest hatten wir ein entsprechendes Gespräch, nachdem ich ihn vor der Kommode überraschte."

"Vor der Kommode? Welche Kommode! Was hat ein Möbelstück damit zu tun?"

"In der obersten Schublade verwahrt er den Gurt mit seinem Schießeisen. Kurz bevor er so krank wurde, ertappte ich ihn dabei, wie er davor stand und die Waffe anstarrte. Dabei sah er sehr aufgewühlt aus, als ob er mit sich kämpfte. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob er sie tatsächlich benutzt hätte. Offen gestanden bin ich das immer noch nicht. Vor ein paar Tagen, als er schon nicht mehr aufstehen konnte, sagte er, daß er es besser getan hätte, solange er dazu imstande gewesen war, womit er wohl meinte, daß er zu dem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage war, sie selbst zu holen. Slim – entschuldigen Sie! – Mr. Sherman …"

"Ist schon in Ordnung", winkte der Rancher ab. "Sie können ruhig dabei bleiben."

"Danke!" wußte er dieses Entgegenkommen zu würdigen. "Ich nehme an, keiner kennt ihn so gut wie Sie. Denken Sie, daß er es wirklich getan hätte? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen."

"Ich weiß es nicht, George, ich weiß es wirklich nicht. Und ich glaube, das Problem ist, daß er es selbst nicht weiß. Wir haben ein paarmal darüber gesprochen und waren meistens geteilter Meinung, zumindest nach außen hin. Ich glaube, wenn er es wirklich hätte tun wollen, hätte ihn niemand daran hindern können. Dann wäre er aus dem Bett und auf allen Vieren zu dieser Kommode gekrochen. Und ich weiß, vor ein paar Jahren hätte er das mit Sicherheit getan. Damals, als es Mike für ihn noch nicht gab. Aber heute … bin ich mir da nicht so sicher. Nicht daß er es nicht könnte! Dazu wäre er nach wie vor imstande. Aber er hat ein sehr ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein dem Jungen gegenüber, was, ich möchte fast sagen, sein Leben grundlegend verändert hat – positiv verändert hat. Seinetwegen hätte er es niemals tun können. Das muß ihn in einen schweren Konflikt mit sich selbst gebracht haben. Zu wissen oder zu ahnen, so enden zu müssen, war für ihn unerträglich. Trotzdem hat er es auf sich genommen, weil er für den Jungen die Hoffnung nicht aufgeben wollte, obwohl er von vornherein wußte, daß es gar keine Hoffnung gab. Ich wußte es auch, aber ich habe es so wie er verdrängt. Uns, seinen Angehörigen zuliebe hat er darauf verzichtet, sein Leben mit etwas mehr Würde zu beenden. Jetzt, da ich ihn so sehen muß, wünschte ich, er hätte nicht soviel Rücksicht genommen."

"Das sagen ausgerechnet Sie als sein bester Freund?"

"Gerade weil ich das bin, sage ich es, gerade deshalb!"

"Dann hätten Sie ihm dabei geholfen, als er es selbst nicht mehr konnte?" vergewisserte sich George entsetzt.

"Nein, mit Sicherheit nicht! Er hätte es auch nicht von mir verlangt."

"Sind Sie sich da wirklich sicher?"

"Absolut."

"Aber irgendwann hat er einmal etwas Merkwürdiges angedeutet."

"Inwiefern?"

"An dem Tag, als ich ihn vor der Kommode ertappte, ging es ihm zum erstenmal auffallend schlecht. Wir mußten unseren üblichen Spaziergang vorzeitig abbrechen. Als wir zurück waren, habe ich überlegt, ob ich ihm die Waffe nicht heimlich entwenden sollte, damit er nicht doch noch auf dumme Gedanken kam. Er saß draußen auf dem Balkon, hatte mir den Rücken zugekehrt, konnte mich also gar nicht sehen. Und trotzdem sprach er mich an, als hätte er mein Vorhaben durchschaut. Allerdings hatte ich mehr das Gefühl, er nahm an, daß ich gerade das Gegenteil tun und sein eigenes Vorhaben unterstützen, ja, sogar vielleicht es selbst tun könnte. Das hat mich erschreckt, vor allem, als er auch noch sagte, dieses Privileg hätten nur Sie. Wir haben diesen Zwischenfall nie wieder erwähnt. Einmal habe ich es versucht. Da ist er sofort ausgewichen. Ich weiß nicht, wie ich das einordnen soll. Jetzt ist es auch zu spät. Ich werde es wohl nie erfahren."

"Sie irren sich, George, es ist ganz einfach. Jess hat ein sehr ausgeprägtes, feines Gespür für seine Umgebung und die Menschen um ihn herum. Er hat mir oft auf den Kopf zugesagt, was ich denke, daß es manchmal nahezu unheimlich war. Er wußte immer ganz genau, was mich beschäftigte, ohne daß ich einen Ton sagen mußte. Und genauso wußte er auch, was Sie vorhatten, das, was sie tatsächlich vorhatten, und nicht das, was Sie dachten, er nähme es an. Das Privileg, ihm die Entscheidung vorwegzunehmen, indem Sie ihm seine Waffe entwendet hätten, das meinte er. Und genau dieses Vorrecht hatten Sie nicht, über den Besitz seiner Waffe zu bestimmen und die Möglichkeit, ihren Gebrauch frei zu wählen. Jess ist in der Beziehung ziemlich empfindlich, was in meinen Augen nichts Außergewöhnliches ist. Ich bin es nämlich auch. Für Menschen wie ihn und mich kann eine Waffe zu einem Teil Mittel für den Ausdruck der Persönlichkeit werden. Die Absicht, sie einem anderen unbefugt zu entwenden – und dann noch in einer solchen Situation – ist schon beinahe so etwas wie Entmündigung."

"Dann muß ich ihn damit sehr verletzt haben, obwohl er nichts weiter dazu gesagt hat. Vielleicht hat er sich auch nur nichts anmerken lassen, so wie von seinen körperlichen Schmerzen."

"Ich glaube nicht, daß er Ihnen deshalb etwas nachträgt. Ich gehe einmal davon aus, daß er Sie nicht zu den Menschen zählt, die mit solchen Regeln vertraut sind. Und so wie ich Sie einschätze, gehören Sie auch nicht dazu. Wofür Sie sich durchaus glücklich schätzen können."

"Nun ja, mit Waffen habe ich tatsächlich nicht viel im Sinn, wenn Sie das meinen. Ich bin mehr dafür, Leben zu erhalten, anstatt es zu zerstören."

"Manchmal ist ein Schießeisen aber das einzige Mittel, es zu schützen und zu verteidigen. In dieser gottverdammten Wildnis, die dieses Land zum Teil immer noch ist, gibt es oft keine andere Möglichkeit."

"Ja, und manchmal kommt so etwas dabei heraus", nickte George mißbilligend in Jess' Richtung, womit er allerdings dessen Zustand und nicht ihn als Verursacher bezeichnen wollte.

"Da haben Sie leider recht."

Am frühen Abend kam Professor Tyler, um seinen Assistenten abzulösen. Sie wechselten sich in regelmäßigen Abständen ab, um ihrem Patienten eine lückenlose Betreuung zu garantieren und selbst zwischendurch ein paar Stunden Ruhe zu finden.

Slim hingegen hatte nicht die Absicht, sich auszuruhen, obwohl er nach den letzten zwei schlaflosen Nächten und der anstrengenden Reise am Rande der Erschöpfung war. Aber er befürchtete, daß Jess ihn ausgerechnet dann besonders brauchen könnte, wenn er nur einmal für fünf Minuten seiner Schwäche nachgegeben hätte.

Während der ganzen Zeit saß er neben dem Bett, gewissenhaft damit beschäftigt, die kalten Wickel zu erneuern und den Puls des Fiebernden zu kühlen, dann wieder, um sein Gesicht zu waschen und den blutigen Schleim zu entfernen, der ihm nach krampfartigen Erstickungsanfällen aus dem Mund quoll; oder er hielt nur stumm und andächtig seine Hand, die sich so kalt anfühlte, als wäre das Leben bereits aus ihr gewichen; wünschte sich, er würde merken, daß er bei ihm war und nichts zu fürchten brauchte; hoffte, er müßte nicht mehr allzu sehr leiden, richtete still und in Gedanken wortlose Gebete an den lieben Gott, den Tod und den Teufel, sie mögen es ihnen beiden nicht noch schwerer machen, ohne das Gefühl zu haben, daß sich einer der drei darum scherte.

Irgendwann um Mitternacht erregte Professor Tyler seine Aufmerksamkeit, indem dieser das Fieberthermometer hochhielt, um die gerade gemessene Temperatur abzulesen.

"Es wird ihn umbringen, nicht wahr?" vergewisserte sich Slim, Tyler mit brennenden Augen beobachtend, wie er das Quecksilber im Steigröhrchen des Thermometers zurückschlug.

"Das Schlimmste ist, daß ich nichts dagegen tun kann, jedenfalls nichts Erfolgversprechendes. Es ist furchtbar, wenn man als Arzt nur noch zusehen muß, weil man nichts tun kann."

"Nicht nur als Arzt."

Auf diese Bemerkung konnte Tyler nur entschuldigend nicken. Ohne weiter darauf einzugehen, nahm er das Stethoskop, um seinen Patienten sorgfältig abzuhören, wobei ihn hauptsächlich die Töne seines Herzschlags interessierten und er nur nebenbei seine Atemgeräusche verfolgte, von denen er wußte, daß sie katastrophal waren. Plötzlich zogen sich seine Brauen zusammen. Sein Gesicht wurde ernster, obwohl dies kaum möglich schien.

"Was ist?" schluckte Slim, während sich seine beiden Hände um die Rechte des Freundes krampften, als müßte er ihn jeden Augenblick mit einem energischen Ruck aus einer tödlichen Gefahrenzone reißen, der er aus eigenem Antrieb nicht entkommen konnte.

Tyler richtete sich auf, um mit routinierten Bewegungen eine Injektionsspritze aufzuziehen.

"Seine Herztöne werden zunehmend von Geräuschen überschattet."

"Was … was bedeutet das?"

"Rhythmusstörungen, Flimmern, möglicherweise Stillstand. Ich hoffe, daß ich es noch einmal verhindern kann."

Slim hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber was Stillstand bedeutete, wußte er.

Tyler setzte die Injektionsnadel an und spritzte Jess irgend etwas direkt in die Vene in seiner rechten Armbeuge. Slim interessierte nicht, was es war. Aber er mußte sich abwenden, als sich die Nadel in die Haut seines Freundes bohrte. Dabei verzog er das Gesicht wie jemand, dem gerade ein eitriger Zahn gezogen wurde.

"Keine Angst, es tut ihm nicht weh", beruhigte ihn der Professor, ein wenig verwundert, daß sich ein abgebrühter Mann wie er beim Zusehen einer einfachen Injektion so anstellte.

"Das will ich Ihnen gern glauben. Dafür tut es mir um so mehr weh."

Tyler nickte verständnisvoll, sagte jedoch nichts weiter dazu. Statt dessen kontrollierte er weiterhin die gefährdete Herztätigkeit seines Patienten und wartete nahezu sehnsüchtig auf die Wirkung des gespritzten Medikaments, wenn es überhaupt zu einer solchen kam. Gespannt hielt Slim die Luft an, bis sich in dem konzentrierten Ausdruck von Tylers Gesicht eine Regung zeigte. Dabei umschloß er fester die Hand seines Freundes, ohne daß ihm dies bewußt gewesen wäre. Sicherlich hätte ihn Jess – wäre er bei Bewußtsein und dem Tod nicht so nahe gewesen – mit einem Pharisäergrinsen gefragt, ob er vorhatte, ihm die Knochen zu brechen.

"Und?" krächzte er erwartungsvoll nach bangen Minuten, als sich Tylers verschlossene Miene endlich etwas aufhellte.

"Es schlägt ruhiger und gleichmäßiger. Wieder ein wenig Zeit herausgeschunden!"

Erleichtert atmete Slim auf. Mit gönnerhafter Geste blickte er auf den Freund, herzlich seine Hand drückend, als wollte er ihm für einen besonderen Erfolg gratulieren.

Während der nächsten paar Stunden änderte sich Jess' Zustand nicht. Nach zwei weiteren Erstickungsanfällen blieb er für den Rest der Nacht relativ ruhig. Auch der folgende Tag brachte keine Wende. Das Fieber hielt sich konstant hoch, bewegte sich ständig nahe der kritischen Grenze, einmal ein halbes Grad zurückgehend, um innerhalb kürzester Zeit wieder zu steigen. Jede Messung wurde in einer Fieberkurve festgehalten, die bald die Form einer gleichmäßigen Zickzacklinie annahm, deren Schwankungen manchmal nur unwesentlich waren.

Slim fragte sich zunehmend, wozu das alles gut sein sollte. Daß das Fieber im höchsten Grade das Leben seines Freundes bedrohte, wußte er ohne regelmäßige Messung und Festhalten der Ergebnisse auf einem Blatt Papier. Seine kranke Lunge fiel zu einem großen Teil für die Atmung aus, verursachte Erstickungs- und Hustenanfälle, die Entzündung belastete zusammen mit dem Fieber zunehmend sein Herz, sein ausgezehrter Körper verfiel immer mehr.

Längst waren die zwölf Stunden um, die ihm Professor Tyler am Vortag gegeben hatte, und Jess' Todeskampf schien lange kein Ende zu finden. Immer wieder wehrte sich der dürftige Rest Leben, bäumte sich hartnäckig gegen den ingrimmig seiner harrenden Tod, der sich durch noch soviel Aufbegehren nicht von seinem Vorhaben abbringen ließ und nach jedem erfolgreichen Streich nur um so gieriger nach seinem Leben verlangte. Selbst die Anwesenheit Slim Shermans schüchterte ihn dieses Mal nicht sonderlich ein, vor dem er bisher so etwas wie Respekt zu haben schien. Zumindest war dies immer Jess' Ansicht gewesen. Nur irgend etwas mußte es geben, was ihn hinderte, sofort in unerbittlicher Härte zuzuschlagen.

Slim saß die ganze Zeit neben dem Bett, manchmal kaum fähig, die vor Müdigkeit brennenden Augen offen zu halten, hielt seine leblose Rechte mit beiden Händen, rieb und drückte seine schlaffen Finger, als versuchte er damit, etwas von seiner eigenen Lebenskraft in den kranken Körper des Freundes zu pumpen und gleichzeitig einen Teil seines Fiebers und was es sonst war, das sein Leben bedrohte, zu übernehmen. Er wußte, daß er ihm nicht helfen konnte, selbst wenn er seine Hand noch so sehr drückte oder an sich preßte; aber eine geheimnisvolle Stimme wollte ihm einreden, daß er ihn auf der Stelle verlor, wenn er seine Hand nur für Sekundenbruchteile losließ, wenn dieser körperliche Kontakt nur für einen Lidschlag abriß. Vielleicht war es gerade diese Verbindung, die den Tod schreckte und davon abhielt, sich mit Jess' Leben davonzustehlen. Slim wollte es nur zu gern glauben.

Wenn es sein mußte, würde er noch tagelang hier sitzen bleiben und diese Hand halten, die sich bei jedem Erstickungsanfall in grotesker Weise verkrampfte, daß ihn die wie spastisch verkrümmten Finger jedesmal aufs neue erschreckten und er daran zu zweifeln begann, daß dies überhaupt die Rechte seines Freundes war.

Die folgende Nacht erinnerte ihn mit all ihren Schrecken an die vorangegangene, glich sie ihr zunächst wie ein Haar dem anderen. Professor Tyler hatte wieder die Wache übernommen, da er aus Erfahrung wußte, daß sich in der Nacht der Zustand des Patienten für gewöhnlich verschlechterte und es dann besser war, wenn er sofort zur Stelle sein konnte.

Gegen Morgen allerdings lehnte er sich erschöpft auf dem Stuhl neben dem Bett zurück. Nach mehreren Erstickungsanfällen, bei denen Jess soviel eitrigen und mit Blut vermischten Schleim abhustete, daß selbst der Professor sich fragen mußte, wo soviel krankhafte Flüssigkeit herkommen konnte, nach einer beinahe einsetzenden Herzlähmung infolge hohen Fiebers und fortgeschrittener Entzündung herrschte jetzt anscheinend eine Ruhe nach dem Sturm, die genauso trügerisch schien wie eine davor.

Aufatmend nahm Tyler das Stethoskop aus den Ohren und wischte sich über das von der andauernden angestrengten Konzentration nicht nur der letzten Stunden, sondern der letzten Tage und Nächte gezeichnete Gesicht.

Was er am Krankenbett dieses Mannes erlebt hatte, stellte alles Bisherige in den Schatten. Eines stand für ihn fest: dieser Mann wollte leben, egal, was und wie er sich dazu schon geäußert hatte. Jemand, der sich so verbissen gegen den Tod wehrte, mußte wirklich einen außerordentlich starken Willen haben. Dieser Mann würde bis zum letzten Atemzug kämpfen und sich selbst um ihn noch mit dem Teufel streiten.

Nicht weniger bewunderte er die Aufopferungsbereitschaft eines Slim Shermans, der unentwegt neben dem Bett saß und die Hand seines Freundes hielt, tagelang, nächtelang, selbst am Ende seiner Kräfte, aber stetig hoffend und still vor sich hin betend, den langjährigen Gefährten genausowenig aufgebend wie diese Hoffnung, an die er sich klammerte, obwohl er nicht wußte, ob sie überhaupt existierte und eine Zukunft bringen konnte.

Tyler lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Er wollte nicht schlafen, sondern für diese zwei Menschen beten, die offensichtlich eine tiefe, aufrichtige Freundschaft verband, die sie nicht nur miteinander leiden, sondern sich auch füreinander freuen ließ, obwohl er nicht annahm, daß es für sie noch einmal Gelegenheit gab, Freude zu teilen. Trotzdem wollte er Gott bitten, endlich diese furchtbare Quälerei zu beenden, auch in seinem eigenen Sinne, denn er fühlte sich mehr und mehr als ein Werkzeug des Teufels, wenn er mit all seinem medizinischen Wissen gegen das Schicksal anzukämpfen versuchte, wozu er sich allein aufgrund seines Eides, den er als Arzt geschworen hatte, verpflichtet fühlte. Wie die Beendigung dieses grauenhaften Zustandes ausfiel, wollte er einzig und allein Gott überlassen. Mittlerweile war er bereit, jede seiner Entscheidungen zu akzeptieren. Auch als Arzt blieb ihm nichts anderes übrig.

Nicht so Slim Sherman! Je länger Jess' Kampf mit dem Tod dauerte, desto weniger war er gewillt, sein Leben preiszugeben. Hatte er anfangs noch gebeten, Gott möge seine unmenschlichen Leiden endlich beenden und ihn in Frieden gehen lassen, wollte er jetzt von Aufgabe nichts mehr wissen, wollte dem Schicksal sogar das Recht absprechen, sich des Lebens dieses Menschen zu bemächtigen, der ihm soviel bedeutete.

Wie eng er mit ihm verbunden war, hatte er eigentlich schon immer gewußt. Was er ihm tatsächlich bedeutete, war ihm jedoch erst so richtig bewußt geworden, seit sein Leben ernsthaft durch diese Verwundung bedroht war.

Jedenfalls fände er sich niemals damit ab, daß es keine Rettung mehr geben sollte. Da konnte ihm ein Professor Tyler erzählen, was er wollte, oder er noch so schlimme Augenblicke am vermeintlichen Sterbelager des Freundes erleben. So wie Jess ganz offensichtlich verbissen um sein Leben kämpfte, so wollte Slim verbissen an ihn glauben und seinen Widerstand mit seiner ganzen zur Verfügung stehenden Kraft, seiner brüderlichen Zuneigung und bedingungslosen freundschaftlichen Einigkeit unterstützen.

Jess mußte es einfach schaffen! Slim wußte zwar nicht, wie, aber er vertraute auf Jess' Starrsinnigkeit im Leben, die ihm vielleicht die nötige Zähigkeit und Kraft zur Auflehnung gegen den Tod gab. Und vielleicht half Gott, wenn es ihn tatsächlich gab, mit einem kleinen Wunder nach. Darum wollte Slim ihn bitten, obwohl er nicht erwartete, daß er ausgerechnet ihm, der sich nie viel um diesen Gott geschert hatte, diese Bitte erfüllte.

Zu allem Überfluß wußte er nur zu gut, daß sich Wunder höchstens in alten Indianermythen oder heiligen Legenden ereigneten, ganz gewiß jedoch nicht im wirklichen Leben. Trotzdem klammerte er sich mit beinahe naiver Inständigkeit an eine aussichtslose Hoffnung, die dieses Wunder vollbringen sollte.

Wider allen Erwartens geschah dieses kleine Wunder, mit dem weder Slim noch Professor Tyler oder sonst jemand gerechnet hatte. Es geschah in den frühen, noch nächtlichen Morgenstunden dieses Januartages, zunächst von allen beinahe unbemerkt.

Vielleicht handelte es sich auch gar nicht um ein Wunder, sondern einfach nur um das Resultat verschiedener günstiger Faktoren, die mehr oder weniger zufällig aufeinandertrafen, vor allem als Folge einer vorbildlichen, nach modernsten Mitteln erfolgten medizinischen Rundumversorgung, verbunden mit dem außergewöhnlichen Lebenswillen und der Ausdauer eines jungen, widerstandsfähigen Körpers, der nur durch widrige Umstände zu einem fast aussichtslosen Überlebenskampf gezwungen war, nicht zu vergessen die innige Zuneigung, diese brüderliche Liebe zweier erwachsener Menschen, die väterliche Liebe eines Mannes sowie die kindliche eines zehnjährigen Jungen, eine Liebe, die stärker war als Tod und Verderben, selbst über viele Meilen Entfernung.

Letztendlich war es egal, was das Wunder bewirkte. Hauptsache, es geschah! Es geschah genau in dem Augenblick, als Slim, beide Hände zum Gebet gefaltet, dabei die Rechte seines Freundes fest umschlungen haltend, den Kopf gesenkt und die Augen in inniger Andacht geschlossen, eine inbrünstige Bitte an diesen Gott richtete, von dem er längst annahm, daß er einem Gelegenheitsgläubigen, wie er sich hätte bezeichnen können, den Rücken kehrte und ihn mit dem unausweichlichen Verlust eines Menschen, der ihm mehr bedeutete als das eigene Leben, für seine bisher vernachlässigte Gottesfurcht bestrafen wollte.

So bemerkte er zunächst nicht, wie Jess nach mehrmaligem Blinzeln endlich die Augen aufschlug, nur einen schmalen Spalt weit, als reagierte er auf den Ruf einer entfernten Stimme, ohne sicher zu sein, sie überhaupt gehört zu haben. Wahrscheinlich wußte er selber nicht, daß er gerade dabei war, dieser Empfindungslosigkeit zu entfliehen, die Wende seines Schicksals mit eisernem Überlebenswillen herbeizuführen.

Sein fieberumnachtetes Gehirn war nicht in der Lage, Bewußtsein und Ohnmacht voneinander zu trennen, geschweige denn etwas von seiner Umgebung zu erkennen. Makabrerweise waren es ausgerechnet seine beklemmende Atemnot und die damit verbundenen Schmerzen, diese teuflischen Stiche in seiner Brust, die ihm als vertrautes Zeichen eines früheren Bewußtseins halfen, ihn aus diesem zähen Schlamm von Fieber, Siechtum und Tod zu ziehen.

Er hatte das Gefühl, sein Verstand wäre völlig losgelöst von diesem hinfälligen Körper, der ihm nicht gehorchen wollte, der blind und stumm zu sein schien und sich nicht bewegen konnte. Die einzige Bewegung, zu der er imstande war, war das mühsame Heben seiner bleischweren Lider, das sich zunächst als völlig nutzlos erwies, weil seine Augen nicht das geringste wahrnehmen konnten.

Erst allmählich schienen die Lebensgeister seiner Sinne wiederzuerwachen. Dann wurde aus der schwarzen Nacht graumilchiger, undurchdringlicher Nebel, der sich nach und nach aufhellte, ohne sich ganz zu lichten. Mit viel Anstrengung konnte er schließlich einen dunklen Schatten erkennen, der als Trugbild seinen Fieberphantasien entsprungen zu sein schien.

Jess wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte oder längst tot war. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Schatten um irgendeinen Dämon, einen Abgesandten des Teufels, der den Auftrag hatte, seine Seele mit in die Hölle zu nehmen. Denn nur dort konnte ein Platz für sie sein, wenn man ein Leben geführt hatte wie er. Davon war er felsenfest überzeugt, und er wollte sich schon seinem Schicksal fügen, sogar widerstandslos, weil er einfach viel zu müde war, zu müde zum Kämpfen, zum Leben und auch zum Sterben. Wenn ihn tatsächlich ein Handlanger des Teufels holen wollte, hätte er es mit seinem ausgelaugten Körper oder seinem leergebrannten Verstand sowieso nicht verhindern können.

Je mehr er allerdings darauf wartete, daß ihn dieser Schatten endlich in sein Totenreich entführte, desto stärker wurde sein Bewußtsein, desto deutlicher spürte er diese altvertrauten Schmerzen, desto klarer wurde sein fiebergeplagtes Gehirn.

Hatten sie ihn vielleicht schon aufgebahrt? War denn keiner da, der sehen konnte, daß er noch lebte?

Irgendwie mußte er sich bemerkbar machen; er wußte nur nicht, wie. Er versuchte zu sprechen, aber seine Zunge lag als etwas Dickes, unförmig Geschwollenes in seinem Mund. Trotz der enormen Anstrengung, mit der er sie bewegen wollte, blieben seine Lippen stumm.

Da merkte er, daß irgend etwas Warmes seine Hand umschloß, etwas, das zu diesem Schatten gehören mußte. Er versuchte, die Finger zu bewegen, aber weder Nerven noch Muskeln und Sehnen wollten ihm gehorchen.

Während er sich immer wieder mühevoll darauf konzentrierte, sie doch noch irgendwie zu beherrschen, begann allmählich sein Verstand klarer zu werden, obwohl seine mangelnde Sehkraft ihm nach wie vor Tausende Phantome vorgaukelte, die bei jedem Lidschlag mal größer, mal kleiner wurden.

Plötzlich bestand für ihn kein Zweifel mehr, daß der Schatten, in den seine Rechte tauchte, Slim Sherman war und er seine Hand hielt. Obwohl er ihn nicht erkennen konnte, wußte er es; er fühlte es, spürte seine Nähe. Daß der Freund gerade jetzt bei ihm war, erfüllte ihn mit einer unvorstellbaren Zufriedenheit, die ihn sogleich wieder in die Tiefe dieser wohligen Empfindungslosigkeit verschleppen wollte, noch ehe Slim gewahrte, daß zu ihm das Leben zurückgekehrt war, wenn vielleicht auch nur vorübergehend und von kurzer Dauer. Deshalb mußte es ihm gelingen, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Tatsächlich gelang es ihm endlich, seine Hand, zwar inkoordiniert, aber deutlich genug zu bewegen, daß dem Rancher das unscheinbare Zucken auffiel.

Völlig verwirrt, ja, entsetzt, fuhr Slims Kopf in die Höhe. Erschreckt, aus seiner konzentrierten Versunkenheit gerissen, wußte er im ersten Augenblick nicht, was vor sich ging, befürchtete sogar, daß dies das letzte Zucken in lähmender Agonie war, das den Sterbenden in den Sekunden unmittelbar vor dem Tod heimsuchte.

Aber da sah er, daß Jess die Augen halb geöffnet hatte, die bleiernen Lider mehrmals auf- und niederschlug, als wollte er ihm zublinzeln, die Lippen bewegte, jedoch unfähig war, einen Ton herauszubringen.

"Jess!" rief er wie von Sinnen, überrascht, verstört, überglücklich, mit Freudentränen in den Augen, sofort den Druck auf seine Rechte verstärkend, um ihm zu zeigen, daß er hier war, um ihm jeden erdenklichen Beistand zu gewähren. "Du hast es dir tatsächlich anders überlegt, du …" Er verschluckte den Rest, weil er sich nicht mehr beherrschen konnte und in einem wahren Freudentaumel die Fassung verlor. Beinahe liebkosend, fuhr er ihm über die schweißbedeckte Stirn, strich ihm die nassen Haare aus dem Gesicht und hätte ihn im Überschwang seiner Empfindungen am liebsten an sich gepreßt. "Du schaffst es, alter Junge, du schaffst es! Das weiß ich jetzt!" jubelte und schluchzte er zugleich, weil er einfach die Gewalt über seine Gefühle verlor und dies weder länger verhindern konnte noch wollte.

Jess, unfähig zu sprechen, hörte die vertraute Stimme, verstand sogar, was sie zu ihm sagte, und erkannte jetzt auch, daß sich hinter diesem Schatten tatsächlich Slim Sherman verbarg. Die Konturen seines stoppelbärtigen Gesichts verschwammen zwar immer wieder vor seinen Augen; aber da war etwas Glänzendes, das seine Wangen bedeckte. Der Freund weinte vor Freude und schämte sich dessen nicht.

Indes versuchte Jess weiterhin erfolglos zu sprechen, konnte seiner ausgetrockneten Kehle jedoch keinen einzigen Laut entlocken. An seinen stummen Lippenbewegungen erkannte Slim, daß er seinen Namen sagen wollte.

Dieser redete mit ihm wie mit einem unverständigen kleinen Kind, nur um ihn zu beruhigen und zu verhindern, daß er sich durch das vergebliche Bemühen, etwas zu sagen, zu sehr anstrengte und womöglich aufregte, was ihn dem Tod sofort wieder geradewegs in die Arme getrieben hätte. Als Jess zunehmend unruhiger wurde und offensichtlich auch gegen stärker werdende Atemnot und Schmerzen zu kämpfen hatte, sich eine wachsende Furcht in seinen vor Anstrengung und Fieber geröteten Augen zeigte, umschloß Slim fester seine Hand, um dem heftiger werdenden Zucken seiner Finger entgegenzuwirken, während er unablässig über seine Stirn strich.

"Hab keine Angst, Jess! Ich bin hier. Es wird alles gut. Ganz sicher! Bleib nur ruhig! Ich passe auf, daß niemand kommt. Weißt du, wie schon einmal. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich bleibe bei dir!"

Fortdauernde Atemnot kostete Jess viel Kraft und ließ ihn in Panik geraten. Schließlich begann er zu husten, erbrach in großen Mengen blutig-eitrigen, zähflüssigen Schleim, daß Slim fürchtete, er würde ersticken.

Der Anfall dauerte sehr lange. Die damit verbundenen Schmerzen raubten ihm fast wieder die Besinnung. Aber nach bangen Minuten, in denen sich die Hände der zwei Männer regelrecht ineinander verkrallten – Slims Hand, weil er befürchtete, den Freund nun doch zu verlieren; Jess' Rechte, weil sie sich in seiner Verzweiflung zu einem bizarren Gebilde aus Haut und Knochen verkrampfte –, wurde Jess endlich etwas ruhiger, der Hustenreiz legte sich, so daß er nur noch vor sich hin keuchte, Schleim und Speichel aus seinem Mund liefen, als wäre ein eitriges Geschwür auf seiner Zunge aufgebrochen. Sein röchelnder Atem ging schwer und kostete ihn eine immense Kraft, aber er blieb bei Bewußtsein, blickte sogar zu dem Rancher auf und schaffte es, seine Finger fester um die seinen zu schließen wie zum Dank dafür, daß er da war und sich von diesem nach seinem Leben lechzenden Tod nicht vertreiben ließ, egal, wie abstoßend oder ekelerregend sein Anblick sein mußte.

Slim redete wieder mit ihm wie mit einem bettlägerigen kleinen Jungen, der gerade seine erste größere Kinderkrankheit durchmachte, beruhigend und tröstend, wobei er unablässig sein schweißbedecktes Gesicht wusch und ihm behutsam den unaufhörlich aus dem Mundwinkel und über die Lippen fließenden, mit Blut und Eiterbrocken durchsetzten Speichel wegtupfte, ehe er über sein Kinn und seine Wange laufen konnte.

Währenddessen sah Jess ihn unentwegt an, konnte ihn jetzt sogar einigermaßen deutlich erkennen. Er hätte so gerne mit ihm gesprochen, wollte ihm für sein Hiersein, für seinen Beistand danken, aber allein der Versuch ließ ihn heftiger keuchen, daß er vermehrt zu sabbern begann wie ein Säugling, der seinen Brei nicht bei sich behalten konnte, sich ständig verschluckte und würgen mußte.

Bald strengte es ihn dermaßen an, daß er eine bleierne Schwere in sich hochsteigen spürte, die sich schließlich auf seine Lider legte, das einzige, was er bis jetzt hatte einigermaßen bewegen können. Slims Gesicht verschwamm mehr und mehr vor seinen Augen, ehe sie ihm vor Erschöpfung zufielen. Er schlief einfach ein.

"Jess?" rief Slim ihn an, alles erdenklich Schlimme sich nur in wenigen Augenblicken ausmalend. "Jess!" wiederholte er, um gleich darauf Professor Tyler, der mit gezielten, sehr ruhigen Bewegungen von der anderen Bettseite her seinen Patienten die ganze Zeit gewissenhaft untersuchte, entgeistert anzustarren. "Professor! Um Gottes willen! Tun Sie etwas! Er stirbt!"

"Beruhigen Sie sich, Mr. Sherman!" Tyler versuchte ein Lächeln, was ihm sogar besser gelang, als er selbst angenommen hatte. "Es ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Aufregung!"

"Aber …"

"Er ist eingeschlafen, einfach eingeschlafen, das ist alles."

"Sie … Sie meinen, er ist bewußtlos?"

"Nein, woher denn! Er ist tatsächlich nur eingeschlafen – vor totaler Erschöpfung. Sein Herz schlägt ruhig und gleichmäßig, ohne irgendwelche Nebengeräusche, die ein Versagen ankündigen könnten."

"Ist das wirklich wahr?"

"Ja, sicher. Ich weiß zwar nicht, wieso er es geschafft hat, noch am Leben zu sein. Über das Warum sollten wir uns vielleicht besser keine Gedanken machen. Ich möchte mit ungezügeltem Wissensdrang die Entscheidung Gottes nicht ins Negative kehren."

"Sie meinen … Soll das heißen, er schafft es?"

"Das kann ich Ihnen leider nicht ruhigen Gewissens mit Ja beantworten – noch nicht! Aber es geht ihm – sagen wir sehr vorsichtig – jedenfalls nicht schlechter als bisher, eher sogar um einiges besser. Sogar das Fieber ist um ein Grad gefallen. Wenn es die nächsten zwei Stunden wenigstens so bleibt, sehe ich auf jeden Fall bessere Chancen für ihn als noch vor einer halben Stunde. Aber bitte, brechen Sie nicht in Euphorie aus!" drosselte er im gleichen Atemzug eine voreilige Siegesfreude, zu der nicht der geringste Anlaß bestand. "Im Moment müssen wir uns damit begnügen, daß es ihm zumindest nicht schlechter geht. Jede weitere Behauptung ist nicht zu vertreten und könnte nur eine schreckliche Enttäuschung bringen."

"Ob Sie es glauben oder nicht, aber im Moment reicht es mir schon, daß er noch am Leben ist. Darüber freue ich mich so, daß wahrscheinliche Möglichkeiten jetzt erst einmal nicht so wichtig sind", atmete Slim zufrieden auf, wobei sein Blick nur an Jess' Gesicht hing, das der Totenmaske eines Fremden glich, so entstellt war es von seinem andauernden Todeskampf, obwohl seine eingefallenen Züge vom ohnmachtsähnlichen Schlaf entspannt waren.

Derweil wusch er ihn unablässig, strich ihm beinahe liebevoll über die Stirn, wie einem kleinen Bruder, den er trösten wollte, während er nicht ein einziges Mal seine Hand losließ, als hätte er Angst, ihn auf der Stelle zu verlieren, sobald diese körperliche Verbindung abriß oder für einen unachtsamen Moment gelockert wurde. Seine eigene Müdigkeit schien mit einem Schlag wie verflogen, jedenfalls solange die Aufregung der letzten paar Minuten nachwirkte.

"Mr. Sherman", sprach Tyler ihn von der anderen Seite des Krankenlagers behutsam an, beugte sich zu ihm hinüber und berührte ihn flüchtig an der Schulter, weil er sonst nicht auf seine Worte reagiert hätte. "Sie sollten sich jetzt selbst etwas Ruhe gönnen und ein wenig hinlegen. Nach meiner Diagnose hat Ihr Freund erst einmal das Ärgste überstanden. Ich kann Ihnen zwar nicht garantieren, daß er es schaffen wird, aber im Moment besteht keine akute Gefahr für sein Leben. Sobald sich etwas ändert, werde ich Sie sofort verständigen."

"Ich kann mich jetzt doch nicht hinlegen und schlafen!" fuhr Slim fast ungehalten auf, während er Jess' Hand fester packte wie einen wertvollen Schatz, um sicher zu sein, daß er nicht abhanden kam oder ihm gewaltsam entwendet wurde.

"Bitte! Sie tun sich und ihm keinen Gefallen damit, wenn Sie es bis zu Ihrem Zusammenbruch darauf ankommen lassen. Seit Sie hier sind, habe ich Sie noch nicht schlafen gesehen."

"Ich bin auch nicht zum Schlafen gekommen! Ich bin hier, weil Jess mich braucht. Ich habe ihm versprochen, bei ihm zu bleiben. Genau das werde ich auch tun! Versuchen Sie ja nicht, mich daran zu hindern!" erwiderte Slim kampflustig; er hatte nicht die geringste Absicht, in nächster Zeit von der Seite seines noch in Lebensgefahr schwebenden Freundes zu weichen. Nach seiner bisherigen Erfahrung wartete der Tod nur auf eine solche Nachlässigkeit.

"Um Himmels willen, Mr. Sherman!" versuchte Tyler den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen. "Es liegt mir fern, Sie ausgerechnet daran hindern zu wollen. Aber Sie erweisen ihm einen schlechten Freundschaftsdienst, wenn Sie es herausfordern, aufgrund von unnötigen Durchhalteexerzitien mein nächster Patient zu werden. Ich glaube nicht, daß Ihr Freund so etwas billigte."

"Bitte, Professor, versuchen Sie nicht, mir diese Pflichterfüllung auszureden! Solange er mich braucht, werde ich hier sitzen bleiben, und wenn ich auf diesem Stuhl festwachsen sollte. Es spielt nicht die geringste Rolle, ob Jess ohne Besinnung oder wach ist oder von mir aus nur friedlich schläft. Er würde sofort merken, wenn ich nicht mehr bei ihm bin – egal in welchem Zustand."

"Das möchte ich nicht bezweifeln", gab Tyler nach, weil er einsah, daß es wenig Sinn hatte, weiter auf diesen Mann mit den überreizten Nerven einzureden. "Ich nehme sogar an, daß das mit ein Grund ist, weshalb er überhaupt noch einmal zu sich gekommen ist. Mit etwas anderem kann ich mir das jedenfalls nicht erklären."

"Womit wir uns in diesem Punkt einig sein dürften", stellte Slim abschließend fest, ohne im geringsten daran interessiert zu sein, sich über ein mögliches Ausruhen weiter zu unterhalten.

Als George zwei Stunden später kam, um Professor Tyler bei der Wache abzulösen, hatte die Müdigkeit Slim letztendlich doch übermannt. Nachdem sich die Krisenspannung etwas gelockert hatte, machte sich bei ihm eine völlige Erschöpfung bemerkbar, die ihn auf dem Armlehnstuhl in an sich unbequemer Lage einnicken ließ. Bald schlief er an der Seite des Krankenlagers beinahe ebenso fest wie sein Freund. Im Schlaf hielt er allerdings unverändert seine Hand, als wären sie untrennbar miteinander verwachsen.

"Es ist das erste Mal, daß ich ihn schlafen sehe, seit er hier ist", war Georges Kommentar bei seinem Anblick.

"Dann geht es Ihnen so wie mir."

"Und was ist mit Jess?"

"Sie werden es nicht glauben, aber irgend etwas Unbegreifliches, das anscheinend mit keiner wissenschaftlichen Logik zu erklären ist, hat ihn im buchstäblich letzten Augenblick dem Teufel von der Schippe springen lassen. Sein Fieber scheint gebrochen. Hoffentlich! Jedenfalls ist es um ein Grad gefallen und bislang nicht wieder gestiegen. Sein Herz spricht deutlich auf die regulierenden Präparate an. Vor etwa zwei Stunden ist er wie durch ein Wunder zu sich gekommen, hat Mr. Sherman klar erkennen können und ist nach einem heftigen Hustenanfall vor Erschöpfung eingeschlafen."

"Eingeschlafen?"

"Ja, jedenfalls deuten alle Symptome einschließlich seiner Pupillenreaktion darauf hin."

"Mein Gott, das ist nicht zu fassen!"

"Da muß ich Ihnen ohne Einschränkung recht geben. Allerdings bereitet mir seine Atmung sehr große Sorgen. Ich kann nur hoffen, daß er tatsächlich die Krisis erreicht hat, denn wenn die Entzündung nicht bald zum Stillstand kommt, weitet sie sich auf die rechte Lunge aus. Ein so großes Wunder, daß er das überlebte, kann es jedenfalls nicht geben – mit Sicherheit nicht! Messen Sie regelmäßig sein Fieber! Wenn es sich in der Höhe hält oder vielleicht sogar weiter fällt, wird die Gefahr für sein Leben überschaubarer."

"Ich werde ihm weiterhin kalte Wickel machen."

"Ja, und achten Sie genau auf seine Atmung. Er hustet bald tassenweise eitrigen Schleim ab und auch Blut. Passen Sie auf, daß er sich daran nicht verschluckt. Er könnte sonst ersticken."

"Dann hat sich in der Beziehung nichts geändert."

"Nein, an sich ist alles beim alten geblieben, nur daß sich in den letzten zwei Stunden keines der Krankheitssymptome weiter verschlimmert hat. Es besteht immer noch Lebensgefahr, allerdings sind seine Aussichten für die Zukunft nicht mehr gar so hoffnungslos." Tyler fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung übers Gesicht. Er war völlig übernächtigt, was seine Spuren bei ihm hinterlassen hatte. "Ich werde mich jetzt am besten auch etwas hinlegen", sagte er aufatmend.

"Sie sehen sehr müde aus."

"Ja, jetzt, da diese Spannung wenigstens etwas nachläßt, merke ich das auch. Aber trotzdem, George, wenn irgend etwas sein sollte, bei dem Sie sich nicht sicher sind, rufen Sie mich bitte sofort! Wir wollen jetzt nach alledem kein unnötiges Risiko eingehen."

"Aber, selbstverständlich, Professor! Ich werde weder etwas Eigenmächtiges unternehmen noch anderswie sein Leben aufs Spiel setzen. Das sollten Sie doch wissen!"

"Natürlich weiß ich das, George, natürlich weiß ich das!"

Er griff seinem Assistenten anerkennend und auch entschuldigend an die Schulter. Auf ihn konnte er sich seit vielen Jahren verlassen. Er nahm nicht an, daß sich das ausgerechnet jetzt ändern könnte.

Fortsetzung folgt