KAPITEL 40

Ein paar Tage später holte Olaf den ersten Gast für dieses Jahr von der Bahnstation, ein wertpapierschwerer Bankier aus New York, etwa Anfang Sechzig und angeblich sehr erholungsbedürftig, in Wirklichkeit jedoch kerngesund, höchstens vielleicht etwas überarbeitet und Mangel an frischer Luft leidend, dafür um so wohlhabender, der sich die Wiederherstellung seiner finanzorientierten Tatkraft einiges kosten ließ. In den folgenden Tagen trafen noch weitere Gäste ein, unter denen kein einziger zu sein schien, der so krank war, daß er dringend ärztliche Hilfe benötigte. Ihnen allen gemeinsam war jedoch, daß sie über ein entsprechendes Bankkonto verfügten, um sich ihre eingebildeten Gebrechen beziehungsweise deren Auskurieren einiges kosten zu lassen.

Bald waren fast alle Zimmer belegt, und das Stammpersonal, das schon über Winter für alles sorgte und eigentlich mehr aus engsten Mitarbeitern und ständigen guten Geistern von Professor Tyler bestand, bekam tatkräftige Unterstützung, um es den Gästen an nichts fehlen zu lassen. Schließlich war der Aufenthalt in Professor Tylers Sanatorium kein billiges Vergnügen.

Die Gäste untereinander hatten kaum Kontakt miteinander, schienen auch keinen besonderen Wert darauf zu legen, welchen zu pflegen, sondern hausten allesamt zurückgezogen in ihren komfortablen Unterkünften, ließen sich zur Entspannung Kräuterbäder geben, bekämpften ihre Krankheiten sehr erfolgreich mit den verordneten Zuckerpillen und ließen sich auf dem Balkon von der heilenden Sonne bescheinen, genossen das gute Essen und die Ruhe und schienen wirklich nur an Mangel an frischer Luft und Bewegung zu leiden oder ganz einfach an typischen Erscheinungen des beginnenden Alters.

Für Professor Tyler bedeutete dies, daß er für seine Gäste zwar ständig bereit sein mußte, waren sie doch sehr anspruchsvoll, wenn es um ihre Gesundheit ging; da aber keiner von ihnen ein ernster Fall war, hatte er viel Zeit für seine Laborarbeiten und Studien. Der einzige unter seinen Gästen, mit dem er näheren Kontakt hielt, war Jess, dessen Genesung seit Beginn des freundlichen Frühlingswetters prächtige Fortschritte machte, daß er ihn sicherlich bald als gesund entlassen konnte. Georges Berichte über ihre täglichen Spaziergänge wurden von Mal zu Mal erfreulicher, und seine eigenen regelmäßigen Untersuchungen bestätigten, daß die Tage des notwendigen Aufenthalts in diesem Haus für den Mann aus Laramie gezählt waren.

Es war jetzt Ende Mai, Jess besaß beinahe seine volle körperliche Kraft, hatte keinerlei Beschwerden mehr und war den ganzen Tag irgendwo draußen unterwegs, daß George es bald aufgab, ihn überall hin begleiten zu wollen. Er hätte ihn nur aufgehalten; denn der enormen Kraft und Ausdauer, die sein anvertrauter Gast mittlerweile wiedergewonnen hatte, war er nicht mehr gewachsen. Auf ihren stundenlangen Spaziergängen in den umliegenden Wäldern und Berghänge hinauf und hinunter blieb er jedesmal nach einer Weile außer Atem zurück, suchte sich ein schattiges Plätzchen, um auf Jess zu warten, bis er von seinen Exkursionen zurück war und sich oftmals selbst darüber wunderte, daß er überhaupt so weit zu Fuß ging, bewegte er sich doch normalerweise ausschließlich zu Pferd.

Allmählich gewann sein Äußeres das Aussehen, das ihn sich selbst beim Rasieren im Spiegel wiedererkennen ließ, wie er sich in dunkler Erinnerung hatte. Den regelmäßigen Aufenthalten im Freien verdankte er bald eine gesunde Gesichtsfarbe und Liz' ausgezeichnetem Essen, daß sich seine hohlen Wangen füllten und sein abgezehrter Körper Fleisch auf die Knochen bekam. Das einzige, was ihn an seinem Spiegelbild an das erinnerte, was ihn beinahe das Leben gekostet hatte, war die Narbe auf seiner Brust, mit der er jedoch leben konnte. So weit ging seine Eitelkeit nicht!

Vor zwei Tagen hatte er nach Hause geschrieben und Slim mitgeteilt, daß er damit rechnete, in drei, vier Wochen, spätestens jedoch bis Ende Juni nach Hause zu kommen, und sich dafür entschuldigt, daß es mit der Viehauktion in Denver nicht klappte. Die war letzte Woche gewesen, aber Professor Tyler hatte keine Anstalten gemacht, ihn aus seiner Obhut zu entlassen.

Jess hielt es für besser, selbst nicht darauf zu drängen, denn so kurz vorm Ziel wollte er sein Glück nicht unnütz herausfordern. Schließlich gab es noch mehr Gelegenheiten, erstklassiges Zuchtvieh zu ersteigern. Längst fühlte er sich zwar völlig gesund, wollte sich jedoch nicht über die Entscheidung Professor Tylers hinwegsetzen. Dieser würde schon seine Gründe haben, weshalb er ihn noch hier behielt. Von diesem Mann ließe er sich mit Sicherheit auch keine Vorschriften machen, wenn es um seine Arbeit ging. Also beschloß er, dieser verpaßten Gelegenheit, die Herden der Sherman-Ranch mit gutem Blut aufzufrischen, nicht nachzutrauern, sondern seine letzten Tage der Erholung in dieser komfortablen Umgebung zu genießen. Um so sicherer konnte er sein, als gesunder Mann nach Hause zurückzukehren – etwas, woran er viel zu oft selbst nicht mehr geglaubt hatte. Heute erschien ihm sein zuweilen übermächtiger Pessimismus wie eine sträfliche Verfehlung, wie ein Verrat an sich selbst. Er war dankbar dafür, daß es Menschen gab, die um so stärker an ihn glaubten, je mehr er damit begann, seinem Grundsatz untreu zu werden und sich selbst aufzugeben. Diese Erfahrung war für ihn Lehre und Bestätigung zugleich. Es gab immer eine Hoffnung für die Zukunft. Man durfte nur nicht resignieren.

Es war ein herrlicher Junimorgen, als Jess etwa zehn Tage später sehr zeitig bei Professor Tyler zur regelmäßigen Routineuntersuchung erschien. Seit sein Gesundheitszustand kaum mehr etwas zu wünschen übrig ließ, hatte sich sein Schlafbedürfnis erheblich reduziert und sich auf das normale Maß eingependelt, was bedeutete, daß ihn mit Sonnenaufgang nichts mehr in den Federn halten konnte, zudem er viel zu ausgeruht war für übermächtige Müdigkeit, an der er während seiner langen Krankheit ständig gelitten hatte.

Wie immer untersuchte Tyler ihn sehr gewissenhaft und kontrollierte vor allem seine Atmung und Herztätigkeit. An diesem Tag nahm er mit einem tiefen Seufzer – so kam es Jess jedenfalls vor – das Stethoskop aus den Ohren und schüttelte beinahe bedauernd den Kopf.

"Danke, Sie können sich wieder anziehen", sagte er ernst und nahm mit einem bedeutungsvollen Räuspern hinter seinem Schreibtisch Platz, der in einem hellen, freundlichen Raum stand, der in der Art, wie er eingerichtet war, sehr Doc Higgins' Sprechzimmer glich, nur daß er um einiges größer, die Fachbibliothek umfangreicher war und die Exponate seiner Sammlung furchteinflößender wirkten.

"Das klingt heute aber nicht sehr zufrieden", bemerkte Jess, der, nach seinem eigenen subjektiven Befinden zu urteilen, keinen Grund zur Besorgnis sehen wollte. Er fühlte sich großartig – ohne Übertreibung.

"Finden Sie?"

"Ja, an sich schon." Jess streifte sein Hemd über. "Ich hätte nicht gedacht, daß es noch so schlimm ist. Na ja, macht nichts!" Mit einem Achselzucken begann er sein Hemd zuzuknöpfen. "Werde mich halt daran gewöhnen müssen, daß ich ein hoffnungsloser Fall bleibe. Wenn es nicht schlimmer wird als im Moment, kann ich, glaube ich, ganz gut damit leben."

Tyler ließ ihn reden, beobachtete ihn statt dessen aufmerksam, wie er mit flinken Bewegungen sein Hemd in den Hosenbund stopfte und die Gürtelschnalle schloß. Auf Jess machte er einen sehr nachdenklichen Eindruck.

"Machen Sie sich nichts daraus, Professor", meinte dieser, ihn für sein vermeintliches Versagen trösten zu müssen. "Es ist bestimmt nicht Ihre Schuld. Sie haben alles getan, soweit ich das beurteilen kann."

"Tja, mein Junge", machte Tyler bedächtig und strich über seinen gepflegten Kinnbart, wobei er Jess zwar ansah, aber einen direkten Augenkontakt vermied, "das Problem ist, daß ich nicht mehr das Geringste für Sie tun kann."

"Wie meinen Sie das?" wurde Jess nun sehr mißtrauisch, kniff die Augen zusammen und fixierte den ehrwürdigen Mann hinter dem Schreibtisch wie jemanden, von dem er plötzlich nicht mehr wußte, wie er ihn einschätzen sollte.

"Genauso, wie ich es gesagt habe."

"Na ja", machte Jess auf einmal schon wieder mit einer entsprechenden Handbewegung, die zeigen sollte, daß er bereit war, auch damit zu leben. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, daß Tyler nicht ehrlich war. "Was soll's! Wie lange geben Sie mir also noch?"

"Das wollte ich eigentlich nicht damit sagen."

"Was denn?"

"Ganz einfach, Jess, Sie sind völlig gesund."

"Wie bitte?"

"Keine Angst, Sie haben sich nicht verhört", schmunzelte Tyler. Er konnte keinem erzählen, wie sehr er sich auf diesen Augenblick gefreut hatte; deshalb kostete er ihn auch weidlich aus.

"Könnten Sie es …" Jess wischte über seine Stirn, als krabbelte dort eine langbeinige Spinne. "Ich meine, könnten Sie es trotzdem bitte noch einmal wiederholen?"

"Mit dem größten Vergnügen!" lachte der Professor herzlich. "Aber es wird sich nichts daran ändern. Sie sind vollständig genesen, und ich kann nichts mehr tun, was Sie noch gesünder werden ließe."

"Sind Sie … sind Sie sich wirklich sicher?"

"Absolut!"

"Vielleicht sollten Sie mich besser noch einmal untersuchen."

"Wozu denn? Ich kann keinerlei Abnormitäten mehr feststellen. Ihr Herz arbeitet tadellos, und Ihre Lunge hat ihre volle Kapazität. Ihre Kondition ist besser als die eines Zwanzigjährigen. Etwas anderes könnte ich bei einer weiteren Untersuchung auch nicht herausfinden."

"Aber dann … dann kann ich ja nach Hause", schien Jess diese Nachricht endlich bis in alle Konsequenzen zu begreifen.

"Sicher", nickte Tyler mit gönnerhafter Miene. "Es wäre mir zwar lieber, wenn ich Sie noch für zwei, drei Wochen hier behalten könnte, zur Beobachtung sozusagen, aber ich fürchte, dazu werde ich Sie nur schwer überreden können."

"Ist es denn notwendig?"

"Nicht unbedingt. Ich weiß es schon seit etwa vierzehn Tagen. Da kann ich das verantworten."

"Seit vierzehn Tagen? Warum haben Sie denn noch nicht früher etwas gesagt?"

"Ich wollte mir hundertprozentig sicher sein. Solche Nachrichten sollte man nicht allzu leichtfertig verbreiten. Sie könnten sonst in Enttäuschung umschlagen."

"Natürlich!" Jess kratzte sich unbewußt auf der Brust. Die Narbe dort antwortete mit einem behaglichen Kribbeln. "Und Sie meinen wirklich, daß da drinnen wieder alles in Ordnung ist?" Er schien immer noch skeptisch, weil er es nach so langer Zeit und allem, was er durchgemacht hatte, nur schwer begreifen konnte, wieder ganz der alte zu sein.

"Ja, sogar der Knochen ist gut verwachsen. Trotzdem möchte ich Sie in Ihrem eigenen Interesse bitten, sich nicht gleich mit Übermut in die Arbeit zu stürzen, sondern sich noch zu schonen, wenigstens die nächsten paar Monate, besser sogar für mindestens ein Jahr. Ich meine, Sie sollten nicht sofort damit anfangen, Raubbau mit vollen Händen an Ihren Kräften zu treiben. Wenn Sie wieder zu Hause sind, dürfen Sie sich während der ersten vier Wochen allerhöchstens mit den leichtesten Arbeiten beschäftigen, müssen sich viel ausruhen und unbedingt jede Woche bei Doc Higgins vorbeischauen. Danach sollte eine Kontrolluntersuchung im Monat die Regel sein, wenigstens für das folgende Jahr. Außerdem wäre ich ganz froh, wenn Sie in etwa einem halben Jahr noch einmal bei mir vorbeischauen könnten, nur damit ich sicher sein kann, daß sich nicht doch irgendwo ein verdächtiger Entzündungsherd gebildet hat."

"Das verspreche ich Ihnen."

"Ich weiß, Sie nehmen Ihre Versprechen sehr ernst", bemerkte Tyler anerkennend. "Ich will Sie mit diesen Vorsorgemaßnahmen nicht beunruhigen, denn wahrscheinlich werden sie überflüssig sein. Ich will nur kein unnötiges Risiko eingehen, das man hätte mit einfachen Mitteln rechtzeitig verhindern können. Ich würde mir so eine Leichtfertigkeit nie verzeihen. Und hüten Sie sich in nächster Zeit vor naßkalter Witterung. Für eine Weile werden Sie da etwas disponiert sein, daß aus einem gewöhnlichen und an sich harmlosen Katarrh eine Bronchitis oder gar gefährliche Pleuropneumonie wird. Selbst in leichterer Form als die, die Sie hinter sich haben, könnte so etwas fatale Folgen haben."

"Ich werde schon aufpassen. Jetzt über Sommer ist das sowieso kein Problem."

"Allerdings kann es sein, daß Sie in Zukunft hin und wieder Ihre Rippe spüren, zum Beispiel bei einem Wetterumschwung oder bei einer allzu heftigen falschen Bewegung. Das sollte Sie nicht weiter beunruhigen, höchstens dazu anhalten, vorsichtig zu sein."

"Wenn es weiter nichts ist, werde ich damit leben können."

"Es muß auch nicht sein, daß Sie da irgendwelche Beschwerden kriegen. Ich will es Ihnen nur gesagt haben, falls es dazu kommen sollte. Tja, ansonsten bleibt mir dazu nicht mehr zu sagen, außer daß ich mich von Herzen für Sie freue. Um ehrlich zu sein, Jess, es gab wirklich Zeiten, da hatte ich Sie aufgegeben. Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht sagen, aber damals, als ich Slim Sherman kommen ließ, war ich fest davon überzeugt, daß er Sie begraben muß. Heute bin ich froh, daß Sie so erfolgreich Ihrem Schicksal getrotzt und mich eines Besseren belehrt haben. Himmel, ich kann Ihnen nicht sagen, wie froh ich darüber bin! Ich hätte es wirklich sehr bedauert, weil Sie so ein netter Mensch sind."

"Vielen Dank für die Blumen und vor allem vielen Dank für Ihre Hilfe, ohne die ich es bestimmt nicht geschafft hätte."

"Nichts zu danken, denn in erster Linie war es Ihr Freund, dem Sie zu verdanken haben, daß Sie noch leben, ihm und auch Ihrem nicht auszulöschenden Lebenswillen. All diese vielen positiven Faktoren ließen Sie letztendlich den Tod besiegen, der bereits von Ihnen Besitz ergriffen hatte. Sie sind ein ungewöhnlich willensstarker Mann, Jess. Ich bewundre das sehr."

"Vielleicht hatte ich einfach nur Angst vor dem, was mich in der Hölle erwartete, wer weiß!" Jess grinste breit. "Es kann auch sein, daß die in der Hölle Angst vor mir hatten und mich der Teufel deshalb wieder ausgespuckt hat."

Das brachte Tyler ganz unvermittelt zum Lachen.

"Es freut mich, daß Sie es bereits mit einem gewissen Humor sehen."

"Nachdem sich das Blatt zum Positiven für mich gewendet hat, nehme ich mir die Freiheit. Ich hoffe nicht, daß mir das einer dieser Höllenbewohner nachträgt."

"Ich denke nicht."

"Verdammt, ich kann nicht fassen, daß ich das alles überstanden haben soll", meinte Jess mit einem Mal wesentlich ernster, daß es sich anhörte, als redete er mit sich selbst. "Es kommt mir alles so unwirklich vor. Wenn da diese Narbe nicht wäre – ich fürchte, ich würde mir glatt einbilden, das alles nur geträumt zu haben. Ich wünsche mir nur, daß es auch für Mike vorbei ist – und für Slim. Ich werde das alles zwar nicht vergessen können und erwarte es auch nicht von den beiden. Aber ich hoffe, daß sie damit fertig werden. Ich glaube, ich könnte mich sonst über diesen Erfolg nicht so freuen, wie ich eigentlich sollte. Es täte mir weh."

"Ihre Leute mußten es mit ansehen, nicht wahr?"

"Ja, und Slim macht sich zu allem Überfluß die schlimmsten Vorwürfe, daß er es nicht verhindert hat."

"Hätte er es denn verhindern können?"

"Nein, jedenfalls nicht, ohne die anderen zu gefährden. Ich habe ihm nicht das Geringste vorzuwerfen. Aber das will er nicht einsehen. Er quält sich schon die ganze Zeit mit der Vorstellung, daß das alles seine Schuld ist. Und ich weiß nicht, wie ich ihm das austreiben kann. Er weiß, daß er in gewisser Weise auch mich damit belastet, aber er kann diese unsinnigen Schuldgefühle einfach nicht bewältigen. Genau das überschattet ein wenig meine Freude über Ihre wunderbare Mitteilung."

"Nun, vielleicht löst sich dieses Problem, wenn Sie jetzt als vollkommen genesen nach Hause zurückkehren."

"Ich kann es nur hoffen."

"Ich wünsche Ihnen, daß es so ist."

"Danke, ich wünsche es Slim."

"Sie sollten es ihm sofort telegrafieren. Sie werden sicherlich mit dem nächsten Zug fahren wollen. Allerdings weiß ich nicht, wann der geht. Es kann also noch ein paar Tage dauern, bis Sie nach Hause kommen. Dann wäre es doch ganz gut, Ihre Leute zu benachrichtigen, daß nun das Sorgen ein Ende hat."

"An sich ja." Jess' Gesicht hellte sich endlich wieder auf. Seine Augen begannen voll Heiterkeit zu blitzen. Seine kurzzeitige Nachdenklichkeit über die noch offenen Probleme seines langjährigen Partners schienen verflogen, wenn auch nicht vergessen. "Allerdings habe ich ja schon in meinem letzten Brief mitgeteilt, daß ich in ein paar Wochen heimkomme. Das müßte eigentlich genügen." Aus seinen Augen sprach blanker Schabernack. "Ich muß ja mit meiner Mitteilsamkeit nicht gleich übertreiben. Nachher denken die zu Hause noch, mit mir würde etwas nicht stimmen."

Auch Professor Tyler schmunzelte breit.

"Sie wollen sie überraschen, nicht wahr?"

"Ich will es zumindest versuchen."

"Ich wette mit Ihnen, daß Ihnen das gelingt."

"Und wie mir das gelingen wird!"

Der nächste Personenzug nach Norden verließ erst am späten Abend des Folgetages Colorado Springs, so daß Jess genügend Zeit hatte, sich ausgiebig von den Menschen zu verabschieden, zu denen er in den langen Monaten seines Aufenthaltes in Professor Tylers Sanatorium ein engeres, ja, herzliches Verhältnis entwickelt hatte.

Tyler überreichte ihm jenen braunen Umschlag, den Doc Higgins ihm damals mitgegeben hatte, den Inhalt ergänzt um weitere Eintragungen, alles in allem seine komplette Krankengeschichte der letzten neuneinhalb Monate. Dann stieg er auf den leichten Einspänner zu George, der ihn zur Bahnstation bringen wollte und bereits auf ihn wartete.

Zunächst fuhren sie schweigend den schattigen Waldweg entlang, bis George ein paarmal nach Jess schielte, unsicher darüber, ob er ihn ansprechen sollte oder nicht. Nicht daß er etwas Bestimmtes auf dem Herzen hätte. Er wollte nur noch ein wenig mit ihm plaudern, ehe sie sich voneinander verabschieden mußten, was ihm zwar nicht gerade leicht fiele, denn immerhin hatten sie das letzte halbe Jahr einiges an Sorgen und Freuden miteinander geteilt; aber zweifellos bedrückte ihn dieser Abschied nicht in dem Maße wie der, den er auf der Fahrt damals, als er ihn von der Bahnstation abholte, befürchtet hatte kommen zu sehen.

"Was ist George? Woran denken Sie?" sprach Jess ihn auf einmal an, dem anscheinend das Schweigen zuviel wurde. "An das Schreckgespenst von damals?"

"Auch", gab George freimütig zu, "aber in erster Linie daran, wie sehr ich mir diesen Augenblick gewünscht habe. Ich kann Ihnen nicht oft genug sagen, wie froh ich bin, daß Sie nach all diesen anfänglichen traurigen Wochen nun doch als gesunder Mann wieder nach Hause kommen werden. Sie freuen sich sicher schon auf daheim, nicht wahr?"

"Ja, sehr sogar."

"Ich nehme an, ganz besonders auf Ihren Jungen."

"Sieht man mir das an?"

"Wenn man Sie ein bißchen kennt so wie ich – ja. Wer weiß, wahrscheinlich ist er in der Zwischenzeit sogar ein ganzes Stück gewachsen."

"Mit Sicherheit!"

"Kinder haben das in dem Alter so an sich. Manchmal scheinen sie sogar über Nacht zu wachsen."

"Ja, besonders, wenn sie so futtern wie Mike", grinste Jess, als er an den gesegneten Appetit seines Pflegesohnes dachte. "George, schaffen Sie sich bloß nie Kinder an! Die knabbern Ihnen das letzte Haar vom Kopf."

"Davon kann man bei Ihnen ja Gott sei Dank noch nichts feststellen."

Der Wagen holperte den Weg entlang. Jess lehnte sich behaglich zurück. Die Abendluft war sehr mild, und er hätte in dem leichten Einspänner bis nach Hause fahren können, obwohl eine solche Fahrt mehrere Tage gedauert hätte.

"Komisch", meinte er nach einer Weile, "ich bilde mir ein, daß der Weg gar nicht so holprig ist, wie ich ihn in Erinnerung habe."

"Der Weg hat sich inzwischen gewiß nicht verändert, ist seit dem Winter höchstens schlechter geworden. Wahrscheinlich empfinden Sie das heute nur anders. Damals muß ja jedes Steinchen, das unter ein Rad gekommen ist, auf Sie gewirkt haben wie ein riesiger Brocken. Sie kauerten wie ein Häufchen Elend da in der Ecke, daß ich froh war, als wir endlich oben waren. Damals ist mir selbst zum erstenmal so richtig bewußt geworden, wie holprig dieser Weg im Grunde ist. Es muß eine fürchterliche Tortur für Sie gewesen sein."

"Die ganze Fahrt damals war eine Tortur. Und nicht nur das, sondern, wenn ich es mir recht überlege, eine reichlich abenteuerliche dazu."

"Im Ernst? Sie haben nie davon gesprochen."

"Das ist richtig. Merkwürdig, daß ich auf einmal daran denke; und es macht mir nicht einmal mehr etwas aus. Womöglich weil es soweit zurückliegt und doch wieder so greifbar nahe ist. Trotzdem ist es vorbei, und ich komme mir vor wie ein Zuschauer, der für eine Zirkusvorstellung Eintritt bezahlt hat."

"Was?"

"Doch, genauso sehe ich das heute. Ich kann nur hoffen, daß die Heimreise weniger aufregend verlaufen wird."

"Du lieber Himmel, das hört sich ja wirklich sehr abenteuerlich an."

Plötzlich hatte Jess das Bedürfnis, über diese für ihn damals erlebnisreiche Reise zu reden, nicht weil er irgend etwas los werden wollte, sondern weil er heute dem Ganzen einen amüsanten Anstrich abgewinnen konnte und dies George nicht vorenthalten wollte. Deshalb erzählte er auf lockere Art von seinen Erlebnissen während der Fahrt von Laramie nach Cheyenne, die er ja eigentlich verschlafen hatte, und von dem kurzen turbulenten Zwischenfall vor der Bank in der Territoriumshauptstadt.

"Und da haben Sie immer behauptet, eine angenehme Reise gehabt zu haben", kommentierte George kopfschüttelnd. "Anscheinend haben Sie tatsächlich so etwas wie ein Talent dafür, in solche Dinge unvermutet verwickelt zu werden."

"Ja, sieht fast so aus. Bin beinahe schon gespannt, was auf der Heimfahrt auf mich wartet", grinste Jess vergnügt, als kämen da nur angenehme Dinge in Frage.

"In Denver haben Sie ein paar Stunden Aufenthalt und in Cheyenne auch. Nehmen Sie sich da bloß in acht!"

"Keine Sorge, bis jetzt habe ich mich immer irgendwie durchgemogelt."

"Allmählich fange ich sogar an zu verstehen, weshalb Sie das Ding da dabei haben." George deutete beiläufig auf den breiten Ledergurt mit der Waffe im Holster, den er sich beim Aufbruch umgeschnallt, während seines Aufenthaltes jedoch nicht getragen hatte.

"Das ist hauptsächlich Macht der Gewohnheit." Jess' Rechte fiel wie nebenbei auf den dunklen, mattglänzenden Walnußholzkolben seines Schießeisens. "Ich rechne eigentlich nie damit, daß ich das Ding unbedingt brauche unterwegs. Aber es gab schon die eine oder andere Situation, in der ich ganz froh darum war, das vertraute Gewicht an der Hüfte zu spüren."

"Kann ich mir sogar lebhaft vorstellen nach dem, was Sie mir gerade über Ihre Herfahrt erzählt haben. Wahrscheinlich gehört dieses Ding bei einem Mann wie Ihnen einfach dazu wie bei Professor Tyler das Stethoskop."

"Ich bin es halt so gewöhnt, und man erwartet nichts anderes von mir."

"Erwarten das nur die anderen von Ihnen?"

"Nein, Sie haben recht – ich erwarte es von mir selbst. Ich habe mein Leben lang mit der Waffe gelebt, ich werde es wohl kaum noch ändern können."

"Wollten Sie das denn?"

"Ich glaube nicht. Solange einen das Schießeisen nicht beherrscht, läßt sich ganz gut damit leben. Man muß nur aufpassen, daß es nicht doch eines Tages passiert."

"Ich kann mir nicht vorstellen, daß da bei Ihnen eine Gefahr bestehen könnte."

"Heute mit Sicherheit nicht mehr; aber es gab auch schon andere Zeiten."

George musterte ihn skeptisch aus den Augenwinkeln.

"Ehrlich gesagt, kann ich mir das bei Ihnen wirklich nicht vorstellen", wiederholte er zum Nachdruck.

"Wie gesagt, George, das ist schon lange her."

"Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie jemals Schwierigkeiten gehabt hätten, was Ihr ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein betrifft. So etwas zieht man schließlich nicht aus und wieder an wie einen Mantel. Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Man kann so etwas nicht lernen mit der Zeit. Das wird einem in die Wiege gelegt. Es liegt nur an einem selbst, es sich zu Nutzen zu machen. Wenn man es allerdings nicht mitbekommen hat, wird man nie erfahren, was es bedeuten kann. Es wird einem ewig verborgen bleiben, so wie man es im anderen Fall immer mit sich herumtragen wird."

"Möglicherweise haben Sie recht. Na ja, leichtfertig bin ich mit der Kanone eigentlich noch nie umgegangen, vielleicht unbesorgter, vor allem, was das eigene Leben betraf. Mit der Zeit wird man vorsichtiger. Erfahrungen, auch schlechte, bleiben schließlich nicht aus. Auch ich mußte sie machen. Sie haben recht, man muß nur lernen, daraus das Positive für sich zu sehen und auch daraus gewinnen. Mit zunehmendem Alter wird es sowieso schwerer, sich weiter zu ändern. Dabei spielt es, glaube ich, keine Rolle, ob man noch irgend etwas ändern kann oder will. Vielleicht ist es auch nur so etwas wie Bequemlichkeit."

"Wenn ich es mir recht überlege, Jess, fände ich es das beste, wenn Sie ganz einfach so blieben, wie Sie im Moment sind. Sie sind ein verdammt anständiger Kerl, ob mit oder ohne diesen Schießprügel, ein wirklich anständiger Kerl", betonte George nachdrücklich, "mit dem sogar ich Pferde stehlen könnte, obwohl ich davon nicht viel verstehe."

"Danke, George, aber es ist wohl besser, wenn ich Sie trotzdem nicht dazu animiere." Jess grinste ihn vergnügt an. "Das ist nämlich gegen das Gesetz."

"Sie kennen sich da, wie mir scheint, gut aus."

"Ja, Sheriff Cory in Laramie schafft es schließlich immer wieder einmal, mich zu anscheinend unvermeidlichen Sternstunden zu überreden. Dann ist es ganz angebracht, so ein ganz klein wenig mit dem Gesetz vertraut zu sein, das man vertreten soll, selbst wenn es nur aushilfsweise und vorübergehend ist."

George warf ihm einen schiefen Seitenblick zu, um zu prüfen, ob er die Frage stellen konnte, die ihm auf der Zunge brannte. Er wollte nicht neugierig sein, aber aus purem Interesse hätte er nur allzu gerne gewußt, wie es zu diesem folgenschweren Unglück überhaupt gekommen war, zu dessen Hergang sich Jess bisher so vehement ausgeschwiegen hatte und auch aus Slim Sherman nicht viel herauszubekommen gewesen war. Wahrscheinlich bot sich ihm nun eine letzte Gelegenheit, etwas darüber zu erfahren, wahrscheinlich gäbe es keine günstigere Gelegenheit, danach zu fragen; denn Jess schien sich in einer redseligen Laune zu befinden, in der er sich vielleicht sogar bereitwillig, zumindest jedoch nicht gar zu widerwillig darauf einließ, sich ein paar Informationen entlocken zu lassen.

"Jess, ich weiß, Sie haben bisher darüber nicht sehr viel geredet, aber es interessiert mich wirklich und ich würde mich freuen, wenn Sie mit mir darüber sprechen könnten, ehe wir uns verabschieden. Es ist gewiß keine bloße Neugierde, jedenfalls nicht im negativen Sinn; aber als Sie verwundet wurden, hatte Sie da der Sheriff zu einer dieser, wie Sie es nannten, Sternstunden überredet?"

Jess fand, daß er sich reichlich umständlich ausgedrückt hatte. Merkwürdigerweise reagierte er darauf nicht so abweisend, wie er ursprünglich beabsichtigte und es bisher auch regelmäßig getan hatte. Ja, er wollte sich nicht einmal mehr die Mühe machen, diesen Wandel in seiner Mitteilsamkeit näher zu erforschen. Wahrscheinlich hatte er mit seiner völligen Genesung den nötigen Abstand zu dem Ganzen erreicht, daß er es nahezu wertfrei, fast wie ein außenstehender Dritter, wenigstens seinem treuen Begleiter der letzten sechs Monate schildern konnte; denn aufdringliche Neugierde konnte er bei ihm wirklich nicht feststellen, sondern eher freundschaftliches Interesse, echte Teilnahme an diesem Ereignis, dessen Folgen er zu einem gewissen Teil mitgetragen hatte.

"Nein, George, der Sheriff hatte damit nichts zu tun."

Jess atmete tief auf und starrte in die vorbeiziehenden Baumkronen. Für einen Moment war er sich erneut unsicher, ob er darüber sprechen wollte, formulierte als weitere Antwort ein zögerndes Schweigen.

"Tut mir leid, Jess, daß ich Sie damit quäle. Ich hätte nicht davon anfangen dürfen. Jetzt habe ich Ihnen die Laune verdorben."

"Nein, George, das haben Sie nicht", widersprach Jess sofort. "Ich habe nur überlegt, ob es sinnvoll ist, Sie überhaupt damit zu behelligen. Mir selber macht es, glaube ich, gar nicht mehr soviel aus. Ich bin im Grunde nicht so empfindlich, was das betrifft. Ich meine, es war schließlich nicht das erste Mal, daß ich so einem Stück Blei im Weg gestanden habe. Ich habe mir im Laufe der Zeit leider nicht nur Freunde gemacht. Das bleibt halt bei einem Leben, wie ich es geführt habe und immer noch führe, nicht aus."

"So etwas Ähnliches sagten Sie bereits vor einiger Zeit. – Jess, wie konnte das nur passieren?" fragte George plötzlich sehr direkt, auch auf die Gefahr hin, ihn durch diese Unumwundenheit zu vergraulen; aber er konnte dieses Darumherumgerede nicht mehr länger aushalten. Das paßte nicht zu diesem Mann, der da neben ihm saß. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie Ihr Schießeisen nur zur Dekoration tragen und sich im Ernstfall nicht damit zu wehren wissen. War es ein Überfall?"

"So könnte man es nennen. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, was geschehen ist. Alles, was ich darüber weiß, habe ich von Slim hinterher erfahren. Es gibt dazu wirklich nicht viel zu sagen." Als Jess fortfuhr, hörte es sich so an, als faßte er den Inhalt eines Theaterstücks mit wenigen Worten zusammen. "Da warteten zwei Halunken auf einen Komplizen, der zuvor aus dem Staatsgefängnis von Leavenworth ausgebrochen war. Hat bei seiner Flucht einen Wärter getötet. Durch Zufall hatten die sich ausgerechnet in der Nähe unserer Ranch verabredet. Na gut, eine Poststation ist halt ein guter Orientierungspunkt und nicht so gefährlich wie eine größere Ansiedlung, wo es einen Haufen Menschen gibt und womöglich sogar noch einen Sheriff. So wie es aussieht, wollten die zwei ursprünglich nur in der Nähe der Ranch auf den Dritten warten. Weil es ihnen aber zwischen Felsen und Gestrüpp zu langweilig wurde, beschlossen sie, die Leute auf der Ranch ein wenig zu erschrecken. Bei der Art, die diese Kerle an sich hatten, war es ein leichtes für sie, Slim zu überrumpeln und auch Daisy in ihre Gewalt zu bekommen. Zum Glück haben sie wenigstens nicht bemerkt, daß auch Mike noch im Haus war. Er hatte schulfrei, weil ein Zirkus in der Stadt war. Neugierig, wie er ist, versteckte er sich im oberen Stock und konnte dadurch alles beobachten."

"Und Sie?"

"Ich war gar nicht zu Hause, war auf der Weide unterwegs."

"Aber dann verstehe ich nicht, wieso ausgerechnet … Was ist denn da um Himmels willen vor sich gegangen?"

"Es ist ganz einfach. Ich habe den Fehler begangen heimzukommen, ehe sich die zwei Kerle mit dem Dritten treffen konnten. Es handelte sich wohl nur um ein paar Minuten, die aber entscheidend waren."

"Ja, aber wieso?"

Jess lachte verächtlich auf.

"Das ist eine gute Frage. Der Kerl, der geschossen hat, muß nicht richtig im Kopf gewesen sein, wollte Schießübungen machen. Dem kam ich gerade recht."

"Sie meinen, der hat Sie als Zielscheibe benutzt?"

"Ja, so kann man es nennen, während sein Kumpan Slim und Daisy gezwungen hat, dieses Schauspiel zu genießen. Er hat mir das Ding fast direkt vor der Haustür verpaßt."

"Mein Gott, daß Sie das überhaupt überlebt haben!"

"Tja, aus der Entfernung schießt normalerweise kein Blinder vorbei. Mein Glück war anscheinend, daß der Schießprügel dieses Spinners nicht in Ordnung war."

"Ja, und Slim Sherman? Konnte er Sie denn nicht warnen?"

"Mit einer Kanone vor der Nase und einer zweiten, deren Mündung auf Daisy gerichtet war? Im letzten Augenblick hat er es trotzdem riskiert, aber es war zu spät. Ein Glück für Daisy! Ich möchte nicht wissen, was ihr sonst passiert wäre."

"Das ist ja …" George schluckte betreten. Das war wirklich eine ungeheuerliche Geschichte. Das wußte er jetzt, obwohl er die Details nicht genau kannte. "Und jetzt macht sich Slim Vorwürfe, weil er denkt, es ist seine Schuld, daß Sie dieser Kugel nicht ausweichen konnten."

"Genauso ist es."

"Und Sie haben seine Warnung nicht gehört?"

"Nein, wie gesagt, ich kann mich an überhaupt nichts erinnern. Der Kerl hat genau im selben Augenblick geschossen. Auch das habe ich später von Slim erfahren. Das erste, woran ich mich erinnere, waren diese wahnsinnigen Schmerzen in meiner Brust und daß ich dachte, ich müßte ersticken. Das war nach einer Woche oder so, als ich zum erstenmal einigermaßen zu mir kam. Aber der schlimmste Schmerz kam erst eine Weile später – als ich erfuhr, daß Mike unmittelbarer Zeuge von diesem vergnüglichen Zielschießen wurde. Als genau das hat es dieser Killer empfunden – als reines sadistisches Vergnügen ohne irgendwelchen Grund."

"Hat dieser Kerl Sie vielleicht von irgendwoher gekannt?"

"Überhaupt nicht, weder er noch der andere, und meine Leute auf der Ranch kannten sie auch nicht. Es machte mir alles nicht mehr soviel aus – jetzt nicht mehr, nachdem ich es so gut überstanden habe –, wenn da nicht Slim wäre mit seinen übermächtigen und unsinnigen Schuldgefühlen und Mike, der für den Rest seines Lebens mit diesen schrecklichen Bildern leben muß. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr war der Junge in einem Waisenhaus, in dem er Entsetzliches über sich ergehen lassen mußte. Seit er bei mir ist, versuche ich ihm zwar keine heile Welt vorzumachen – das kann ich nicht und das will ich auch nicht! –, aber ich bemühe mich, ihm einen Teil seiner gestohlenen Kindheit wiederzugeben. Hinzu kommt, daß er mich beinahe abgöttisch liebt. Dieses furchtbare Erlebnis mit dem, was mir da zugestoßen ist, hat seine an sich schon angeschlagene kindliche Psyche völlig durcheinandergebracht. Sicher, oberflächlich gesehen, hat er es inzwischen ganz gut überwunden, vor allem, nachdem er nun weiß, daß es mir wieder gut geht, aber er wird diese Schreckensbilder nie vergessen können. Es wird immer wieder einmal eine Gelegenheit, einen unbedeutenden Anlaß geben, was die Erinnerung erwachen läßt. Ich wünschte, diese Wunde bei ihm könnte heilen, wie meine geheilt ist."

"Mit der Zeit wird auch diese Wunde heilen, bestimmt."

"Ich glaube nicht, daß das so einfach sein wird. Wenn ich sehe, wie schwer sich ein erwachsener Mensch wie Slim damit tut, wie soll es dann ein zehnjähriges Kind fertigbringen?"

"Und Daisy Cooper?"

"Daisy versteht es, es nicht zu zeigen, aber ich kann es in ihren Augen lesen, wann immer sie mich ansieht. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn ich jetzt nach Hause komme."

"Ob Sie es glauben oder nicht, aber zuweilen kann ich es auch in Ihren Augen erkennen. Ich habe oft bemerkt, daß da etwas sein muß, das ich mir nicht erklären konnte. Jetzt weiß ich, was es ist, weil ich es zuordnen kann."

"Es hat wenig Sinn, das abzustreiten, zudem das Daisy auch schon behauptet hat. Es ist nicht meinetwegen, George, bestimmt nicht, obwohl ich gestehen muß, daß es diesmal auch für mich nicht gerade ein Pappenstiel war. Nein, es ist wegen Slim und Mike. Ich gäbe viel darum, wenn ich es einfach in ihrem Gedächtnis auslöschen könnte. Ihretwegen mache ich mir viel größere Sorgen, als ich mir jemals um meine eigene Zukunft machte. Mit den körperlichen Schmerzen konnte ich einigermaßen umgehen; aber es fällt mir schwer, diese anderen Schmerzen zu ertragen, gegen die kein Betäubungsmittel auf Dauer hilft. Es tut mir einfach weh, wenn ich daran denke, welche Schmerzen diese Männer den Menschen zugefügt haben, die mir mehr bedeuten als das eigene Leben. Wahrscheinlich mache ich mich nur selbst damit verrückt." Jess machte eine wegwerfende Handbewegung. "Zerbreche mir selbst zuviel den Kopf über solche Dinge, über Belange und Probleme der anderen, anstatt mich um meinen eigenen Kram zu kümmern. Aber so bin ich nun mal."

"Aber das muß doch nichts Negatives sein, beweist es nur, daß Sie bereit sind, Verantwortung zu tragen, und auch die wunderbare Gabe besitzen, Gefühl für Ihre Mitmenschen zu zeigen, daß sie Ihnen nicht gleichgültig sind. Daß Sie gerade in diesem Fall so stark empfinden, ist erst recht selbstverständlich, denn schließlich handelt es sich hier um die Menschen, die Ihnen besonders nahe stehen." George überlegte einen Moment, ob er auch das noch äußern sollte, was ihm als unbestimmte Ahnung ebenfalls schwante, wenn er einen dieser merkwürdigen Blicke dieses Mannes auffing, in denen er so viele Dinge lesen konnte, die er nicht immer verstand. "Jess", sprach er ihn dann doch an, "ich mag mich irren, aber kann es sein, daß Sie sich unbewußt auch Vorwürfe machen? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, weshalb, aber manchmal bilde ich mir ein, so etwas bei Ihnen zu bemerken."

"Vorwürfe?"

"Ja, ich meine, ich habe das Gefühl, daß Sie sich einen gewissen Teil an dieser Schuld, die Ihren Freund beschäftigt, selbst vorwerfen. Ich habe dafür keine Erklärung, aber ich glaube nicht, daß ich mir das nur einbilde."

"In gewisser Weise haben Sie sicherlich recht, zumindest was Mike betrifft."

"Aber wieso denn? Schließlich sind Sie das völlig ahnungslose Opfer dieses Verbrechens."

"Darum geht es nicht, sondern darum, daß ich so etwas hätte Mike ersparen müssen, von vornherein; denn es gab unzählige andere Gelegenheiten, die ich sozusagen selbst heraufbeschworen habe oder wenigstens nicht ahnungslos gewesen bin, bei denen so etwas genauso gut hätte geschehen können. Ich habe die Verantwortung für diesen Jungen übernommen; da darf ich solche Dinge nicht noch provozieren. Ich denke dann zu spät daran, oft erst hinterher, daß es nicht immer nur die anderen sein müssen, die auf der Strecke bleiben. Auf der anderen Seite kann ich meine Augen jedoch nicht verschließen, wenn jemand Hilfe braucht und ich in der Lage bin, diese Hilfe zu geben. Wenn ich mich in solch einem Fall verweigerte, könnte ich das genauso wenig mit meinem Gewissen vereinbaren. Es ist nicht direkt Schuld, die ich mir vorwerfe, sondern eine Zwickmühle, in der ich mich stecken sehe und aus der ich keinen Ausweg finde."

"Jess, man kann es nicht allen zur gleichen Zeit auf dieselbe Art gerecht machen, das wissen Sie so gut wie ich. Aber man muß immer das tun, was man im entscheidenden Moment für das Richtige hält und wozu man fähig ist. Ich glaube, wenn Sie das nicht täten, wären nicht nur Sie selbst von sich enttäuscht, sondern vielmehr noch Ihr Junge. Und ein ruhigeres Gewissen hätten Sie dann mit Sicherheit nicht, vor allem nicht vor Ihrem Jungen."

"Komisch, so etwas Ähnliches habe ich irgendwann einmal Mike versucht zu erklären."

George nickte, zufrieden lächelnd, vor sich hin.

"Es wunderte mich gewaltig, wenn Sie anders darüber denken würden. Wenn man soviel Erfahrung, Courage, Verantwortungsgefühl und gesunden Menschenverstand hat wie Sie, kann man gar nicht anders darüber denken."

"Sie haben eine ziemlich hohe Meinung von mir."

"Versuchen Sie mir nicht einzureden, an dieser Feststellung könnte etwas nicht stimmen!"

"Na ja, ein Funken Wahrheit wird schon daran sein", räumte Jess nachgiebig ein. "Ich meine, es hätte ja tatsächlich keiner etwas davon, wenn ich in der Beziehung plötzlich übervorsichtig werde. Bei meiner alltäglichen Arbeit auf der Ranch könnte mir schließlich auch etwas passieren. Das Resultat wäre im Endeffekt das gleiche, sowohl für Mike als auch für mich. Kann mich deshalb ja nicht ab sofort bloß den ganzen Tag im Bett verkriechen."

"Rate ich Ihnen auch nicht", grinste George. "Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber im Bett sterben die meisten Menschen."

"Ein Grund mehr, sich nicht länger hineinzulegen als unbedingt nötig."

"Sie sagen es!" konnte George dem nur zustimmen. "Wissen Sie, Jess, ich vermute auch, daß Sie sich nur deshalb so viele Gedanken machen, weil Sie im stillen befürchten, dasselbe könnte sich wiederholen, entweder mit Ihnen oder – für Sie viel schlimmer! – mit einem Ihrer Leute und das auch noch mit denselben Kerlen. Von solchen kaltblütigen Killern muß man schließlich nur das Schlimmste annehmen."

"Schon, aber die Gefahr besteht zum Glück nicht mehr."

"Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie keine Angst, denen noch einmal zu begegnen?"

"Nein, nicht mehr."

Erstaunt zog George die Brauen hoch, da es ihn stutzig machte, wie Jess auf diese Bemerkung reagierte. Da lag soviel Bestimmtheit, Gewißheit in diesen drei Worten seiner Antwort, daß sich George richtiggehend provoziert fühlte nachzuhaken.

"Nicht mehr?" wiederholte er deshalb verblüfft. "Was soll das heißen? Sie können doch nicht sicher sein, daß die nicht zurückkommen. Hat man nichts mehr von ihnen gehört?"

"Doch, wir sind uns sogar wieder begegnet."

"Ist das Ihr Ernst? Heißt das, die sind noch einmal bei Ihnen auf der Ranch aufgetaucht?"

"Nein, aber in Laramie. Nicht meinetwegen, sondern wegen des Tresorinhalts der Bank", erklärte Jess mit einer Gelassenheit, die ihm in diesem Zusammenhang bei sich bisher völlig fremd war. Daß er plötzlich so unbedarft darüber reden konnte, war für ihn ein einziges Rätsel. Offensichtlich hatte er mit seiner völligen Genesung sogar diese Hürde genommen, die ihm noch vor kurzem unüberwindbar schien.

"Sie meinen, die wollten die Bank ausrauben?"

"Ganz recht."

Bei George begann es zu dämmern. Er machte eine verstehende Geste.

"Ist das diese Geschichte, die Sie neulich am Rande erwähnt hatten, aber nicht weiter darüber sprechen wollten?"

"So ist es."

"Wollen Sie es denn heute? Oder vielleicht sollte ich besser fragen: können Sie es heute?"

"Wollen Sie es denn hören?"

Durch einen prüfenden Seitenblick vergewisserte sich George, ob ihm dieses "Wollen" gestattet war. Anscheinend war es das heute! Der Mann neben ihm auf dem Wagen machte einen gelösten Eindruck. Seine Vorfreude auf zu Hause schien sämtliche Barrieren niedergerissen zu haben, hinter denen er sich bis jetzt so erfolgreich verschanzte, daß er sogar über die Dinge reden konnte, die bisher wie ein rotes Tuch bei ihm wirkten. So mitteilungsfreudig kannte er sich selber nicht.

"Nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht, darüber zu sprechen. Ich möchte nicht daran schuld sein, daß es Ihnen die Laune verdirbt oder Sie sich gar damit quälen müssen."

"Ich denke, dieses Stadium habe ich hinter mir. Ich weiß zwar nicht, wieso, aber merkwürdigerweise macht mir das Ganze nicht mehr halb soviel aus wie noch vor gar nicht allzu langer Zeit. Zugegeben, ich muß mich da ein wenig über mich selbst wundern, aber ich jammre dieser Art von Selbstmitleid nicht nach."

"Selbstmitleid? Sie und Selbstmitleid? Ist das nicht ziemlich daneben gegriffen?"

"Finde ich zwar nicht, aber wir sollten uns darüber besser nicht streiten. Es gibt nun einmal Dinge, bei denen ich mich nur ungern von etwas anderem überzeugen lasse."

"Werde mich hüten, mich deswegen mit Ihnen anzulegen."

"Eben, das ist die Sache nämlich nicht wert."

"Bei diesem Überfall auf die Bank … Da sind Sie also mit hineingeraten, nicht wahr?" kam George auf diese Geschichte zurück, die ihn nicht gerade unerheblich interessierte.

"Nicht direkt."

Jess erzählte ihm von der Sache in sehr knappen Sätzen, wobei er auf jedes schmückende Beiwerk und auch die meisten Details verzichtete, die seiner Meinung nach nichts zum Ablauf beitrugen, mit dem Resultat, daß George am Ende nicht eindeutig heraushören konnte, was denn nun aus den drei Verbrechern wurde.

"Sie sagen, der Sheriff und Sie hätten die Burschen erwischt. Heißt das, die sitzen im Gefängnis? Ist es da denn nicht verfrüht zu behaupten, ihnen nicht wieder zu begegnen? Der eine von ihnen ist schließlich schon einmal ausgebrochen. Das könnte er doch wieder tun."

"Bestimmt nicht, und die anderen zwei auch nicht. Die sitzen nämlich nicht im Kittchen, sondern sind …" Jess besann sich, um den Gedanken anders zu formulieren. "Die haben es nicht überlebt."

"Das meinten Sie also mit erwischt!"

"Ja, es gab eine Mordsschießerei. Zum Glück wurde von den Leuten aus der Stadt niemand verletzt. Nur Sheriff Cory hat eine üble, aber relativ harmlose Schramme abbekommen."

"Und Sie da am Hals", ergänzte George mit einer bezeichnenden Geste.

Mit einer unbewußten, reflexartigen Handbewegung fuhr Jess über die Stelle an seinem Hals. Er hatte Mühe, sie auf Anhieb zu finden.

"Woher wissen Sie das?"

"Heute sieht man die Narbe kaum noch, aber als Sie hier ankamen, war sie ganz frisch. Ich habe eigentlich nie angenommen, daß Ihnen da das Rasiermesser ausgerutscht ist. Erstens rasiert man sich an der Stelle nicht, und zweitens war das keine Schnittwunde."

"Habe total vergessen, daß Sie sich mit solchen Dingen ja auskennen", schmunzelte Jess ihn von der Seite her an.

George erwiderte seinen Blick und grinste mit ihm über diese Bemerkung um die Wette.

"Das muß ja eine schöne Aufregung gegeben haben, vor allem für Sie. Ich meine, dem Kerl tatsächlich noch einmal – bei so einer Gelegenheit auch noch! – zu begegnen."

"Ehrlich gesagt, hat mich das weniger in Aufregung versetzt als ein paar Bürger der Stadt. Was mir allerdings heute noch in den Knochen steckt, ist die Tatsache, daß nicht nur ich in dieses Theater verwickelt wurde, sondern auch Mike – daß auch er mittendrin gesteckt hat."

"Er war dabei?" vergewisserte sich George. Als Erstaunen war seine Reaktion nicht gerade zu nennen. Es war schon beinahe Entsetzen. "Du lieber Himmel! Nicht doch schon wieder!"

"Einmal stand er mitten im Kugelhagel, vor Angst und Schrecken wie gelähmt. Im letzten Augenblick konnte ich ihn zu Boden reißen, sonst …" Jess verschluckte das Ende des Satzes. "George, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich nun doch nicht mehr genauer auf das alles eingehen möchte. Es ist zwar schon so lange her, aber für mich ist es trotzdem kein wahres Vergnügen, allzu sehr ins Detail zu gehen. Ich dachte, ich hätte es schon besser verdaut, aber jetzt, wo wir davon reden … Das damals in der Stadt war eine furchtbare Geschichte, nicht nur wegen der unmittelbaren Gefahr – vor allem für Mike! –, sondern wegen all der sonstigen Dinge, die für mich da mit dranhängen. Ich möchte das jetzt wirklich nicht mehr …"

"Tut mir leid", entschuldigte sich George ein wenig schuldbewußt. "Ich hätte nicht davon anfangen dürfen."

"Ist nicht Ihre Schuld. Ich hätte ja nicht darauf eingehen brauchen. Aber, wie gesagt, ich dachte halt, daß ich das schon besser verdaut hätte. Ist anscheinend doch nicht der Fall."

"Jetzt habe ich Ihnen also doch die Laune verdorben. Das wollte ich bestimmt nicht. Ich hätte es selbst merken müssen, anstatt so hartnäckig weiterzufragen. Manchmal benehme ich mich aber auch wie ein Trampeltier."

"Tun Sie nicht! Und die Laune haben Sie mir auch nicht verdorben." Jess gab ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. "Ich glaube nämlich, das schafft heute keiner. Also, kein Wort mehr darüber! Irgendwann wird sicherlich die Erinnerung soweit verblaßt sein, daß es mir nichts mehr ausmacht, weiter in die Details zu gehen. Ich hoffe es jedenfalls. Vielleicht, wenn wir uns wiedersehen in sechs Monaten. Vorausgesetzt, es interessiert Sie dann noch."

"Ich werde Sie beim Wort nehmen, vor allem, was unser Wiedersehen betrifft."

"Ich hoffe nur, daß ich bis dahin nicht wieder irgendeine Krankheit in mir stecken habe."

"Und keine Kugel!" fügte George zum Nachdruck hinzu, jedoch nicht mehr ganz so ernst wie kurz zuvor.

"Sie werden es mir vermutlich nicht abkaufen, aber das mit einer Kugel kommt nicht halb so oft vor, wie Sie jetzt annehmen."

"Die vielen Narben an Ihrem Körper zeigen aber etwas anderes."

"Nun übertreiben Sie doch nicht so maßlos! Wenn das jemand mithörte! Erstens ist das eine Sammlung von vielen Jahren, und zweitens stammen die nicht alle von blauen Bohnen."

"Das stimmt", nickte George zustimmend. "Unter anderem habe ich da die einer Pfeilspitze, von einem stilettartigen Messer, mehrere von ziemlich groben Gegenständen, tiefen Hautabschürfungen, Platz- und Bißwunden, eine handtellergroße Brandnarbe und sogar eine von einem Schrapnellsplitter gefunden. Letztere muß wohl aus dem Krieg stammen, stimmt's?"

"Da haben Sie aber genau hingesehen."

"Ich hatte leider oft und lange genug Gelegenheit dazu. Gezählt habe ich sie aber nicht, wenn Sie das meinen. Es war allerdings auch so festzustellen, daß es jede Menge sind. Schätze, Sie könnten davon haarsträubende Geschichten erzählen. Man könnte meinen, Sie sind ein alter Veteran von fünfundachtzig."

"Ganz so schlimm ist es Gott sei Dank nicht!" wehrte Jess mit einem heiteren Lachen ab. "Zumindest was das Alter betrifft."

"Das ist der einzige Einwand, den ich zulasse. Möchte nicht wissen, wie viele Knochen Sie sich schon gebrochen haben."

"Sie werden es nicht glauben, aber da war ich bisher sehr zurückhaltend."

George blickte ihn scheinbar finster von unten heraus an.

"Sie haben recht, das glaube ich tatsächlich nicht, außer daß Ihr Genick noch nicht dabei war. Und ich hoffe in Ihrem Interesse, daß das auch in Zukunft nicht dabei sein wird."

"Keine Sorge, da werde ich schon aufpassen."

"Kann ich Ihnen nur wärmstens empfehlen."

Bald darauf erreichten sie die Bahnstation von Colorado Springs, im Grunde nichts anderes als ein etwas größerer, flacher Holzschuppen, aber immerhin mit einem wetterfesten Teerdach und somit dem Provisorium des Zeltplanenstadiums bereits entkommen.

Der Zug aus südlicher Richtung war noch nicht eingetroffen, so daß den zwei Männern etwas Zeit blieb für eine Tasse Kaffee und einen kurzen abendlichen Spaziergang um das Stationsgelände, denn das Gebäude selbst lud nicht zu einem längeren Aufenthalt ein.

"Sie brauchen meinetwegen nicht zu warten, George", meinte Jess, aber sein Begleiter nahm seine Rolle als persönlicher Betreuer sehr ernst und ließ es sich nicht nehmen, diese bis zur letzten Minute zu spielen.

"Meine Aufgabe endet erst, wenn Sie wohlbehalten in Ihrem Abteil sitzen und der Zug die Station verläßt. Außerdem sind Sie eine so angenehme Gesellschaft, die ich bis zum letzten Augenblick genießen möchte."

"Danke, aber wenn Sie gleich zurückfahren, kommen Sie wenigstens in der Dämmerung heim. Den Waldweg im Dunkeln zu fahren, erscheint mir eine noch holprigere Angelegenheit zu sein, als dies bei Tageslicht schon der Fall ist."

"Keine Sorge, den kenne ich wie meine Westentasche", grinste George. "Oder wollen Sie mich los werden?"

"Unsinn!"

Jess schlug ihm die Rechte auf die Schulter, während sie im letzten Schein der Abendsonne nebeneinanderher schlenderten. Es war ein warmer Frühsommerabend. Eine leichte Brise wehte den würzigen Duft der Wälder von den Bergen durchs Tal. In der Station und drüben im Ort begannen nach und nach hinter den Fenstern die Lampen anzugehen. Die dichten Wälder ringsum versanken in immer tieferes Schwarz, während einige der Berggipfel im letzten Schein einer in einem von hier aus nicht sichtbaren Horizont versinkenden Sonne ein letztes Mal zu glühen schienen. Tief aufatmend blickte Jess hinüber, wo die Lichter brannten.

"Jetzt bin ich über ein halbes Jahr hiergewesen, aber nicht ein einziges Mal hier unten. Komischerweise hatte ich überhaupt kein Verlangen danach."

"Wir hätten auch hinüber in den Ort gehen können. Es ist noch Zeit. Sollen wir …"

"Nein, wozu? Ich kenne den Ort. Bin vor einiger Zeit einmal hier durchgekommen."

"Sie waren schon einmal hier?"

"Ja, hatte in der Gegend zu tun. Ist aber schon ein paar Jahre her. Damals war das noch Endstation der Eisenbahn. Ging ziemlich turbulent zu. Es gab hier nur Zelte und zwei Holzbaracken. In der einen hatte die Denver & Rio Grande ihr Büro, in der anderen war so etwas wie ein Gefängnis untergebracht, und einen ausrangierten Eisenbahnwaggon hatte man zu einem Saloon umfunktioniert. Zwei Minengesellschaften begannen die Berge auszuhöhlen."

"Heute haben wir davon ein gutes Dutzend."

"Frage mich, wie lange das Land so etwas aushält. Da drüben fängt man sogar schon an, den Wald in größerem Stil zu roden, hab' ich gesehen. In ein paar Jahren werden Sie da oben Ihr Haus schließen müssen, weil sich hier keiner mehr erholen kann."

"Mit dem Holzeinschlag ist man Gott sei Dank etwas zurückhaltender geworden, nachdem es ein paar verheerende Erdrutsche und Stolleneinbrüche aufgrund von Auswaschungen gab."

"Die Natur beginnt sich zu rächen, was?"

"Sieht so aus." George sah ihn von der Seite her an. "Sie scheinen nicht begeistert von Colorado Springs gewesen zu sein."

"Kann ich nicht leugnen. Mit der Eisenbahn habe ich nicht viel im Sinn und mit dem Bergbau noch weniger. Ich habe die Leute nie verstanden, die gierig in der Erde herumwühlen, um ein bißchen Silber oder Gold herauszuholen. Man wird von dem Zeug nicht satt."

"Aber man kann sich dafür etwas kaufen, wovon man satt wird."

"Sicher, sofern es etwas zu kaufen gibt oder die Preise inzwischen nicht dermaßen gestiegen sind, daß das bißchen Erz kaum für eine Seite Speck reicht. Nein, ist nichts für mich! Da ärgre ich mich lieber mit störrischen Rindern herum und wilden Pferden, die sich die hinterhältigsten Gemeinheiten ausdenken können, um ihren Reiter loszuwerden. Zur Not kann man beide schlachten und satt davon werden. Bin bei der Arbeit mit Ihnen wenigstens an der frischen Luft, anstatt im Inneren eines Berges zu ersticken."

"Ja, das ist ein Problem. Bergbau ist wirklich eine gesundheitsschädigende Angelegenheit."

"Lohnt sich das denn hier überhaupt?"

"Ja, seit sie jetzt auch Kohle und Eisenerz abbauen, auf jeden Fall. Und dann gibt es hier sehr reiche Silbervorkommen. Dieses Land ist eine einzige Schatzkammer."

"Na ja, ich darf dagegen nichts sagen. Schließlich profitieren wir auch ein wenig davon, wenn wir hin und wieder Vieh hier für einen guten Preis verkaufen können. Die Leute müssen ja etwas essen. Habe gehört, daß Kohle und Erz da nicht so bekömmlich sein sollen, weil sie zu sehr zwischen den Zähnen knirschen und so schwer im Magen liegen", schmunzelte Jess seinen Begleiter an, der dieses Schmunzeln postwendend zurückgab.

"Wenn Sie das nächste Mal hier zu tun haben, müssen Sie aber bei uns vorbeikommen."

"Versprochen! Allerdings fürchte ich, wird das in nächster Zeit kaum passieren. Wir können unser Vieh in Kanada viel besser verkaufen. Hier ist die Konkurrenz aus dem Süden zu groß. Das verdirbt die Preise."

"Aber nach Kanada ist es doch viel weiter."

"Ja, und auch nicht so bequem, solange da keine Eisenbahn hoch fährt. Trotzdem … ein bißchen Abenteuer muß dabei sein, sonst macht es keinen richtigen Spaß."

"Und ich dachte schon, daß Sie hier vielleicht von Ihrem eigenen Vieh zu essen bekommen haben."

"Das dürfte ziemlich unwahrscheinlich sein", lachte Jess, amüsiert über diesen Gedanken. "Aber Sie können in Zukunft ja darauf achten, ob Sie irgendwo unser Brandzeichen sehen. Ein miteinander verschlungenes 'S-R', sehen Sie, so." Mit der Stiefelspitze malte er die Marke auf den sandigen Boden, daß George es im Dämmerlicht gerade noch erkennen konnte. "Vieh hat oft die merkwürdigsten Irrwege hinter sich, ehe es endlich im Kochtopf landet."

"Kein 'H' bei dem Brandzeichen?"

"Ein 'H'? Wofür das denn?"

"Na, für Ihren Namen, 'H' wie Harper."

"Nein, warum?"

"Ich denke, Sie und Slim Sherman sind gleichberechtigte Partner. Wollten Sie das nach außen hin denn nicht zeigen, eben mit einem 'H' oder sonst einem Zeichen?"

"Mein lieber George, ich merke schon, daß Sie von Rancharbeit nicht viel Ahnung haben."

"Zugegeben, aber Ihre Bemerkung verstehe ich trotzdem nicht."

"Natürlich sind Slim und ich Partner", holte Jess zum besseren Verständnis etwas weiter aus. "Das ist sogar amtlich im Grundbuch vermerkt, weil er das unbedingt so haben wollte. Man weiß schließlich nie, mit welchen Bürokraten man sich mal aus irgendwelchen Gründen herumschlagen muß. Slim hatte auch die glorreiche Idee, den Namen der Ranch zu ändern, wollte ihr irgend so einen Phantasienamen geben. Ich konnte ihm das zum Glück ausreden. Dann meinte er, daß aber wenigstens mein Name mit in das Brandzeichen sollte. Ausgezeichneter Vorschlag, sagte ich, wir haben etwa dreieinhalb- bis viertausend Stück Vieh und mindestens fünfhundert Pferde, verstreut auf mehreren Weiden, zum Teil in schwierigem Gelände. Bildest du dir ein, fragte ich ihn, die treibe ich alle zusammen, bloß damit ich denen ein neues Brandzeichen verpasse? Und da ich vollstes Verständnis für Slim hatte, der sich diese Arbeit auch nicht machen wollte, können Sie sich sicher denken, daß diese Diskussion damit sehr schnell beendet war. Also behielt unsere Ranch ihren Namen und unser Vieh das bisherige Brandzeichen. Unsere Partnerschaft hat darunter jedenfalls noch nicht gelitten. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie das deswegen einmal tun wird."

"Ich ebensowenig."

"Na, sehen Sie!"

"Trotzdem ist es schade, daß Sie in Zukunft wenig hier zu tun haben werden. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden."

"Auf jeden Fall! Allerdings haben wir ganz unabhängig davon vor, in der nächsten Zeit keine größere Menge Vieh zu verkaufen, sondern die Herde sogar zu vergrößern."

"Das kommt für Sie gesundheitlich wie gerufen, denn Sie wissen ja, Jess, Sie müssen trotz allem noch ein wenig zurückhaltend sein, was die schwerere Arbeit betrifft. Dazu gehört auch so etwas Staubhaltiges wie ein längerer Viehtrieb."

"Keine Sorge, da dürfte ich wenigstens dieses Jahr in keinen größeren Gewissenskonflikt geraten. Als erstes werden wir uns nämlich um die Landoption kümmern und anschließend zusehen, daß wir ein paar Stück erstklassiges Zuchtvieh ersteigern können. Es schadet bestimmt nichts, wenn wir damit unsere Herde ein wenig auffrischen. Wir können uns zwar über unsere bisherigen Zuchterfolge nicht beklagen, aber man sollte sich nicht zu lange auf seinen Lorbeeren ausruhen. So etwas verträgt ein Ranchbetrieb nicht."

"Es ist schön zu hören, wie Sie Pläne für die Zukunft schmieden. Wenn ich daran denke … Mein Gott, es ist wunderbar, Sie so reden zu hören."

"Es ist wunderbar, an dieser Zukunft teilhaben zu dürfen", fügte Jess in seinem Tonfall hinzu.

"Ja, und Sie stecken sogar schon mittendrin. Das freut mich maßlos! Ich habe es Ihnen immer gewünscht und gönne es Ihnen von Herzen."

"Vielen Dank, George, auch für Ihre unermüdliche Hilfe und Unterstützung. Ohne Sie hätte ich das bestimmt nicht schaffen können, ohne Ihrer aller Hilfe. Ich war noch nie im Leben so krank. Es ist schön, wenn es gerade dann Menschen gibt, die für einen da sind und für die man nicht bloß zu einem lästigen Übel wird."

"Allen voran Slim Sherman", warf George ein, um von sich etwas abzulenken.

"Ich dachte da eigentlich mehr an Sie und die anderen, denn von Slim bin ich nichts anderes gewöhnt."

"Es ist unsere Aufgabe, jemandem zu helfen, der unsere Hilfe benötigt. Und dann dürfen Sie eines nicht vergessen! Wir lassen uns schließlich dafür nicht schlecht bezahlen."

"Sicher, aber Sie wollen mir hoffentlich nicht weismachen, daß Sie jemandem Ihre Hilfe verweigerten, bloß weil er sie Ihnen nicht bezahlen könnte?"

Damit hatte Jess ihn geschlagen.

"Nein, natürlich nicht! Gott, das wäre ja die größte Sünde, die ich mir vorstellen kann. Ich habe zwar nicht den Eid des Hippokrates geschworen, aber das heißt nicht, daß ich mich nicht trotzdem dazu verpflichtet fühle. Ihn zu mißachten wäre für mich wirklich eine Todsünde."

"Und wie sieht Ihre Zukunft aus? Werden Sie bald wieder einen Ihrer besonderen Gäste zu betreuen haben?"

"Ich mag gar nicht daran denken! In zehn Tagen – nein, in neun schon! – werde ich das unvergleichliche Vergnügen haben. Normalerweise hätte sich Ben um ihn oder, besser gesagt, um sie gekümmert, aber da Sie uns ja leider verlassen, werde ich dieses Vergnügen haben."

"Um sie?" vergewisserte sich Jess erstaunt mit hochgezogenen Brauen. "Vielleicht sollte ich noch ein wenig bleiben."

"Ist nicht Ihr Ernst!"

"Warum nicht? Könnte doch interessant werden."

"Nicht der Rede wert, es sei denn, Sie stehen auf betuchte Damen eines älteren Jahrgangs."

"Kommt darauf an", schmunzelte Jess vergnügt über Georges Annahme, er könnte es mit dem Bleiben wegen des neuen Gastes tatsächlich ernst meinen.

"Es lohnt sich nicht, glauben Sie mir. Miss Ablegard ist Witwe – oh, sie legt besonderen Wert auf das 'Miss', was ihr eine besonders jugendliche Frische verleihen soll –, ein Gelddrache von siebzig, gesünder als manche junge Frau, sehr gepflegte Erscheinung, aber leider sehr egozentrisch und krampfhaft darum bemüht, einen Mann für ihre Enkelin zu finden."

"Sie kennen Sie?"

"Ja, sie war letztes Jahr schon einmal hier. Kommt wieder mit ihrer Gesellschafterin, ohne die sie sich, glaube ich, noch nicht einmal beerdigen lassen wird. Na ja, das entbindet mich wenigstens von der Pflicht, sie unterhalten zu müssen. Sind zwei anstrengende Damen, sage ich Ihnen!" stöhnte George, meinte es aber nicht unbedingt böse. "Anscheinend ist diese Enkelin genauso anstrengend und wirkt entsprechend auf Männer, sonst müßte die Großmama nicht in Aktion treten. Sie versucht es bei jedem. Sogar Professor Tyler gehörte schon zum Kreis der Auserwählten, hat die eifrige Dame aber genauso abblitzen lassen wie wir alle. Am schlimmsten kriegt es Olaf immer zu spüren, weil er offensichtlich das passendste Alter von uns hat. Der Ärmste! Läßt sich dann nur im Notfall blicken, um ja kein Risiko einzugehen. Selbstverständlich werden auch sämtliche übrigen Gäste in genauen Augenschein genommen. Zumindest von der finanziellen Seite her könnte da vielleicht ein potentieller Freier dabei sein. Seien Sie also froh, daß Sie nicht mehr die Bekanntschaft von Miss Ablegard machen müssen. Schätze, Sie stünden ziemlich bald ganz oben auf ihrer Liste."

"Könnte gar nicht sein, weil ich von eben dieser finanziellen Seite nichts zu bieten habe."

"Und wenn schon! Dafür sind Sie im richtigen Alter, sehen obendrein gut aus und – und das ist überhaupt das Wichtigste! – es umgibt Sie ein Hauch von Abenteuer, ja, ich habe den Eindruck, manchmal sogar etwas richtig Geheimnisvolles. Darauf fliegen diese wohlbehüteten Töchter und Enkelinnen aus gutem Hause besonders."

Das brachte Jess dazu, lauthals zu lachen.

"George!" japste er vergnügt. "Wenn Sie so weitermachen, schaffen Sie es tatsächlich, daß ich Tränen lache."

"Ich glaube, ich habe Sie noch nie soviel lachen hören wie in den letzten Tagen und vor allen Dingen heute. Ich wußte zwar, daß Sie einen feinen, manchmal auch sehr spitzen Humor entwickeln können, aber daß Sie ein so humorvoller Mensch sind, hätte ich nicht vermutet. Sie können sogar richtig ausgelassen sein. Dabei befürchtete ich schon, Ihre zeitweilige Verschlossenheit und auch diese merkwürdige Melancholie, die ich immer wieder bei Ihnen feststellen mußte, würden zur traurigen Gewohnheit werden."

"Nun, vielleicht hängt dieser Eindruck damit zusammen, daß ich anfangs wirklich nicht viel Grund sah, in ausgelassene Stimmung zu geraten und auch nicht viel zu lachen hatte. Ganz zu schweigen davon, daß ich gar nicht lachen konnte, ohne gleich vor Schmerzen verrückt zu werden. An sich bin ich nämlich schon sehr humorvoll und kann jede Menge Spaß vertragen, obwohl das Leben bei mir schon tiefe Wunden geschlagen hat, die nichts mit den Narben zu tun haben, die Sie an meinem Körper gesehen haben. Ich habe Höhen und noch mehr Tiefen hinter mir und hatte nicht immer so eine optimistische Lebenseinstellung, wie Sie sie an mir zu erkennen glauben. Es gab Zeiten, in denen Sie garantiert nicht den Jess Harper gefunden hätten, den Sie heute vor sich haben. Aber das ist lange her. Trotzdem habe ich immer zu diesem anderen Jess Harper gestanden und ihn nie verleugnet. Andere Situationen, andere Erfahrungen und vielleicht auch das eigene Lebensalter erzeugen die unterschiedlichsten Stimmungen, Launen, Lebenseinstellungen. Ich kann keine von ihnen im nachhinein verurteilen. Nun, vor einem halben Jahr hatte ich den eigenen Tod direkt vor Augen. Ich muß zugeben, er hat mich selten zum Lachen animiert, obwohl ich es wirklich gerne tu'. Ich glaube, ich habe viel nachzuholen."

"Ich freue mich jedenfalls darüber und hoffe, daß Sie in Zukunft wieder viel Zeit und viel Gelegenheit zu einem herzhaften Lachen haben werden."

"Dafür wird allein schon Mike sorgen. Sie ahnen nicht, was dieser Lausebengel ab und zu für Zeug von sich gibt, besonders wenn er über seine Ansichten, was Mädchen betrifft, fachsimpelt. Wenn ich es mir recht überlege, redet er, obwohl er behauptet, sie alle langweilig und zickig zu finden, auffallend oft von ihnen."

"Wahrscheinlich hat er eine heimliche Freundin."

"Das glaube ich weniger, aber ich nehme an, daß er dieses Thema anfängt ganz unbewußt interessant zu finden. Dann dauert es bestimmt nicht mehr lange, bis er die eine oder andere seiner Mitschülerinnen doch interessanter findet als sein Pferd oder mit ihm über Stock und Stein zu galoppieren. Das ist sicherlich nur eine Frage der Zeit – einer nicht allzu langen Zeit, würde ich behaupten."

George dachte sich seinen amüsanten Teil dazu. Aus jedem Wort dieses Mannes konnte er den Vaterstolz erkennen.

"Wissen Sie eigentlich irgend etwas über seine Eltern?"

"Nein, nicht das geringste."

"Wollten Sie denn nichts über sie erfahren?"

"Es war nichts herauszukriegen. Ich wüßte nicht, wo ich da noch anfangen sollte."

"Und der Junge? Will der denn nicht wenigstens wissen …"

"Mike? Nein, er hat, glaube ich, noch weniger Interesse, etwas zu erfahren als ich. Allein die Tatsache, daß man ihn als schreiendes Wickelkind einfach vor eine fremde Tür gelegt hat, ist für ihn Grund genug, nicht wissen zu wollen, wer ihn in die Welt gesetzt hat."

"Aber stellen Sie sich vor, da käme plötzlich seine richtige Mutter, seine richtigen Eltern und erhöben Ansprüche."

"Für ihn würde ich immer und immer wieder kämpfen, egal, wer ihn mir streitig machen wollte. Mike ist mein Sohn, nicht nur auf dem Papier nach irgendeinem richterlichen Entscheid, sondern hier drin!" Jess deutete mit dem Daumen auf seine Brust. "Müßte ich ihn auf diese Weise verlieren, bräche uns beiden das Herz. Ich könnte vielleicht notgedrungen damit leben, aber er nicht."

"Sie meinen, er könnte sich sogar etwas antun?"

"Ich möchte es nicht ausschließen. Mike ist ein sehr aufgeweckter, fröhlicher Junge geworden, sehr intelligent und für sein Alter – ich würde fast sagen – überdurchschnittlich erfahren, was gewisse Dinge anbelangt. Aber er ist in mancher Hinsicht auch sehr sensibel."

"So wie Sie, nicht wahr?"

"Slim behauptet das immer; wir wären uns sehr ähnlich; als ob Mike tatsächlich mein eigen Fleisch und Blut wäre. Ich kann das nur schwer beurteilen, denn man selber sieht sich ja immer anders; aber ich empfinde genauso, als ob er es wäre."

"Das merkt man sofort, wenn Sie von ihm reden. Er muß es sehr gut bei Ihnen haben."

"Na ja, allzuviel kann ich ihm nicht bieten. Vor allem wünschte ich, ich hätte mehr Zeit für ihn, besonders oder gerade über Sommer, während der langen Ferien, wenn er nicht zur Schule muß und ich ausgerechnet dann tage-, manchmal sogar wochenlang unterwegs bin. Aber eine Ranch kann man nicht nur von zu Hause vom Schreibtisch aus führen und in Gang halten. Ich glaube, Mike hat das bis jetzt ganz gut verstanden. Ich meine nach dem, was ich so am Rande mitkriege, haben andere Eltern oft noch weniger Zeit für ihre Kinder, obwohl sie ständig zu Hause sind."

"Ja, weil das nicht nur allein mit körperlicher An- oder Abwesenheit zu tun hat. Von Ihnen weiß ich, daß Sie Ihren Jungen selbst auf tausend oder noch mehr Meilen Entfernung nicht vernachlässigen würden."

"Zumindest gebe ich mir die größte Mühe."

Fortsetzung folgt