KAPITEL 38

Es dauerte tagelang, ehe sich Jess Harpers labiler Zustand endlich festigte und sich so etwas wie eine echte Besserung einstellte, das Fieber weiter fiel und vor allem konstant unter der kritischen Grenze blieb, wenn auch noch so hoch, daß es ihn weiterhin schwächte.

Aber Professor Tyler konnte wenigstens mit Sicherheit feststellen, daß sich die Entzündung nicht weiter ausbreitete und nicht mehr sein strapaziertes Herz gefährdete, das die Krise offensichtlich ohne bleibenden Schaden überstanden hatte. Wäre es ansonsten nicht vollkommen gesund gewesen, hätte es längst versagt und zum völligen Zusammenbruch mit unweigerlich tödlichem Ausgang geführt. Ob die Schäden in seiner Lunge – sowohl infolge der schweren Verwundung als auch durch die damit verbundene beinahe tödlich verlaufende Krankheit – jemals ganz ausheilten, konnte selbst Professor Tyler zur Stunde nicht bestimmen. Er konnte lediglich sagen, daß sein Patient vorerst am Leben blieb, jedoch keine Garantie dafür übernehmen, ob möglicherweise bleibende Anomalien nicht zu späteren Komplikationen führten und somit sein Leben doch noch frühzeitig beendeten. Aber das waren Spekulationen, mit denen er zunächst niemanden über Gebühr beunruhigen wollte. Außerdem bildete er sich ein, die zwei Männer von der Sherman-Ranch mittlerweile so gut zu kennen, um zu behaupten, daß sie sich dieses Problems, ohne viele Worte darüber zu verlieren, sehr wohl bewußt waren.

Wenigstens konnte Slim ein paar Tage später, nach einigen weiteren bangen Momenten, in denen es zu mehr oder weniger kritischen Situationen kam, endlich ein Telegramm nach Hause schicken, um eine sicherlich vor nagender Ungewißheit aufgelöste Daisy Cooper zu beruhigen, daß die akute Gefahr gebannt war, er jedoch ein paar weitere Tage bleiben wollte und sich vor seiner Rückreise auf jeden Fall wieder meldete.

Die nächsten Tage verbrachte Jess überwiegend mit Schlafen, denn das hohe Fieber hatte ihn so geschwächt, daß es für ihn bereits eine Anstrengung bedeutete, die bleiernen Lider zu heben und sich auf seine Umwelt soweit zu konzentrieren, daß er überhaupt etwas erkennen konnte außer helleren und dunkleren Schatten. An Sprechen war vorerst überhaupt nicht zu denken. Die nötige Luft fehlte ihm einfach dafür. Außerdem schmerzte sein Kehlkopf allein schon beim Schlucken. Seine Zunge schien immer noch ein unförmig geschwollenes Organ zu sein, das er nicht gebrauchen konnte. Oftmals heftige Atemnot versetzte ihn regelrecht in Panik. Der erstickende Husten löste jedesmal eine Flut von stechenden Schmerzen aus, nicht allein im Bereich seiner zerschossenen Rippe, sondern überall auf seiner linken Brustseite. Dabei quollen meist große Mengen von schleimigem Auswurf aus seinem Mund, häufig auch zwischen den Anfällen, daß Slim, der ständig bei ihm wachte, ihn sofort wusch und ihm versicherte, daß für ihn kein Grund bestand, sich deshalb zu schämen – denn Jess schien seine unkontrollierbare Schwäche im höchsten Maße peinlich zu sein –, er statt dessen alles ausspucken sollte, um sich nicht zusätzlich zu verschlucken.

An diesem späten Nachmittag stand Slim an dem großen Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und starrte hinaus in die winterliche Landschaft. Er wußte nicht, wie lange er schon hier war, da er das sonst sichere Gefühl für die Zeit völlig verloren hatte.

Zum ersten Mal gestand er sich zu, das Krankenlager seines Freundes außer zum Schlafen zu verlassen, wozu er in den letzten Nächten tatsächlich das Gästebett benutzte, das man in einer Ecke des sehr geräumigen Zimmers aufgestellt hatte, wenn auch anfangs nicht ganz ohne schlechtes Gewissen.

Nachdem ihm am Morgen dieses Tages Professor Tyler jedoch versichern konnte, daß keine akute Lebensgefahr mehr bestand, hatte er sofort Daisy Cooper von der guten Nachricht durch ein eiliges Telegramm unterrichten lassen, das Olaf noch vor dem Mittagessen im Ort aufgab. Dabei machte der junge Mann keinen Hehl daraus, daß er diese Depesche mit weitaus größerem Eifer und unübersehbarer Freude zur Telegrafenstation brachte als diejenige, die über eine Woche zuvor für Slim Sherman bestimmt gewesen war.

Jetzt, da offensichtlich keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, konnte sich Slim eher eine kurze Verschnaufpause gönnen, ohne sich gleich ein schlechtes Gewissen vorwerfen zu müssen, den schwerkranken Freund dadurch zu vernachlässigen, indem er ihn in seinem bejammernswerten Zustand sich selbst oder gar einem lüstern wartenden Tod überließ. Trotzdem wollte er ständig in seiner Nähe bleiben, solange ein noch so geringer Rest an Gefahr lauerte.

Erst jetzt bemerkte er, in welch herrlicher Gegend dieses Haus lag, die majestätischen Berge auf der anderen Seite des Tales, an deren Hängen sich dichte Wälder hinzogen, die größtenteils aus uralten Tannen und Kiefern bestanden, die bis zum Himmel zu wachsen schienen.

In der Nacht hatte es geschneit, Bäume und Landschaft trugen einen dünnen Überzug aus frischem Schnee, der in der klaren Luft und einer verschwenderisch scheinenden Wintersonne glänzte wie ein diamantbesetzter weißer Mantel.

Unten auf der Terrasse, dort wo es in den naturbelassenen parkähnlichen Garten ging, der schon bald mit dem Wald verschmolz, standen zweimal sechzehn Schachfiguren auf ihren Steinkaros, nicht geordnet, sondern anscheinend wahllos auf den Feldern, geradeso, als wäre jemand mitten im Spiel. Die Terrasse lag im Windschatten des Hauses, so daß sie nur ein unscheinbarer Schneebelag bedeckte, wie ein Hauch Puderzucker hingestreut; aber jede der schweren Holzfiguren trug eine schief sitzende weiße Kappe aus frischem Schnee.

Slim wunderte sich, weshalb die Figuren nicht an ihren Plätzen standen, konnte er sich kaum vorstellen, daß jetzt um diese Zeit jemand Gartenschach spielte, zumal in dem frischen Schnee keinerlei Fußspuren zu erkennen waren. Nur zwei Antilopenfährten führten bis kurz vor den Verandaaufgang. Anscheinend waren die Tiere auf der Suche nach Futter in den frühen Morgenstunden soweit bis zum Haus gekommen.

"Das ist unser letztes Spiel", erklärte George, der zu Slim trat und merkte, daß der Rancher zu dem Karree hinunterstarrte. "Die Figuren stehen noch so, wie wir es abbrechen mußten. Olaf wollte sie nicht aufräumen. Er ließ sie einfach stehen. Ich weiß nicht, warum." George blickte den großen Mann neben sich an, als wartete er darauf, daß er hierzu einen Kommentar abgab; aber Slim schwieg, starrte nur unverwandt hinunter. "Vielleicht, weil er nie die Hoffnung aufgegeben hat, daß wir diese Partie doch irgendwann beenden können."

"Ja", redete Slim vor sich hin, blickte über die Schulter zurück auf seinen schlafenden Freund im Hintergrund. "So wie es im Moment aussieht, war das ein guter Entschluß von Olaf, nicht wahr?"

"Das denke ich auch", nickte George aufatmend, ebenfalls in Richtung des Krankenlagers. "Olaf wird für ihn zwar noch eine ganze Weile die Figuren rücken müssen, aber Sie stellen sich nicht vor, wie gern er das machen wird. Das macht er nicht für jeden, müssen Sie wissen. Olaf reagiert nämlich ziemlich empfindlich, wenn man ihn als Lakaien mißbrauchen will."

"Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jess ihn so behandelte."

"Hat er auch nicht. Olaf macht das mit den Figuren freiwillig. Jess wäre nie auf die Idee gekommen, ihn darum zu bitten, geschweige denn, es zu verlangen. Ich glaube, Ihr Freund tut sich sehr schwer damit, jemanden um einen Gefallen bitten zu müssen, bloß weil er selbst etwas nicht kann aufgrund seiner momentanen Behinderung. Er hat bei allen anderen Dingen kaum unsere Hilfe beansprucht, solange er in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Erst als es anfing, ihm so schlecht zu gehen und er darauf angewiesen war, hat er es notgedrungen akzeptiert. Wie ich Ihnen schon sagte – ich hatte das Gefühl, es ist ihm peinlich, und er scheint sogar Ihnen gegenüber befangen."

"Ja, ich weiß. Es ist bestimmt nicht einfach für ihn, daß er im Augenblick so gut wie keine Kontrolle über seinen Körper hat. Er ist es gewöhnt, ihn bis in jeden Nerv, jede Faser zu beherrschen. Dabei schämt er sich weniger für seinen schlimmen Zustand als für den Umstand, jemand anderes damit belasten zu müssen. Das ist ihm nun einmal nicht auszureden. Auf der anderen Seite kann ich ihn allerdings verstehen. Ich glaube nämlich, mir wäre es an seiner Stelle auch peinlich, und zwar aus genau dem gleichen Grund."

Ein plötzliches Husten in ihrem Rücken ließ sie beide herumfahren, bewies es ihnen doch, daß sie den schwerkranken Mann nicht ohne Aufsicht lassen durften. Im Nu waren sie bei ihm, um ihm zu helfen. Zum Glück war das Oberteil des Bettes ständig hoch gestellt, auch wenn Jess schlief, um die Erstickungsgefahr in solchen Fällen so gering wie möglich zu halten, ihm die Atmung an sich zu erleichtern und sein strapaziertes Herz zu entlasten.

Der Anfall dauerte nicht sehr lange, förderte aber eine große Menge Auswurf aus seinen Luftwegen und verursachte ihm heftige Schmerzen in der Brust. George war sofort mit Stethoskop und Fieberthermometer zur Stelle, konnte einen besorgt dreinblickenden Slim Sherman jedoch beruhigen.

"Keine Angst, das hat sich schlimmer angehört, als es war", versicherte er, zog das Ende des Lüftungsschlauches näher, um Jess soviel frische Luft wie möglich zuzuführen. "Je mehr Auswurf er abhustet, desto schneller wird seine kranke Lunge wieder in der Lage sein, für eine ausreichende Atmung zur Verfügung zu stehen. Außerdem ist sein Fieber um ein weiteres halbes Grad gefallen. Womit sicher sein dürfte, daß er die Krisis endgültig überwunden hat. Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden unsere Partie Schach bestimmt beenden können. Es wird zwar eine sehr lange Weile dauern, bis es soweit ist, aber wir werden diese Gelegenheit gewiß haben."

"Sind Sie da wirklich sicher?" fragte Slim, nicht ganz so zuversichtlich wie der Mann auf der anderen Seite des Bettes.

"Ganz bestimmt!"

Nichts täte Slim lieber, als dies bedingungslos glauben. Aber Jess sah so erschreckend hinfällig aus, daß er sich besonders nach solchen Zwischenfällen wie gerade eben verstärkt fragte, ob das Telegramm, das er an Daisy Cooper geschickt hatte, nicht ein wenig zu optimistisch ausgefallen war. Schon wollte der schwache Hoffnungsschimmer angesichts des stetig vor sich hin keuchenden und sabbernden Freundes mehr und mehr verblassen, als dieser endlich die noch in tiefen Höhlen liegenden Augen aufschlug und diesmal den Rancher sofort erkannte.

Ehe Slim vor lauter Überraschung dazu in der Lage war, irgend etwas zu sagen, machte Jess' Rechte eine schwache tastende Bewegung, um ihn am Hemdsärmel zu zupfen und auf sich aufmerksam zu machen. Gleichzeitig probierte er es mit Sprechen, was ihm diesmal sogar einigermaßen gelang.

"Hallo, Slim!" lallte er mühsam, aber doch so deutlich, daß seine gebrochen klingende Stimme zu verstehen war.

Sofort hellte sich Slims ernste Miene auf. Erfreut und doch tief bewegt, ergriff er seine Hand, während er mit der anderen den aus seinem Mundwinkel fließenden Speichel wegtupfte, beinahe liebevoll.

"Jess!" rief er außer sich vor Freude, wußte im ersten Moment nicht, was er sagen sollte, als er dann die ziemlich abgedroschene Floskel von sich gab: "Herzlich willkommen unter den Lebenden! Das klingt so dämlich, ich weiß", redete er unbeholfen weiter, "aber ich bin vor Freude so durcheinander, daß mir nichts anderes einfällt."

Jess drückte seine Hand so fest, wie er konnte, aus Freude und Dankbarkeit, ihn zu sehen, ihn bei sich zu wissen.

"Danke, daß du da bist, Partner!" flüsterte er voller Zufriedenheit und schloß für Momente die Augen, schien selbst kaum zu glauben, daß er diesen aussichtslosen Todeskampf so einigermaßen überstanden hatte und noch lebte.

"Ich lasse Sie jetzt besser allein", sagte George, ohne anzunehmen, daß ihn jemand beachtete. Er selbst hatte das sehr deutliche Gefühl zu stören. "Ich bleibe in der Nähe, falls Sie mich brauchen sollten." Er griff über Jess hinweg an Slims Schulter, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. "Machen Sie nicht zu lange, bitte! Und keine Aufregung!"

Der Rancher machte eine zustimmende Geste zum Zeichen dafür, daß er verstanden hatte, und George erhob sich, um das Zimmer zu verlassen.

Dann gab es für Slim nur den Freund, der, immer noch mit geschlossenen Augen, fest seine Hand umklammert hielt, als wollte er über sie ein wenig Kraft aus Slims Körper ziehen, um seine eigenen schwachen Lebensfunktionen damit zu nähren. Wieder einmal wurde ihm dabei bewußt, wie glücklich er sich schätzen konnte, einen Freund zu haben, der auch bei ihm und für ihn da war, wenn er selbst Hilfe brauchte und nicht nur, wenn er welche geben sollte. Vom ärztlichen Standpunkt her gesehen, konnte Slim ihm gewiß nicht helfen, wohl aber vom menschlichen. Und diese Art von Hilfe war keineswegs weniger wert. Im Gegenteil! Daß er überhaupt noch lebte, schrieb Jess hauptsächlich dieser menschlichen Unterstützung zu.

Bedächtig wusch Slim ihm Gesicht und Hals. An seiner heißen Stirn war ohne Thermometer festzustellen, daß er noch relativ hohes Fieber hatte. Jess hatte die Augen geschlossen. Es schien ihm gutzutun, den eiswassergetränkten Lappen an seinen Schläfen zu spüren.

"Ich bin auch froh, daß ich hier bin", sagte Slim endlich und verstärkte wie zur Betonung den Druck seiner Hand, mit der er Jess' Rechte fest umschlossen hielt. "Ich bin so schnell gekommen, wie es ging. Trotzdem wäre es um ein Haar …"

"… zu spät gewesen, ich weiß", vollendete Jess leise den Satz in seinem Sinne, als Slim sich zu zieren begann. Mit halb geöffneten Augen blickte er jetzt zu dem Freund auf, der trotz aller Erleichterung sehr ernst wirkte. "Hat Tyler … dich benachrichtigt?"

"Ja, aber da war ich schon so gut wie unterwegs."

"Dann hast du … den Brief erhalten?"

"Ich hatte vorher schon wie eine Ahnung. Als dein Brief kam, war der nur Bestätigung, obwohl ich eine Weile brauchte, bis ich ihn verstanden hatte."

"Das war nicht mein Brief. Ich habe ihn nicht … ich habe George gebeten, es zu tun."

"Aber das weiß ich doch. Dadurch ist mir überhaupt erst aufgefallen, was du mir eigentlich sagen wolltest. Und Mike und Daisy haben nichts gemerkt. Das war doch deine Absicht, nicht wahr?"

"Ja", nickte Jess kaum merklich. "Tut mir leid, war wohl ein wenig … albern mit dem Brief. Aber ich wußte nicht, wie ich es sonst anstellen sollte, ohne daß die anderen etwas merkten."

"Ich fand es gar nicht albern. Ich wünschte nur, du hättest es mich früher wissen lassen."

"Du weißt doch, du solltest erst kommen, um mich … zu holen."

"Soll ich dir mal etwas sagen? Für so etwas habe ich keinerlei Vorkehrungen getroffen. Obwohl ich Schlimmes befürchtete, ist mir so etwas gar nicht in den Sinn gekommen."

"Das war leichtsinnig von dir."

"Wieso?" Slim verzog das Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen. Daß er mit ihm so unbeschwert reden konnte, hätte er vor kurzem nicht mehr für möglich gehalten. "Das war doch eine sehr vorausschauende – sagen wir – Nachlässigkeit. Du hast selbst gesagt, daß es dir in so einer Holzkiste viel zu eng wäre. Einen Freund sollte man grundsätzlich beim Wort nehmen."

"Wußte gar nicht, daß du so optimistisch sein kannst."

"Du etwa nicht?"

"Du wirst es nicht glauben, aber seit meiner Rückkehr aus der Hölle bin ich das tatsächlich."

Jess versuchte ebenfalls ein Grinsen. In seinem eingefallenen, hohlwangigen Gesicht wirkte es gespenstisch, ehe es mit einem Mal erstarb. Geräuschvoll zog er die Luft durch die Zähne. Gleichzeitig verkrampften sich die Finger seiner Rechten in Slims Hand. Ein Husten trieb den Schmerzpegel in die Höhe. Er spuckte schleimigen, mit rostigem Blut durchsetzten Auswurf. Schwere Atemnot kostete ihn viel Kraft, daß es eine sehr lange Weile dauerte, ehe er mit verzerrter Miene aufblickte.

"Entschuldige!" keuchte er in die Kissen, beinahe nicht zu verstehen, wobei unkontrolliert der Speichel aus seinem Mundwinkel rann. Es war ihm peinlich, aber er konnte es nicht verhindern. Bei dem Versuch, es aufzuhalten, verschluckte er sich und beschwor damit nur einen erneuten Hustenanfall herauf.

"Du sollst dich dafür nicht schämen und brauchst dich deshalb auch nicht zu entschuldigen!" erinnerte Slim, während er ihn geduldig wusch und nach dem, was George zu ihm gesagt hatte, froh war über jeden noch so geringen Schleimfetzen, der seine Atemwege verließ. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daran irgend etwas abstoßend oder gar ekelerregend zu finden. "Dieser Dreck hätte dich beinahe umgebracht. Spuck davon soviel aus, wie du kannst. Um so schneller wird es wieder besser."

"Gibst du mir … bitte einen Schluck Wasser?"

"Aber natürlich!" Slim füllte ein Glas auf dem Nachttisch, wobei er widerstrebend seine Hand freigab. "Du mußt sehr viel trinken. Das Fieber hat dich völlig ausgebrannt. Warte, ich helfe dir." Er hielt ihm das Glas an die Lippen, um ihn schluckweise trinken zu lassen. "Schön langsam und nicht verschlucken!"

"Danke!" sagte Jess mit rauher Stimme, nachdem das Glas leer war.

"Tut noch ganz schön weh, was?" fragte Slim ein wenig unbeholfen, als sich sein Gesicht erneut verzog und sich seine Finger um einen Zipfel der leichten Wolldecke krampften, die nur halb über ihn gebreitet war.

Immerhin hatte sich Jess schon soweit unter Kontrolle, daß er die Hand – wie ihn George ständig ermahnt hatte – von seiner zerschossenen Rippe fernhalten konnte. Wie lange seine Kraft für diese Konzentration reichte, vermochte er jedoch nicht zu sagen. Daß er allerdings auf Slims Frage hin kaum merklich nickte, war mehr als erstaunlich. Offensichtlich war er zu dem Schluß gekommen, daß es nach allem, was der Freund bei ihm während der letzten Tage und Nächte erlebt hatte, wenig Sinn machte, Kraft dafür zu verschwenden, um ihm etwas vorzugaukeln.

"Hätte nie für möglich gehalten, daß … mir einmal etwas dermaßen zu schaffen macht", stöhnte er, "oder mich so umhauen könnte."

"Die gute Pflege hier wird dich bestimmt bald wieder auf die Beine bringen. Wenn ich daran denke, was vor ein paar Tagen … Tyler hat dich mit seinen Medikamenten und dem Zeug, was er dir da jedesmal in den Arm spritzt, schon ordentlich hochgepäppelt. Du wirst sehen, in spätestens einer Woche läufst du wieder herum."

"Übertreib nicht so maßlos!" Trotz positiver Einstellung bezweifelte Jess, daß er selbst in zwei Wochen wieder auf den Beinen war. "Ich bin da etwas bescheidener. Mir reicht schon, wenn es nicht mehr schlimmer wird als im Moment." Sein verstohlenes Grinsen wirkte sehr oberflächlich und so geisterhaft wie das Bild auf einem Zerrspiegel, mit dem sich die Leute auf dem Jahrmarkt erschrecken ließen. "Ich glaube, diesmal hatte ich eine noch engere Tuchfühlung mit meinem Begleiter als vor Wochen."

"Welchem Begleiter denn?"

"Du weißt schon … der mit dem schwarzen Mantel. Erinnerst du dich? Diesmal müßtest du ihn doch auch bemerkt haben."

Slim wollte schon sagen, daß er ihn in seinem Gesicht gesehen hatte, als er zum ersten Mal dieses Zimmer betrat; aber er wollte nicht allzu direkt sein. Daß sie sich später gewiß in ihrer freundschaftlich lockeren Art über dieses Thema auslassen konnten, stand für ihn außer Frage. Aber nicht jetzt, da Jess gerade erst begann, seine Umwelt einigermaßen bewußt zu erleben. Zwar konnte sich Slim nicht vorstellen, daß er inzwischen empfindlicher in dieser Beziehung geworden war, aber es konnte sicherlich nicht schaden, ihn vorerst mit solchen Sprüchen zu verschonen.

"Ich habe ihn mit der ganzen Gewalt, die ich zusammenkratzen konnte, vertrieben – denke ich zumindest", sagte er statt dessen und umschloß wieder seine Hand.

"Ich wußte, daß du der einzige bist, der ihn von mir fernhalten kann. Deshalb habe ich dir diesen Brief geschickt. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft, und wenn mir Tyler noch soviel von seinen Mittelchen in den Arm oder sonst wohin gespritzt hätte. Komisch, ich wußte nicht, daß du gekommen warst, kann mich nicht erinnern, dich gesehen oder gehört zu haben – ich kann mich an überhaupt nichts erinnern! –, und trotzdem spürte ich, daß ich auf einmal nicht mehr allein war."

"Du warst nie allein, auch als ich noch nicht hier war. George und Professor Tyler haben sich ständig um dich gekümmert."

"Das meine ich nicht. Ich kann es nicht richtig erklären. Ich wußte nicht, daß du da warst, ich habe es gefühlt, ohne daß es mir bewußt gewesen wäre."

"Professor Tyler nannte es Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht mit Wissenschaft und Logik zu erklären sind. Auch daß du überhaupt noch lebst, bezeichnete er als eines dieser Dinge. Weißt du, als ich hierherkam, hat er mir gesagt, du würdest …" Slim überlegte für Sekunden, ob er es sagen sollte. "… im Sterben liegen. In dem Moment, als ich dich zum erstenmal sah, habe ich ihm das auf Anhieb geglaubt. Ich fürchtete sogar, es wäre schon alles vorbei und ich zu spät. Ich werde diesen furchtbaren Anblick nie vergessen. Aber dann habe ich mich zu dir gesetzt und mich einfach geweigert, dieses Ende zu sehen, das ich direkt vor Augen hatte. Ich weiß nicht mehr, an was alles ich gedacht habe. Ich glaube sogar, ich konnte überhaupt nicht denken. Ich saß nur da, habe deine Hand gehalten und zum lieben Gott gebetet, tagelang, nächtelang. Ich weiß nicht mehr, wie lange es war. Als du zum erstenmal nach Ewigkeiten zu dir gekommen bist – wahrscheinlich ohne daß es dir überhaupt bewußt wurde –, habe ich da gehockt und vor Freude geweint. Stell dir vor, ein Kerl wie ich hockt einfach da und heult! Lach mich ruhig aus, aber ich habe mich für meine Tränen nicht geschämt."

"Warum sollte ich darüber lachen? Wenn ich es täte, wäre ich es dann wert gewesen?"

Zunächst erwiderte Slim nichts darauf. Seiner Meinung nach bedurfte es gar keiner Antwort, jedenfalls keiner, die aus Worten bestand. Er sah den Freund nur an, drückte stumm seine Hand. Ihre Blicke trafen sich, voll innerer Bewegtheit und freundschaftlicher Zuneigung. Da wußte Slim, daß er um ein Haar nicht nur einen Bruder mit diesem Mann verloren hätte, sondern den Großteil seines eigenen Lebens. Wie er es seinem Schöpfer jemals danken konnte, dieses Menschenleben noch einmal geschenkt zu erhalten, entzog sich seiner Kenntnis. Es war ihm teurer denn je, soviel stand fest.

"Weißt du was, Partner?" meinte er nach einer langen Weile, in der sie beide diesen Augenblick offensichtlich genossen. "Auch ich muß dir danken, mehr noch als du mir! Stell dir bloß einmal vor, es wäre anders gekommen! Ich könnte mich nicht mehr nach Hause trauen, weil ich nicht wüßte, was und wie ich es Daisy und Mike hätte sagen sollen. Du stellst dir nicht vor, wie froh ich bin, daß ich mir darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen muß."

"Es wäre vielleicht sowieso besser, ihnen nicht zu erzählen, was du vorgefunden hast. Ich möchte dich sogar darum bitten. – Wie geht es überhaupt zu Hause? Was machen die beiden?"

"Sie vermissen dich sehr. Daisy läßt sich nicht viel anmerken; aber dem Jungen fehlst du."

"Er fehlt mir auch. Trotzdem bin ich froh, daß ich in diesem Zustand nicht zu Hause bin und er mich so nicht sieht. Es wäre furchtbar, wenn ich ihm auch das noch antun müßte. Schlimm genug, daß ich es dir zugemutet habe. Für den Jungen wäre es bestimmt zuviel."

"Für den Jungen garantiert, aber meinetwegen brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Sicher, ich habe hier an diesem Bett furchtbare Augenblicke erlebt. Viel schlimmer wäre allerdings gewesen, wenn ich es zu spät erfahren hätte oder du die Augen überhaupt nicht mehr aufgemacht hättest. Und wie Mike auf so etwas reagiert hätte, versuche ich mir lieber nicht ausführlicher vorzustellen."

"Besser, wenn ich es ebenso lasse. Und was ist mit diesem Charlie?" wollte sich Jess noch weiter ablenken.

"Ich glaube, der ist ein echter Glücksgriff. Bis jetzt erweist er sich als sehr fleißig und zuverlässig. Ich habe ihm zwar gesagt, daß ich mit ihm sehr zufrieden bin und gerne hätte, wenn er bliebe, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß du dem zustimmst, denn ich würde dich auf keinen Fall bei dieser Entscheidung übergehen. Aber ich denke, er wird dir auch zusagen."

"Wenn du sagst, er ist in Ordnung, wird er das wohl sein. Warum sollte ich nicht mit ihm einverstanden sein?"

"Ich kann mir zwar auch keinen Grund vorstellen, trotzdem kann ich nicht über deinen Kopf hinweg entscheiden, zudem du in erster Linie mit ihm auf der Weide zu tun haben wirst."

"Bis es soweit ist, wird noch viel Wasser den Berg hinunterfließen – sehr viel sogar! Wer weiß, ob ich für diese Ranch überhaupt jemals wieder von vollem Nutzen sein werde."

"Bitte fang nicht gleich wieder an, so zu reden!"

"Entschuldige, aber das hat wirklich nichts mit Schwarzseherei zu tun. Das weißt du so gut wie ich. Deshalb sollten wir auch offen darüber reden. Insofern solltest du versuchen, diesen Charlie zu halten, wenn er wirklich eine so gute Kraft ist. Ich werde schon mit ihm auskommen. Oder ist er so unverträglich?"

"Woher denn! Sogar Mike hat mittlerweile mit ihm Frieden geschlossen."

"Frieden geschlossen?"

"Ja, so nach dem ersten Kräftemessen."

"Versteh' ich nicht."

"Na ja, eigentlich sollte ich es dir jetzt nicht sagen, jedenfalls noch nicht – nicht daß du dich deswegen vielleicht aufregst. Ich möchte nämlich nicht …"

"Keine Angst, ich rege mich nicht auf. Das ist mir im Moment viel zu anstrengend." Müde grinsend, blickte Jess zu ihm auf. Es war ihm anzusehen, daß ihn die Unterhaltung auch ohne Aufregung sehr viel Kraft kostete, was allein seine verhaltene Stimme und sein schweres Atmen verrieten. "Was gab es also zwischen Mike und diesem Charlie?"

"Na ja, anfangs bildete sich Mike wohl ein, eifersüchtig sein zu müssen."

"Eifersüchtig?" Erstaunt zog Jess die Brauen hoch, daß sein leichenblasses Gesicht mit den überdeutlichen Zeichen seiner schweren Krankheit sogleich verzerrt wirkte. "Wieso denn?"

"Genau kann ich dir das gar nicht erklären. Das Ganze ist wohl hauptsächlich seiner sehr lebhaften Phantasie entsprungen, zum Teil aus der Situation heraus, zum Teil aber auch, weil ich anscheinend unbeabsichtigt Öl ins Feuer gegossen habe mit meiner Reaktion."

"Also, entweder ist mein Fieber noch so hoch, daß mein Verstand nicht ganz klar ist, oder aber du redest tatsächlich in lauter Rätseln. Ich verstehe nicht das geringste. Kannst du dich nicht ein wenig präziser ausdrücken?"

Slim hätte es wissen müssen, daß er mit seinen Ausflüchten den Freund um so neugieriger machte, zudem er überhaupt davon angefangen hatte, obwohl er mit ihm darüber jetzt noch nicht sprechen wollte. Irgendwie kam es ihm allerdings so vor, als ob er es unbedingt los werden wollte oder sogar mußte, wie um sein Gewissen zu erleichtern. Erstens wollte er nicht, daß Jess es vielleicht zuerst aus einem von Mikes Briefen erfuhr, obgleich der Junge versichert hatte, lieber mit Jess persönlich darüber zu reden, und zweitens hatte er das Gefühl, daß es unfair war, wenn er einfach so tat, als hätte diese Meinungsverschiedenheit im wahrsten Sinne des Wortes nicht existiert.

Jess war zwar noch ein todkranker Mann, aber trotzdem regten ihn Halb- oder Unwahrheiten oder gar Heimlichtuereien nach wie vor mehr auf, als unangenehme Dinge sofort zu klären, vor allem, wenn sie seine nächsten Angehörigen betrafen. Falsche Rücksichtnahme konnte ihm da im nachhinein mehr schaden als Offenheit. Demzufolge hielt es Slim wirklich für das beste, gleich reinen Tisch zu machen, mit Rücksicht auf Jess' miserablen Gesundheitszustand jedoch nur in stark heruntergespielter Form, handelte es sich bei dem Ganzen sowieso um kein Drama, sondern eher um eine kindliche, voreilige Überreaktion, die jeder Grundlage entbehrte. Genauso harmlos schilderte er es deshalb, und als genauso harmlos faßte es auch Jess auf, sehr zu Slims Beruhigung, hatte er doch mit einer heftigeren Reaktion gerechnet und sie auch befürchtet, nicht seinetwegen, sondern wegen der schlechten Verfassung, in der sich der Freund befand.

"Dieser Lausebengel! Wie kommt er bloß darauf?"

"Ich habe keine Ahnung." Slim zuckte zum Nachdruck mit den Schultern. Beim Weitersprechen sah er den Freund offen an. "Wahrscheinlich ist es hauptsächlich meine Schuld, weil ich in letzter Zeit ziemlich grantig war, auch oder vor allem ihm gegenüber. Meine Nerven waren schon einmal wesentlich stabiler, und meine Geduld hat auch schon bessere Tage erlebt. Na ja, du kennst mich doch. Ich muß ihm nicht nur ungehalten vorgekommen sein, ich war es auch oft. Wenn er mich dann mit naiven Fragen löchert oder nicht so reagiert, wie ich es erwarte, wirkt es anscheinend auf ihn doppelt abweisend. Ich kann meine eigenen Probleme nicht so gut überspielen wie du. Ich habe mir wirklich sehr große Sorgen gemacht. Dann kann ich nicht gleichzeitig … Tja, und als ich dann Charlie gebeten habe, mit uns im Haus zu essen, weil es so auch für Daisy einfacher ist, und er sich zu allem Überfluß nichts ahnend auf den Platz setzen wollte, wo du gewöhnlich sitzt, ist bei Mike das Faß übergelaufen. Irgendwie kann ich seine Reaktion verstehen."

"Ich nicht ganz, zumindest nicht, wieso er darauf kommt, das alles könnte etwas mit unserer Freundschaft zu tun haben, zudem er genau weiß, wie wir zueinander stehen."

"Sicher, aber du solltest das vielleicht nicht zu sehr überbewerten. Das ist alles eine besondere Situation. Mike hat Dinge erlebt und gesehen, muß mit Sorgen und Ängsten fertig werden, die selbst für mich kaum zu bewältigen sind. Und wenn dann so ein Ochse, wie ich es bin, auf seinen kindlichen Empfindungen herumtrampelt, ist es kein Wunder, wenn solche Ideen in seiner Phantasie herumzuspuken beginnen. Oder … ich meine, du wirst hoffentlich nicht denken … Jess, du denkst doch nicht, daß da … daß sich da tatsächlich … Das denkst du doch nicht von mir?"

"Wovon redest du?"

Jetzt war Jess doch ein wenig verwirrt. Natürlich wußte er, wovon Slim sprach; nur wußte er nicht, weshalb es ihm damit plötzlich so ernst war. Slim sah den Freund betreten an, brachte keinen Ton heraus. Mit einem Mal kam er sich vor wie ein Elefant im Porzellanladen. Ärgerlich über sich selbst, daß er solchen Unsinn von sich gegeben hatte, schüttelte er den Kopf und senkte den Blick.

"Verzeih mir!" sagte er und fuhr sich übers Gesicht.

"Gibt es denn überhaupt etwas zu verzeihen? – He!" Jess schubste ihn mit einer schwachen Bewegung seiner Rechten an, weil er nicht genügend Kraft besaß, seinen Arm zu heben und den seinen fest zu packen. "Denkst du, ich hätte dir dann diesen Brief geschickt, wenn ich so etwas angenommen hätte? Wärst du dann überhaupt hier, wenn es etwas zu verzeihen gäbe?"

"Verdammt, Jess …" Slim blickte endlich zu ihm auf. "Ich bin wirklich der dämlichste Ochse, der auf dieser Welt herumläuft. Das ist nicht zu verzeihen! Du bist ein schwerkranker Mann, und ich hocke hier und rede nur dummes Zeug. Dabei sollte ich …"

Er brach ab, weil er merkte, daß er schon wieder dabei war, in seiner Unbeholfenheit Dinge zu sagen, die er gar nicht zu sagen beabsichtigte und damit bloß mit Gewalt ein Feuer schürte, das er eigentlich im Keim ersticken wollte und zudem völlig unnötig, weil unbegründet war.

Erwartungsvoll waren zwei müde Augen auf ihn gerichtet, nicht deshalb, weil Jess eine Bestätigung oder Entschuldigung hören wollte für etwas, das gar nicht vorgefallen war, sondern um dem Freund Gelegenheit zu geben, dieses absurde Thema endlich zu beenden. Er wollte es ihm überlassen, denn schließlich war es Slim gewesen, der es begonnen hatte. Zudem sah er keinerlei Veranlassung, sich über diesen Unsinn, wie er es bezeichnen wollte, weiter zu unterhalten. Dazu fehlte ihm die nötige Kraft. Aber selbst wenn er davon genügend zur Verfügung gehabt hätte, wäre sie ihm zu kostbar gewesen, um sie für so etwas zu vergeuden. Wenn Slim nicht selbst wußte, daß und wie er diese Lächerlichkeit zu beenden hatte, war ihm wirklich nicht zu helfen.

Ganz allmählich begann sich Slims Gesicht aufzuhellen. Schließlich konnte er über seinen Dilettantismus nur noch grinsen.

"Du hast recht!" schmunzelte er und umschloß zum Nachdruck fest seine rechte Hand. "Wovon reden wir hier eigentlich? Hast du eine Ahnung?"

"Nicht die geringste", erwiderte Jess, zufrieden aufatmend über diese Einsicht.

Atemnot und Schmerzen machten ihm jedoch wieder vermehrt zu schaffen. Die zuerst kaum merkliche Veränderung in seinem Gesicht und seiner Sprechweise fiel Slim natürlich sofort auf, aber anfangs tat er einfach so, als bemerkte er es nicht. Jess hätte es womöglich nur abgestritten, trotz seines Vorsatzes, ehrlich zu sein, versucht, seine Schwäche herunterzuspielen, und wertvolle Kraft für sein Täuschungsmanöver verschwendet. Bald ließen die Stiche in seiner Brust ihm beinahe den Atem stocken.

Besorgt legte Slim die Hand an seine Schulter, berührte ihn jedoch eher zaghaft, weil er Angst hatte, es mit einer festeren Berührung nur noch schlimmer zu machen. Trotzdem wollte er ihn mit dieser Geste wissen lassen, daß er sofort zur Stelle war, wenn er Beistand benötigte, obwohl beiden sehr genau bewußt war, daß er ihm nichts abnehmen konnte.

"Du hast arge Schmerzen, hm?"

"Halb so wild", stöhnte Jess; es war nicht nur untertrieben, sondern gelogen.

Anscheinend machte ihn seine Schwäche wesentlich empfindlicher als sonst. Nur so konnte er sich die niedrige Reizschwelle erklären, bei der das Stechen bereits unangenehm wurde. Daß es nicht an einer niedrigen Reizschwelle, sondern einfach nur an der Heftigkeit seiner Schmerzen liegen könnte – auf diese Idee kam er nicht.

"Ich werde George rufen, damit …" Slim wollte nach dem Klingelzug über dem Bett greifen, aber Jess konnte ihn gerade noch davon abhalten.

"Nein, nicht nötig!" keuchte er. "Es … es wird schon gehen. Ist … ist nicht so schlimm."

Bereits das letzte Wort wurde von einem bellenden Husten verschluckt, der sich fürchterlich anhörte und erneut eine große Menge zähflüssigen Auswurf förderte. Slim half ihm und sorgte dafür, daß er auch tatsächlich alles ausspuckte, wusch ihn und wartete geduldig, bis er sich allmählich beruhigte und aufhörte, zu würgen und zu sabbern. Sein schweißbedecktes Gesicht war entstellt von Anstrengung und Schmerzen. Dieser letzte Anfall erschöpfte ihn völlig, daß er nur noch mit Mühe die Augen offen halten konnte.

"Soll ich nicht doch lieber George oder Professor Tyler holen? Nicht daß …"

"Laß nur!" flüsterte Jess mit gebrochener Stimme, die jeden Augenblick ihren Dienst zu versagen drohte. "Du könntest … mir nur noch einen Schluck Wasser geben, bitte!"

"Selbstverständlich!"

Slim schenkte ein und ließ ihn trinken. Jeder Schluck kostete ihn viel Kraft, und die Hälfte des Wassers floß ihm aus dem Mund, rann über seine Lippen, lief ihm über Kinn und Wange. Trotzdem tat ihm das frische Wasser gut, obwohl er eine ganze Weile keuchen mußte wie ein Ertrinkender, der zuviel Flüssigkeit in die Luftröhre bekommen hatte.

"Ich bin fix und fertig!" gestand Jess kurzatmig, stetig vor sich hin keuchend.

"Du solltest jetzt nicht mehr soviel reden und lieber versuchen, etwas zu schlafen", mahnte Slim in fürsorglich brüderlichem Ton, während er mit einem feuchten, kühlen Lappen sein schweißglänzendes Gesicht betupfte. "Oder willst du es mit Gewalt herausfordern?"

Daß Jess sogar mit einer schwachen verneinenden Kopfbewegung auf diese Frage reagierte, versetzte Slim in leichtes Erstaunen. Dem Freund mußte es auf einmal wieder sehr schlecht gehen, wenn er so kommentarlos mit ihm darüber einer Meinung war.

"Du … bleibst doch noch?"

"Aber natürlich!" Sofort ergriff Slim seine Hand, um seine Worte mit dieser Geste zu unterstreichen. "Ich habe Daisy telegrafiert, daß ich auf jeden Fall noch ein paar Tage hierbleiben werde. Im übrigen werde ich so lange bleiben, wie du es möchtest."

"Danke! Weißt du, der Kerl mit dem Umhang … habe das Gefühl, der treibt sich immer noch hier herum. Du scheinst wirklich der einzige zu sein, der ihn mir vom Leib halten kann."

"Du brauchst vor ihm keine Angst mehr zu haben. Ich werde ihn nicht an dich heran lassen. Zur Not lege ich mich selber mit ihm an. Verlaß dich darauf!"

Daraufhin erntete Slim einen zufriedenen, dankbaren Blick. Zu mehr war der Freund nicht mehr fähig. Wenige Augenblicke später übermannte ihn trotz Schmerzen und Atemnot ein schwerer Schlaf, gegen den er sich nicht durchzusetzen vermochte, der ihn mit Sicherheit davor bewahrte, allzu ausufernden Raubbau mit seiner kaum vorhandenen Kraft zu treiben, was garantiert zu einem schweren Rückfall geführt hätte, den er sich unter keinen Umständen leisten konnte. Er hätte ihn nicht überlebt.

Während der folgenden Tage, in denen Jess die meiste Zeit mit Schlafen verbrachte, zeichnete sich kaum eine weitere Besserung seines Zustandes ab. Schmerzen und Atemnot quälten ihn zuweilen so stark, daß er sogar froh war, wenn George oder Professor Tyler ihm Medikamente zur Linderung gaben. Das Fieber hielt sich ebenfalls sehr hartnäckig auf ziemlich hohem Niveau, was weiterhin sein Herz belastete, stellte jedoch wenigstens keine akute Gefahr für sein Leben dar, sofern es nicht wieder anstieg. Aber es schwächte ihn mehr, als er sich von den enormen Strapazen erholen konnte, so daß er nach wie vor ein Bild des Schreckens bot mit seinem völlig abgezehrten Körper, dem eingefallenen Gesicht und der aschfahlen Haut, einer Art Pergament ähnlich, das welk einen Berg Knochen überzog, der zufällig einem vollständigen menschlichen Skelett glich, an dem ein paar Fleischreste hingen. Daß in dieser furchteinflößenden Gestalt noch Leben war, überstieg längst die Grenze zu einem Wunder.

An manchen Tagen ging es ihm beängstigend schlecht, daß er kaum einmal richtig zu sich kam oder in der Lage war, seine Umwelt klar zu erkennen oder gar zu sprechen. Dann starrte er trübsinnig vor sich hin mit einem stumpfen Blick, der einem regelrecht das Fürchten lehrte und das Schlimmste befürchten ließ.

Es gab aber auch Tage, an denen es ihm für kurze Momente oder manchmal auch Stunden besser zu gehen schien, in denen seine Lebensgeister richtiggehend erwachten, daß in seine Augen der altvertraute Glanz zurückkehrte und er sich lange mit Slim oder George unterhalten konnte, bis ihn der nächste Hustenanfall überfiel und seine Genesung sofort um Tage zurückwarf. Die beständige Atemnot versetzte ihn nicht selten in Panik, wenn er glaubte ersticken zu müssen oder die Schmerzen so schlimm waren, daß er sie kaum aushielt.

Trotz schwerer Krankheit, anhaltend hohem Fieber und stärkster Medikamente blieb er völlig klar bei Verstand, wenn er oftmals auch einige Zeit brauchte, um sich beim Aufwachen zurechtzufinden, geriet anfangs in zunehmende Unruhe, wenn er den Freund nicht sofort entdeckte, um jedoch gleich zufrieden aufzuatmen, wenn er ihn erkennen konnte, merkte, daß er seine Hand hielt und ihm versicherte, dem Seelenräuber mit dem schwarzen Umhang, der sich heimlich in der Nähe herumschlich, keinerlei Chance zu bieten.

Erst nach mehr als einer weiteren Woche zeichnete sich eine merkliche Besserung ab, das Fieber begann weiter zu fallen, sein labiler Zustand sich zu festigen.

Nach ein paar weiteren Tagen überraschte er Slim mit der Bitte, wieder nach Hause zurückzukehren, weil er sich sonst Sorgen um die Daheimgebliebenen machen wollte. Es konnte keinen deutlicheren Beweis geben, daß er sich nun tatsächlich unaufhaltsam auf dem Weg der Besserung befand und vor allen Dingen zuversichtlich genug war, um den restlichen Kampf allein weiterführen zu können. Kaum kehrte dieses Vertrauen in die eigene Vitalität zurück, als mit diesem sofort die Sorge um seine Angehörigen wuchs und vor die eigenen Angelegenheiten in den Vordergrund rückte.

"Bist du sicher, daß ich dich schon allein lassen kann?" war Slim zunächst skeptisch, obwohl er es während der letzten Tage mit Freude registriert hatte, daß es dem Freund, verglichen mit den vorangegangenen drei Wochen, ausgesprochen gut zu gehen schien, entwickelte er sogar allmählich einen gewissen Appetit beim Essen, was nur ein positives Zeichen sein konnte.

"Bestimmt, glaube mir, ich würde dich sonst nicht darum bitten. Auf keinen Fall geht es mir schlechter, als ich hierherkam." Das war zwar etwas übertrieben, aber zumindest waren seine Aussichten besser als damals. "Aber George hat mir gesagt, es hätte heute nacht geschneit. Ich möchte nicht, daß du meinetwegen hier festsitzt, bloß weil wir eingeschneit wurden. Solange darfst du Mike und Daisy nicht allein lassen."

"Um die zwei brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Charlie ist doch da und paßt auf."

"Trotzdem … ich bin beruhigter, wenn du auf sie aufpaßt. Charlie ist nicht du. Ich habe Mike dir anvertraut, nicht ihm."

"Du bist beinahe schon wieder der alte, was? Machst dir mehr Gedanken um andere als um dich selber. Jess, du bist noch lange nicht gesund. Es kann jederzeit …"

"Du willst hoffentlich nicht so lange hierbleiben, bis ich mit dir nach Hause fahren kann?"

"Das nicht, aber ich will die Heimreise ruhigen Gewissens antreten können. Deshalb muß ich sicher sein, daß du außer Gefahr bist."

"Keine Angst, du hast dem Kerl mit dem schwarzen Mantel ein für allemal den Garaus gemacht. Sollte er sich dennoch zurückwagen, werde ich ihm den Rest geben können. Ich bin sicher, daß ich dann allein mit ihm fertig werde." Jess verzog das Gesicht zu einem grimmigen Grinsen. "Wenn nicht, lasse ich George einfach wieder so einen ungereimten Brief schreiben."

"Du solltest darüber keine faulen Witze machen. Ich möchte jedenfalls nicht noch einmal so etwas erleben müssen."

"Ich auch nicht! Und ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich dir für deinen Beistand bin. Ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben. Das ist jedenfalls sicher! Ich weiß nicht, ob es außer mir viele Menschen gibt, die sich glücklich schätzen können, einen solchen Freund zu haben, der auch für einen da ist, wenn es einem so dreckig geht, wie es mir gegangen ist, der sich tage- und nächtelang neben einen hockt und in Gedanken dem Tod für einen die Stirn zeigt, weil man selbst nicht mehr genug Kraft dafür hat. Hätte ich jemals an deiner aufrichtigen Freundschaft gezweifelt, müßte ich mich jetzt zu Tode schämen; ich könnte dir nie wieder in die Augen sehen. Ich danke dir mehr, als ich überhaupt in Worte fassen kann."

"Du brauchst nichts in Worte zu fassen, denn ich habe nichts getan, was du nicht auch für mich getan hättest. Im übrigen ist es für mich der schönste Dank, daß du nach diesen furchtbaren Stunden und Tagen wieder die Augen aufgeschlagen hast. Etwas Schöneres kann ich mir im Moment nicht vorstellen."

"Und du denkst nicht von mir, daß ich undankbar bin und dich loswerden will …"

"Jess", fiel Slim ihm ins Wort, "wenn ich das denken würde, wäre ich dann der Freund, bei dem du dich gerade bedankt hast?"

Ein wenig verlegen blickte Jess zu ihm auf.

"Du hast recht. Ich sollte nicht solchen verworrenen Unsinn reden. Mein Verstand muß wohl doch etwas gelitten haben."

"So schlimm ist es Gott sei Dank nicht, aber vielleicht sind das die Nachwehen von dem hohen Fieber, das dir so lange zu schaffen machte", schmunzelte Slim. "Na gut!" willigte er dann schweren Herzens ein. "Wenn du es unbedingt so haben willst, werde ich Olaf bitten, sich nach einer Zugverbindung Richtung Norden zu erkundigen."

"Danke! Glaube mir, es ist besser so. Auf jeden Fall werde ich beruhigter sein. Ich verspreche dir auch, mich mit dem Gesundwerden zu beeilen, damit das mit der Viehauktion in Denver noch hinhaut."

"Ach, Jess, das mit der Viehauktion habe ich doch bloß so gesagt. Das weißt du doch!"

"Ja, ich weiß, aber deshalb sollten wir sie trotzdem im Auge behalten."

"Du solltest in erster Linie deine Genesung im Auge behalten. Du wirst dich hier erst gründlich auskurieren! Und du wirst erst nach Hause kommen, wenn es Professor Tyler erlaubt, wenn er der Meinung ist, daß du ganz gesund bist."

"Es ist nach wie vor nicht sicher, daß ich das werde."

"Na schön, dann bis er der Meinung ist, daß du hier nicht mehr gesünder werden kannst", korrigierte Slim, damit er zufrieden war. "Mir ist egal, wie lange das dauert, hörst du? Wichtig ist nur, daß du es wirst. Du wirst dich hier schön ausruhen und verwöhnen lassen und genau Professor Tylers Anweisungen befolgen! Ich bitte dich darum, Jess! Inständig!"

"Ich verspreche es. Weißt du, dieses Leben ist mir mittlerweile viel zu wertvoll geworden, als daß ich es durch meine Dickköpfigkeit unnütz aufs Spiel setzen wollte. Das habe ich bei meinem Gang durch die Hölle gelernt. Ob ich mich den Rest meines Lebens daran halten werde, kann ich nicht versprechen, wohl aber so lange ich hier bin. Ich würde sonst deinen Beistand mit Verachtung strafen. Dann wäre ich ihn nicht wert gewesen."

"Ganz so streng würde ich es zwar nicht sehen, trotzdem bin ich froh, daß das ein Ansporn für dich in diesem Fall ist. Aber nicht daß du deshalb gleich ins andere Extrem fällst und überhaupt nicht mehr heim willst, weil du dich vielleicht zu sehr an den Komfort hier gewöhnst."

"Könnte fast passieren, aber ich kann es nicht verantworten, Mike mit einem starrsinnigen Dickkopf wie dir länger allein zu lassen, als unbedingt notwendig ist. Nicht auszudenken!"

"Eben, wo er doch bei einem starrsinnigen Dickkopf wie dir viel besser aufgehoben ist", bemerkte Slim spitzfindig, wobei er sich absichtlich seiner Worte bediente.

Er grinste bis über beide Ohren, konnte keinem erzählen, wie sehr er dieses neckische Hin und Her genoß, hatte er doch befürchtet, es nie wieder zu erleben. Noch vor wenigen Tagen war Jess kaum fähig gewesen, überhaupt einen Ton herauszubringen, fing sofort an zu husten und in Atemnot zu geraten, wenn er nur Anstalten machte zu sprechen. Zwar klang auch heute seine Stimme noch etwas dünn und brüchig, man merkte ihm seine Kurzatmigkeit auf Anhieb an und auch, daß er gelegentlich heftige Schmerzen zu haben schien, aber in seine Augen war ein warmer Glanz zurückgekehrt, immer wieder aufgehellt von diesem schelmischen Glitzern, das Daisy Cooper so an ihm liebte und auch Slim verriet, daß er auf dem besten Weg war, zumindest was seine Zuversicht und seine Lebenseinstellung betraf, ganz der alte Jess Harper zu werden, den er bis vor diesem Zwischenfall auf der Ranch vor nun schon so vielen Wochen kannte. Keiner freute sich so wie er, daß dieser Mann eine – im wahrsten Sinne des Wortes – zweite Lebenschance erhalten hatte. Natürlich wußten beide, daß Jess noch nicht über dem Berg war. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß er diese Hürde nahm, war noch nie so groß gewesen.

"Weißt du was?" meinte Slim schließlich, zwar immer noch schmunzelnd, aber doch mit einem ernsten Unterton in der Stimme. "Heute gefällst du mir zum erstenmal wieder so einigermaßen seit langer, langer Zeit. Dein Äußeres läßt ja noch arg zu wünschen übrig. Trotzdem kann ich sehen, daß es gewaltig mit dir bergauf geht – in deinen Augen steht das. Die sind Gott sei Dank wieder voller Leben. Trotzdem mußt du vorsichtig sein. Du hast immer noch Fieber, und deine Husterei jagt einem gelegentlich auch noch gehörige Schrecken ein."

"Ich weiß, aber deshalb brauchst du dir nicht gleich wieder Sorgen zu machen. Ich fühle, daß es langsam besser wird. Und das baut mich unheimlich auf nach diesen unendlichen Wochen und Monaten, in denen ich nur spürte, wie dieser unheimliche Schatten um mich herum ständig wuchs und wuchs wie ein eitriges Geschwür, das mich allmählich zerfressen hätte. Es ist furchtbar zu wissen, den Tod in sich zu haben und nichts dagegen tun zu können. Ich weiß, daß ich ihn noch nicht völlig abgeschüttelt habe, aber genauso weiß ich, daß meine Kraft, gegen ihn zu kämpfen, mit jedem Augenblick größer wird. Ich hoffe, daß ich bald stark genug sein werde, ihn endgültig zu vertreiben." Jess, vorübergehend sehr ernst geworden, blickte mit einem zufriedenen Schmunzeln auf. Zur Besserung seines körperlichen Zustandes gehörte ein deutliches Aufleben seiner Gemütsverfassung. "Außerdem kann ich dir schließlich nicht zumuten, daß du laufend diese Reise hierher machen mußt, nur um bei mir Händchen zu halten. Was sollen denn die Leute denken?"

"Interessiert dich das etwa?"

"Nicht die Bohne! Zudem für mich feststeht, daß du mir damit das Leben gerettet hast. Was kümmern mich dann die Leute!"

"Eben. Allerdings bin ich, was den Grund dieser Reise angeht, uneingeschränkt mit dir einer Meinung. Vor allem in deinem eigenen Interesse möchte ich eine solche Reise nie wieder machen müssen. Ich kann niemandem sagen, wie froh ich bin, daß ich die Heimreise mit nur demselben leichten Gepäck machen muß wie die Herfahrt."

"Ja, nur mir wäre lieber, wenn dein Gepäck noch etwas leichter wäre."

"Was meinst du damit – noch leichter?"

Slim schien wirklich nicht zu wissen, was er mit dieser Andeutung sagen wollte, weshalb er ihn reichlich verwirrt ansah und die Brauen zusammenzog. Er verstellte sich nicht, sondern hatte tatsächlich nicht die geringste Ahnung.

"Ich meine den Ballast, den du mit dir herumschleppst." Jess machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung seiner Brusttasche. "Hat es dir George nicht ausgerichtet?"

"Daß du dich daran überhaupt erinnern kannst!" ging Slim endlich ein Licht auf.

"Warum sollte ich das nicht können? Schließlich war ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz weggetreten. – Was ist also mit dem Ding?"

"Was soll schon damit sein?" erwiderte Slim etwas abweisend mit einer Gegenfrage. Offensichtlich war ihm dieses Thema unangenehm wie eh und je. "Du denkst hoffentlich nicht, daß es damit getan ist, wenn ich sie wegwerfe. So leicht läßt sich das nicht aus der Welt schaffen. Gerade du müßtest das verstehen." Dies sollte kein Vorwurf sein. Es klang eher wie die inständige Bitte von jemandem, der um Nachsicht für sich selbst, sein Verhalten, seine eigene Unzulänglichkeit flehte, weil er sich außerstande sah, im Augenblick selbst etwas daran zu ändern. "Ich bin noch nicht so weit. Und wer weiß, ob ich das jemals sein werde. Ich kann dir diesen Gefallen nicht tun – jedenfalls nicht jetzt! Noch nicht!"

"Slim, es war meine letzte Bitte gewesen, die ich an dich richtete", erinnerte Jess verhalten. Er war weder enttäuscht von ihm noch verärgert; trotzdem berührte es ihn auf eine seltsame Art, hatte er doch gehofft, ihn mit dieser letzten Bitte wenigstens dahin zu bringen, daß er diesen Rat befolgte und sich dieses lästigen Stück Bleis endlich entledigte. Er wollte ihn über diesen Umweg mehr oder weniger zwingen, sich nicht für den Rest seines Lebens mit etwas zu belasten, was in seinen Augen heute genauso absurd war wie zu dem Zeitpunkt, als er zum erstenmal davon erfuhr. "Soll das heißen, du hättest sie nicht erfüllt?"

"Ich bin froh, daß du mir diese Entscheidung abgenommen hast", wich Slim einer direkten Antwort aus. "Ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte. Aber eines ist sicher: ich hätte mich auf alle Fälle leichter von diesem Stück Blei getrennt als von dir. Das Ding zu begraben hätte mir nicht die Schwierigkeiten bereitet, wie dich unter die Erde zu bringen." Ganz spontan griff Slim nach der Hand des Freundes, die auf der Bettdecke lag. "Daß du mir das ersparen konntest, dafür kann ich dir nicht genug danken. Gleichzeitig bitte ich dich, noch ein wenig Geduld mit mir zu haben. Wie ich dir schon damals auf der Fahrt zur Bahnstation sagte, werde ich vielleicht endlich dazu in der Lage sein, mich von dem Ding zu trennen, wenn du wieder zu Hause bist. Ich kann es dir nicht versprechen, aber ich werde mich mit ganzer Kraft darum bemühen." Beim Weitersprechen drückte er unbewußt seine Hand fester. "Was deine Bitte angeht … Wäre es tatsächlich deine letzte gewesen, dann hätte ich sie selbstverständlich erfüllt – dir zuliebe."

"Sie war aber dir zuliebe gedacht", stellte Jess richtig. "Ich habe schließlich keinen Vor- oder Nachteil davon, wenn du sie erfüllen würdest. Aber für dich wäre es garantiert eine Hilfe, ein erster Schritt. Ich habe gehofft, dich auf diese Weise dazu zu bringen, es zu tun. Du tust mir gewiß keinen Gefallen damit, wenn du das Ding für alle Ewigkeiten mit dir herumträgst. Ich befürchte sogar, daß dieses neunmal verfluchte Stück Blei und alles, was daran hängt, irgendwann anfangen könnte, unsere Freundschaft zu belasten. Genau das möchte ich verhindern, denn das darf ich nicht zulassen!"

"Bitte, laß uns darüber erst weiterreden, wenn du wieder zu Hause bist! Aber dies kann ich dir jetzt schon versichern: das alles hat nichts mit unserer Freundschaft zu tun oder mit dir."

"Das will ich dir gern glauben. Trotzdem wirst du es auf Dauer nicht trennen können. Ich werde jedenfalls nicht tatenlos mit ansehen, wie diese Kugel allmählich etwas zerstört, was mir sehr wichtig ist. Ich werde das nicht zulassen, Slim!"

"Du solltest dir darüber jetzt nicht so viele Gedanken machen. Es wird sicher eine Lösung geben. Wie gesagt, laß uns darüber noch einmal reden, wenn du zu Hause bist. Bitte!"

"Na schön", gab Jess endlich nach, obwohl ihm die Sturheit des Freundes nicht besonders behagte. Aber er wollte mit hartnäckigem Drängen weder sich selbst noch Slim die Laune verderben, zudem er sich nicht sicher war, ob es ihm gesundheitlich überhaupt bekam, sich wegen dieser Geschichte in Aufregung hineinzusteigern. "Aber ich nehme dich beim Wort, verlaß dich darauf!" wollte er ihm nur noch eine Warnung mit auf den Weg geben.

"Das kannst du!"

Zwei Tage später saß Slim im Zug nach Cheyenne. Zwar konnte er nicht behaupten, daß es eine völlig unbeschwerte Heimreise war, aber, gemessen an der Hinfahrt, fühlte er sich wesentlich leichter. Nicht daß er sich keine Sorgen mehr um den Freund machen mußte; jedoch waren diese bei weitem nicht mehr so erdrückend wir vor gut drei Wochen, als er fest damit rechnete, Vorbereitungen für seine Beerdigung treffen zu müssen. Er hätte wirklich nicht gewußt, wie er diese Hiobsbotschaft Daisy und vor allem Mike hätte beibringen sollen.

So gesehen, konnte er aus tiefstem Herzen beruhigt sein, obwohl er Jess immer noch schwerkrank zurück gelassen hatte. Trotzdem hatte ihm Professor Tyler versichert, daß die akute Gefahr erst einmal gebannt war und es Jess heute auf keinen Fall schlechter ging als an dem Tag, als er in Colorado Springs ankam. Wenn er die Entwicklungsrichtung mit in dieses Urteil einbeziehen wollte, ging es ihm sogar um einiges besser, bewegte er sich eindeutig auf dem Weg zum Positiven hin und nicht mehr unaufhaltsam einem Ende zu, das nur den Tod bringen konnte.

Wollte Slim also Bilanz über diese Reise ziehen, mußte er zugeben, daß sie ein voller Erfolg war. Ob sie für Jess zu einem vollen Erfolg wurde, fand er etwas verfrüht zu behaupten.

Für Slim spielte es keine Rolle, ob er jemals ganz gesund wurde und volle Arbeit leisten konnte. Das war für ihn augenblicklich Nebensache. Für ihn zählte einzig und allein, daß Jess offenbar das Schlimmste nun doch noch mit knapper Not überstanden hatte und – so wie es aussah – auf jeden Fall am Leben blieb, wenn nicht gar irgendwelche widrigen Umstände vermehrt und das zur gleichen Zeit über ihn hereinbrachen. Bei Professor Tyler wußte Slim ihn in den besten Händen. Er war froh, daß es diesen Mann und sein Sanatorium gab. Ohne dessen Arbeit hätte er den Menschen, der ihm soviel wie sonst niemand auf dieser Welt bedeutete, schon vor etlichen Wochen begraben müssen. Eine entsetzliche Schreckensvision!

Wie gut, daß es jetzt wieder Hoffnung gab! Dafür war er dankbar. Er wußte nicht genau, wem er dafür danken sollte. An Gott hatte er sich schon gewandt. Hatte er die ganze Zeit noch an seiner Existenz gezweifelt, so war er jetzt fest davon überzeugt, daß es ihn gab.

Auch Professor Tyler und seinen Leuten gegenüber konnte er nur schwer in Worte fassen, was er an Dankbarkeit empfand. Und Jess? Was er für diesen empfand, vermochte er überhaupt nicht klar zu erklären. Das war nicht nur Dankbarkeit dafür, daß er ihn nicht im Stich gelassen hatte. Er konnte es nicht definieren, er wußte nur, daß die Ereignisse der letzten Wochen und Tage sie noch enger miteinander verbunden, noch fester miteinander verschweißt hatte.

Tief in Gedanken versunken, strich er über die Brusttasche seines Hemdes, durch dessen Stoff er die Kugel spürte. Seit ein paar Tagen bereitete sie ihm weniger Beschwerden. Das bildete er sich zumindest ein. Vor allem brannte sie nicht mehr so heiß, daß sie sich anfühlte wie flüssiges Blei. Vielleicht fand sich dafür tatsächlich eine Lösung, wenn der Freund wieder zu Hause war. Selbst dafür konnte er mittlerweile einen fernen Hoffnungsschimmer erkennen.

Nach dem letzten Gespräch, das er deswegen mit dem Freund geführt hatte, mußte er unbedingt eine Lösung für dieses Schuldproblem finden, soviel war sicher. Jess hatte ihm zwar nicht klipp und klar gesagt, wie sehr ihn sein Verhalten belastete, aber seine Äußerungen hierüber zeigten recht eindeutig, daß es ihn mehr berührte, als er jemals zugäbe. Schon allein ihm zuliebe mußte Slim also zu einer Entscheidung kommen. Die Belastung könnte sonst nur allzu leicht zu einer Enttäuschung werden.

Jess hatte recht! Wenn Slim vernünftig darüber nachdachte, kam auch er zu dem Schluß, daß sein hartnäckiges Festhalten an einem mehr als fragwürdigen Schulddenken mit der Zeit ihre Freundschaft zu belasten begann. Es gefährdete das bedingungslose Vertrauen, das sie sich uneingeschränkt entgegenbrachten, zermürbte wie eine schleichende Krankheit ihr inniges brüderliches Verhältnis, war vielleicht sogar imstande, all das zu zerstören, was sie im Laufe der Zeit an zwischenmenschlichen Gefühlen aufgebaut hatten und was ihnen beiden so überaus wichtig war. Diese eingebildete Schuld würde ihre aufrichtige Beziehung zerfressen, anfangs nur langsam und unbemerkt, bis es zu spät war, die entstandene Kluft zu überwinden.

Slim mußte damit fertig werden, sie bewältigen, auf die eine oder andere Art. Er hatte sich selbst eine Frist gesetzt: bis zur Rückkehr des Freundes. Er hatte es niemandem ausdrücklich versprochen, weil er dies einfach nicht konnte. Aber er durfte seinen besten Freund gerade in diesem entscheidenden Punkt nicht enttäuschen. Jess rechnete fest mit seiner Einsicht. Das wußte er, auch wenn dieser es vor ihm nicht besonders betonte.

"Mach dir keine Sorgen, Jess!" hörte sich der Rancher plötzlich vor sich hin reden, während er aus dem Zugfenster in die verschneite Landschaft starrte, wie abwesend, mit seinen Gedanken intensiv mit dem Freund und seinen eigenen Problemen beschäftigt. "Wir schaffen das!" Er fischte das Geschoß aus seiner Brusttasche und starrte es wie einen goldigen Schatz an, es bedächtig zwischen den Fingern drehend. "Jetzt, wo ich weiß, daß du mir helfen kannst; denn allein hätte ich es bestimmt nicht geschafft."

Mit einem Nicken betonte er seine Zuversicht über die Behebung seiner Unzulänglichkeit, die er keinesfalls weiter ausdehnen durfte, bis sie gar doch noch auf den Freund überschwappte. Es soweit kommen zu lassen, wäre mehr als unverantwortlich gewesen. Allein das, was er ihm bisher dadurch zugemutet hatte, überstieg – wenn er im nachhinein darüber nachdachte – längst die Grenze eines noch so großzügig bemessenen Freiraums. Slim wußte nur eines: im umgekehrten Fall hätte er für Jess nicht diese Geduld aufbringen können, die dieser bisher ihm gegenüber zeigte. Jetzt warf er sich sogar vor, diese Geduld bereits schamlos ausgenutzt zu haben. Er tat wirklich niemandem einen Gefallen damit, indem er an seinen vernagelten Komplexen festhielt.

Der Rancher atmete tief auf, daß es sich beinahe wie ein Seufzen anhörte. Noch einmal drehte er die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger, als hätte er mit Bewunderung etwas Außergewöhnliches daran festgestellt, ehe er sie mit einem weiteren Nicken in der Brusttasche seines Hemdes verschwinden ließ.

Sehr wahrscheinlich heilte seine Wunde wider allen Erwartens mit der, die dieses Geschoß bei seinem Freund verursacht hatte. So wie sich die damit verbundene Krankheit in Jess' Körper hielt und dieser nur langsam genesen konnte, immer wieder erschüttert von Rückschlägen und Phasen von äußerst kritischen Momenten, so gärten auch Slims Schuldgefühle und waren – hoffentlich! – genauso mit der Zeit auszukurieren.

"Gemeinsam kriegen wir das hin, Partner, ganz sicher!" murmelte er wie zur Bestätigung vor sich hin, derart vom positiven Ausgang dieser Reise mit Zufriedenheit erfüllt, daß ihn das gleichmäßige Rattern des Zuges einschläferte.

Fortsetzung folgt