KAPITEL 41

Eine Stunde später saß Jess in einem komfortablen Coupé eines Abteilwagens der Denver & Rio Grande, das George trotz heftigen Protests für ihn organisiert hatte. Aber auch das gehörte zum Service, den Gäste aus Professor Tylers Sanatorium genossen und an den sich Jess sogar bis zu einem gewissen Grad gewöhnt hatte. Obwohl er es für seine Gesundheit nicht mehr nötig fand, empfand er die Behaglichkeit der gepolsterten Sitze als recht angenehm, so daß er während der nächtlichen Fahrt nach Denver in relativ bequemer Lage mehrere Stunden schlafen konnte und am frühen Morgen ausgeruht aus dem Zug stieg, der hier vier Stunden Halt einlegte, um auf die Fahrgäste der Atchison Topeka & Santa Fé, die aus östlicher Richtung kamen, zu warten. Wenn einem die Konkurrenz die Kunden beinahe bis ans Gleis brachte, durfte man sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Jess nutzte die Zeit für ein ausgiebiges Frühstück, einen ausgedehnten Besuch beim Barbier und die Erledigung diverser Besorgungen. Als er zehn Minuten vor Weiterfahrt des Zuges zur Bahnstation zurückkehrte, hätte ihn der Schaffner, der den Fahrgästen beim Einsteigen behilflich war und von George den Auftrag erhalten hatte, ihm einen angenehmen Aufenthalt im Zug zu garantieren, kaum wiedererkannt. In dem eleganten Gehrock mit der perfekt sitzenden Weste und dem weißen Hemd wirkte er wie ein gepflegter Geschäftsmann auf Dienstreise. Obwohl Jess kein besonderer Freund von solch – seiner Meinung nach – unbequemer, weil unpraktischer Garderobe war, gehörte sein Aufzug zu dem Plan, den er ausgeheckt hatte, um seine Leute zu Hause nach allen Regeln der Kunst auf den Leim zu führen. Dabei dachte er vor allem an Slim, der erst frühestens in drei Wochen mit ihm rechnete und ihn von weitem sicherlich für einen mit Vorsicht zu genießenden Spießer hielt, wenn nicht sogar für etwas weitaus Lästigeres. Da Jess es sowieso an der Zeit fand, seine Garderobe etwas aufzufrischen und es im näheren Umkreis keine günstigere Gelegenheit dafür gab als eine Stadt wie Denver, paßte ihm dieser längere Aufenthalt ausgezeichnet.

Am sehr späten Nachmittag erreichte der Zug nach einer Panoramafahrt durch atemberaubende Landschaft der Rocky Mountains Cheyenne, wo sich Jess schon fast wie zu Hause fühlte.

Der Mann am Schalter der Union Pacific teilte ihm zu dessen tiefstem Bedauern mit, daß der nächste Zug nach Westen erst in zwei Tagen ging, da ein gewaltiger Erdrutsch, der nach einem kurzen, aber sintflutartigen Wolkenbruch in der letzten Nacht auf halbem Weg zur Paßhöhe niedergegangen war, die Strecke blockierte. Ein Räumtrupp war zwar schon bei der Arbeit, aber es würde noch mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bis die Schlammassen von den Gleisen beseitigt waren, die Trasse auf Beschädigungen geprüft und wieder passierbar war. Für eilige Gäste hatte man allerdings ein paar Kutschen der Überlandpostlinie gechartert, um eine – wenn auch nicht so bequeme – Beförderung zu garantieren.

"Die nächste, in der ich Ihnen einen Platz besorgen könnte, geht erst um Mitternacht. Alle früheren sind leider schon ausgebucht."

"Kein Problem, paßt mir ausgezeichnet. Reservieren Sie mir bitte einen Platz!" bat Jess und fand, daß der Erdrutsch genau zur rechten Zeit den Eisenbahnbetrieb lahmgelegt hatte; denn wenn die Strecke frei gewesen wäre, hätte er aus Bequemlichkeitsgründen den nächsten Zug nach Laramie genommen.

"Selbstverständlich!" versprach der Mann hinter dem Schalter. "Sie können sich darauf verlassen. Abfahrt ist genau um Mitternacht an der Poststation in der Front Street. Seien Sie bitte pünktlich! Ihr Gepäck können Sie hier lassen. Wir werden uns darum kümmern. Ich hoffe, daß es trotz dieser Störung eine angenehme Fahrt für Sie wird."

"Fährt die Kutsche die übliche Route?"

"Ja, wie die reguläre Post."

"Ausgezeichnet! Das könnte wirklich nicht besser passen!"

Mit einem der Mietwagen vor der Bahnstation fuhr Jess in die Stadt. Während der Fahrt fiel ihm der Zwischenfall mit dem jungen Hilfsmarshal ein, der ihn damals verhaften wollte, weil er ihn für einen gesuchten Banditen hielt. Wer weiß, dachte er, für wen er mich heute hält, sollte er mir zufälligerweise begegnen. Der Gedanke an diesen sommersprossigen, übereifrigen jungen Mann ließ ein verschmitztes Grinsen über sein Gesicht huschen, daß er sich in dem offenen Zweispänner genießerisch zurücklehnte, die Beine übereinander schlug und die kurze Fahrt bis ins Zentrum der Stadt genoß.

An diesem warmen Frühsommerabend fand er, daß das Leben wunderschön sein konnte, wenn man auf dem Weg nach Hause war, das nur knapp siebzig Meilen in der Richtung lag, wohin die Sonne wanderte. Es war wirklich ein wunderbares Gefühl zu spüren, daß man lebte und solche nebensächlichen Dinge feststellen konnte, daß sich außer ein paar neu gebauten Häusern am Stadtrand nichts Wesentliches geändert hatte während der letzten paar Monate.

Vor dem Grand Teton Hotel bezahlte Jess den Kutscher und verließ den Wagen, um zu Fuß weiterzugehen. Er fühlte sich großartig und hätte die ganze Welt aus den Angeln heben können, mit dieser Stadt angefangen, auch auf die Gefahr hin, daß er dann garantiert Ärger mit wenigstens einem der übereifrigen Deputies von Marshal Peters bekommen hätte. Er mußte wieder an den sommersprossigen Jungen vom letzten Mal denken.

Die Türglocke des Geschäftes neben dem Hotel und eine ihm sehr bekannte Frauenstimme, die sich mit dem Ladeninhaber unterhielt, hinderten ihn daran, den umfangreichen Aushang am Eingang des Grand Teton zu studieren. Das Plakat, das eine Abendveranstaltung ankündigte, war plötzlich genauso wenig interessant wie die übrigen Anschläge.

Jess hatte sich nicht getäuscht. Keine fünf Schritte von ihm entfernt stand seine alte Bekannte Molly, die hier seit Jahren das gemütliche Café mit Imbiß betrieb, wo es zum Mittagstisch das beste Stew in der Stadt gab.

Zum ersten Mal hatte er sie vor vielen Jahren in Abilene getroffen. Damals arbeitete sie als Animiermädchen in einem Tanzlokal. Eines Abends war eine wilde Treibherdenmannschaft in dem Etablissement erschienen, um es buchstäblich auf den Kopf zu stellen.

Ein gutaussehender, junger Mann mit dunklen Haaren und den aufregendsten blauen Augen, die Molly je bei einem Vertreter des starken Geschlechts gesehen hatte, fiel ihr sofort auf. Sie leistete ihm den ganzen Abend Gesellschaft, weil sie ihn überaus anziehend fand, obwohl ihn ein Hauch von geheimnisvoller Melancholie zu umgeben schien. Was ihr jedoch am meisten an ihm auffiel und in positiver Erinnerung blieb, war die Tatsache, daß dieser junge Cowboy sie wie eine Frau behandelte und nicht wie ein billiges Flittchen. Obwohl er nur einer ihrer vielen Kunden für einen Abend war, blieb er ihr daher in ziemlich lebhafter Erinnerung.

Jahre später hatte sie es endlich geschafft, sich von diesem Tanzschuppendasein zu befreien, zog nach Norden und eröffnete hier in Cheyenne das kleine Café, was anfangs mit einigen Schwierigkeiten verbunden war, bis die Leute ihre Vergangenheit, die sie nie zu leugnen versuchte, akzeptierten und so wie sie einen Schlußstrich darunter zogen. Durch Zufall sah sie eines Tages den jungen Mann in der Stadt, der sie vor Jahren in Abilene so beeindruckt hatte. Erst dann lernten sie sich eigentlich etwas näher kennen. Es entstand eine lockere Freundschaft zwischen zwei Menschen, die unabhängig voneinander und rein zufällig in derselben Gegend gestrandet waren, die aber nicht mehr von sich erhofften oder anstrebten, als eben gute Freunde zu sein, wobei Molly hin und wieder gern von mehr träumte, obwohl sie genau wußte, daß es nie mehr werden würde. Was sich jedoch auch nach Jahren nicht geändert hatte: Jess behandelte sie mit demselben Respekt, den er jeder anderen ehrbaren Frau ebenso entgegenbrachte; genau das hatte ihr schon damals in Abilene imponiert.

Dieser Mann wirkte auf sie beinahe unwiderstehlich mit seinem aufrichtigen Charme, der so angenehm frei war von dieser aufgesetzten Höflichkeit anderer Männer, die so falsch war wie die Fassaden mancher Häuser. Um so tiefer war sie betroffen gewesen, als sie ihn vor Monaten das letzte Mal sah. Nicht nur, daß er todkrank ausgesehen hatte und dies offensichtlich auch war, sondern daß da wieder jene Melancholie in seinen Augen lag, die sie seit ihrer Wiederbegegnung in Cheyenne vor fünf Jahren nicht mehr bei ihm bemerkt hatte. Das hatte sie zutiefst erschreckt und ihr Sorgen bereitet, ja, sie hatte sogar das unbestimmte Gefühl, ihn nie wiederzusehen. Und jetzt hätte sie geschworen, seine sonore Stimme in ihrem Rücken zu hören, dieser ruhige Bariton, der mit seinem Hauch von südlichem Akzent Jess' texanische Herkunft verriet, wenn man so wie Molly ein Ohr dafür hatte.

"Hallo, Molly!" rief er sie verhalten an, mit einem verschmitzten Lächeln auf seinem markanten Gesicht, einer bemerkenswerten Mischung aus unnachgiebiger Härte und sanftmütiger Freundlichkeit, vermischt mit ebensoviel draufgängerischer Verwegenheit wie gefühlvoller Sensibilität.

Molly, die ihren Ohren nicht traute, wandte sich überrascht um.

"We…", wollte sie schon beginnen, als ihr alles Weitere erst einmal im Halse stecken blieb. Sie brauchte sogar einen Augenblick, ehe sie ihn erkannte, denn erstens rechnete sie mit jedem, nur nicht mit ihm, und zweitens hatte sie ihn von ihrer letzten Begegnung völlig anders in Erinnerung. "Du meine Güte!" entfuhr es ihr endlich, und sie schlug spontan die Hände zusammen, daß es nur so klatschte. "Das darf nicht wahr sein! Du bist das tatsächlich! Na, so was! Jetzt hätte ich dich beinahe nicht erkannt."

Zur Begrüßung umschloß er ihre beiden Hände und blickte ihr tief in die großen, rehbraunen Augen. Er fand, daß diese wunderschönen Augen viel mehr zum Ausdruck kamen, seit sich Molly nicht mehr schminkte wie damals in Abilene.

"Habe ich mich denn so verändert?" fragte er schmunzelnd, um seine aufkommende Verlegenheit besser in den Griff zu bekommen, die ihn beim Umgang mit den Vertreterinnen des anderen Geschlechts regelmäßig heimsuchte, vor allem, wenn er von ihnen so angetan war wie von Molly, von der er bis heute nicht wußte, wie sie eigentlich mit Nachnamen hieß; aber das war schließlich auch nicht wichtig.

Am liebsten hätte er seine Arme um sie geschlungen, sie an sich gedrückt und auf offener Straße geküßt aus lauter Freude über ihr Wiedersehen. Einige der Passanten hätten dies allerdings gewiß falsch verstanden, denn für eine anständige Frau gehörte es sich nicht, daß sie sich auf offener Straße küssen ließ, von wem oder aus welchem Grund auch immer. Jess besaß viel zuviel Takt, als daß er sie vor all den Leuten blamiert hätte, nur weil er seine Gefühle nicht im Zaum halten konnte.

"Nur rein äußerlich!" strahlte sie ihn an. "Und nur zu deinem Vorteil!"

Jess kam nicht mehr dazu, ihr zu sagen, daß sie hinreißend in ihrem leichten Sommerkleid wirkte und hübscher war denn je, da eine energische Männerstimme von der Straße her die Wiedersehensfreude erst einmal unterbrach. Irgendwie kam ihm diese Stimme halb hinter ihm bekannt vor. Von Mollys Anwesenheit war er allerdings etwas abgelenkt, daß er den Störenfried nicht sofort richtig einordnen konnte, der ihn barsch von der Seite her ansprach.

"Mister, in unserer Stadt dulden wir es nicht, daß man eine Lady auf offener Straße belästigt. Für Leute wie Sie haben wir hier keinen Platz. Wir erteilen keine Lizenzen mehr an professionelle Kartenhaie", tönte es da.

Es war jener Hilfsmarshal, mit dem Jess schon einmal aufgrund einer Verwechslung um ein Haar aneinandergeraten war. Allmählich begann er sogar anzunehmen, daß er für diesen jungen Mann grundsätzlich eine Herausforderung darstellte, seinen Diensteifer zu demonstrieren. Trotzdem fand er das Ganze mehr amüsant als lästig oder unverschämt, obwohl er es gerade in diesem Augenblick eher störend bezeichnen wollte. Eines schien dieser Vern jedoch gelernt zu haben: den Leuten, die er als Missetäter zu entlarven gedachte, kam er offensichtlich aus Sicherheitsgründen nicht mehr so nahe wie damals. Anscheinend traute er dem vermeintlichen Berufsspieler nicht über den Weg, zudem die Jacke des Mannes an der rechten Hüfte von einem Gegenstand ausgebeult wurde, der Vern nicht nur auf angemessene Distanz hielt, sondern ihn zusätzlich reizte, das von diesem unerwünschten Gentleman anzunehmen, was er eben annahm: daß er nicht nur flink mit den Karten hantieren konnte, sondern ebenso mit seinem Schießeisen. Mißtrauisch behielt er deshalb Jess' Rechte im Auge, als dieser Mollys Hände los ließ und sich stirnrunzelnd zu dem Störenfried umwandte, während in Mollys Gesicht Empörung trat.

"Vern!" wies sie ihn zurecht, der sich von ihrer Reaktion irritieren ließ. Wäre Jess tatsächlich derjenige gewesen, für den der junge Mann ihn hielt, hätte dies sein Todesurteil bedeutet und Marshal Peters hätte sich nach einem Ersatz umsehen müssen.

"Hat er Sie belästigt?"

"Unsinn! Sie belästigen uns!" erklärte sie ärgerlich, während Jess die Situation eher zum Schmunzeln fand, aber wahrscheinlich nur, weil selbst ein übereifriger Hilfsmarshal wie dieser Vern es heute nicht fertigbringen konnte, ihm die Laune zu verderben.

"Allmählich kriege ich das Gefühl, Sie haben etwas gegen mich", meinte er grinsend, an den jungen Mann gewandt, achtete aber streng darauf, daß seine Rechte seiner Waffe nicht zu nahe kam, zumindest so lange, bis bei dem Deputy der Verstand wieder einsetzte.

Vern zog grimmig die Brauen zusammen und musterte ihn argwöhnisch. Irgendwie kam er ihm plötzlich bekannt vor, aber er wußte nicht, woher. Wahrscheinlich von einem Steckbrief, dachte er. In letzter Zeit hatte Marshal Peters einigen dieser aalglatten, schießwütigen Kartentischprofis Stadtverbot erteilt. Manche lernten es anscheinend nie!

"Kennen wir uns?" fragte er, daß es schon beinahe herausfordernd klang.

"Sie sollten einmal genau überlegen – Vern, nicht wahr? So war doch der Name?"

"Sie kennen mich?"

"Sicher", feixte Jess. "Im Gegensatz zu Ihnen habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis."

Vern zog weiter die Brauen zusammen, obwohl dies kaum möglich war. In seinem finster verschlossenen Gesicht mit den vielen Sommersprossen war deutlich zu erkennen, daß es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. Es war die Stimme dieses Mannes, die ihm so bekannt vorkam. Und die konnte er gewiß nicht von einem Steckbrief her kennen. Vern kniff die Augen zusammen, als könnte er Jess auf diese Weise besser sehen, tastete ihn von oben bis unten mit einem Blick ab, der einen anderen vielleicht eingeschüchtert hätte in Anbetracht der blitzenden Blechmarke an seinem Hemd, den Mann von der Sherman-Ranch jedoch nur veranlaßte, breiter zu grinsen.

"Ich sollte dem Ihren vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen. Habe nämlich keine Lust, noch Stunden hier zu stehen und mich von Ihnen anstarren zu lassen", meinte Jess und trat aus dem tiefen Schatten der Überdachung, weiter zum Rand des Gehsteigs, daß Vern sofort einen wachsamen Schritt zurück machte, während es in seinen Augen aufblitzte und sein Körper sich noch mehr verkrampfte. Hätte Jess tatsächlich das vorgehabt, was sich Vern einbildete, wäre seine Rechte von der Verkrampfung in wenigen Augenblicken so steif, daß sie für seine Zwecke nicht schnell genug hätte gehorchen können. "Damals wollten Sie mich da drüben vor der Bank verhaften, weil Sie dachten, ich hätte versucht, das Frachtbüro auszurauben. Habe allerdings den Namen des Kerls vergessen, für den Sie mich hielten."

In Verns Gehirn schien plötzlich eine überdimensionale Glocke zu läuten. Mit einem Schlag entspannte sich sein Körper, seine wie erstarrt wirkende Miene hellte sich auf. Ein Hauch von Röte flog über sein jungenhaftes Gesicht.

"Gleich hab' ich es!" rief er, sich selber beim Schopf packend, daß er aussah, als wollte er sich die Haare raufen. Dann schnippte er mit den Fingern. "Harper, Jess Harper, nicht wahr?"

"Es hat zwar eine Weile gedauert, aber jetzt haben Sie es ja doch noch festgestellt", grinste Jess breit und tauschte mit dem aufgeregten jungen Mann einen mehr oder weniger freundlichen Händedruck. "Ich dachte schon, Sie hätten es sich zur Gewohnheit gemacht, mich mit irgendwelchen finsteren Gestalten zu verwechseln."

"Bitte, Sie müssen tausendmal entschuldigen, Mr. Harper, aber ich habe Sie wirklich nicht gleich erkannt. Sie sehen heute auch ganz anders aus als damals."

"Kann ich nicht leugnen. Aber nicht daß Sie jetzt denken, ich wäre so ein Verwandlungskünstler vom Zirkus."

Vern gab ein vorsichtiges Lachen von sich, weil er sich nicht sicher war, ob der Zwischenfall nicht ein Nachspiel im Büro seines Vorgesetzten hatte.

"Nein, bestimmt nicht." Der Deputy wurde wieder etwas ernster. "Sie müssen sehr krank gewesen sein. Marshal Peters hat mir später Ihre Geschichte erzählt. Sie waren sehr schwer verwundet, nicht wahr? Und dann habe ich Sie so hart angepackt. Tut mir jetzt noch leid."

"Das ist zum Glück schon eine Weile her und liegt Gott sei Dank hinter mir. Ich sehe keinen Grund, Ihnen da irgend etwas nachzutragen."

"Trotzdem …! Und jetzt passiert mir dasselbe heute wieder, halte Sie für so einen … Verdammt, ich bin aber auch immer gleich so voreilig. Soll bestimmt nicht mehr vorkommen. Ich hoffe, Sie können mir das heute auch verzeihen."

"Schon geschehen."

Vern schien völlig aus dem Häuschen zu sein wegen seines forschen Diensteifers. Letztendlich fand er sogar, daß er sich unmöglich benommen hatte, vor allem gegenüber Molly, obwohl er ihr guten Glaubens nur behilflich sein wollte. Eine Entschuldigung war das Mindeste, was er sich als Strafe für sich ausdenken konnte, zudem er die Frau sehr schätzte und die Verwandlung vom Animiermädchen zur seriösen Geschäftsfrau, die sie aus eigenem Antrieb und eigener Kraft geschafft hatte, außerordentlich bewunderte.

"Miss Molly, ich muß mich selbstverständlich auch bei Ihnen entschuldigen", wandte er sich in aufrichtiger Reue an die Frau, die sich ein wenig im Hintergrund gehalten hatte, hatte sie doch schon vor vielen Jahren gelernt, daß es besser war, sich nicht einzumischen, wenn Männer irgendwelche Meinungsverschiedenheiten austrugen. Diese Lektion war so tief in ihr verwurzelt, daß sie sich bis heute nicht hatte darüber hinwegsetzen können.

"Ist akzeptiert", nickte sie knapp.

Zwar grollte sie dem jungen Mann nicht mehr, nachdem sich das Mißverständnis in Wohlgefallen aufgelöst hatte, aber allmählich begann ihr sein überschwenglicher Wandel ins genau entgegengesetzte Extrem zuviel zu werden. Sie fand nämlich, daß sie Jess bis jetzt noch nicht richtig begrüßen konnte, und wollte dies gerne nachholen.

"Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, Miss Molly, aber ich dachte … Es hat wirklich so ausgesehen, als ob Sie da ein aufdringlicher Bekannter von früher belästigen wollte."

"Schon gut, Vern! Jess und ich sind zwar alte Bekannte – sehr alte sogar!" Sie warf Jess einen vielsagenden Blick und ein warmes Lächeln zu, das dieser auf ebensolche Weise erwiderte, wobei sie beide Verns Anwesenheit für Sekunden vergaßen. "– aber belästigt hat er mich eigentlich nie." Während sie das sagte, sah sie unverwandt in Jess' Augen, die sie heute noch faszinierender fand als damals in Abilene. "Ganz im Gegenteil!" fügte sie wie abwesend hinzu. "Er ist der anständigste Mann, der mir jemals über den Weg gelaufen ist."

In ihren Augen lag soviel Wärme und eine Spur von unerfüllter Leidenschaft, die Jess bis tief unter die Haut drangen und dort einen angenehmen Schauer auslösten.

"Du solltest nicht so maßlos übertreiben, Molly!" schmunzelte er sie an. "Vern", wandte er sich dann halb an den Deputy, "wenn ich Ihnen raten darf … Glauben Sie ihr kein Wort!"

"Sie wird schon Grund haben, das zu behaupten", erwiderte Vern, sichtlich froh darüber, daß die Sache solch positiven Verlauf genommen hatte. "Marshal Peters scheint da mit ihr einer Meinung zu sein. Deshalb wäre ich ganz froh … Mr. Harper, es ist mir außerordentlich peinlich, daß ich Sie so angefahren habe. Ich meine, Sie werden mir deshalb doch keinen … Na ja, Marshal Peters könnte ziemlich ungehalten werden, wenn er erfährt, daß ich …"

"Machen Sie um Himmels willen nicht mehr daraus, als es war – ein Mißverständnis. Frank muß es ja nicht erfahren. Habe jedenfalls keinen Grund, Sie deshalb bei ihm anzuschwärzen. Im Gegenteil! Ich finde das sogar in Ordnung, wie Sie Mollys Ehre verteidigen wollten."

"Danke!" strahlte Vern über das ganze sommersprossige Gesicht, denn Jess schien das wirklich ernst zu meinen und ihn nicht nur auf den Arm nehmen zu wollen.

"Ist Frank denn in der Stadt? Hätte ihm nachher gern guten Tag gesagt."

"Nein, leider nicht. Der Marshal wird erst in zwei Tagen wieder zurücksein. Er hat einen Gerichtstermin drüben in Lincoln."

"Richter Evans hat doch hier seinen Sitz."

"Ja, aber es geht da um eine kapitale Sache. Marshal Peters muß als wichtiger Zeuge der Anklage erscheinen. Paul Masters vertritt ihn hier solange. Sie müßten schon mit ihm vorlieb nehmen – oder mit mir."

"Nicht nötig, ich wollte Frank wirklich nur guten Tag sagen. Aber wenn er gar nicht da ist … Nun gut, ich sehe ihn dann ein andermal. Grüßen Sie ihn bitte von mir!"

"Das werde ich gern tun, Mr. Harper." Aus den Augenwinkeln gewahrte Vern, wie Molly mit einer unscheinbaren Geste Jess am Ärmel zupfte. Da merkte er sehr schnell, daß er störte. Gar so schwer von Begriff war er nämlich nicht. "Tja", meinte er deshalb verlegen und zog den Kopf zwischen die Schultern, als wollte er sich auf diese Weise unsichtbar machen, "ich werde wohl besser weiter meine Runde machen, wenn Sie … ich meine, wenn Sie mich entschuldigen würden."

"Aber, natürlich."

Jess registrierte es mit gewissem Wohlwollen, daß der junge Mann von sich aus so einsichtig war, und verabschiedete sich von ihm mit einem ebensolchen Händedruck, wie er ihn begrüßt hatte.

"Puh!" stöhnte Molly, nachdem der Deputy sich endlich entfernt hatte. "Ich dachte schon, den Guten werden wir überhaupt nicht mehr los. Hätte der ausgerechnet dich für so einen Spieltischjongleur gehalten. Ist wahrhaftig unverschämt, so etwas!"

"Laß ihn doch! Er ist halt sehr pflichtbewußt. Ist bestimmt kein schlechter Kerl und wird einmal ein guter Polizist werden, wenn er erst seine Profilierungsmauser hinter sich hat." Jess warf dem jungen Mann einen wohlgesinnten Blick nach, ehe er sich Molly zuwandte. Bei dem erfrischenden Anblick ihres hübschen, wenn auch nicht mehr jungen Gesichtes, in dem ihre Jugendsünden die eine oder andere kaum auffällige Spur hinterlassen hatten, vergaß er schnell den überdienstwilligen Deputy-Marshal. "Wo waren wir eigentlich stehen geblieben?" fragte er sinnend und schien in ihren Rehaugen die Antwort zu suchen.

"Genau an dieser Stelle", erwiderte sie beinahe geheimnisvoll, legte die Arme um seinen Hals und drückte ihm einen zärtlichen Kuß auf die Lippen, daß er, im ersten Moment völlig davon überrascht, gar nicht wußte, wie ihm geschah.

"Aber, Molly!" rang er nach Luft, verwirrt und verlegen zugleich, tat er sich mit dieser Anhäufung von weiblicher Anziehungskraft in aller Öffentlichkeit auf jeden Fall schwerer als sie. "Du kannst doch nicht einfach … ich meine, mitten auf der Straße … Was sollen denn die Leute von uns denken?"

"Ist mir gleich! Denkst du etwa, daß ich mir von irgend jemandem vorschreiben lasse, wie ich dich begrüßen darf?" Ihr Gesicht war dem seinen sehr nahe. Mit ihrem tiefsinnigen Blick schien sie ihn regelrecht verzaubern zu wollen. "Sollen sie denken, was sie wollen. Oder empfindest du meine Art der Begrüßung unangenehm?"

"Überhaupt nicht!" Um seinen Mund spielte ein verschmitztes Lächeln. "So gesehen, fällt mir ein, daß auch ich dich noch nicht so richtig begrüßt habe."

"Dann solltest du das schleunigst nachholen, ehe ich dich wegen unterlassener Pflichterfüllung verhaften lasse."

"Kann ich nicht verantworten."

Diesmal war er es, der sie küßte, daß ihr beinahe der Atem ausging. Sie genoß seine Zärtlichkeit und ließ ihn die ihre ebenso spüren – ungeniert, mitten auf dem Gehsteig, direkt zwischen dem Grand Teton Hotel und dem Schneidergeschäft, aus dem sie gekommen war, ohne daß sie beide vom Abendverkehr um sie herum weitere Notiz genommen hätten.

"Sag mal, begrüßt du eigentlich alle deine Bekannten so stürmisch?" wollte Jess nach einer Weile wissen, der auf einmal fand, daß die Luft an diesem Abend besonders sommerlich war, und geschworen hätte, daß die Temperatur in den letzten zwei Minuten mindestens um zehn Grad gestiegen war.

"Nur die besonders anständigen, von denen ich befürchten mußte, sie nie wiederzusehen – so wie dich." Sie lächelte ihn geheimnisvoll an. "Ich glaube sogar, du bist da der einzige."

"Wieso nicht wiedersehen? Hast du denn angenommen, ich wollte dich auf einmal nicht mehr kennen?"

"Ach, du!" Übermütig stieß sie ihm die flache Hand vor die Brust, wurde dann jedoch sehr ernst. "Im Ernst, Jess! Als du damals mit Marshal Peters und dem anderen Herrn zum Essen bei mir warst und … Jess, du hast nicht nur todkrank ausgesehen, du mußt es auch gewesen sein. Ich hatte richtige Angst um dich. Sag jetzt bloß nicht, daß ich mir da nur etwas eingebildet habe!"

"Hast du nicht", gab er überraschenderweise freimütig zu, denn er wußte, daß es wenig Sinn hatte, ihr etwas anderes einreden zu wollen. "Trotzdem … das ist lange her und Gott sei Dank vorbei."

"Wirklich?" vergewisserte sie sich wie jemand, der davon nicht überzeugt war. "Bist du da wirklich sicher? – Entschuldige, ich habe nicht das Recht … immerhin … ich meine, schließlich habe ich keinen Anspruch darauf, daß du … ich meine, auf dich … ach, Herrgott noch mal! Ich rede da vielleicht ein dummes Zeug zusammen!" schimpfte sie dann mit sich selbst, nachdem sie sich in ihrer Verlegenheit total verheddert hatte. "Man muß ja nicht unbedingt miteinander verheiratet sein, um sich Sorgen zu machen. Aber ein bißchen mehr als nur so eine flüchtige Kneipenbekanntschaft aus heißen Abilene-Zeiten bist du für mich schon. Und nachdem ich weiß oder wenigstens so ungefähr weiß, was damals mit dir geschehen ist … Bist du wirklich gesund, Jess?"

"Reg dich nicht so auf, Molly!" versuchte er sie zu beruhigen, indem er mit einer liebevoll-zärtlichen Geste den Arm um ihre Schultern legte und sie an sich drückte. "Mit mir ist alles in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen."

"Du hättest es diesmal beinahe nicht überlebt, nicht wahr? Du hast … Jess, ich habe Slim getroffen, als er auf dem Heimweg war. Ich habe zwar nicht viel aus ihm herauskriegen können, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er diese Reise nach Colorado Springs bloß machte, um dir kurz guten Tag zu sagen. Dazu hat er obendrein viel zu bedrückt ausgesehen."

"Na ja, ich will ja gar nicht abstreiten, daß … Ach, Molly, laß uns bitte von etwas anderem reden, ja? Ich meine, es ist vorbei und damit Schluß. Ich möchte dir – uns damit nicht die Wiedersehensfreude verderben. Wirklich nicht! Ich bin froh, daß ich wieder gesund bin und möchte nicht mit Gewalt meine Krankheitsgeschichte hochleben lassen. Dieser Professor, bei dem ich war, hat mich Gott sei Dank wieder hingekriegt. Dafür bin ich dankbar. Mit mehr möchte ich dich nicht belasten. Schlimm genug, daß du überhaupt soviel von dem Ganzen mitbekommen mußtest."

"Ist doch typisch Jess Harper!" stöhnte sie, unzufrieden über seine Ausflüchte. "In der Beziehung hast du dich jedenfalls nicht geändert. Sobald sich das Gespräch zu sehr auf dich bezieht, weichst du sofort mit lapidaren Allgemeinheiten aus, fängst an, dir über die Probleme der anderen mehr den Kopf zu zerbrechen als über deine eigenen. Versteh mich bitte nicht falsch, ich meine das nur im positiven Sinn. Bloß … wann wirst du endlich lernen, dich selber genauso wichtig zu nehmen, wie du es mit anderen tust?"

"Wolltest du das denn?"

Sie sah ihn sinnend an, studierte aufmerksam sein energisches und doch freundliches Gesicht, diese interessante Mischung aus lebenserfahrener Härte und gefühlvoller Aufgeschlossenheit, mit den geheimnisvoll glitzernden Augen, deren Farbe sie an zwei wunderschöne Saphire erinnerte, mit denen er sie noch genauso verzauberte wie vor über zehn Jahren in Abilene. Wenn er sie so anlächelte wie jetzt, wollte sie am liebsten dahin schmelzen.

"Bleib, wie du bist, Jess!" bat sie mit nicht zu überhörender Inständigkeit. "Denn genauso gefällst du mir."

Ehe diese wunderbare Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, hier mitten auf der Straße unversehens außer Kontrolle zu geraten drohte, mußte Jess unbedingt etwas dagegen unternehmen. Für sich selbst sah er da weniger Probleme, denn – obwohl ihn auch in Cheyenne nicht gerade wenige Leute kannten – er mußte hier nicht leben. Also war es ihm ziemlich egal, was man von ihm dachte. Aber Molly wohnte in dieser Stadt. Ihr zuliebe wollte er die Situation nicht unbedingt ausarten lassen, worüber sich einige dieser biederen Bürger gewiß – ob grundlos oder nicht – die Mäuler zerrissen und die Frau zum Freiwild für ihr Moralgerede deklariert hätten, was ihnen bei ihrer sogenannten Vergangenheit sicherlich leicht gefallen wäre.

"Sag mal, was hältst du eigentlich davon, wenn wir uns irgendwo gemütlich hinsetzen und bei einer Tasse Kaffee weiterplaudern? Oder noch besser! Wir gehen etwas Feines essen."

Molly fand ihn in seiner etwas umständlichen Art, sie einzuladen, hinreißend. Obwohl sie sich nun schon so lange kannten, war er nicht plump vertraulich, sondern – sie wollte fast behaupten – so schüchtern wie ein Achtzehnjähriger, der seine erste feste Freundin das erste Mal zum Tanz am Samstagabend aufforderte.

"Das ist eine wunderbare Idee! Hast du denn diesmal überhaupt so lange Zeit?"

"Meine Kutsche geht erst um Mitternacht. Wir brauchen uns also nicht zu beeilen."

"Du fährst gar nicht mit der Eisenbahn?"

"Nein, die Strecke ist blockiert durch einen Erdrutsch. Dauert mir zu lange, bis …"

"Aber dann könnten wir … ich meine, du könntest doch solange in der Stadt bleiben!" versuchte sie ihn zu überreden.

"Nein, Molly, ich will so schnell wie möglich nach Hause." Als er sah, wie sich in ihren Augen zwar keine Enttäuschung, jedoch eine sehr verwandte Art von Traurigkeit ausbreitete, faßte er sie behutsam an den Schultern. "Bitte, Molly, du darfst mich nicht falsch verstehen. Das hat nichts mit dir zu tun. Weißt du, ich würde diesmal gerne etwas länger … aber meine Leute zu Hause haben mich über ein halbes Jahr nicht gesehen. Und auch ich möchte …"

"Ist schon in Ordnung!" nickte sie verständnisvoll und drückte ihm mit zwei Fingern die Lippen zu, um ihn am Weitersprechen zu hindern. "Du brauchst dich vor mir nicht zu rechtfertigen. Ich kann dich verstehen. Mir ginge es an deiner Stelle genauso." Sie hakte sich bei ihm ein und begann ihn in Richtung ihres Cafés zu schieben. "Wenigstens haben wir noch ein paar Stunden. Im Vergleich zu sonst ist das fast eine Ewigkeit."

"Ehm, Molly, als ich von Essen sprach, dachte ich diesmal weniger an dein Stew", bemerkte er unbeholfen, als er merkte, wohin sie ihn bugsieren wollte, und versuchte ohne viel Erfolg, selbst die Führung zu übernehmen. "Ich meine, nichts gegen dein Stew. Das ist wirklich das beste in der Stadt …"

"Du wirst lachen, aber ich habe heute überhaupt keines mehr. Du weißt doch, daß ich abends gar nicht geöffnet habe." Übermütig packte sie seinen Arm fester, damit er nicht auf den Gedanken kommen konnte, den Abstand zwischen ihnen auf ein den üblichen Anstandsvorstellungen entsprechendes Maß zu vergrößern. "Aber ich wollte dich zu einer Tasse Kaffee bei mir einladen."

"Ich denke, du hast geschlossen!"

"Für besondere Gäste ist immer offen. Außerdem wird sich Elena bestimmt auch freuen, dich wiederzusehen. Und während du deinen Kaffee trinkst, werde ich mich schnell umziehen. Dann darfst du mich hinführen, wohin du willst."

"Umziehen? Wozu?"

"Typisch Mann!" stellte sie amüsiert fest.

In seiner genierlichen Unbeholfenheit war er einfach unwiderstehlich.

Fortsetzung folgt