KAPITEL 42

Nachdem Slim Sherman die Ranch so überstürzt verlassen hatte, war es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis Mike den wahren Grund dafür herausfand. Da konnte ihm Daisy Cooper so viele Bären aufbinden, wie sie wollte, und Charlie Grovner mochte sie dabei nach Herzenslust unterstützen – je mehr sie ihm mit Ausflüchten etwas vorzumachen suchten, desto gewaltiger wuchs seine Sorge um seinen Pflegevater. Daß mit diesem womöglich etwas Furchtbares geschehen war oder geschah, war ihm jedenfalls nicht auszureden, denn sonst hätte Slim gewiß keinen Grund gehabt, so Hals über Kopf abzureisen. Eine harmlose Geschäftsreise, wie sie behaupteten, hätte er bestimmt nicht einfach so von der einen zur anderen Minute angetreten, ohne sie vorher wenigstens einmal nebenbei zu erwähnen.

Mikes anfängliche Enttäuschung darüber, daß er ihn zu seinem Besuch trotz der wieder beginnenden Schule nicht mitgenommen hatte, wandelte sich sehr schnell in nagende Angst über die Ungewißheit, was geschehen war. Nach zwei qualvollen Nächten, in denen ihn die grausigsten Alpträume heimsuchten, stand unumstößlich für ihn fest: er würde Jess nicht wiedersehen. All sein Hoffen und Beten, die unzähligen Versprechen, die er dem lieben Gott gegeben und in treuherzigem Glauben so gut, es ging, eingehalten hatte, waren vergebens.

Davon war er zumindest so lange überzeugt, bis tatsächlich Nachricht aus Colorado Springs kam und Daisy es endlich aufgab, ihm diese Geschäftsreise einzureden, die, wie er längst wußte, niemals stattgefunden hatte. Anscheinend freute sie sich über den Inhalt des Telegramms so sehr, daß sie sich aus lauter Erleichterung über ihre eigene Sorge prompt verplapperte und dies in ihrem Glückstaumel nicht mehr zu leugnen versuchte.

Zunächst wußte Mike nicht, was er von diesem ganzen widersprüchlichen Gerede halten sollte, traute er keinem mehr über den Weg, wenn es sich um seinen Pflegevater oder dessen Gesundheitszustand handelte. In der Beziehung konnte er anscheinend nicht einmal mehr ihm selbst trauen, hatte er doch in seinem letzten Brief ausdrücklich versichert, daß es ihm gut ging. Dabei schien gerade dieser Brief der Schlüssel für Slims kommentarlosen Aufbruch und die nur schlecht überspielte Mißstimmung der zwei zurückgebliebenen Erwachsenen zu sein.

Jeden Abend vorm Schlafengehen las Mike diesen Brief, kannte ihn längst auswendig. Trotzdem konnte er beim besten Willen nichts Verräterisches daran feststellen. Mit den Erwachsenen wurde es ständig komplizierter. Sie verfügten offensichtlich über eine besondere Art von Logik und Verständigungsmitteln, die einem Kind einfach unverständlich bleiben mußten, weil es die Zusammenhänge eben nur aus seiner Perspektive sehen konnte, die allein schon wegen der Körpergröße eine ganz andere war. Das war jedenfalls Mikes Meinung. Nur so konnte er sich die Existenz dieser unverständlichen Ungereimtheiten erklären.

Seine Laune hob sich erst um ein merkliches Stück, nachdem Slim aus Colorado Springs zurück war und mit ihm gesprochen hatte. Sie führten ein ernstes Gespräch, so richtig von Mann zu Mann, wie neulich wegen Charlie Grovner und dessen Stellung innerhalb ihrer Gemeinschaft. Allein Slims glaubhafte Versicherung, daß Jess zwar noch sehr krank, aber eindeutig auf dem langersehnten Weg der Besserung war, stimmten Mike sofort versöhnlich, daß er bereit war, Slims anfängliche Unaufrichtigkeit zu verzeihen. Daß er jetzt so relativ offen mit ihm sprach, gab ihm sehr schnell sein verlorenes Vertrauen wieder. Ganz nebenbei bestätigte es ihm, wie töricht seine Bedenken in bezug auf Charlie gewesen waren.

Allerdings war diesmal der Haussegen nicht gar so leicht gerade zu rücken. Mike ließ sich zwar nicht viel nach außen hin anmerken, aber er zog sich auffallend oft in sein Zimmer zurück, daß es fast schien, als wollte er mit den Erwachsenen möglichst wenig zu tun haben.

Vor allem Daisy kam es so vor, als hätte er den letzten Rest seiner kindlichen Unbeschwertheit verloren, als wäre seine Enttäuschung über diese anfängliche Unaufrichtigkeit, die sie ihm nur entgegengebracht hatten, um ihn zu schonen, wesentlich größer, wie dies im ersten Moment schien. Er war zwar nicht abweisend, aber irgendwie stiller, widersprach selten, befolgte stillschweigend, was man ihm auftrug, murrte nicht, wie er es sonst zu tun pflegte, wenn ihm etwas nicht paßte, verbrachte jedoch beträchtliche Zeit bei seinem Pony, dem er anscheinend alles anvertraute, was ihn beschäftigte, denn mit den Erwachsenen wollte er erst einmal etwas zurückhaltender sein.

So ging das über viele Wochen. Noch nicht einmal die nach einer Weile wieder einsetzende Korrespondenz aus Colorado Springs vermochte es, eine anhaltende Besserung seiner Stimmung zu bringen, traute er diesen Briefen genauso wenig wie Slims und Daisys Versicherungen, daß nun bestimmt wieder alles gut wurde. Was ihn anfangs nicht weiter gestört hatte, daran begann er nun bewußt Anstoß zu nehmen: nämlich an der Tatsache, daß Jess diese Briefe nicht selbst schrieb, sondern nur diktierte. Woher sollte er wissen, ob das tatsächlich der Wortlaut war, der von ihm stammte, und nicht dessen Kopf entsprungen war, dessen Hand die Feder führte? Da stand zwar jedesmal die Unterschrift seines Pflegevaters unter den Zeilen, aber für Mike wuchs plötzlich der Unterschied zwischen dem, der die übrigen Worte geschrieben, und dem, der sie erdacht hatte. Außerdem betrachtete er es mittlerweile als Maßstab für Jess' Gesundheitszustand. Solange er seine Briefe nicht selbst schreiben konnte, mußte er auf jeden Fall noch so krank sein, daß er dies eben nicht selbst tun konnte.

Mikes Laune, ja, die Stimmung unter sämtlichen Bewohnern der Ranch änderte sich schlagartig mit Eintreffen des ersten Briefes, den Jess nicht mehr diktiert, sondern auch selbst geschrieben hatte. Obwohl seine Schrift merklich schwieriger zu lesen war, schien Mike jeden Buchstaben mit einer besonderen Hingabe in sich aufzusaugen, malte mit dem Zeigefinger den Lauf der Feder nach, geriet in einen wahren Glückstaumel. Da die Nachricht auch vom Inhalt so überaus positiv war, las er den Brief jedem zweimal vor, sogar seinem Browny, der jedoch nur, unbeeindruckt vom Wortlaut, Mikes Stimme mit gespitzten Ohren lauschte und sichtlich enttäuscht schien, daß das Stück Papier nichts zum Fressen war und der Junge es nach der Lektüre bei ihm im Stall sogleich wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Von diesem Zeitpunkt an traf mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks alle zwei Wochen ein Brief aus Colorado Springs ein, manchmal über eine Seite lang, manchmal nur ein paar Zeilen, aber jeder in Jess' eigener Handschrift und, das fiel besonders Slim Sherman auf, voller Optimismus, der zwar nicht immer auf Anhieb offen zu erkennen war, aber dafür stand er um so deutlicher zwischen den Zeilen, füllte jeden Wortzwischenraum.

Da wußten sie nun alle, daß sie Jess wiedersehen würden. Wie lange es dauerte, vermochte noch niemand zu sagen, aber allein die Gewißheit, daß er wiederkäme – ob gesund oder nicht, spielte für sie keine Rolle –, allein diese Tatsache, daß sie ihn irgendwann wiedersähen, zählte.

Mit jedem Schreiben, das bei der Post war, erfuhr Mikes Gemütsverfassung einen enormen Auftrieb, seine schulischen Leistungen erreichten allmählich ihr gewohntes Niveau, seine kindliche Ausgelassenheit kehrte nach und nach zurück, immer seltener suchte er die Einsamkeit seines Zimmers, sein altvertrauter Dickkopf plagte nicht nur Daisy und Slim, sondern auch Charlie Grovner. Die drei Erwachsenen nahmen es mit einer gewissen Erleichterung hin, jedoch nicht völlig kommentarlos. Narrenfreiheit wollten sie ihm deshalb nicht gleich gewähren. Trotzdem begrüßten sie es natürlich, daß sich endlich wieder eine Art vertraute Alltäglichkeit einstellte. Hinzu kam, daß es nun auf den Weiden mehr zu tun gab, was zumindest Slim weniger Zeit ließ, sich um Mikes kindliche Probleme zu kümmern. Deshalb war der Rancher froh, daß diese Probleme sich so nach und nach von selbst zu lösen begannen oder wenigstens nicht mehr so schwer drückten, daß sie eine ernsthafte Belastung bedeuteten.

Anfang Juni brachte der Fahrer der Mittagspost dann Jess' Brief, in dem er sich dafür entschuldigte, daß es nun doch nicht mehr mit der Viehauktion in Denver geklappt hatte, aber daß er sehr zuversichtlich war, zum Ende des Monats nach Hause zu kommen. Bei dieser Nachricht war Mike überhaupt nicht mehr zu halten. Den ganzen Nachmittag tanzte und hüpfte er im Haus und auf dem Hof herum, schlug bei seinem Pony Purzelbäume im Stroh und auf der Tenne im Heu, daß Daisy schon annehmen wollte, er wäre gar nicht mehr zu bändigen. Bei Tisch aß er für zwei, und am nächsten Morgen band er Browny aus lauter Übermut ein buntes Tuch um den Hals, als wollte er bei einer festlichen Parade besonders auffallen.

Während des Unterrichts in der Schule konnte er kaum still sitzen und strapazierte mit seiner Lebhaftigkeit Miss Finchs Nerven, bis er endlich Gelegenheit fand, auch ihr die freudige Nachricht mitzuteilen. Am liebsten hätte er sich mitten in Laramie auf dem Stadtbrunnen postiert, um diese wunderbare Neuigkeit, die da aus Colorado Springs eingetrudelt war, lauthals der ganzen Gemeinde, nein, dem ganzen County oder besser noch, gleich dem ganzen Territorium zu verkünden.

Fortan begann er die Tage bis zum Letzten des Monats rückwärts zu zählen, obwohl er gar nicht wußte, wann genau Jess nun überhaupt zurückkäme. In glückseligem Eifer machte er sich eine Strichliste, auf der er sogar die Tage in Stunden umrechnete. Jeden Morgen verkündete er ausgelassen seine Bilanz, und abends rechnete er nach, ob er sich nicht verzählt hatte. Beinahe hatte er schon vergessen, wie schön es sein konnte, so unbeschwert zu sein.

Jeden Tag strahlten seine Augen etwas mehr, daß sich Daisy, die sich über seinen Stimmungswandel ebenso freute wie über Jess' letzten Brief, unwillkürlich fragte, bis wohin sich dieses Strahlen in den nächsten achtzehn Tagen oder vierhundertzweiunddreißig Stunden, wie Mike heute beim Frühstück erklärt hatte, steigern sollte.

Slim, der meinte, seine überschwengliche Freude in seinem eigenen Interesse etwas dämpfen zu müssen, fragte ihn vorsichtig, was er denn täte, wenn Jess erst Anfang Juli käme, erntete die treuherzige Antwort, daß Mike ihm diese Verspätung großzügigerweise zugestehen wollte. Daraufhin gab er seine Einwände sehr schnell auf, zudem er zu hören bekam, daß ja in der nächsten Woche die Ferien anfingen und er, Mike, sich dann noch akribischer seinen Berechnungen widmen konnte, weil er dann mehr Zeit dafür hatte.

"Ich fürchte fast, es dauert nicht mehr lange, bis er völlig durchgedreht ist", sagte Slim an diesem Morgen ein wenig überfordert von Mikes überschwenglichem Temperament, mit dem er sich auf den Schulweg gemacht hatte.

"Ach, Slim, lassen Sie ihn doch! Ich finde es wunderbar, wenn er so unbeschwert ist. Nach diesen furchtbaren Wochen und Monaten kommt mir sein Glück wie ein Geschenk Gottes vor, an dem wir alle teilhaben dürfen. Ist es denn nicht für uns alle wie eine himmlische Gabe, an der wir uns nach dieser gräßlichen Zeit erfreuen dürfen? Seit Jess' letztem Brief sind Sie selber auch wie ausgewechselt."

"Sie haben recht. Das ist sogar Charlie aufgefallen." Für einen Augenblick verschwand er im Büro, wo er die Post, die der Fahrer der Frühkutsche aus Laramie gebracht hatte, nach oberflächlicher Durchsicht, zunächst ohne weiteres Interesse daran zu zeigen, auf seinen Schreibtisch warf. Dann kam er zu ihr zurück in die Küche, um eine Tasse Kaffee zu trinken, ehe er das Gespann für die Sonderkutsche aus Cheyenne bereitstellen wollte. Die Strecke der Union Pacific war seit zwei Tagen durch einen Erdrutsch blockiert, und die Eisenbahngesellschaft hatte ein paar Kutschen der Überlandpost gechartert, um einen Notbehelf für eilige Passagiere einzurichten. Von einer Einschränkung oder gar völligen Einstellung des Kutschverkehrs war bis jetzt immer noch nichts zu spüren. "Tut mir leid, Daisy, daß ich so unausstehlich war."

"Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen. Schließlich haben wir turbulente Zeiten hinter uns und waren alle nicht gerade sehr geduldig miteinander, wenigstens zeitweise nicht. Aber deshalb wissen wir doch, daß wir normalerweise nicht so miteinander umgehen. Dieses Jahr hat uns gleich zu Anfang entsetzliche Augenblicke beschert. Trotzdem kommt es mir aus heutiger Sicht als ein überaus hoffnungsvolles, positives vor. Es ist wunderbar, wenn man erleben darf, wie sich aus tiefstem Leid und Kummer ein neues Glück entwickelt, wenn sich plötzlich eine Tür auftut und den Blick auf eine erfreuliche Zukunft frei gibt. Es ist herrlich, diesen Wandel nach all der trübseligen Zeit unmittelbar vor sich zu haben, ein Teil davon zu sein. Wenn ich ehrlich sein soll, freue ich mich nicht weniger als Mike. Meine Freude über den Augenblick, in dem unsere Familie – oder was wir so nennen – endlich wieder vereint sein wird, wird nicht geringer sein als seine."

Slim nahm sie behutsam an den Schultern und drückte ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn.

"Das haben Sie wunderschön gesagt. – Wie viele Stunden sind es noch, hat Mike gesagt?" fragte er dann.

"Weniger als vierhundertzweiunddreißig. So viele waren es beim Frühstück, glaube ich."

"Nach den unendlich vielen finsteren, die hinter uns liegen, kommen mir die paar gar nicht mehr so schlimm vor. Ich glaube, Jess würde sich kaputtlachen, wenn er wüßte, wie wir uns hier aufführen."

"Und ich glaube, er ist genauso am Rechnen."

Slim lachte belustigt auf.

"Und das, obwohl er immer behauptet, von Buchhaltung keine Ahnung zu haben."

"Die ist für das einfache Einmaleins auch nicht notwendig. Außerdem glaube ich, daß Jess sich das nur zur Ausrede nimmt, um sich davor zu drücken", meinte sie amüsiert, während sie sich am Geschirrschrank zu schaffen machte, um ihn auszuräumen.

"Das haben sogar Sie schon gemerkt?"

"Aber natürlich! Ihm liegt es halt mehr, das Vieh auf der Weide zu zählen anstatt in den Journalbögen." Sie stellte einen Berg Geschirr auf den Küchentisch. "Das ist alles."

"Allerdings!" Slim beobachtete sie eine Weile, wie sie einen Tellerstapel nach dem anderen auf dem Tisch aufreihte. "Sagen Sie mal, was treiben Sie denn da eigentlich? Suchen Sie in dem Schrank etwas Bestimmtes?"

"Aber woher denn! Ich will ihn nur ausräumen und gründlich reinigen. Auf unerklärliche Weise geraten da immer wieder Krümel, Zucker und Mehl und was weiß ich noch alles hinein. Erstens finde ich das unappetitlich, und zweitens lockt es auch das Ungeziefer an. Sie wissen doch, ich bin kein Freund von diesen vielbeinigen Mitbewohnern. Die meisten Menschen achten viel zu wenig auf ein Mindestmaß an Hygiene. Kein Wunder also, wenn es immer wieder zu den schwersten Fällen von Typhus, Cholera, Ruhr und anderen Infektionskrankheiten kommt, die mit ein paar wenigen Maßnahmen verhindert werden könnten."

"Wenn wir Sie nicht hätten!" schmunzelte Slim. "Ich glaube, wir wären alle schon längst an der Gelbsucht oder irgendwelchen Würmern gestorben."

"Ist bei Ihrer ansonsten nicht gerade sauberen Arbeit mit all dem Viehzeug nicht auszuschließen."

"Ich glaube, ich mache lieber, daß ich aus Ihrer Küche komme, ehe es Ihnen einfällt, mich bei der Gelegenheit auch gleich zu desinfizieren."

"Nun", lächelte sie lehrmeisterlich wissend, "Übertreiben wäre genauso schädlich wie Vernachlässigung. Ein bißchen Dreck hat noch niemandem geschadet."

"Vor allem bei der Arbeit nicht, was?"

"Sie sagen es!"

"Wenn ich Ihnen den guten Rat geben darf, Daisy! Lassen Sie das um Gottes willen Mike nicht hören! Er könnte sonst der Meinung sein, mit dem Wasser noch sparsamer umgehen zu müssen."

"Ich werde mich hüten!"

Slim zog es vor, sie schleunigst bei ihrer Aufräumaktion allein zu lassen, ehe sie ihn in ihrer liebenswürdigen Putzwut, die allen Frauen irgendwie im Blut zu liegen schien, vielleicht sogar eingespannt hätte. Außerdem wußte er nicht genau, wann die außerfahrplanmäßige Sonderkutsche eintraf. Die erste für heute war bereits bei Morgengrauen durchgekommen. Vom Kutscher hatte er erfahren, daß die nächste Cheyenne um Mitternacht verlassen sollte. Da die Nachtfahrten für gewöhnlich etwas mehr Zeit in Anspruch nahmen, war mit ihr gewiß nicht vor neun Uhr zu rechnen, wenn von den Fahrgästen zudem welche auf ein zeitiges Frühstück in einer der vorhergehenden Stationen bestanden hatten. Dabei hoffte er, daß keiner von ihnen auf die Idee käme, auf der Sherman-Ranch dies nachzuholen, nicht etwa aus Mangel an Gastfreundlichkeit, sondern einfach nur, weil ihm der ganze Kutschenverkehr und die damit verbundenen zusätzlichen Arbeiten und Verpflichtungen mit der Zeit zuviel wurden.

Sobald sein Partner wieder zurück wäre, mußten sie dieses Thema noch einmal gründlich durchdiskutieren. Bis jetzt hatten immer noch nicht alle diesjährigen Jährlinge das Brandzeichen der Ranch, Charlie war mit unendlichen Yards von ausbesserungsbedürftigem Zaun beschäftigt, die Landoption würde ihnen zusätzliche Arbeit bescheren, an den Ranchgebäuden waren Reparaturen fällig, und einen neuen Schuppen brauchten sie ebenfalls dringend, ganz zu schweigen von den ungezählten Kleinigkeiten, mit denen Daisy immer in den Ohren lag.

Daß ständig jemand da sein mußte, der das Depot bediente, erwies sich häufiger denn je als wahrer Hemmschuh für den normalen Ranchbetrieb. Entweder mußten sie noch ein paar Leute einstellen, was sich natürlich negativ auf die Kostenbilanz auswirkte, oder sie mußten umgehend das Depot aufgeben, um die nötigen freien Kapazitäten zu erhalten, wobei Slim das letztere favorisierte, denn sie waren wirklich nicht mehr darauf angewiesen, schnitten damit wahrscheinlich sogar in ihrer Bilanz wesentlich schlechter ab, ganz zu schweigen von dem Ärger, den manche quengelnden Fahrgäste obendrein verbreiteten.

Bei all den Überlegungen hatte Slim noch nicht einmal berücksichtigt, daß sich Jess früher oder später garantiert wieder dazu mißbrauchen ließ, den einen oder anderen Transport zu begleiten, wenn Not am Mann war. In der Beziehung kannte er sowohl seinen Partner als auch Arthur Kellington viel zu gut. Mit der Zeit wäre alles beim alten, selbst wenn ihm Jess unumstößlich versicherte, daß er sich nicht mehr überreden lassen wollte. Jess konnte genausowenig über den Schatten seines Verantwortungsbewußtseins springen wie Kellington über den seines geschäftstüchtigen Appellierens an dasselbe. Aber Jess war viel zu wertvoll für diese Ranch und viel wertvoller noch als Mitglied ihrer familiären Gemeinschaft, als daß er sein Leben nur wegen der verantwortungslosen Bequemlichkeit und Kostenersparnis seitens der Postgesellschaft hätte riskieren dürfen, vom beträchtlichen Arbeitsausfall, der zwangsläufig mit solchen Abenteuern verbunden war, gar nicht zu reden. Spätestens wenn sie von ihrem Optionsrecht Gebrauch machten, mußte in der Beziehung etwas geschehen.

Slim fing sechs Pferde aus der Remonte, um ihnen das Geschirr anzulegen.

Altvertrauter Lärm, der hinter ihm von der letzten Wegbiegung herüber drang, verriet ihm, daß da auch schon die Kutsche aus Cheyenne am Eintreffen war. Zwar hatte er keine Uhr einstecken, aber sein Gefühl verriet ihm, daß es noch nicht neun war. Anscheinend war in der klaren Vollmondnacht gut fahren gewesen, denn sonst wäre die Post garantiert noch nicht da.

Auf dem Bock saß ein munterer Mose Andrews, der diese sommerlichen Nachtfahrten zu lieben schien wie seine mürben Rosinenbrötchen, die er von Zeit zu Zeit auf der Sherman-Ranch ergattern konnte, waren doch nachts die Temperaturen wesentlich angenehmer, anstatt in der brütenden Mittagshitze auf einem unbequemen Kutschbock zu schmoren.

"Hallo, Slim!" rief er schon von weitem und brachte mitten auf dem Hof das schwere Gefährt zum Stehen, daß eine dicke Staubwolke aufwirbelte und sich Richtung Pferdekoppel auflöste. "Habe heute eine außerplanmäßige Zusatztour." Er klemmte die Bremse fest und kletterte für sein Alter erstaunlich behende von dem luftigen Sitz, um seinen Fahrgästen den Wagenschlag zu öffnen und ihnen beim Aussteigen behilflich zu sein. "Wenn jemand Kaffee möchte … den gibt es im Haus", sagte er einladend, aber die drei Passagiere, offensichtlich ein junges Ehepaar auf Hochzeitsreise und eine ältere, gutgekleidete Dame, lehnten dankend ab und gingen nur ein paar Schritte, um sich die Beine zu vertreten.

"Habe ich schon erfahren", erwiderte Slim nach einem stummen, aber freundlichen Gruß und machte sich bereits an den Riemen und Ketten der Pferde zu schaffen, um sie auszuschirren. "Hat mir Lew heute morgen kurz nach fünf lauthals verkündet. Aber leider gibt es heute trotzdem keine Rosinenbrötchen."

"Das ist wirklich ein Jammer!" Mose ging ihm beim Gespannwechsel zur Hand. "Na ja, macht nichts, dann das nächste Mal."

"Aber du kannst bei Daisy bestimmt einen Kaffee kriegen." Slim blickte grinsend auf. "Allerdings sollte ich dich vielleicht besser warnen."

"Warnen?"

"Ja, sie ist heute von der Putzwut besessen und stellt den Geschirrschrank auf den Kopf."

"Teufel noch mal, warum das denn?"

"Weibliche Hygienemaßnahmen."

"Weibliche was?"

"Ist zu kompliziert. Würdest du garantiert nicht verstehen. Aber mach dir nichts daraus! Ich verstehe es auch nicht."

"Dann ist es vielleicht gescheiter, auch den Kaffee erst bei der nächsten Tour zu trinken, was?"

"Die Entscheidung liegt bei dir."

"Fällt mir ja schwer, aber putzwütige Frauen sollte man lieber nicht stören. Die sind dann immer gleich so pingelig. Nichts gegen Mrs. Daisy! Ich möchte sie bloß nicht stören. Nachher ist das noch ansteckend."

Slim sagte dazu nichts weiter, sondern lachte nur belustigt auf.

Sie verschnallten sämtliche Riemen und Ketten, so daß wenige Minuten später die Kutsche für die Weiterfahrt bereit war. Die drei Passagiere fanden sich unaufgefordert ein, und Slim war ihnen beim Einsteigen behilflich. Durch die offene Kutschentür fiel sein Blick hinüber auf die andere Seite des Hofes, wo er an der Pferdekoppel den vierten Fahrgast entdeckte, der ihm bisher gar nicht aufgefallen war. Er stand mit dem Rücken zum Hof und schien am Einsteigen nicht besonders interessiert zu sein, sondern die Pferde im Korral zu begutachten oder auf eine Extraeinladung zu warten.

"Halt, Mose!" wollte Slim den Kutscher zurückhalten, der genauso behende auf den Bock zu steigen begann, wie er heruntergeklettert war. "Vergiß den Gentleman da drüben nicht!"

"Kann gar nicht sein!" winkte Mose ab und fing an, sich an einem Gepäckstück auf dem Dach zu schaffen zu machen. "Hätte ich jetzt glatt vergessen. Das ist Jeremiah Holbrook. Der wollte für ein paar Tage hier bleiben und die Landluft genießen."

"Bist du noch zu retten! Das hier ist doch keine Ausflugspension. Der soll sich mal schön wieder in die Kutsche setzen. Und das Gepäck kannst du gleich oben lassen."

"Slim, wenn ich dir den guten Rat geben darf … leg dich mit dem Kerl lieber nicht an. Das scheint einer dieser aalglatten Kartenhaie zu sein, bei dem die Kanone genauso locker sitzt wie das fünfte As. Würde mich nicht wundern, wenn der sich hier vor ein paar geprellten Spielpartnern verstecken will."

"Das muß ja nicht ausgerechnet hier sein. Kommt nicht in Frage! Soll er sich woanders verstecken, aber nicht hier! Hast du ihm vielleicht noch den Vorschlag gemacht?"

"Nicht direkt, aber wie gesagt, mir war der Bursche nicht geheuer." Als sich Slim weigerte, die Tasche des ungebetenen Gastes entgegenzunehmen, kam Mose tatsächlich noch einmal vom Bock geklettert, um sie neben ihn hinzustellen. "Sei lieber vorsichtig bei dem, was du zu ihm sagst."

"Vielleicht wäre es dann gut, wenn du in Laramie zur Vorsorge Mort Cory verständigst. So ein Typ wie der hat mir hier gerade noch gefehlt."

"Ich sage dir nur", meinte Mose beim Hinaufklettern, "ich bin froh, daß ich den komischen Kauz endlich los bin. War schon lange keiner mehr von dem Geschmeiß in unserer Gegend. Nimm dich in acht vor ihm! Würde mich nicht wundern, wenn der Sheriff eine Fahndungsmeldung von dem Kerl in der Schublade hat."

"Und so etwas lädst du hier ab!" rief Slim vorwurfsvoll zu ihm hinauf.

"Wie gesagt, ich bin froh, daß ich ihn nicht mehr im Rücken habe." Mose zurrte das Seil fest, mit dem das übrige Gepäck auf dem Kutschendach befestigt war. "Sag mal, hast du eigentlich etwas Neues von Jess gehört?" wollte er auf einmal wissen und war an seinem unbequemen Fahrgast, den er auf der Sherman-Ranch abgesetzt hatte, nicht weiter interessiert.

Slim, der zuerst einen nachdenklichen Blick auf die Tasche und dann noch einmal hinüber zur Pferdekoppel warf, brauchte eine Weile, bis er auf Moses Frage reagierte. Dafür hellte sich sein Gesicht jedoch sogleich auf, als die Sprache auf seinen Freund kam.

"Ja, stell dir vor, letzte Woche hat er geschrieben, daß er fest damit rechnet, bis Ende des Monats heimzukommen."

"Im Ernst?"

"Ja!"

"Endlich etwas Erfreuliches!" strahlte Mose übers ganze Gesicht. "Du stellst dir nicht vor, wie froh ich darüber bin. Dann hat er es also doch geschafft!" Er machte eine gönnerhafte Geste. "Ich wußte es, daß er sich nicht unterkriegen läßt. Teufel, wenn ich mir vorstelle … Nein, lieber nicht! Ich freue mich wahnsinnig, den Jungen wiederzusehen! Mann, das sind ja bloß noch drei Wochen."

"Achtzehn Tage oder vierhundertzweiunddreißig Stunden – hat Mike ausgerechnet und beim Frühstück verkündet", setzte Slim schmunzelnd hinzu, als Mose fragend die Brauen hochzog.

"Dann ist er ja hoffentlich zu unserem großen Besäufnis am 4. Juli wieder da. Das wird eine Feier, sag' ich dir!" Mose beugte sich vertrauensselig herunter. "Ganz nebenbei hoffe ich natürlich, daß es dann wieder öfter Rosinenbrötchen hier gibt."

"Aber nur, wenn Daisy rechtzeitig ein paar für dich retten kann."

"Egal, ich freue mich auch ohne Rosinenbrötchen. Aber jetzt muß ich los, sonst verpassen meine Fahrgäste den Anschluß. Bis zum nächsten Mal und grüß Mrs. Daisy von mir."

"Mach' ich – und denk daran, das für mich in der Stadt zu erledigen!"

"Selbstverständlich!" reagierte Mose sofort entsprechend, wußte er doch auf Anhieb, was der Rancher damit meinte.

Dann knallte er einen übermütigen Gruß mit der Peitsche, daß die sechs Gespannpferde anzogen, und die Kutsche rollte vom Hof, Richtung Laramie. Slim konnte nicht mehr sehen, wie der Kutscher zuerst in sich hinein grinste, um bald darauf, nachdem er außer Hör- und Sichtweite war, lauthals zu lachen. Mose konnte sich nicht erinnern, schon jemals jemanden derart aus purem Spaß an der Freude angeschmiert zu haben. Dabei tat es ihm noch nicht einmal leid. Im Gegenteil! Zu gern hätte er dabei sein wollen, wie Slim versuchte, den lästigen Besucher wieder loszuwerden. Sollte er nur sehen, wie er mit ihm einig wurde!

Zurück blieb ein etwas mißgestimmter Slim Sherman, der da ziemlich ratlos neben dem Gepäck des Gastes stand, den Mose ihm unverschämterweise aufs Auge gedrückt hatte. Unschlüssig starrte er auf die Tasche, die direkt bei seinen Füßen stand und aus unerfindlichen Gründen genauso mysteriös zu wirken schien wie ihr Besitzer, obwohl es ein gewöhnliches Reiseuntensil war, das es zu Hunderten in jedem entsprechenden Laden zu kaufen gab. Sein Blick fiel auf das eingeprägte Monogramm am Griff.

"Jeremiah Holbrook", murmelte der Rancher grimmig vor sich hin. "Sagt mir gar nichts. Wer weiß, ob der Name überhaupt stimmt." Er hob die Tasche an, um vielleicht etwas Außergewöhnliches daran zu bemerken. Sie war weder besonders schwer noch auffallend leicht, nur ein ganz gewöhnliches Gepäckstück. "Möchte wissen, was der Kerl da drin hat", brummte er, während er einen nicht gerade freundlichen Blick hinüber zum Koppelzaun warf, wo der Fremde reglos stand und ihm den Rücken kehrte.

Von hinten machte er einen gepflegten Eindruck in dem dunklen Gehrock und den passenden Beinkleidern, ein an sich stattlicher Mann, vielleicht etwas kleiner als Slim selbst – das konnte er auf die Entfernung nicht genau sagen. Breite Schultern spannten die perfekt sitzende Jacke, die an der rechten Hüfte auffallend von einem Gegenstand ausgebeult wurde, der auch einen Slim Sherman insgeheim zur Vorsicht mahnte.

"Wenigstens trägt er seine Knarre nicht versteckt unter der Achselhöhle oder im Ärmel. Sympathischer ist er mir deshalb aber nicht", bemerkte Slim recht abfällig. "Vielleicht ist das auch nur ein harmloser Vertreter, der mir gleich sein Lebenselixier andrehen will."

Slim hob die Schultern, atmete tief ein, rückte mit einer herausfordernden Geste den Ledergürtel mit dem Holster zurecht – hinterher mußte er selbst zugeben, daß das albernes Gehabe war, aber es hatte ja außer ihm niemand gesehen – und stieß die Luft geräuschvoll durch die Nase wie ein junger Stier, der mit diesem Imponiergehabe Eindruck schinden wollte.

Er fand tatsächlich, daß er sich kindisch benahm. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß seine Rechte unbewußt den kleinen Lederriemen über dem Hahn löste, an sich eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, denn der Mann am Zaun machte selbst von hinten nicht den Eindruck, als wollte er gleich wild in der Gegend herum schießen. Aber Slim hatte noch nicht vergessen, was vor mehr als neun Monaten mit seinem Freund passiert war. Damals hatte er auch mit keinem Überfall gerechnet. Und diese aalglatten Revolverschwinger, die sich wie harmlose Geschäftsleute zeigten, waren seiner Meinung nach nicht weniger schlimm als solche verrückten Kerle, die damals das sinnlose Zielschießen auf Jess Harper veranstaltet hatten.

Ehe er sich endlich Richtung Pferdekoppel in Bewegung setzte, warf er einen kurzen Blick zurück zum Haus. Beide vorderen Türen waren geschlossen. Er hoffte, daß dies auch so blieb und Daisy mit ihrer Putzerei so beschäftigt war, daß sie nicht dazwischen geriet, sollte das Zusammentreffen mit diesem Spieler – oder was oder wer auch immer das da drüben war –nicht harmlos verlaufen.

Beim Überqueren des Hofes mußte sich Slim plötzlich fragen, wieso er eigentlich so negativ von dem Mann dachte. Er kannte ihn doch überhaupt nicht. Das bißchen, was er von ihm wußte, reichte unmöglich, um sich ein Urteil von ihm zu bilden. Im Grunde kannte er nur seinen Namen und Moses vage Behauptungen. Bisher hatten ihm solche dürftigen Angaben jedenfalls nicht für ein solches Urteil genügt, zudem er fand, daß der Kutscher gerade heute besonders abfällig in seiner lebhaften Voreingenommenheit geredet hatte. Wieso ihn das selbst dazu brachte, so schnell über einen Menschen den Stab zu brechen, konnte er nur damit erklären, weil er aus unerfindlichen Gründen plötzlich an den Überfall von damals denken mußte, daß sich sogar die Kugel in seiner Brusttasche seit längerer Zeit meldete, zwar nicht so unangenehm, wie er es sonst gewöhnt war; aber er wurde sich doch wieder ihrer Existenz bewußt. Sicherlich wäre es sträflicher Leichtsinn, dieses signifikante Warnsignal einfach zu ignorieren, hatte sie ihm bis jetzt doch sehr gute Dienste geleistet in bezug auf bestimmte Gefahren.

Der Mann stand immer noch unbeweglich am Zaun der Pferdekoppel und schien sich nicht im geringsten dafür zu interessieren, was hinter ihm vor sich ging, entweder aus echtem Desinteresse oder purem Leichtsinn. So genau konnte Slim das beim Näherkommen nicht feststellen. Ihm fiel nur auf, daß er seine Hände nicht sehen konnte, offensichtlich weil er die Daumen hinter den Gürtel gehakt hatte. Irgendwie wirkte er lässig-entspannt. Vielleicht war das gar kein Spieler, sondern nur einer dieser Stutzer aus dem Osten, die meinten, jenseits des Missouri besonders unwiderstehlich zu erscheinen, wenn sie sich ein Schießeisen umschnallten, um damit Männlichkeit vorzutäuschen.

Komischerweise verwarf Slim diesen Gedanken schneller, als er ihn ausdenken konnte, denn so kam er ihm nun doch nicht vor.

Je weiter er sich ihm näherte, desto weniger wußte er, was er von ihm halten sollte. Jedenfalls wollte er ihn nicht unnötig erschrecken, weil er nicht voraussehen konnte, ob er nicht vielleicht übernervös reagierte, wenn er plötzlich feststellte, daß jemand hinter ihm stand. Deshalb räusperte sich Slim mehrmals und machte sich durch absichtlich laute, auffällige Schritte rechtzeitig bemerkbar, ohne daß der Mann davon in irgendeiner Weise Notiz nahm. Entweder war er in höchstem Maße schwerhörig, oder er war vielleicht so von den Pferden in der Koppel fasziniert, weil dort, wo er herkam, Pferde nur in engen Ställen gehalten wurden. Aber selbst wenn dem so wäre, müßte er auf seiner Reise mittlerweile schon größere Remonten außerhalb von Stallgebäuden gesehen haben. Besondere Rassetiere tummelten sich in der Koppel auch nicht, sondern nur die Ersatzpferde des Kutschendepots.

Als Slim bis auf wenige Schritte heran war, wußte er auf einmal, weshalb er gleich so überzeugt war, daß es sich bei diesem Burschen um keinen Stutzer handelte. Er benutzte keine Pomade. Alle diese Gecken schütteten sich kübelweise Öl auf den Kopf, um damit die Frisur in Form zu kleben. Statt dessen spielte der warme Sommerwind mit ein paar Strähnen des dunklen, leicht gewellten Haares, das offenbar nur der ordentliche, kurze Schnitt in Form hielt.

Slim blieb zwei Schritte hinter dem Mann stehen. Plötzlich wunderte er sich, wieso er ihm auf einmal so vertraut vorkam. Wahrscheinlich, sagte er sich, rührte das daher, weil er sich so mit ihm beschäftigte. Er war sich nämlich sicher, keinen Jeremiah Holbrook zu kennen.

"Ehm", räusperte er sich absichtlich geräuschvoll. "Jeremiah Holbrook?" sprach er den Mann endlich von hinten an, der sich jedoch nicht regte. Wahrscheinlich war er doch schwerhörig. "Ehm", probierte er es noch einmal. "Mr. Holbrook?" Slim kam sich dämlich vor, aber vielleicht schaffte er es doch noch, die Aufmerksamkeit dieses mysteriösen Kerls endlich auf sich zu lenken. "Ich bin Slim Sherman. Der Kutscher sagte mir … Mr. Holbrook?"

Der Mann neigte sich etwas nach vorn, beugte den Kopf dabei weit nach unten, drehte sich langsam um und blickte dann, verschmitzt grinsend, auf.

"Redest du etwa mit mir?"

"Jess! Da soll mich doch …" In seiner überschwenglichen Wiedersehensfreude brachte Slim keinen Ton mehr heraus. Wie zwei Brüder, die das Schicksal vor langer Zeit voneinander getrennt hatte, fielen sie sich in die Arme, klopften sich gegenseitig auf Schultern und Rücken und waren sich stillschweigend darüber einig, daß dies einer der schönsten Augenblicke ihres Lebens war. "Menschenskind, Jess! Ich bin im Augenblick so überrascht, daß ich gar nicht weiß, was ich sagen soll!" rief er außer sich, womit er nicht übertrieb, denn offensichtlich hatte er sich die ganze Zeit so darauf eingestellt, einem gewissen Jeremiah Holbrook die unangenehme Mitteilung zu machen, daß diese Ranch kein Aufenthaltsort für entspannungssuchende Ausflügler war.

"Wie wäre es denn erst einmal mit 'guten Tag'?" schmunzelte Jess, der natürlich nicht weniger erfreut war, den Freund wiederzusehen und vor allem endlich wieder zu Hause zu sein. Es amüsierte ihn nur maßlos, Slim mit seinem bühnenreifen Auftritt als Jeremiah Holbrook nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumgeführt zu haben.

"Gute Idee!" lachte Slim, griff ganz spontan mit beiden Händen nach seiner Rechten, um mit dieser herzlichen Geste die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen. "Willkommen zu Hause, Partner! Es ist schön, daß du wieder da bist!"

"Ich freue mich auch." Jess, von der Bedeutung des Augenblicks nicht weniger gerührt, verstärkte den kräftigen Händedruck mit seiner Linken. "Das war eine verdammt lange Zeit, Partner, und nicht immer eine gerade leichte."

"Nein, weiß Gott nicht! Aber jetzt bist du wieder da! Nur das allein zählt im Moment!" Slim schlug ihm aus lauter Übermut kräftig gegen den Oberarm, schüttelte dann den Kopf, als könnte er es nicht begreifen, den Freund – offensichtlich in ausgezeichneter Verfassung – vor sich stehen zu sehen. "Wenn ich daran denke, wie …"

"Das ist lange her, Slim!" gebot er sofort Einhalt, wobei seine Stimme einen Hauch ernster wurde. "Zum Glück … Wir sollten uns damit nicht die Wiedersehensfreude verderben. Es ist vorbei."

"Du hast recht. Aber kannst du mich trotzdem noch einmal zwicken, damit ich auch ganz sicher bin, nicht zu träumen?"

"He, ich kann dir zur Begrüßung gern eine scheuern, wenn du das brauchst."

"Nicht unbedingt! Jetzt, wo du keine halbe Portion mehr bist, könnte das fürs erste zu schmerzhaft für mich werden. An so etwas muß ich mich erst ganz allmählich wieder gewöhnen." Einen Moment lang starrte Slim ihn sinnend an. Auch er wurde etwas ernster. Schließlich machte er eine bezeichnende Geste in Richtung der Stelle, wo er die Narbe auf Jess' Brust wußte. "Und du bist wirklich wieder in Ordnung?" wollte er dann wissen. Nicht daß er es bei seinem Anblick bezweifelte; er wollte es einfach nur bestätigt haben, weil er angenehme Dinge aufgrund der schrecklichen Erinnerung an erst jüngst vergangene Zeiten nicht oft genug hören konnte.

"Ja."

"Das sagst du jetzt nicht nur so, nicht wahr?"

"Nein, bestimmt nicht", versicherte Jess, ohne durch das Nachhaken gleich ungeduldig zu werden.

"Das heißt … Himmel, ich kann es nicht glauben! Dann bist du also tatsächlich gesund?"

"Zumindest hat mir das Tyler vor vier Tagen gesagt. Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, daß er nicht aufrichtig war. Dazu hatte er wohl keinen Grund."

"Und du bist nicht früher …"

"Nein, bin ich nicht!" beruhigte Jess ihn, weil der Freund ihn offenbar in Verdacht hatte, vorzeitig seinen Aufenthalt in Colorado Springs beendet zu haben.

"Ich dachte nur, weil wir dich aufgrund deines Briefes erst gegen Ende des Monats erwartet haben."

"Tyler wußte es schon seit längerer Zeit, aber er hat nichts gesagt, weil er sich über den Befund absolut sicher sein wollte. Er wollte mir keine übereilten Hoffnungen machen, hat aber vage etwas angedeutet. Das mußte ich natürlich gleich mitteilen. Als er mir dann sagte, daß alles bestens sei und ich eine Kondition hätte wie ein Zwanzigjähriger – ehrlich, ich schwöre dir, das hat er gesagt! –, da … na ja, da konnte ich mich nicht schnell genug in den nächsten Zug setzen, um heimzukommen. Tja, und jetzt bin ich halt da", schloß Jess mit einer lapidaren Feststellung.

"Ja, und in aller Eile hast du völlig vergessen, uns zu benachrichtigen!" warf Slim ihm spaßeshalber vor.

"Wieso vergessen? Das habe ich absichtlich nicht getan!" Der Freund zwinkerte ihn vergnügt an. "– weil ich euch überraschen wollte."

"Das ist dir auf jeden Fall gelungen!" Der Rancher haute ihm die Hand auf die Schulter und packte ihn fest. Anscheinend genoß er es, ihn derb anfassen zu können, ohne daß Jess gleich in die Knie ging. "Wir hätten halt bloß gern den roten Teppich ausgerollt."

"Wußte gar nicht, daß wir so etwas haben."

"Eben, den hätten wir dann noch schnell besorgen können!" lachte Slim, ohne fertig zu werden, ihn von oben bis unten zu mustern. Schließlich nahm er die Hand von seiner Schulter, um amüsiert mit seinem Rockaufschlag zu spielen. "Und dann hast du dich auch noch herausgeputzt wie so ein scheinheiliger Erbschleicher."

"Scheinheilig? Erbschleicher?" empörte sich Jess aus Jux, schlug seine Hand von seinem Revers und boxte ihn an die Schulter. "Finger weg! Das ist bloß eine Verkleidung!"

"Verkleidung? Ist denn schon Halloween?"

"Du bist auch Halloween! Ich mußte mich doch irgendwie tarnen, sonst hättest du mich ja sofort erkannt."

"Ja, und dann behauptet dieser Halunke von Mose Andrews, daß er hier einen zwielichtigen Spieltischakrobaten abliefern will."

"Hat er gut gemacht, was?"

"Der Kerl hat keine Miene verzogen. Fragt auch noch in seiner Hinterhältigkeit, ob ich etwas Neues von dir wüßte. Na, warte! Laß den nur wiederkommen. Dem werde ich Rosinenbrötchen geben!"

"Soll ich dir mal etwas sagen? Das war nur die Rache dafür, daß du ihm damals nichts davon erzählt hast und er es aus der Zeitung erfahren mußte. Das hat er mir jedenfalls gesagt und deshalb war er für meine Idee gleich Feuer und Flamme."

"Daß das auf deinem Mist gewachsen ist, war ja zu erwarten." Slim schüttelte lachend den Kopf. "Ich frage mich bloß, wie du auf diesen scheußlichen Namen gekommen bist – Jeremiah Holbrook! Klingt wie ein Wanderprediger oder Quacksalber, der die Leute mit seinem Lebenselixier vergiftet."

"Mir ist in der Eile kein scheußlicherer eingefallen, der zu meinen Initialen paßt, sonst hättest du doch gleich Verdacht geschöpft, wenn du das Monogramm auf meiner Tasche siehst. Mose meinte zwar, Jedediah wäre noch absonderlicher, aber ich wollte ja nicht übertreiben."

"Sag mal, was hältst du eigentlich davon, endlich ins Haus zu kommen?" meinte Slim auf einmal, dem es jetzt erst recht bewußt wurde, daß sie noch an der Pferdekoppel standen. "Ich möchte zu gern Daisys Gesicht sehen, wenn sie feststellt, wer da heute gekommen ist."

"Keine schlechte Idee!" war Jess einverstanden und schien in bezug auf Daisy schon den nächsten Schabernack im Kopf zu haben. "Und Mike?"

"Der ist in der Schule. Die Kinder bekommen erst nächste Woche Ferien."

"Gut, dann Daisy zuerst. Hoffentlich hat sie noch nicht spitzgekriegt, mit wem du dich da so lange unterhältst."

"Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn du sie überraschen willst, könntest du es nicht besser treffen. Sie ist nämlich gerade dabei, den Geschirrschrank in der Küche auf den Kopf zu stellen. Wetten, daß sie da nicht einmal mitkriegte, wenn das Haus um sie herum einstürzte?"

Jess grinste bis über beide Ohren.

"Sehr gut!" rief er begeistert. "Das paßt mir ausgezeichnet. Willst du mir dabei helfen, sie zu erschrecken?"

"Klar!" war Slim sofort einverstanden und versetzte ihm einen übermütigen Klaps. "Das wird sicher ein Heidenspaß!"

Während sie sich langsam Richtung Haus in Bewegung setzten und dabei aufpaßten, daß sie vom Küchenfenster aus nicht gesehen werden konnten, schlangen sie sich gegenseitig den Arm um die Schultern und steckten kichernd und prustend die Köpfe zusammen wie zwei alberne Jungen, die gerade in der hintersten Ecke des Schulhofes einen besonderen Schabernack für ihre Lehrkraft ausheckten.

Vor der Haustür hielt sich Jess einen Schritt hinter dem Freund, um ihn als Deckung zu benutzen, obwohl ihm das nun nicht mehr so leicht gelang wie vor seiner Reise nach Colorado Springs, denn von halber Portion konnte wirklich keine Rede mehr sein. Noch einmal legten sie beide gleichzeitig den Zeigefinger an die Lippen. In diesem Moment waren die zwei ansonsten eher abgebrühten Männer wie Lausbuben, die nichts als blanken Unsinn im Kopf hatten.

Redlich darum bemüht, ernst zu wirken und sich nichts anmerken zu lassen, öffnete Slim ziemlich geräuschvoll die Haustür, während Jess sich direkt daneben an die Wand drückte, erwartungsvoll lauschend, wie der Freund den geplanten Überfall auf den guten Geist der Ranch in die Wege leitete.

"Slim, sind Sie das?" erscholl Daisys Stimme aus der Küche, kaum daß der Rancher die Tür geöffnet hatte.

"Ja, natürlich, wer denn sonst?" erwiderte er, obgleich er genau wußte, daß ihre Frage reine Vorsichtsmaßnahme war, denn auch sie hatte seit dem Überfall von damals einen Großteil ihrer unbeschwerten Gutgläubigkeit eingebüßt; wie erwartet, reagierte sie deshalb nicht weiter auf seine Bemerkung.

"Ist die Kutsche schon da? Möchte jemand Kaffee?"

Slim durchquerte das geräumige Wohnzimmer, wobei er Jess mit der Hand hinter seinem Rücken Zeichen gab, vorsichtig zu sein und einen Moment zu warten, bis nach einem prüfenden Blick in die Küche Entwarnung kam. Geräuschlos huschte der Freund herein, stellte seine Tasche an der Garderobe ab und schlich auf Zehenspitzen heran, bis er sich direkt neben Slim hinter der Türfüllung verstecken konnte, während sich der Rancher weiterhin arglos mit Daisy unterhielt, die nicht die geringsten Anstalten machte, ihre Arbeit mit dem Geschirrschrank zu unterbrechen. Dessen sämtlicher Inhalt war auf Tisch und Anrichte, fein säuberlich gestapelt, verteilt. Sogar das Besteck und die diversen Koch- und Backutensilien hatte sie aus den Schubladen und Fächern geräumt. Über soviel Hygienemaßnahmen mußte Slim erst einmal den Kopf schütteln.

"Die Kutsche ist schon weitergefahren", sagte er ein wenig abwesend in Anbetracht ihrer Eifrigkeit, mit der sie den Schrank auswusch. "Kaffee wollte niemand. Ich soll Sie nur von Mose Andrews grüßen."

"Vielen Dank", sagte sie in das Schrankfach hinein, wo sie für gewöhnlich den Handvorrat an Mehl, Zucker, Salz und sonstige Gewürze aufbewahrte. Anscheinend hielt sie es für nötig, gerade dieser Stelle des Schrankes besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

"Er wollte wissen, wann Jess wieder da ist, damit es endlich wieder Rosinenbrötchen gibt. Ich habe ihm gesagt, daß er dann aber nur welche kriegt, wenn Sie rechtzeitig ein paar für ihn retten können."

Slim spürte einen derben Knuff zwischen den Rippen, den er mit einem blinden Schlag in Richtung seines Partners beantwortete.

Daisy nahm den Kopf aus dem Schrank, um sich aufzurichten. Zum erstenmal, seit sie sich mit dem Rancher unterhielt, sah sie ihn an.

"Der gute Mose! Haben Sie ihm gesagt, daß Jess bald zurückkommt?"

"Ja, er hat sich riesig darüber gefreut."

"Vielleicht sollte ich vorher noch einmal Rosinenbrötchen extra für Mose backen, sonst wird er tatsächlich keine mehr kriegen."

"Keine schlechte Idee." Slim machte eine ausholende Handbewegung. "Sagen Sie mal, ich wußte gar nicht, daß wir soviel Geschirr haben."

"Ja, nicht wahr? Da hat sich einiges angesammelt."

"Kann man wohl sagen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich schleunigst nach draußen verziehe, ehe Sie auf die Idee kommen, ich könnte Ihnen beim Wiedereinräumen helfen."

"Wenn Sie noch länger so müßig da herumstehen, könnte das tatsächlich passieren."

Zum Spaß drohte sie ihm mit dem Lappen, ehe sie sich wieder dem Schrank zuwandte, um mit ihrer Wischerei fortzufahren. Damit war sie die nächste Zeit so intensiv beschäftigt, daß es für Jess ein leichtes war, unbemerkt in die Küche zu huschen und sich von hinten an sie heranzuschleichen, zudem Slim mit besonders auffallend lauten Schritten zur Haustür zu stampfen begann. Daisy hatte keine Ahnung, was sich in ihrem Rücken abspielte. In dem Moment, als sie sich wieder aufrichtete, um den Lappen auszuwaschen, legten sich zwei Hände von hinten auf ihr Gesicht und drückten ihr die Augen zu. Vor Schreck ließ sie den Lappen fallen, der vor ihr in die Schüssel klatschte, daß es nur so spritzte. Sie nahm fest an, daß dies nur Slim sein konnte, der ihr während der letzten Tage öfter einen albernen Scherz gespielt hatte, offensichtlich aus reinem Übermut und Freude darüber, daß sie bald wieder vollzählig wären, sozusagen als Vorgeschmack von dem, was sie zu erwarten hatte, wenn sein Partner zurück war, wie er jedesmal zu seiner Entschuldigung erklärte.

"Ach, Slim, Sie ausgewachsener Kindskopf!" rief sie. "Jetzt sind Sie schon genauso albern wie Jess!"

"Was ist los?" kam es aus dem Wohnzimmer.

"Slim?" Mit einem Mal verschwand das Lachen von ihrem Mund. Der Stimme nach mußte der Rancher mehrere Yards von ihr entfernt in dem anderen Raum sein. Nur, wer war es dann, der sie hier zum Narren hielt? Wahrscheinlich war da ein Fremder unbemerkt ins Haus eingedrungen, der sich an ihrem Haushaltsgeld vergreifen wollte, hatte gewartet, bis sie wieder allein in der Küche war und sie dann einfach überfallen. "Slim, da ist … Hilfe! So helfen Sie mir doch!"

"Ich werde mich hüten! Sie müssen schon selbst zusehen, daß Sie das Zeug wieder in den Schrank kriegen."

Seine Stimme klang jetzt noch weiter entfernt. Wahrscheinlich war er schon an der Haustür, um hinaus auf den Hof zu gehen. Verzweifelt versuchte sie es mit Schreien.

"Hilfe! Lassen Sie mich los!" Sie begann, wild um sich zu schlagen mit dem Resultat, daß derjenige hinter ihr, wer immer dieser Unhold war, sie fester an sich drückte, jedoch keinerlei Anstalten machte, ihr den Mund zuzuhalten, um sie am weiteren Schreien zu hindern. "Slim! So tun Sie doch endlich etwas!"

"Bin gerade dabei."

"Du lieber Himmel!" rief sie außer sich, wild mit den Armen in der Luft herumfuchtelnd. "Da will mich jemand … überfallen! So helfen Sie mir doch!"

"Ich bin hier", antwortete Slim jetzt aus nächster Nähe.

Er war zurückgeschlichen und stand jetzt ebenfalls direkt hinter ihr, daß sie nun nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, ob es vielleicht nicht doch der Rancher … Aufgeregt betastete sie den Kopf des Mannes, der sie festhielt.

"Sie … Sie sind nicht Slim! Was wird hier gespielt? Hilfe!" schrie sie wieder, weil sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte.

Schließlich breitete sie suchend die Arme aus, bis sie endlich das schwere Nudelholz zu fassen bekam, das sie zusammen mit den anderen Utensilien aus der Schublade auf den Tisch geräumt hatte. Auf diese Weise bewaffnet, schlug sie mit der wuchtigen Holzrolle nach allen Richtungen.

"Jetzt wird es lebensgefährlich!" hörte sie Slim sagen.

So wie er sich anhörte, mußte er an der Tür stehen. Daß er tatenlos dabei zusah, wie sie mit einem Fremden kämpfte, war ihr unbegreiflich.

"Lassen Sie mich doch nicht mit diesem Kerl … Slim!"

Sie keilte kräftig aus und hätte beinahe einen Stapel Teller vom Tisch gefegt.

"Daisy, was haben Sie denn? Es ist niemand Fremdes hier! Sie werden doch nicht …" Slim duckte sich. "Vorsicht mit dem Ding!"

"Aber da ist … Sie müssen doch …"

Sie holte mit einem weiten Schwung kräftig aus, und Slim sah das Nudelholz schon auf Jess' Kopf sausen, aber der Freund war schneller, packte ihr Handgelenk, ließ sie gleichzeitig mit der anderen Hand los, daß sie sich wie in einem munteren Tanz um sich selbst drehte und er sie auffing, sonst hätte sie ihr eigenes Drehmoment aus dem Gleichgewicht geworfen. Mit voller Wucht prallte sie gegen ihn, klammerte sich mit der freien Hand an seinen Rücken, während in der erhobenen Rechten das Nudelholz eine tanzende Linie in der Luft beschrieb.

"Wollen Sie mich mit diesem Mordinstrument etwa erschlagen!" rief er lachend, sich köstlich an ihrem entgeisterten Gesichtsausdruck weidend.

Das Nudelholz fiel aus ihrer Hand und polterte hinter ihr zu Boden. Dabei starrte sie ihn mit offenem Mund und aufgerissenen Augen an.

"Je…" Sie mußte erst schlucken. "Jess!" brachte sie endlich heraus. "Du lieber Himmel!" stammelte sie, entsetzt und erfreut zugleich, gemischt mit einer gehörigen Portion Unsicherheit über die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Wahrnehmungskraft. "Ich muß wohl träumen!"

"Doch nicht am hellichten Tag!" Jess drückte sie mit beiden Armen fest an sich, daß ihr beinahe die Luft wegblieb.

Nein, sie träumte wirklich nicht! Das war seine Stimme, sein Lachen, waren seine Augen, die sie selten zuvor so lebhaft angeglitzert hatten – und wenn doch, dann mußte das eine Ewigkeit her sein. Und da hing auch seine schwer zu bändigende Haartolle in seiner Stirn, die ihm zusammen mit den dunkel zu sprießen beginnenden Bartstoppeln gleich ein leicht verwegenes Aussehen verlieh. Auf seinem ebenmäßigen Gesicht mit den markanten und doch freundlichen Zügen, das sowohl den unnachgiebig harten Draufgänger als auch den liebenswürdigen, gutmütigen Menschen in ihm zeigte, lag eines dieser jungenhaften Lachen, die sie so lange vermißt und befürchtet hatte, es nie wieder zu sehen.

"Mein Gott, ich … ich … Sie … Sie sind das wirklich!" Vor Freude traten ihr die Tränen in die Augen. Mit beiden Händen umfaßte sie sein Gesicht, strich ihm die wilde Strähne aus der Stirn. "Ich … ich kann gar nicht sagen, wie … wie … O Gott, ist das schön, Sie wiederzuhaben, mein Junge!" Sie umarmte ihn wie einen verlorenen Sohn, den sie nach langer Zeit der Trennung endlich wieder in die Arme schließen durfte. "Bitte, Sie müssen mich ganz fest halten! Ich kann es nicht glauben! Sie sind wirklich zurück!" Obwohl er sie fest umschlungen hielt, sie seine Arme auf ihrem Rücken spürte, seine Körperwärme, seine Kraft und herzliche Zärtlichkeit fühlte, befürchtete sie, daß sie das alles nur träumte und dieses wunderbare Glück beim Aufwachen wie eine Seifenblase zerplatzte. Da löste er sie halb aus seiner Umarmung, um ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn zu drücken. "Gott, was ist das für ein herrlicher Augenblick!" seufzte sie. "Willkommen zu Hause, mein Junge!"

"Danke, Daisy, ich freue mich auch, daß ich wieder da bin. Lange genug hat es ja gedauert."

"Lassen Sie sich einmal anschauen."

Sie hielt ihn in Armeslänge von sich. Schließlich konnte er über ihre eingehende Musterung nur noch lachen.

"Was ist? Fehlt irgend etwas?" Aus seinen Augen zwinkerte der nackte Schelm. "Müßte eigentlich noch alles dran sein."

"Ach, Sie! Kaum da und schon wieder nichts als Unsinn im Kopf!" Sofort wurde sie etwas ernster. Ein wenig zaghaft strich sie ihm mit der flachen Hand über die Brust. "Sie … Sie sehen blendend aus. Wie … ich meine, wie geht es Ihnen denn?"

Er umfaßte ihre Hand auf seiner Brust und preßte sie an sich, um ihr zu zeigen, daß sie nun nicht mehr vorsichtig sein mußte, wenn sie ihn in der Nähe seiner Narbe berührte.

"Genauso wie ich aussehe!" lachte er; sie hatte beinahe vergessen, wie ausgelassen er sein konnte.

"Dann sind Sie wieder … gesund?"

"Sicher!"

"Ist das wirklich wahr? Ich meine, das sagen Sie jetzt nicht nur so, bloß um mir etwas Schönes zu sagen, nicht wahr?"

"Diesmal habe ich bestimmt keinen Grund, Ihnen etwas vorzumachen." Er mußte sie noch einmal an sich drücken, weil er selbst plötzlich sein Glück kaum fassen konnte. "Der Alptraum ist endlich vorüber, für Sie, für mich, für uns alle! Es hat lange genug gedauert, aber wir haben es geschafft."

"Sie haben es geschafft."

"Aber nur mit der Hilfe der Menschen, die mir die Kraft dazu gegeben haben. Ohne Sie, ohne Slim und ohne Mike hätte ich das nie schaffen können. Da hätte Professor Tyler noch soviel anstellen können – dann hätte ich Sie heute nicht so herrlich erschrecken können."

"Ach, Sie!" machte sie schon wieder und zwickte ihn am Ohr. Während sie zu ihm aufschaute, rannen Tränen aus ihren Augenwinkeln, so sehr war sie zwischen unfaßbarem Glück und einem Rest von trauriger Besorgnis hin und her gerissen. "Sie großer, ausgewachsener Lauselümmel! Sie haben sich kein bißchen geändert, sind wirklich wieder ganz der alte. Einen Herzinfarkt habe ich beinahe bekommen vor Schreck."

"Den habe eher ich bekommen, als ich Sie mit dem Nudelholz herumfuchteln sah", mischte sich Slim von der Tür her ein, der die Szene mit gönnerhaftem Wohlwollen verfolgt hatte, wie man das Happy-End eines Theaterstückes genoß, wenn sich alle Komplikationen in allgemeinem Wohlgefallen fast wie von selbst auflösten. "Es hätte nicht viel gefehlt, und Sie hätten ihn gleich wieder reif für Doc Higgins' Sprechstunde geschlagen." Er bückte sich, um das Corpus delicti aufzuheben, das durch die halbe Küche bis in seine Nähe gerollt war. "Sie sollten mit dem Ding in Zukunft etwas vorsichtiger sein."

"Wenn Sie mir beigestanden hätten, hätte ich gar nicht erst danach greifen müssen! Rührt keinen Finger, dieser Mensch, wenn ich um Hilfe rufe."

"Ach, Daisy, es war einfach köstlich, wie Sie mit diesem Tagedieb gekämpft haben."

"Ich werde dir gleich helfen – Tagedieb!" drohte Jess zum Spaß. "Denk daran, Partner, die Zeiten, in denen du stärker warst, sind vorbei. Nimm dich also in acht bei dem, was du von dir gibst!"

"Ach, ist das schön!" seufzte Daisy, legte die Hände an ihre Wangen, als könnte sie es nicht fassen. "Wie habe ich dieses kindische Mannsgeplänkel bloß vermißt!"

"Wir können aufhören", grinste Jess. "Wenn es ihr gefällt, macht es keinen Spaß mehr."

"Ich hoffe nicht, daß das von Dauer bei ihr ist, sonst wird es hier sehr bald fürchterlich langweilig werden."

"Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß es das jemals werden wird – langweilig – mit Ihnen beiden. Und nun Schluß mit dem Gerede! – Jess", sie nahm seinen Arm in Beschlag und redete jetzt nur noch mit ihm, "Sie müssen mir unbedingt alles erzählen. Wie ist es Ihnen denn überhaupt ergangen?"

"Da gibt es nicht viel zu erzählen, Daisy."

"Das glaube ich Ihnen nicht. Sie waren ja so lange weg – über ein halbes Jahr."

"Fast sieben Monate – und es war keine Vergnügungsreise, das sollten Sie nicht vergessen."

"Das werde ich nie vergessen." Sie wurde mit einem Mal sehr ernst. "Ich würde es gerne, aber ich kann es nicht." Sie besann sich, weil sie weder sich noch ihm die Wiedersehensfreude verderben wollte. "Hat man Sie gut behandelt? Haben Sie ordentlich zu essen bekommen?"

Da mußte er gleich wieder auflachen. Diese Frage konnte nur eine Daisy Cooper stellen, die nichts lieber tat, als ihre zweieinhalb Männer mit guter Hausmannskost zu verwöhnen.

"Aber natürlich! In der Beziehung habe ich mich wirklich wie zu Hause gefühlt. Ich hatte wunderbare Gesellschaft, und Liz ist eine ausgezeichnete Köchin."

"Das sehen Sie doch schon daran, wie herausgefüttert er aussieht", mußte Slim unbedingt seinen Kommentar dazugeben.

"Herausgefüttert ist meiner Meinung nach ein wenig übertrieben", konnte sie diese Übertreibung des Ranchers nicht teilen, "aber wenigstens ist Ihr Gesicht wieder voller geworden." Wie in einem Reflex strich sie Jess über die Wange. "Gott, wenn ich daran denke, wie Sie ausgesehen haben, als Sie von hier weg mußten …"

"Nicht mehr daran denken, Daisy, bitte!" Er nahm ihre Hand von seiner Wange und drückte sie zärtlich an seine Lippen. "Wir wollen jetzt nicht darüber sprechen, hm? Nicht jetzt – später! Bitte, tun Sie mir den Gefallen!"

Sie sah ihn lange an, als suchte sie krampfhaft nach den versteckten Spuren seiner schweren Krankheit; aber sie konnte keine finden in seinem Gesicht mit den saphirblauen Augen, die sie so geheimnisvoll ansehen konnten, daß ihr immer ganz warm ums Herz wurde. Er hatte sogar eine gesunde Farbe von der vielen frischen Luft, die er während seines Aufenthaltes in Colorado Springs genossen hatte. Mit Tränen in den Augen nickte sie. Anscheinend ließen sich die schrecklichen Bilder der Erinnerung und die Vorstellung von dem, was er während seiner Abwesenheit hinter sich bringen mußte, nicht so leicht vertreiben.

"Wenn Sie jetzt noch aufhören können zu weinen, möchte ich Ihnen gern etwas Schönes zeigen, aber nur, wenn Sie auf der Stelle Ihre Tränen wegwischen!" Mit zwei Fingern half er ihr dabei, strich ihr behutsam über die nasse Wange und lächelte sie liebevoll an. "Kommen Sie!" Er nahm ihre Hand, um sie hinauszuführen, wie ein Kind seine Mutter, um ihr eine Überraschung zu zeigen. "Ich habe etwas für Sie. Das bringt Sie garantiert sofort auf andere Gedanken. Und dann möchte ich Sie nur noch lachen sehen! Einverstanden?"

Sie nickte stumm und ließ sich von ihm hinaus ins Wohnzimmer führen, an einem schweigsamen Slim Sherman vorbei, der sich fragte, was sein Partner jetzt gleich wieder anstellte, um eine ahnungslose Daisy Cooper zu erschrecken. Na ja, dachte er, wenigstens hat sie im Wohnzimmer kein Nudelholz in der Nähe, mit dem sie um sich schlagen kann.

"Da bin ich aber gespannt", meinte er nur und folgte den beiden unaufgefordert; er war wirklich neugierig.

An der Garderobe klappte Jess seine Tasche auf. Zuoberst lag ein in bunt bedrucktes Geschenkpapier gewickeltes Päckchen.

"Das ist für Sie, Daisy", wandte er sich dann an die Frau, wobei er ihr fast feierlich den hübsch dekorierten Karton überreichte, den eine üppige violette Schleife zierte, die in der Enge der Tasche zwar etwas zerdrückt worden, aber immer noch eine kleine Augenweide war. "Die Verpackung hat unterwegs ein wenig gelitten, aber das macht ja nichts."

"Das ist für mich?" Daisy machte ein Gesicht wie ein kleines Kind, das ein Geschenk unterm Weihnachtsbaum für sich entdeckte. Vorsichtig löste sie die Schleife und nestelte an dem bunten Papier. "Aber das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen."

"Es war nötig! Nach allem, was sie meinetwegen durchgestanden haben, wollte ich Ihnen eine kleine Freude machen."

Endlich hatte sie die Verpackung entfernt und öffnete den Karton. Vorsichtig, als ob der Inhalt zerbrechen könnte, förderte sie ein duftig gefaltetes Tuch zu Tage.

"Mein Gott, ist das schön!" stammelte sie, während sie es ausgebreitet vor sich hielt. "Vielen Dank, Jess, aber das wäre doch wirklich …"

"… nicht nötig gewesen, ich weiß", ergänzte er. "Die Verkäuferin in Denver sagte, das ist echte Brüsseler Spitze. Ich kenne mich da nicht so genau aus, aber ich sagte mir, daß Ihnen das bestimmt gefällt. Sie müssen sich das umlegen. Darf ich?" Er nahm das wertvolle Tuch und warf es ihr wie einen Schleier über den Kopf. "Sie sehen bezaubernd aus – wie ein Engel! Genau als das sind Sie mir immer erschienen, wenn ich vor Fieber kaum aus den Augen gucken konnte. Nur waren Sie da immer so traurig." Mit einer zärtlichen Geste rückte er das Tuch auf ihrem hochgesteckten Haar zurecht. "Ich möchte, daß Sie nie mehr traurig sind, Daisy! Ich möchte Sie nur noch gutgelaunt sehen, so wie ich Sie von früher in Erinnerung habe, ehe das passiert ist. Ich werde alles tun, damit Sie sich meinetwegen nicht mehr so quälen müssen. Ich kann mich noch nicht einmal für das alles entschuldigen, was Sie durchgemacht haben, weil ich es nicht unmittelbar verursacht habe. Und ich kann Ihnen nie genug danken für all das, was Sie für mich getan haben. Ich werde dafür ewig in Ihrer Schuld stehen." Er nahm sie bei den Schultern, schenkte ihr ein warmes Lächeln. In diesem Augenblick war sie für ihn der Inbegriff von fürsorglicher Güte und Mütterlichkeit. "Sie sind eine wunderbare Frau, Daisy. Meine Mutter, hätte ich sie noch, könnte mir nicht mehr bedeuten als Sie." Vorsichtig, wie eine zerbrechliche Porzellanfigur drückte er sie an sich, hielt sie mit beiden Armen fest umschlungen. "Gott, wie hab' ich Sie vermißt!"

"Ich habe Sie auch vermißt", seufzte sie mit Tränen der Rührung in den Augen, den Kopf geborgen an seiner Schulter, ihr Glück nicht richtig fassend, diesen Mann wohlbehalten wiederzuhaben, der, mittlerweile nicht mehr nur ein Ersatz für den verlorenen Sohn, ihr zum Sohn geworden war. "Das, was Sie eben sagten … das kann ich nicht alles gelten lassen. Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müßten, Jess, nicht das Geringste! Und ich habe nichts getan, wofür Sie sich so ausdrücklich bedanken müßten, bestimmt nicht, mein Junge! Dafür muß ich Ihnen um so mehr danken, nicht für dieses wertvolle Tuch, sondern für etwas anderes. Sicher, es ist ein wunderschönes Geschenk, über das ich mich sehr freue. Das allerschönste Geschenk für mich ist jedoch, daß Sie wieder hier sind, gesund und nicht nur körperlich genesen. Ich bin so außer mir vor Freude, daß ich Sie gar nicht mehr loslassen möchte. Ich hatte so schreckliche Angst, Sie zu verlieren. Und dann, als auch noch dieses schreckliche Telegramm kam … Jess, das war der längste und grausigste Winter, den ich je erlebt habe. Ich fürchtete schon, er würde nie enden."

"Wie gesagt, Daisy, es ist vorbei. Es war für uns alle eine dunkle Zeit, aber jetzt scheint wieder die Sonne, und in Ihrem Gesicht soll sie nie wieder untergehen." Er löste sie halb aus seiner Umarmung, schlang den Arm um ihre zierlichen Schultern und drückte sie sanft an sich. "So, und jetzt werden Sie sich erst einmal im Spiegel begutachten, damit Sie auf der Stelle auf andere Gedanken kommen, und mir sagen, ob Sie sich mit diesem edlen Gewirk gefallen."

"Aber, Jess, das ist doch kein Gewirk!" belehrte sie ihn und war über seine absichtlich unqualifizierte Bemerkung sogleich wieder in guter Laune, verstand er es doch geschickt, damit das Thema zu wechseln. "Das ist allerfeinste Spitzenarbeit."

"Na, sag' ich doch!"

Während Daisy ihm den Gefallen tat und sich im Spiegel über der Kommode neben der Garderobe betrachtete, das Tuch auf ihrem Kopf hin und her rückte und fand, daß sie mit ihren verweinten Augen fürchterlich aussah, versetzte Slim, der bisher die anrührende Szene schweigend genossen hatte, Jess einen heftigen Klaps an die Stirn, dem der Freund jedoch mit einer raschen Bewegung zur Seite halbwegs auswich.

"Du bist ein richtiger Banause und hast Gewirk da oben drin!" blödelte der Rancher. "Aber eines muß man dir lassen: Geschmack hast du ja – Gott sei Dank! Es wird bloß Zeit, daß du endlich wieder etwas Vernünftiges zu tun kriegst, ehe du doch noch Gewirk in dein Gehirn kriegst. Höchste Zeit!"

"Apropos Zeit!" rief Jess, nun einen Hauch ernster, daß Daisy ganz unbewußt ihre Stimmung sofort anpaßte und das unbeschwerte Lächeln auf ihrem Gesicht beinahe erstarb, befürchtete sie doch, daß trotz aller Heiterkeit ein nicht zu übersehender Rest von nicht auszumerzender Tragik einer noch immer lebendigen Vergangenheit die scheinbar gelöste Atmosphäre überschattete; zu lebhaft war bei ihr die Erinnerung an kaum bewältigte Probleme. "Nicht daß ich das vergesse!" Jess fummelte in seiner Rocktasche, bis er endlich ein wenig umständlich ein kleines Etui zum Vorschein brachte. "Wenn du nämlich weiterhin solche Gemeinheiten von dir gibst, könnte ich vielleicht auf die Idee kommen, du hättest das doch nicht verdient."

"Für mich?" wunderte sich Slim.

Mit einem Mal nahm die Stimmung eine deutliche Spur von Feierlichkeit an. Daisy hakte sich bei Jess ein, schmiegte sich regelrecht an ihn, während sie erwartungsvoll darauf spannte, wie Slim ein wenig umständlich an dem Kästchen hantierte, bis er es endlich öffnen konnte. In einer Vertiefung aus dunkelblauem Samt lag eine goldene Uhr. Für einen Moment wußte der Rancher nicht, was er sagen, wie er reagieren sollte.

"Du bist verrückt!" stellte er dann ziemlich hilflos fest. "Wofür ist das?" Verwirrt blickte er den Freund an.

"Du mußt sie aufmachen. Dann weißt du es."

Verständnislos schüttelte Slim den Kopf, nahm die Uhr aus dem Etui, ließ den Deckel aufschnappen, der sich wie ein Medaillon öffnen ließ, entdeckte die eingravierte Widmung und las sie mit murmelnder Stimme vor.

"Für Slim Sherman, dem ich mich in aufrichtiger Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen zutiefst verbunden fühle, dessen unermüdlichem Beistand ich mein Leben verdanke. Jess Harper." Slim blickte betreten auf, machte eine völlig ratlose Geste. "Jess, du bist doch verrückt! So ein wertvolles Geschenk! Wofür zum Teufel … Bist du noch zu retten?"

"Du bist derjenige, der mich gerettet hat. Vergiß das nicht!" erwiderte Jess mit ruhiger Stimme, die schon fast eine feierliche Ergriffenheit verriet. Von der kindischen Albernheit von gerade eben war nichts mehr zu spüren. "Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Dafür stehe ich tief in deiner Schuld. Bitte, verstehe mich nicht falsch!" gebot er ihm Einhalt, ehe er etwas einwenden konnte. "Ich meine nicht eine Schuld, die man bezahlen könnte oder müßte. So etwas darf es in einer Freundschaft nicht geben. Man würde sie sonst damit zerstören. Ich bin nicht der Meinung, daß wir uns gegenseitig etwas schuldig sind oder aus Dankbarkeit oder wegen eines schlechten Gewissens füreinander tun müßten. Auch oder gerade dieses Geschenk soll bei Gott keine Abgeltung für irgend etwas sein. Wenn es so wäre, könnte ich es dir nicht machen, weil ich mich nämlich abgrundtief für eine solche Geschmacklosigkeit schämen müßte. Diese Uhr soll eigentlich nichts weiter sein als ein Symbol für die Zeit, die uns geschenkt wurde, für die wir beide gekämpft haben und die wir nur mit vereinter Kraft gewinnen konnten. Ich würde mich freuen, wenn … wenn du das so siehst wie ich, ohne darin ein billiges Abtun von Schuld oder Dankbarkeit zu sehen oder gar ein Ersatz für freundschaftliche Verpflichtung. Wir haben uns noch nie etwas in der Beziehung vorgerechnet. Ich möchte trotz dieser Uhr auch jetzt nicht damit anfangen. Ich hoffe, daß du das auch nicht tust, bloß weil du mich vielleicht falsch verstanden hast."

Nach Jess' letztem Wort lag ein solennes Schweigen im Raum. Daisy klammerte sich fester an ihn, während ihr Tränen der Rührung über die Wangen liefen. Slim stand sprachlos da, starrte auf die Uhr in seinen Händen, hob langsam den Blick, um nun die Augen auf den Freund zu richten, der plötzlich über sich selbst unsicher wurde, ob er das Richtige gesagt hatte, ob es überhaupt angebracht gewesen war, so etwas zu sagen.

"Ich …" Slim machte eine hilflose Geste, zog die Schultern hoch und schluckte geräuschvoll. "Ich weiß nicht, was … was ich sagen soll", brachte er dann mühsam heraus. Seine Stimme war rauh, beinahe krächzend. Schließlich räusperte er sich. "Ich … ich danke dir – nicht für diese wertvolle Uhr, sondern dafür, daß du zurückgekommen bist und ich dich nicht holen mußte, und dafür, was du über dieses Symbol gesagt hast. Manchmal erkennt man erst im gemeinsamen Angesicht des Todes, wie nahe man sich tatsächlich steht. Ich werde dieses Symbol in Ehren halten und hoffe, daß uns die Zukunft noch viel von dieser Zeit bringen wird, die wir dem Schicksal mit vereinten Kräften abgerungen haben." Ein verschämtes Lächeln huschte um seine Lippen. "Sei unbesorgt, Partner!" sagte er dann mit leicht erhobener Stimme, um zu zeigen, daß seine "Andacht" beendet war. "Ich habe das, was du gesagt hast, garantiert in den richtigen Hals bekommen. Wir … wir haben eigentlich schon ganz schön was zusammen erlebt, was?" meinte er auf einmal aus seiner Verlegenheit heraus.

"Kann man wohl sagen", gab Jess mit trockener Kehle zu, daß auch er sich räuspern mußte. "Und so, wie es aussieht, bleibt uns nach allem noch ein wenig Zeit für das eine oder andere Abenteuer."

"Ja, muß ja nicht unbedingt so vertrackt sein wie das letzte."

"Das beste ist, wenn wir versuchen, nicht mehr soviel daran zu denken. Nicht daß du meinst, diese Uhr ist als Erinnerung gedacht. Keiner von uns wird es zwar vergessen können, aber es sollte nicht mehr allgegenwärtig sein. Es ist vorbei und gehört zur Vergangenheit, an der nichts zu ändern ist. Ich möchte nicht, daß auch nur eine Kleinigkeit davon noch länger unsere Zukunft belastet." Wie beiläufig strich Jess über die Brusttasche von Slims Hemd; er wußte genau, daß die Kugel dort steckte, obwohl ihm erst die Berührung Gewißheit verschaffte, da sie durch den festen Stoff von außen nicht zu erkennen war. "Ich hoffe, daß es auch für dich bald zu Ende und nur noch Vergangenheit sein wird."

"Auch das werden wir gemeinsam schaffen", versprach Slim zuversichtlicher als jemals zuvor. "Sei unbesorgt!"

"Dann solltest du dir die Worte auf der Rückseite der Uhr genau einprägen und vielleicht ein bißchen zu Herzen nehmen."

"Auf der Rückseite?" Verwundert ließ Slim den Deckel zuschnappen und drehte die Uhr um. Daß auf der Rückseite noch eine Gravur sein könnte, hatte er nicht erwartet. "In der Vergangenheit ruhen Erinnerung und Erfahrung. Aus dem Augenblick schöpft das Leben Kraft für die Zukunft", las er vor. "Das ist …" Einen Augenblick suchte er nach den passenden Worten. "… ein sehr sinniger Gedanke. Von wem ist das?"

"Ist mir im Zug auf der Heimfahrt eingefallen. Hatte in den letzten Monaten viel Gelegenheit, solche Weisheiten zu lesen. Na ja, nach dem, was wir gemeinsam in Colorado Springs erlebt haben, ist es doch kein Wunder, wenn da auf einmal meine Phantasie mit mir durchgegangen ist. Ist sehr treffend, findest du nicht?"

"Das ist wunderschön!" bemerkte Daisy in andächtiger Verzückung, ehe Slim auf die Idee kommen konnte, anderer Meinung zu sein.

"Da muß ich ihr recht geben", machte dieser jedoch keinerlei Anstalten, ein anderes Urteil zu fällen. "Wußte gar nicht, daß du so eine philosophische Ader hast."

"Ach was, philosophische Ader!" winkte Jess ab. "Wie gesagt, das kommt bloß daher, weil ich vor lauter Langeweile einen Weisheitsschinken nach dem anderen verschlungen habe."

"Nun red doch nicht gleich wieder so!"

"Slim hat recht!" mußte Daisy dem beipflichten. "Sie haben so viele anrührende Dinge gesagt, Dinge voller Wärme und Zuversicht, die mir sehr zu Herzen gegangen sind. Sie wollen sich doch jetzt nicht allen Ernstes selbst darüber lustig machen!"

"Gott bewahre, Daisy! Nichts liegt mir ferner als das." Jess drückte sie herzlich an sich. "Tut mir leid, wenn es sich so angehört haben sollte. Es war nicht meine Absicht, denn dazu sind mir diese Dinge zu wichtig."

"Aber das weiß ich doch", versicherte sie mit einem warmherzigen Lächeln auf ihrem tränennassen Gesicht.

"Und ich weiß, daß Sie nicht mehr weinen wollten", erinnerte er und wischte ihr mit beiden Händen gleichzeitig die Tränen von den Wangen. "Haben Sie das schon wieder vergessen?"

Aus dem Lächeln wurde bald ein verschämtes Lachen.

"Das ist doch bloß, weil ich so gerührt bin", schniefte sie. "Ach!" seufzte sie gleich darauf. "Ich glaube, heute ist der schönste Tag in meinem Leben. Ich habe bestimmt noch nie soviel aus Freude geweint."

"Dabei fände ich es viel schöner, wenn Sie endlich nur noch lachen würden. Sie haben meinetwegen schon viel zuviel geweint."

"So lange es Freudentränen sind, ist das nichts Schlimmes." Sie schneuzte sich. "Ach!" machte sie dann schon wieder, diesmal mit einer wegwerfenden Geste über sich selbst und die Tatsache, daß sie heute besonders nahe ans Wasser gebaut zu haben schien. "Sie haben ja recht. Ich stehe hier herum und heule wie ein kleines Schulmädchen. Dabei werden Sie bestimmt hungrig und müde sein nach der langen Reise."

Da mußte nun Jess lauthals lachen, nicht über sie oder ihre altvertraute mütterliche Fürsorge, sondern mehr über sich selbst, weil er diese Bemerkung von ihr eigentlich schon beinahe vermißt hatte.

"Daisy, darauf habe ich die ganze Zeit gewartet. Sie sind einfach köstlich – besorgt wie immer."

"Haben Sie denn schon gefrühstückt?" fragte sie prompt, obwohl ihr Gefühl ihr deutlich verriet, daß diese Frage überflüssig war.

"Woher denn! Ich habe Mose so gescheucht, daß er nirgendwo länger Halt gemacht hat. Manchmal hat es sogar kaum zum Pferdewechsel gereicht."

"Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich werde Ihnen schnell etwas richten."

"Ein paar Eier mit Speck wären jetzt nicht zu verachten", meinte er schmunzelnd. "Und eine große Tasse von Ihrem schwarzen, starken Kaffee mit viel Zucker auch nicht. Davon habe ich tatsächlich während der Fahrt geträumt."

"Sehen Sie sich nur seine gierigen Augen dabei an!" mußte Slim unbedingt seinen Kommentar dazu geben. "Braucht sich über Mikes gesegneten Appetit nicht zu wundern. Irgendwoher muß das ja bei dem Jungen kommen."

"Bei dir ist das bloß Futterneid, weil du um deine doppelten Portionen Angst hast."

"Und ich bin froh, wenn Sie beide ordentlich zulangen, ist das für mich ein sicheres Zeichen, daß es Ihnen gutgeht. Außerdem kann Jess bestimmt noch ein paar Pfunde vertragen."

"Na ja", grinste Slim und schlug dem Freund mit dem Handrücken in die Magengrube, während dieser an seinem Hosenbund fummelte und damit zugeben mußte, daß er den Gürtel nicht bloß zur Zierde trug, "ein bißchen geht da wirklich noch rein. Da haben Sie allerdings recht."

"Hände weg von meinem edlen Körper!" blödelte Jess und wischte Slims Hand wie einen schmutzigen Gegenstand von seiner Weste. "Trotzdem ist das nicht zu fassen, Partner, daß wir über diesen letzten Punkt einhellig einer Meinung sind."

"Diese beiden Mannsbilder!" amüsierte sich Daisy, während sie das Spitzentuch von ihrem Kopf nahm und, akkurat gefaltet, zur Seite legte, um in der Küche zu verschwinden, wo sie im Handumdrehen zwischen all dem Durcheinander ein kräftiges Frühstück für den Heimkehrer zubereitete. "Wenn Sie gegessen haben, müssen Sie mir aber endlich alles erzählen!" rief sie aus der Küche.

"Wie gesagt, Daisy, es gibt da wirklich nicht sehr viel", erwiderte Jess von der Garderobe, wo er aus dem für seine Begriffe unbequemen Gehrock schlüpfte und die engsitzende Weste öffnete. "Außerdem wollte ich mir hinterher erst einmal den Reisestaub vom Leib schrubben. Ich habe das Gefühl, der knirscht mir sogar zwischen den Zähnen."

"Bist ganz schön verwöhnt, was?" bemerkte Slim spitzfindig.

"Was heißt verwöhnt?" Jess grinste breit. "Tyler sagte, ich soll trotz allem vorsichtig mit staubigen Angelegenheiten sein. Du wirst doch nicht abstreiten wollen, daß so eine Fahrt in der Postkutsche genau eine solche Angelegenheit ist?"

"Ich kann mir zwar vorstellen, daß Tyler das anders gemeint hat, aber man sollte diesen Reinlichkeitsfanatismus bei dir nicht unterbinden, bin ich mir doch sicher, daß der bald ins andere Extrem umschlägt." Er schlug ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. "Aber jetzt einmal Spaß beiseite. Was hat Tyler tatsächlich gesagt?"

"Eigentlich nicht sehr viel, außer daß ich halt noch ein bißchen vorsichtig sein soll, vor allem während der ersten Zeit. Das schließt regelmäßige Kontrollbesuche bei Dan genauso ein wie Vorsicht bei der Arbeit und erst einmal generelles Tabu für alle schwereren Anstrengungen. Nach einem halben Jahr will er mich unbedingt noch einmal sehen."

"Daran wirst du dich selbstverständlich halten!"

"Nun, du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber das hatte ich wahrhaftig vor. Es wird mir auf Dauer bestimmt nicht immer leicht fallen, aber ich werde mich wirklich bemühen, mich an seine Anweisungen und Ratschläge zu halten."

"Keine Angst, ich werde schon aufpassen, daß du das nicht vergißt, denn was ich in Colorado Springs erleben mußte, möchte ich nie wieder erleben."

"Schon wieder ein Punkt, über den wir uns einig sind."

"Und ansonsten?" war Slim weiterhin sehr ernst. "Ich meine, hast du noch irgendwelche Beschwerden, Schmerzen oder sonstige Einschränkungen?"

"Nein, zumindest nicht bei normaler Bewegung und Anstrengung in üblichem Rahmen. Tyler meinte nur, daß sich die lädierte Rippe hin und wieder melden könnte, bei einer falschen Bewegung oder einem plötzlichen Wetterumschwung. Wäre nicht weiter schlimm, solange es nicht von Dauer ist und ich solche Warnzeichen sofort beachte."

"Und was ist mit diesem furchtbaren Husten?"

"Den bin ich Gott sei Dank los. Allerdings soll ich erst einmal unbedingt dafür sorgen, daß ich mir keine Erkältung oder so etwas in der Richtung einfange."

"Das heißt also, vorläufig keine kalten Füße und so", schmunzelte Slim zufrieden. Er konnte keinem sagen, wie froh er war, nur von an sich harmlosen Einschränkungen zu hören, und empfand es als riesengroße Erleichterung, sich über diese auszulassen.

"Werde ich bei der Hitze wohl kaum kriegen."

"Nicht anzunehmen", grinste Slim, setzte jedoch gleich wieder etwas ernster hinzu: "Wenn du nicht auf die glorreiche Idee kommst, mal wieder eine ganze Nacht im Sattel bei strömendem Regen und orkanartigem Wind zu verbringen."

Diese Anspielung bezog sich auf sein verbissenes Ausharren bei der Herde, die in jener ungemütlichen Nacht vor nun fast drei Jahren nur durch seinen unermüdlichen Einsatz auf der Weide zu halten gewesen war, den er anschließend mit hohem Fieber und Schüttelfrost bezahlen mußte.

"Ich kann mich beherrschen."

"Sollte man annehmen, weiß man bei dir aber nie mit absoluter Sicherheit."

"Ehrlich, Slim, ich habe wirklich die volle Absicht! Du kennst mich doch. Ich kann da sehr stur sein."

"Hoffentlich, Jess, hoffentlich!"

"Es ist mein voller Ernst!" versicherte der Freund ohne eine Spur von bloßem Dahergerede. "Ich bin wirklich nicht scharf darauf, von der ganzen Geschichte mehr als diese häßliche Narbe auf meiner Brust zu behalten und eine ebenso häßliche Erinnerung daran, die hoffentlich mit der Zeit etwas verblaßt. Die Narben in meiner Lunge kann ich zum Glück nicht sehen. Solange sie mir keine weiteren Beschwerden verursachen, sind sie für mich so gut wie nicht existent, zudem Tyler meinte, daß alles gut verheilt ist. Bis jetzt habe ich keinen Grund, seine Diagnose anzuzweifeln. Denkst du, ich würde all das aus Leichtsinn gedankenlos aufs Spiel setzen? Ich habe das früher viel zu oft getan. Schlimm genug, daß erst so eine Hölle über mich hereinbrechen mußte, ehe ich in der Beziehung erwachsen wurde. Das, was ich vorhin über diese, nennen wir es, geschenkte Zeit gesagt habe, war mir sehr ernst – verdammt ernst sogar! – und nicht bloß schönes Gerede, weil es gerade so gepaßt hat. Und auch das, was ich über unsere Beziehung … ich meine, ich habe noch nie so viele Worte gerade über sie verloren und werde es sehr wahrscheinlich so schnell auch nicht wieder tun, weil ich der Meinung bin, daß wir das nicht nötig haben. Die Gefahr, etwas dabei zu zerreden, ist viel zu groß. Aber jedes einzelne Wort war mir verteufelt wichtig und nicht nur ein Wort, das halt gesagt werden mußte, nur um es einmal zu hören. Und weil mir das, was hinter diesen Worten steht, so überaus viel bedeutet, darf ich es durch selbst heraufbeschworene Leichtfertigkeit nicht gedankenlos aufs Spiel setzen. Ich möchte durch solchen Leichtsinn nichts und niemanden verlieren. Es wäre unverantwortlich den Menschen gegenüber, die mich brauchen und – viel wichtiger noch! – die für mich da waren, als ich sie brauchte. – Entschuldige", sagte Jess plötzlich mit einer abwehrenden Handbewegung über sich selbst. "Jetzt habe ich schon wieder soviel darüber geredet. Soll nicht wieder vorkommen." Er grinste gequält. "Selbst George hat festgestellt, daß wir in der Beziehung recht schweigsam sind. Wenn er jetzt mein stundenlanges Gerede gehört hätte, wäre er sicher verwirrt."

"Ich habe es nicht als zuviel angesehen, zudem es eine besondere Situation betrifft. Dafür nehmen wir gewiß oft genug Dinge für selbstverständlich, obwohl sie das eigentlich nicht sind, manchmal vielleicht auch nicht sein sollten. Und manchmal tut es einfach nur gut, diese selbstverständlichen Dinge auszusprechen, weil es so überaus angenehm ist, diese Dinge zu hören. Schließlich muß man sich doch nicht nur zu unerfreulichen Gelegenheiten äußern oder wenn man geteilter Meinung ist."

"Sicher, trotzdem ist gerade das ein Thema, über das man nicht so viele Worte verlieren sollte. Darüber redet man nur soviel, wenn man es nötig hat. Bisher war ich der Meinung, daß wir das nicht haben." Unzufrieden über sich und seine vielen Worte, atmete Jess auf. "Ich fürchte fast, ich bin durch das alles sentimental geworden. Entsetzlich!"

"Ach was!" winkte Slim ab. "Was soll denn ich dann erst sagen? Weißt du, ich bin eher der Meinung, wir haben nach all diesen entsetzlichen Augenblicken, die wir durchleben mußten während der zurückliegenden Monate, das verdammte Recht, uns auch einmal ein wenig von dieser Sentimentalität zu gönnen, die wir uns aus unerfindlichen Gründen immer selber vorenthalten, weil wir uns einbilden, das ist nur etwas für andere. Sie steht uns doch genauso zu, oder etwa nicht?" Er machte eine ausholende Geste. "Verdammt, Jess, ich freue mich wahnsinnig, daß du gesund zurückgekehrt bist, und kein Mensch soll ja auf die Idee kommen, mir vorzuschreiben, wie ich diese Freude zeigen darf. Ich glaube, der hätte zum letzten Mal etwas in der Richtung versucht. Und das gleiche Recht hast du doch auch."

"Du hast einfach recht."

"Jess, kommen Sie in die Küche zum Essen, oder soll ich den Eßtisch im Wohnzimmer decken?" erscholl Daisys Stimme aus der Küche, womit sie das in tiefgründige Dimensionen gerutschte Gespräch der beiden Freunde unterbrach, das allerdings bereits am Ausklingen gewesen war.

"Machen Sie sich bloß nicht so viele Umstände!" antwortete Jess, von der einen zur anderen Sekunde wieder in unbeschwerter Laune, während er über ihre Eifrigkeit nur den Kopf schütteln konnte, und Slim, gleichermaßen in gelockerte Stimmung zurückgekehrt, als Kommentar hierzu mit den Schultern zuckte. "Ich komme in die Küche."

"Ich werde dir in der Zwischenzeit die Wanne füllen, damit du die Staubkruste von unterwegs herunterschrubben kannst."

"Das ist ja ein Service wie im Grand Teton!"

Für einen Kommentar hatte Slim keine Zeit mehr, denn Daisys Stimme erscholl erneut aus der Küche.

"Jess, kommen Sie?"

"Sofort!" erwiderte er gehorsam in Anbetracht der leckeren Düfte, die durchs Haus zogen.

"Aber wirklich! Sonst wird ja alles kalt."

"Ach, wie habe ich das vermißt!" seufzte er und ließ Slim mit einem vergnügten Grinsen stehen. "Liz war ja schon energisch, wenn es ums Essen ging, aber gegen Sie war sie harmlos", bemerkte er beim Eintreten. "Sie möchte Sie übrigens unbedingt einmal kennenlernen."

"Wenn sie Sie nur gut versorgt hat."

"Das hat sie, Daisy, das hat sie, sonst wäre ich bestimmt noch ein paar Pfunde leichter."

Während Jess sich an den Küchentisch setzte, wo die Frau schnell das herumstehende Geschirr etwas zur Seite geräumt hatte, schenkte sie ihm Kaffee ein.

"Sie müssen schlimm ausgesehen haben, nicht wahr?" Sie musterte ihn mit einem forschenden Blick. "Aus Slim war nicht viel herauszukriegen, als er zurückkehrte. Wer weiß, vielleicht war das auch das beste."

"Das war es, Daisy, mit Sicherheit sogar!" Während er sein verspätetes Frühstück genoß, ließ er sich vom Reden nicht weiter abhalten; nur das erneut angeschnittene Thema behagte ihm nicht besonders, weshalb er sogleich versuchte, davon abzulenken. "Ich bin froh, daß Sie es nicht sehen mußten, und möchte, ehrlich gesagt, auch nicht mehr davon reden – wenigstens im Moment nicht", fügte er hinzu, als sie Luft holte, um etwas einzuwenden. "Sagen Sie mal", fing er von etwas anderem an, wobei er kauend einen bezeichnenden Blick in die Runde warf, "was machen Sie eigentlich mit dem Geschirr, das da überall herumsteht? Das sieht ja hier aus wie im Lager eines Haushaltswarengeschäfts."

"Ich bin nur am Schrankauswischen, sonst nichts", erklärte sie und hatte seinen Wink mit dem Ausweichmanöver verstanden.

"Und dazu müssen Sie den ganzen Inhalt auf den Kopf stellen?" Er schob sich ein großes Stück gebackenen Schinken zwischen die Zähne und fand, daß es zu Hause eben doch am besten schmeckte. "Ist das nicht ein wenig viel Umstand für so ein bißchen Wischerei?"

"Typisch Mann!"

"Ja", grinste er, "so etwas habe ich schon öfter zu hören gekriegt – nicht nur von Ihnen. Wenn eine Frau nichts mehr zu wischen und zu räumen hat, muß sie sich wohl etwas suchen. Ist wohl typisch Frau, was?"

"Nun ja, wenn ich gewußt hätte, daß Sie heute schon zurückkommen, hätte ich das natürlich auf wann anders verschoben. Aber wir haben Sie aufgrund Ihres letzten Briefes nicht vor Ende des Monats erwartet, um genau zu sein, in etwa vierhundertzweiunddreißig Stunden."

"Wie bitte?" hakte er amüsiert nach, weil er dachte, sich verhört zu haben.

"Das hat Mike so ausgerechnet und heute beim Frühstück verkündet. Seit Ihrem letzten Brief ist er völlig aus dem Häuschen. Jeden Morgen rechnet er uns vor, wie lange es noch dauert. Ach, es freute mich ja so, ihn wieder unbeschwert zu sehen nach dieser fürchterlichen Zeit. Aus lauter Übermut fing er deshalb an, die restliche Zeit Ihrer Abwesenheit in Stunden umzurechnen."

"Verrückter Bengel!" lachte Jess. "Dabei wußte er doch gar nicht genau, wann ich zurückkomme. Es hätte durchaus noch ein paar Wochen länger dauern können, wenn Tyler der Meinung gewesen wäre, daß das für meine Gesundheit besser ist."

"Sicher, aber Sie kennen doch Mike." Auch Daisy lachte. "Ein paar wenige Tage mehr hätte er Ihnen gewiß großzügigerweise zugestanden. So tolerant wäre er gewesen. Allerdings möchte ich wetten, daß er diese zusätzlichen Tage sogar in Minuten umgerechnet hätte."

"Traue ich ihm glatt zu." Genüßlich biß er in ein Maisbrötchen. "Bin gespannt", meinte er kauend, "was er sagt, wenn er feststellt, daß seine ganze Rechnerei nicht stimmt."

"Ich glaube, wenn er Sie sieht, denkt er an alles, bloß nicht mehr daran. Er hat Browny sogar ein buntes Tuch umgebunden, damit jeder sehen kann, wie er sich freut."

"Ich sage doch – verrückter Bengel! Wie lange hat er heute Unterricht?"

"Wie immer, bis eins. Warum fragen Sie?"

"Weil ich nachher in die Stadt reite, um mich zurückzumelden – sozusagen." Bei dem Gedanken daran grinste er vergnügt vor sich hin. "Da werde ich ihn gleich an Ort und Stelle überraschen."

"Da wird er sich garantiert freuen."

"Jede Wette, daß er das tut!" Beim Weiterreden zog eines seiner verschmitzten Grinsen über sein Gesicht. "Und wenn Sie uns freigeben, werden wir den Tag in der Stadt verbringen und erst zum Abendessen zurückkommen."

"Das ist eine sehr gute Idee!" war sie wider allen Erwartens sofort begeistert. "Dann habe ich genügend Zeit, ein wunderbares Essen zu richten – als eine Art Begrüßungsmahl."

"Jetzt fangen Sie nicht gleich wieder an, sich unnötige Umstände meinetwegen zu machen!"

"Gönnen Sie mir doch diese Freude!" Sie zwickte ihn ausgelassen am Ohr. "Da Sie mich mit Ihrem überraschenden Auftauchen heute so herrlich überfallen haben, konnte ich noch gar nichts vorbereiten. Aber bis heute abend werde ich ein wahres Festessen für Sie zaubern."

"Sagen Sie jetzt bloß nicht, mir zu Ehren, sonst übernachte ich in der Stadt."

"Ach, Sie! Seien Sie lieber pünktlich zurück, sonst gibt es nur Reste, das heißt, wenn überhaupt etwas übrig bleibt."

"Nicht zu fassen!" beschwerte er sich zum Spaß. "Kaum daheim, und schon kriegt man wieder Vorschriften gemacht."

"Irgend jemand muß doch auf eine angemessene Ordnung achten."

"Da haben Sie allerdings recht!" mußte er zugeben, hob zur Bekräftigung seine Kaffeetasse und nahm einen ordentlichen Schluck. "Und ich kann mir niemand Geeigneteren vorstellen als Sie. Zumindest würde ich auf niemand anders hören."

Nach zwei weiteren Tassen Kaffee, den restlichen Maisbrötchen und einer belanglosen Unterhaltung mit der ungekrönten Herrin des Hauses verschwand Jess nach nebenan, um sich frisch zu machen. Vor allem war er froh, endlich diese unbequemen Hosen und das Hemd mit dem noch unbequemeren Kragen vom Leib zu kriegen. Jetzt stand er vorm Spiegel, um sich zu rasieren, nach einem herrlichen Bad, mit halbnassen Haaren und nacktem Oberkörper.

Wenn er ehrlich sein wollte, fühlte er sich wie neu geboren, geradeso, als hätte es die vergangenen zehn Monate nicht für ihn gegeben. Selbst die häßliche Narbe auf seiner Brust, der auf Anhieb anzusehen war, daß sie nicht sehr alt war, vermochte es nicht, seine wiedererwachte Lebensfreude in irgendeiner Weise zu schmälern.

An der Tür klopfte es.

"Jess, sind Sie fertig?" fragte Daisy, die offensichtlich die Wäsche holen wollte.

"Ja, kommen Sie ruhig herein!" redete er in den Spiegel, während er das Rasiermesser am Riemen daneben nachschärfte.

"Ich wollte nur die Wäsche holen", sagte sie beim zaghaften Öffnen der Tür. "Dann kann ich … Oh, entschuldigen Sie, Sie sind ja noch gar nicht … Ich werde später …"

"Aber, Daisy, was stellen Sie sich denn so an?" fragte er grinsend, daß er mit seinem eingeseiften Gesicht wie einer dieser Spaßmacher aus einem Zirkus wirkte. "Bleiben Sie doch! In einer Minute bin ich fertig."

"Aber Sie sind ja halb nackt."

"Wieso denn halb nackt? Muß mir doch bloß ein Hemd überziehen."

"Trotzdem …"

"Jetzt sagen Sie nur, das stört …" Er brach ab und grinste noch breiter in den Spiegel. "Daisy", rief er amüsiert, "Sie genieren sich doch nicht etwa? Na, nun kommen Sie!" Er beendete seine Rasur und wischte sich den restlichen Schaum aus dem Gesicht. "Sie haben mich doch schon ganz anders gesehen."

"Da waren Sie krank. Das ist etwas anderes."

"Was soll denn daran anders sein?" Jess wandte sich endlich zu ihr um. "Daisy, wir kennen uns nun schon seit so vielen Jahren, und Sie sind wie eine Mutter für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir gegen irgendwelche Moralgesetze verstoßen, wenn Sie mir dabei zusehen, wie ich mich mit nacktem Oberkörper rasiere – ohne krank zu sein. Sagen Sie jetzt bloß nicht, das schickt sich nicht, denn wenn ich im Sommer ohne Hemd draußen Holz hacke, ist das doch auch für Sie in Ordnung."

Ein verlegenes Lächeln zog über ihr gutmütiges Gesicht mit den glänzenden Augen.

"Sie haben recht." Sie ließ sich von ihm in die Arme schließen. "Wir sollten uns nicht so kindisch benehmen. Schließlich könnten Sie tatsächlich mein Sohn sein. Ach", seufzte sie, "es ist schön, Ihre Kraft zu spüren, daß Sie beide Arme um mich legen und mich so festhalten können nach dieser schrecklichen Zeit."

"Pscht, bitte nicht wieder davon anfangen, bitte nicht! Sie sollten sich doch nicht mehr damit quälen!"

"Das ist leichter gesagt, als getan." Sie löste sich halb von ihm, um ernster, als ihm lieb war, zu ihm aufzublicken. "Aber wenn ich diese gräßliche Narbe auf Ihrer Brust sehe … Jess, ich fürchte, die Erinnerung an dieses schlimme Geschehen wird mich für den Rest meines Lebens quälen."

"Entschuldigen Sie, Daisy, daran habe ich nicht gedacht. Ich werde mir schnell etwas überziehen. Ich möchte nicht …"

"So meinte ich das nicht, das wissen Sie doch!" warf sie rasch ein; sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, ihn mit ihrer Bemerkung unbewußt verletzt zu haben.

"Natürlich weiß ich das, aber deshalb muß ich Sie ja nicht noch mit Gewalt darauf stoßen." Er griff nach seinem Hemd und warf es sich über. "In meinen Augen ist das beinahe unverzeihliche Gedankenlosigkeit."

"Für meine Erinnerung wird es keine Rolle spielen, ob Sie die Narbe in Zukunft ständig vor mir verbergen oder nicht. Der einzige Trost, den ich habe, ist, daß diese Wunde trotz allem endlich doch noch so gut verheilt ist." Ehe er sein Hemd zuknöpfte, berührte sie ihn scheu neben der Stelle, wo die Kugel einst in seinen Körper gedrungen war. Da sie nicht wußte, ob und wie die Umgebung sowie die Verletzung selbst noch empfindlich auf solche Reize reagierte, wollte sie ihr lieber nicht zu nahe kommen. Wenn sie dabei versuchte, alles nur aus Sicht der Krankenschwester zu sehen, als die sie sich immer noch betrachtete, fiel es ihr nicht gar so schwer, den Anblick und die damit verbundenen Umstände zu ertragen. "Sie hat sich wirklich sauber geschlossen, und der Muskel ist gut zusammengewachsen, obwohl der Arzt damals … O Jess!" rief sie plötzlich, anscheinend über ihre eigenen Worte entsetzt. "Ich sollte nicht soviel … Wenn ich mir vorstelle … Sie haben keine Schmerzen mehr, nicht wahr?"

"Aber nein, das sagte ich doch schon."

"Ganz bestimmt nicht? Ich meine, es tut Ihnen bestimmt nichts mehr weh? Gar nichts?"

"Gar nichts! Ganz bestimmt!" versicherte er, legte ihr zur Bekräftigung kurz die Hand an die Schulter, um sich dann zu beeilen, sein Hemd zuzuknöpfen, damit endlich dieses Wundmal vor ihren Augen verborgen wurde. "So", sagte er bestimmt, als er ziemlich energisch sein Hemd in den Hosenbund stopfte, "ab sofort werde ich etwas mehr darauf achten, daß Sie dieses Ding nicht mehr aus der Nähe sehen müssen, wenn es nicht unbedingt sein muß. Schlimm genug, daß ich die Erinnerung bei Ihnen nicht genauso einfach zudecken kann."

"Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Wenn ich weiß, daß es Ihnen gut geht, wird es auch mir gutgehen." Sie lächelte ihn in ihrer fürsorglichen Art an, wobei sie – wohl aus mütterlichem Instinkt heraus – beinahe liebevoll über seine Wange strich. "In der Beziehung empfinde ich tatsächlich wie eine Mutter für Sie."

"Sie werden es mir vermutlich nicht glauben", er nahm ihre Hand aus seinem Gesicht, drückte sie an seine Lippen, um einen zarten, fast scheuen Kuß in ihre Handfläche zu legen, "aber als genau das sehe ich Sie. Sie muß uns tatsächlich der Himmel geschickt haben, denn Engel wie Sie gibt es sonst nirgendwo."

"Sie müssen immer gleich so maßlos übertreiben!" wehrte sie verlegen ab.

"Nein, Daisy, das ist eher untertrieben. Wie sehr ich Ihre mütterliche Fürsorge vermißt habe, merke ich eigentlich erst jetzt so richtig, da ich wieder zu Hause bin. Das hört sich bestimmt kindisch an, wenn das ein Kerl wie ich behauptet, aber es wäre eine Lüge, dies zu leugnen."

"Was soll denn daran kindisch sein? Haben Sie denn nicht das Recht darauf, Gefühle entgegengebracht zu bekommen und selbst zu empfinden wie alle anderen? Warum versuchen Sie nur immer so vehement, Ihren weichen Kern hinter dieser rauhen Schale zu verbergen? Sie sind doch im Grunde gar nicht so hart und unempfindlich, wie Sie immer tun. Und vor mir brauchen Sie sich sowieso nicht zu genieren. Ich weiß, daß Sie noch nicht einmal ein halb so dickes Fell haben, wie Sie so gerne vorgeben."

"Manchmal habe ich wirklich den Eindruck, Sie kennen mich besser als ich selbst."

"Auch besser, als Ihnen lieb ist?" fragte sie vorsichtig.

"Nein, das ganz bestimmt nicht!" Er besann sich, ehe er hinzufügte: "Aber ich sehe gewisse Dinge nun mal anders."

"Wirklich?"

Er sah sie forschend an, blickte lange in ihre gutmütigen Augen, die geduldig auf ihm ruhten. Je länger er diese Frau nun schon kannte, desto faszinierender fand er sie, desto deutlicher spürte er ihren Einfluß auf sein eigenes Leben, ohne sich dem entziehen zu wollen. Dabei bezweifelte er sogar, daß er dies überhaupt könnte.

"Es hat wohl wenig Sinn, länger darüber zu diskutieren. Am Ende ziehe ich da bloß den kürzeren, weil Sie mich früher oder später mit Ihrer weiblichen Logik schlagen werden. Absolut zwecklos, gegen Ihre Waffen kämpfen zu wollen. Sie wissen, es macht mir nichts aus zu kämpfen – wenn es sein muß, auch gegen den Teufel persönlich. Aber gegen Sie komme ich beim besten Willen nicht an. Wahrscheinlich zu recht, denn Sie sind stärker als alle Argumente, die mir zu irgend etwas einfallen."

"Wenn Sie nicht sofort aufhören mit Ihrer maßlosen Übertreibung, werde ich Sie in Zukunft nur noch mit Bohnen und Speck und angebranntem Kaffee versorgen", scherzte sie. "Zur Strafe sozusagen!"

"Das könnten Sie mir tatsächlich antun?"

"Nein", wurde sie im Nu wieder ernster, "jedenfalls nicht, so lange man bei Ihnen noch so augenfällig die Rippen zählen kann." Sie faßte ihm an die Seite, um ihre Feststellung zu unterstreichen. "Im Gesicht sieht man es Ihnen Gott sei Dank nicht mehr auf Anhieb an, daß Sie so krank waren. Zumindest nach außen hin wirken Sie sehr ausgeruht und, ich möchte fast sagen, ausgeglichen. Aber ansonsten meine ich, daß Ihnen wenigstens fünfzehn bis zwanzig Pfund fehlen – mindestens! Eher sogar mehr als weniger."

"Na ja, ich habe mich früher zwar nie gewogen, weil ich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, daß man so etwas macht oder das irgendeinen Sinn hätte, aber Professor Tyler hat auch auf diese Nebensächlichkeit Wert gelegt und meine Gewichtsveränderungen sogar notiert. Ich fand das schon sehr pingelig. Aber, bitte, er wird schon gewußt haben, was er tat. Rein subjektiv betrachtet, würde ich allerdings zugeben, daß Sie recht haben." Jess nahm die Frau an beiden Schultern und hielt sie in Armeslänge von sich, wobei er sie mit einer seiner spitzbübischen Gesten anlächelte. "Aber deshalb brauchen Sie sich nicht gleich wieder Sorgen zu machen. Bei Ihrer guten Verpflegung werde ich die fehlenden Pfunde schneller wieder auf den Knochen haben, als mir wahrscheinlich lieb ist, zudem ich mich mit der Arbeit fürs erste zurückhalten soll."

"Und ich soll Ihnen glauben, daß Sie das tatsächlich tun?" An ihrem Tonfall war deutlich zu erkennen, daß sie ihm in der Beziehung nicht über den Weg traute. "Wenn ich ansonsten nicht den geringsten Anlaß habe, an Ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln, aber das kaufe ich Ihnen nicht ab."

"Das sollten Sie aber."

"Dann müßten Sie sich in Colorado Springs sehr geändert haben."

"Das nicht", gab er klein bei, obwohl er sich dessen nicht so unumstößlich sicher war, wie er versuchte zu wirken. "Vielleicht liegt es nur an dem, was ich dort …" Er besann sich, ehe er den Satz beendete. "… erlebt habe."

"Wollten Sie nicht sagen, 'durchgemacht habe'?" Daß er auf diese Bemerkung schwieg, bewies ihr, daß sie richtig vermutete. "Jess, meinetwegen sollten Sie sich nicht so krampfhaft bemühen, Ihren Aufenthalt bei Professor Tyler als vergnügliche Ferienreise abzutun. Sie wissen genau, daß ich Ihnen Ihre Verharmlosungen nicht glaube. Sicher, Sie haben schon recht, wenn Sie sagen, es ist vorbei. Gott sei Dank ist es das! Aber deshalb sollten Sie es vor mir nicht verstecken wollen. Wenn selbst heute, nach so langer Zeit, nicht ganz die Spuren Ihrer schweren Krankheit verschwunden sind, meinen Sie, ich wüßte nicht, wie Slim Sie vorgefunden hat, zudem der Professor dann sicherlich nicht dieses Telegramm geschickt hätte? Ich kenne sehr wohl den tieferen Sinn dieser Nachricht. Ach, Jess!" machte sie auf einmal, ärgerlich über sich selbst, weil sie schon wieder dabei war, diese gerade verheilende Wunde erneut aufzureißen. "Es tut mir leid, mein Junge, daß ich … Ich wollte das nicht! Ich wollte nur, daß Ihnen klar wird … ich meine, vor mir brauchen Sie doch nichts zu beschönigen. Schließlich war ich sogar dabei, als Doc Higgins damals … Herrje!" rief sie plötzlich, diesmal regelrecht aufgebracht über ihr stetiges Lamento. "Warum höre ich denn nicht auf damit?"

"Beruhigen Sie sich, Daisy!" redete er beschwichtigend auf sie ein und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. "Wissen Sie was?" wollte er sie aufmuntern. "Wenn Sie sich nicht mehr darüber aufregen, verspreche ich Ihnen, Ihretwegen nichts mehr in eitel Sonnenschein zu verpacken, wenn es nur Regenwolken waren. Einverstanden?"

"Und das soll ich Ihnen glauben?"

Eine Weile musterte er sie, zuerst eindringlich forschend, dann vielsagend lächelnd, ehe er mit einem einzigen Wort die Spannung löste, ein Wort voller Frische, Spontaneität und Aufrichtigkeit, das so ehrlich klang, daß es Daisy nicht im Traum eingefallen wäre, daran oder an demjenigen, der es sagte, zu zweifeln.

"Nein!"

Fortsetzung folgt