KAPITEL 43
Zum erstenmal seit beinahe zehn Monaten saß Jess wieder im Sattel, und er fühlte sich großartig dabei.
Slim hatte ihm zwar prophezeit und es ihm in nicht böse gemeinter Schadenfreude gegönnt – einen derartigen Widerspruch konnte es anscheinend nur innerhalb einer intakten Freundschaft geben –, daß er nach seinem ersten Ritt nach so langer Zeit jeden Knochen einzeln spürte und sich wenigstens zwei Tage lang nicht mehr regen könnte, aber Jess meinte, daß dies bestimmt nicht der Fall wäre, schon allein deshalb, um ihm keinen Gefallen zu tun, indem er ihn recht haben ließ. Außerdem lief sein mehr als ausgeruhtes Pferd willig in sehr weichen Gängen, daß er wie immer, wenn er den dunkelbraunen Wallach mit der weißen Flocke auf der Stirn ritt, das Gefühl hatte, in einem Schaukelstuhl zu sitzen, obwohl der Braune heute erst ein paarmal probierte, seinen eigenen temperamentvollen Willen durchzusetzen. Nach zehn Monaten der Freiheit auf der Weide mußte er sich erst wieder an die Hand seines Reiters gewöhnen, der ihm jedoch mit weichen, aber sehr energischen Hilfen schnell und unmißverständlich zeigte, wer der Herr war. Das Kräftemessen dauerte keine Viertelstunde, da hatte sich das gut ausgebildete Pferd seinem erfahrenen Reiter anvertraut und gehorchte ihm, wie dieser es von ihm gewöhnt war.
Jetzt ritt Jess querfeldein über eine der Weiden der Sherman-Ranch. Der üppige Graswuchs reichte seinem Pferd bis beinahe zu den Flanken, daß die Halme, die in frühsommerlicher Blüte standen, den Wallach am Bauch kitzelten. Die Weide lag zur Zeit brach, um sich von starker Überweidung aus dem Vorjahr zu erholen – eine gute Gelegenheit, den auch hier reparaturbedürftigen Zaun instand zu setzen.
Daisy hatte den Mann gebeten, auf seinem Weg in die Stadt bei Charlie vorbeizureiten, um ihm auszurichten, daß er nicht zu spät zum Abendessen kommen sollte; und Slim hatte ihm gesagt, er fände den Cowboy hier, wo er den Grenzzaun zum Nachbarland ausbessern wollte, damit von dort kein fremdes Vieh einbrach und über das saftige Gras herfiel.
Während Jess in erhöhter Position vom Pferd aus Charlie schon von weitem ausmachen konnte, bemerkte dieser den sich nähernden Reiter erst viel später, als er schon fast heran war, weil ihm erstens das hohe Gras die Sicht versperrte und er zweitens völlig in seine Arbeit vertieft schien. Erst als sein Pferd, das, ein paar Yards von ihm entfernt, sich genüßlich den Bauch an der üppig gedeckten Grastafel vollschlug, neugierig den Kopf hob und den braunen Wallach mit einem inbrünstigen Schnauben begrüßte, richtete er sich von dem Zaunpfosten auf, an dem er gerade ein neues Stück Draht befestigt hatte, und wandte sich erwartungsvoll um. Stirnrunzelnd erwartete er den Reiter, den er zwar nicht kannte, der ihm aber merkwürdigerweise irgendwie vertraut vorkam. Einer der Nachbarn konnte es eigentlich nicht sein, denn dazu ritt er auf der falschen Seite des Zaunes. Und wenn Slim Sherman eine weitere Hilfe eingestellt hätte, hätte er ihm dies gewiß avisiert, obwohl ihm der Rancher keinesfalls Rechenschaft schuldig gewesen wäre; er hätte es aus rein freundschaftlichen Gründen getan, hatte sich in den letzten Monaten ein durchaus familiäres Zugehörigkeitsgefühl zwischen ihm und den übrigen Ranchbewohnern entwickelt.
Jess Harper erwarteten sie erst bis Ende des Monats zurück, so daß sich Charlie beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wer da über eine der fettesten Weiden der Ranch geritten kam und sich so benahm, als wäre er hier zu Hause. Seine Aufmerksamkeit begann sich beinahe zu einem größeren Maß an Unbehagen zu steigern, als er gewahrte, daß der herankommende Reiter bewaffnet war und zielstrebig auf ihn zu hielt. Wie ein Fremder, der sich verirrt hatte, wollte dieser Mann in Charlies Augen überhaupt nicht wirken, zudem die Straße nach Laramie nur ein paar hundert Yards entfernt war und man sie nach Westen – vom Pferd aus auf jeden Fall! – weiter hinten erkennen konnte, wo sie sich zuerst halb den Hügel hinauf wand und dann hinter der Anhöhe in einem Hohlweg verschwand.
Vorsorglich streifte Charlie die groben Arbeitshandschuhe von den Händen, schlug sie mehrmals gegeneinander, als wollte er den Dreck abschütteln; dabei tat er dies mehr aus Verlegenheit, als daß eine Notwendigkeit dafür bestanden hätte, ehe er sie hinter seinen Hosenbund klemmte und ein paarmal zu seinem Pferd hinüber schielte, wo im Sattelschuh die Winchester steckte. Direkt bei sich trug er keine Waffe, die ihm im Ernstfall sowieso mehr geschadet als genützt hätte, da er bloß behelfsmäßig mit so einem Schießeisen umgehen konnte. Bei der Arbeit hätte es ihn darüber hinaus nur gestört.
In den paar Sekunden, die es noch dauerte, bis ihn der Reiter erreichte, fiel ihm plötzlich die Sache mit dem Überfall auf der Ranch ein, die den Miteigentümer beinahe das Leben gekostet hatte und von der er von Slim Sherman informiert worden war. Der Mann auf dem Pferd erweckte zwar nicht unbedingt den Eindruck, als wollte er ihn gleich aus reiner Belustigung über den Haufen schießen, aber hier im Grenzland zu Gesetz und Ordnung und dem, was man im allgemeinen Zivilisation nannte, mußte man mit allem rechnen. Ehe sich Charlie weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, was der Reiter vorhaben könnte, war dieser heran und verhielt sein Pferd fast genau vor seinen Füßen.
"Charlie Grovner?" fragte Jess freundlich, noch ehe er absaß; aber selbst aus seiner erhöhten Position auf dem Pferderücken klang es nicht wie von oben herab, auch nicht wirklich fragend, sondern eher feststellend.
"So ist mein Name", erwiderte Charlie, von der Sonne etwas geblendet, zu ihm hinauf blinzelnd, wobei er einen unauffälligen Schritt zurück machte, weil er nicht genau wußte, ob das vielleicht aus Sicherheitsgründen nicht besser war. "Wer …"
"Habe ich mir gleich gedacht!" ließ Jess ihn erst gar nicht ausreden, glitt geschmeidig wie ein Puma aus dem Sattel und hielt dem verdutzten Charlie die Rechte zum Gruß hin. "Guten Tag, ich bin Jess Harper."
Mit einem entspannten Aufatmen, bei dem sich sein leicht verkniffenes Gesicht aufhellte, ergriff der Cowboy seine Rechte und erwiderte den kräftigen Händedruck.
"Sie sind also Jess Harper!" stellte Charlie, unverkennbar erleichtert, fest. "Freut mich, Sie endlich kennenzulernen."
"Meinerseits."
"Hätte ich mir ja eigentlich denken können. Habe mich schon gewundert, wieso sich da einer auf der falschen Seite vom Zaun herumtreibt. Slim sagte mir, daß Sie bald heimkämen; aber wir haben Sie erst frühestens gegen Ende des Monats erwartet."
"Ja, ich weiß, hat sich zum Glück ein wenig nach vorn verschoben, so daß es für eine richtige Überraschung gereicht hat." Jess, der es nicht für nötig fand, den Mann einer eingehenden Musterung zu unterziehen – daß Slim mit seiner Behauptung, er wäre ein ordentlicher und vor allem auch fleißiger Bursche, recht hatte, hatte er bereits auf den ersten Blick beim Näherkommen erkannt und die wenigen Worte, die er mit ihm gewechselt hatte, reichten ihm, um ihn in die Kategorie der angenehmen Zeitgenossen einzuordnen –, schob den breitkrempigen Stetson in den Nacken und blickte an Charlie vorbei, den Zaun entlang. Dabei rutschte seine üppige Haartolle unter dem Hutrand hervor und fiel ihm in die Stirn, was ihm sofort ein recht unternehmungslustiges Aussehen verlieh, gepaart mit dieser ihm eigenen Art von liebenswerter Spitzbübigkeit und dem kräftigen Hauch von Draufgängertum. "Ist 'ne ganz schöne Arbeit, was?" stellte er mit einer bezeichnenden Handbewegung fest, daß Charlie sogar glaubte, eine Spur von Entschuldigung in seiner Stimme zu hören.
"Kann man wohl sagen." Der Cowboy folgte seinem Blick. "Eigentlich gehört der ganze Zaun hier erneuert."
"Ja, ich weiß, und nicht nur hier." Jess sah ihn grinsend an. "Slim liebt diese Arbeit nicht besonders und überläßt sie großzügigerweise mir. Leider hatte ich in den letzten Monaten keine Gelegenheit … Na ja, ich denke, das wird jetzt wieder anders, zwar nicht sofort, aber doch in absehbarer Zeit. Und wenn dann zwei daran arbeiten, geht das hoffentlich schneller."
Charlie verzog das Gesicht. Seine Enttäuschung konnte er nicht ganz verbergen.
"Es war ja von vornherein so vereinbart, daß ich erst einmal nur so lange bleibe, bis Sie zurück sind. Ich wollte nur die Reparatur an diesem Abschnitt beenden. Dann können Sie mir meinen restlichen Lohn …"
"Moment mal!" fiel Jess ihm ins Wort. "So war das eigentlich nicht gemeint. Sie sollten nämlich einer dieser zwei sein. Oder gefällt es Ihnen hier nicht?"
"Doch, schon, mir gefällt es hier sogar sehr gut. Arbeit und Bezahlung sind in Ordnung und die Verpflegung auch. Die ist sogar ausgezeichnet. Ich dachte nur …" Charlie unterbrach sich. Nicht daß er sich für seine voreiligen Schlüsse schämte. Es war ihm eher peinlich, Jess im ersten Augenblick falsch verstanden zu haben.
"Was?" wollte dieser ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, sondern einer Art nicht ernstzunehmendem Test unterziehen, ob er auch genügend Spaß verstand, um es mit ihm auf Dauer auszuhalten.
"Na ja, ich dachte halt …"
"… daß ich nicht damit einverstanden sein könnte, wenn Sie mir ein bißchen Arbeit streitig machen oder mir vielleicht irgend etwas anderes nicht an Ihnen paßt?"
"Na ja", druckste Charlie herum, "es könnte doch sein, oder?"
"Ich weiß ja nicht, was Slim Fürchterliches über mich erzählt hat, aber egal, was es war – mit mir ist im Grunde ganz gut zurecht zu kommen. Wenn jemand gute Arbeit leistet und ansonsten ein verläßlicher Kerl ist, ist er mir willkommen. Das scheinen Sie doch zu sein. Warum sollte ich Sie also loswerden wollen?"
"Ich meinte halt nur." Verlegen zog Charlie die Schultern hoch, wußte gar nicht so recht, was er überhaupt sagen wollte, geschweige denn, wie er darauf gekommen war, Jess könnte ihn im Gegensatz zu Slim Sherman nicht gebrauchen oder sich gar mit ihm nicht vertragen. "Es hätte doch sein können, daß Sie irgend etwas gegen mich haben."
Jess mußte herzhaft lachen und schüttelte dabei den Kopf.
"Ich glaube, es ist tatsächlich besser, wenn ich nicht weiß, was Slim so alles über mich erzählt hat."
"Er hat von Ihnen immer gesprochen wie von einem Bruder", meinte Charlie, da irgend etwas richtigstellen zu müssen.
"Aber das weiß ich doch. Wenn Sie erst einmal eine Weile länger bei uns sind, werden Sie sehr schnell merken, daß er tatsächlich wie ein Bruder für mich ist."
"Das heißt also, ich kann bleiben." Es war wirklich keine Frage, sondern nur eine zufriedene Feststellung.
"Selbstverständlich, von mir aus so lange, Sie wollen. Wenn Sie mich natürlich unausstehlich finden …"
"Woher denn! Sie sind eigentlich genauso, wie ich Sie mir nach Slims Schilderung vorgestellt habe. Und vor allem Ihr Junge hat Sie ziemlich lebhaft beschrieben."
"Was Mike erzählt, dürfen Sie nicht immer wortwörtlich glauben", schmunzelte Jess. "Nicht daß er lügen würde – das bei Gott nicht! –, aber er übertreibt hin und wieder gern. Na ja, wie Kinder halt so sind."
"Er liebt und verehrt Sie sehr."
"Ich weiß, und ich bin auch sehr stolz auf ihn, nicht deshalb, sondern weil man auf einen Lausebengel wie ihn nur stolz sein kann."
"Er hat …" Charlie schien immer noch etwas befangen, denn er zierte sich regelrecht bei der Wahl seiner Worte. Anscheinend irritierte es ihn, daß dieser Mann genauso war, wie man ihn ihm geschildert und er ihn sich aufgrund dessen vorgestellt hatte. "Er hat sich sehr große Sorgen um Sie gemacht – und nicht nur der Junge, sondern eigentlich alle. Sie müssen sehr krank gewesen sein, nicht wahr?"
"Es hat gereicht", tat Jess dieses Thema sehr oberflächlich ab, offensichtlich nicht die geringste Lust verspürend, weiter darauf einzugehen.
"Na ja, ein bißchen sieht man Ihnen das sogar noch an. Nach dem, was ich so mitgekriegt habe … Ich meine, es blieb ja schließlich nicht aus, daß ich …" Charlie wußte nicht, wie er sich ausdrücken sollte, um nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Um in der Beziehung sicherer zu sein, mußte er diesen Mann erst etwas besser kennen. Schließlich wollte er es sich bei ihm nicht gleich durch unüberlegte Äußerungen verderben, noch ehe ihre Beziehung überhaupt anfangen konnte, eine solche zu werden. "Slim hat mir erzählt, was damals passierte. Über alles Weitere hat er zwar nicht viele Auslegungen gemacht, aber ich habe ihm angemerkt, daß er … Es stand auf Messers Schneide mit Ihnen, nicht wahr?"
"Würde eher sagen, auf der eines Rasiermessers", korrigierte Jess, ohne es dramatisieren zu wollen, daß sich Charlie sogar über die lockere Art wunderte; aber im Moment hatte Jess tatsächlich soviel Abstand dazu gewonnen, daß er beinahe wie ein unbeteiligter Dritter sich darüber unterhalten konnte. Allerdings sollte das nicht heißen, daß ihm bei anderer Gelegenheit die Erinnerung an diese dunkle Zeit nicht doch wieder mehr zu schaffen machte, als ihm lieb war. "Aber zum Glück ist es vorbei, und ich möchte es jetzt nicht unbedingt aufwärmen", entschied er deshalb vorsorglich.
"Sicher", nickte Charlie verständnisvoll. "Ich wollte Ihnen eigentlich auch nur sagen, daß ich mich freue, Sie trotz dieser Sache bei bester Gesundheit kennenzulernen. Das heißt, ich hoffe, daß Sie das sind – gesund."
Jess mußte über Charlies umständliche Art, sich auszudrücken, schmunzeln, obwohl er von seiner ehrlichen Anteilnahme beinahe gerührt war.
"Ich soll mich zwar bei der Arbeit zurückhalten, aber ansonsten bin ich in Ordnung." Lachend schlug er sich mit der flachen Hand in die Magengrube und rieb sich ein paarmal über die Stelle, wo manche Leute ihren Wohlstandsbauch zur Schau stellten, die bei ihm jedoch von seinem Hemd nur sehr lose umflattert wurde. "Ich schätze, Daisy wird bald dafür gesorgt haben, daß man bei mir keine Rippen mehr zählen kann. Vorerst nur das Leichteste an Arbeit und dafür das Beste vom Essen hat mir der Arzt verordnet. Ich glaube, damit läßt es sich ganz angenehm leben, obwohl ich da hin und wieder meine Schwierigkeiten haben werde. Aber Slim hat mir versprochen, was die Arbeit betrifft, auf mich aufzupassen. Nun, und Daisy kümmert sich darum, daß mein Futternapf immer schön voll ist."
Jetzt lachte auch Charlie. Eines stand jedenfalls nach dieser ersten Begegnung für ihn fest: ein Mann von Traurigkeit war dieser Jess Harper bestimmt nicht, genausowenig wie jemand, der erwartete, für seine nur mit Mühe überstandene Krankheit gebührend bedauert zu werden. Statt dessen redete er in ausgelassener Laune mit ihm, als kannten sie sich schon seit langem.
"Dafür wird sie sicherlich sorgen", konnte Charlie dem nur zustimmen. "Sie ist eine ausgezeichnete Köchin."
"Die beste, die ich kenne", bekräftigte Jess mit ausholender Geste. "Das ist übrigens auch der Grund, weshalb ich hier vorbeigekommen bin. Sie hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, pünktlich zum Abendessen zurückzusein. Punkt sieben, hat sie gesagt. Kann bestimmt nichts schaden, schon um halb sieben da zu sein, wenn ich Ihnen so aus Erfahrung den guten Rat geben darf", fügte er grinsend hinzu. "Egal, ob Sie dann mit der Arbeit fertig sind oder nicht."
"Nanu, ist heute irgend etwas Besonderes angesagt?"
"Ach, was! Aber Daisy hat sich in den Kopf gesetzt, zu meiner Begrüßung etwas besonders Feines auf den Tisch zu bringen. Ich finde zwar, daß das nicht nötig ist und alles, was sie auf den Tisch bringt, etwas Feines ist, aber wenn sie unbedingt darauf besteht, werde ich ihr die Freude selbstverständlich lassen. Sie meinte, mir würden wenigstens noch zwanzig Pfund fehlen. Wahrscheinlich hätte sie gern, daß ich mir gleich heute abend mindestens die Hälfte davon anfuttre."
"Ein wenig schwer fallen dürfte Ihnen das schon", grinste Charlie.
"Der Meinung bin ich zwar auch, aber Daisy läßt es sich nicht nehmen, es wenigstens zu versuchen."
"Danke für die Einladung. Ich werde bestimmt pünktlich sein."
"Oh, das war keine Einladung, sondern nur eine Erinnerung, wann es Essen gibt. Sie sind uns nach wie vor im Haus willkommen. Ich möchte nicht, daß sich da durch mich irgend etwas ändert."
"Vielen Dank, Mr. Harper."
"Ehm, Charlie!" Jess legte bedeutungsvoll den Zeigefinger an die Nase. "Ich würde mich zwar freuen, wenn Sie auch weiterhin bei uns blieben, allerdings nur unter einer Bedingung." Er hatte Mühe, angemessen ernst zu klingen, und senkte den vermeintlich finster gewordenen Blick.
Aha, also doch! dachte Charlie, auf der einen Seite hält einem dieser Harper das Zuckerstück hin und auf der anderen droht er derweil mit der Peitsche. Vielleicht wäre es doch das klügste, sich den restlichen Lohn geben zu lassen und auf den Zucker mit dem bitteren Beigeschmack zu verzichten. Schade, bedauerte er bereits im stillen; denn er wäre wirklich gern geblieben.
"Die wäre?" fragte er deshalb vorsichtig, halb erwartungsvoll, aber auch halb enttäuscht, vergeblich darum bestrebt, Jess' Blick einzufangen oder gar seine Absicht mit dieser Einschränkung zu ergründen.
"Na ja", machte Jess gedehnt, hob endlich wieder die Lider und sah den Cowboy unverwandt an. Dabei grinste er übers ganze Gesicht, daß Charlie für einen Moment überhaupt nicht mehr wußte, woran er denn nun eigentlich war. "Wenn Sie tatsächlich hierbleiben wollen, rate ich Ihnen, sich auf dem schnellsten Weg diesen Mr. Harper abzugewöhnen, sonst werden wir irgendwann fürchterlich aneinandergeraten. Falls Sie es vergessen haben sollten – ich heiße Jess. Ganz einfach nur Jess, ja? Nicht Mister oder gar Sir oder so etwas, sondern schlicht und einfach Jess. Meinen Sie, Sie können sich das merken?"
Charlies Gesicht glich einer Prachtstraße in der Dämmerung, wenn nach und nach die Lichter angingen. Daß er sich gerade eben entschließen wollte, sich doch seinen restlichen Lohn geben zu lassen, gehörte einer unsinnigen Laune einer längst vergessenen Vergangenheit an. Statt dessen strahlte er, als hätte er soeben das große Los in einer Lotterie gezogen.
"Schon geschehen, Jess!" bekräftigte er mit einem freudigen Händedruck.
"Na, Gott sei Dank!" atmete Jess absichtlich übertrieben erleichtert auf. "Ich befürchtete schon, Sie müßten das erst eine Weile lang üben. Nun gut, da wir das jetzt geklärt haben, will ich Sie nicht weiter aufhalten. Das ist noch ein ganzes Stück Arbeit, was Sie sich da für heute vorgenommen haben."
"Die mir jetzt um so leichter von der Hand gehen wird."
Jess sagte dazu nichts weiter, angelte nach dem Zügel seines Pferdes, das direkt neben ihm vor sich hin döste und sofort erwartungsvoll den Kopf hob, als seine Hand nach dem Lederriemen griff, und glitt mit der Gewandtheit des routinierten Reiters in den Sattel, daß es selbst einem alterfahrenen Ranchhelfer wie Charlie auffiel.
"Vergessen Sie aber ja nicht, pünktlich zu sein heute abend!" erinnerte er vom Pferd herunter.
"Bestimmt nicht."
"Also … Ich muß jetzt los. Habe noch einiges zu erledigen. Brauchen Sie irgend etwas aus der Stadt?"
"Nein, danke", winkte Charlie ab, beinahe überrascht, daß Jess ihn das fragte, worauf er mit zunehmender Wertschätzung feststellte, daß auch Slim Shermans Partner ihn nicht wie einen wenig zu beachtenden Tagelöhner behandelte, wie er dies in zunehmendem Maße von seinem letzten Arbeitgeber gewöhnt war, eine Entwicklung, die er zu seinem Bedauern auf der Wild Goose Ranch in Montana zu spüren bekommen hatte.
Auf alle Fälle war mit den Leuten von der Sherman-Ranch besser auszukommen. Und jetzt, nachdem auch die Sorge um eines der Familienmitglieder vorüber war, konnte sich Charlie kaum angenehmere Bedingungen vorstellen. Auf Wild Goose hatte sich jedenfalls keiner der Rancherfamilie angeboten, ihm irgendwo irgendeinen Gefallen zu tun.
"Dann bis später", verabschiedete sich Jess, rückte seinen Stetson zurecht, zog sein Pferd herum und ritt zurück zur Straße.
An der Stelle, wo die Straße den Kamm des letzten Hügels vor der weiten Ebene passierte, in der das nicht mehr ganz so bescheidene Häusermeer von Laramie sich gruppierte, wie eine überdimensionale Traube an einem langen Stiel an der Eisenbahnstrecke der Union Pacific hing und sich an der alten Postkutschenstraße Richtung Westen entlangzog, verhielt Jess sein Pferd für einen Augenblick, um seinen Blick in die Runde schweifen zu lassen wie ein Reisender, der die Aussicht bestaunte, die saftigen Weiden, die die frühsommerliche Sonne noch nicht verbrannt hatte, die imposanten Berge im Hintergrund mit ihren dichten Wäldern und den kargen, bizarr geformten Gipfeln, die einen scharfen Kontrast zu dem stahlblauen Himmel boten.
Tief sog er die würzige Luft in die Lungen. Zum erstenmal, seit er hier vor nunmehr fast neun Jahren Fuß gefaßt hatte, wurde ihm die wilde Schönheit dieser Gegend voll bewußt. Es war ihm, als hätte er sie all die Jahre nie richtig beachtet. Wahrscheinlich war es ihm nur deshalb nie aufgefallen, weil es für ihn zum alltäglichen Anblick geworden war. Daß dieses an sich für ihn so vertraute Bild ausgerechnet heute seine Aufmerksamkeit erregte und sogar in eine beglückende Zufriedenheit zu versetzen schien, konnte nur einen Grund haben: seine Freude darüber, endlich zurückgekehrt zu sein und all den Menschen wiederzubegegnen, von denen er sich vor Monaten verabschieden mußte, mit einer sich quälend aufdrängenden Gewißheit, sie sehr wahrscheinlich nie wiederzusehen.
Diesen Augenblick mußte er einfach genießen! Da spielte es keine Rolle, daß er so gut wie jeden Grashalm dieser Gegend und jede knarrende Bohle der Brettergehsteige in der Stadt kannte. Wie zum Gruß richtete er sich in den Steigbügeln auf, um sich nach einem weiteren Rundblick mit einem zufriedenen Aufatmen in den Sattel fallen zu lassen. Dann trieb er seinen Braunen zu einem munteren Kanter an und folgte weiter der Straße, die ihn auf direktem Weg nach Laramie führte.
Gut zehn Minuten später erreichte er die ersten Häuser der Stadt, in der der übliche Vormittagsverkehr herrschte. Am liebsten wäre er bis zum Stadtbrunnen geritten, um sich dort auf die Balustrade zu stellen und wie ein Marktplatzschreier lauthals zu verkünden: "Leute, ich bin wieder da!" Nicht, um sich unter allen Umständen zu zeigen oder gar vor Wichtigkeit zu produzieren, sondern einfach nur aus lauter Lebensfreude, an der er alle Menschen in der Stadt gleichzeitig teilhaben lassen wollte. Heute kam er sich tatsächlich vor wie damals nach seinem ersten Viehtrieb, den er als junger, hinter den Ohren noch nicht trockener Bursche mitgemacht und an dessen Ende nach Monaten knochenharter Arbeit er zusammen mit seinen Kameraden eine Rinderstadt sehr zum Leidwesen deren Bewohner auf den Kopf gestellt hatte. Genauso ausgelassen fühlte er sich heute, war das Inferno, durch das er inzwischen gehen mußte, doch ungleich höllischer als alles, was er bisher kannte.
Der erste, den er mit seiner unerwarteten, weil frühzeitigen Rückkehr überraschte, war Dan Higgins, dem er als seinem Arzt, Freund und vor allem auch ursprünglichen Lebensretter dieses Vorrecht unter seinen engeren Bekannten zusprach.
Nach dem Besuch bei Doc Higgins brachte Jess zunächst sein Pferd zum Hufschmied. Die Werkstatt von Emerson Pierce lag auf dem Weg zur Bank. Dem über sechseinhalb Fuß großen Mann, in dessen riesiger Faust der Schmiedehammer wie ein Spielzeug wirkte, fiel beinahe die Greifzange aus der Hand, mit der er gerade ein unförmiges Stück Eisen in die Glut des Schmiedefeuers schieben wollte. Er machte keinen Hehl daraus, daß er sich maßlos freute, den Mann von der Sherman-Ranch nach einer wahren Ewigkeit endlich wiederzusehen.
Für den kurzen Weg bis zur Bank benötigte Jess dann doch mehr Zeit, als erwartet, denn natürlich erkannten ihn die Leute, denen er unterwegs begegnete, und einige von ihnen konnten nicht umhin, ihn gebührend mit Handschlag und wenigstens ein paar freundlichen Worten zu begrüßen, zu fragen, wie es ginge, sich einfach zu freuen, ihn nach so langer Zeit offensichtlich bei bester Gesundheit wiederzusehen.
Eine nahezu überschwengliche Begrüßungszeremonie mußte er erwartungsgemäß von Lincoln Majors über sich ergehen lassen, die er jedoch angesichts soviel herzlicher Anteilnahme und ehrlicher Freude mit Geduld und gegenseitigem Respekt in Kauf nahm. Obwohl es sonst nicht zu seinen Gepflogenheiten gehörte, Süßholz zu raspeln und große Sprüche zu machen, war es ihm ein echtes Bedürfnis, dem – was sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Einfluß betraf – wichtigsten Mann in der Stadt nochmals seinen Dank für die großzügige finanzielle Unterstützung auszusprechen, worauf Majors nur erwidern konnte, daß ihm ein angelegtes Kapital noch nie so wertvolle Zinsen gebracht hätte und er sich im Namen des Stadtrates und damit stellvertretend für die Gemeinde freute, ihn nach so langer, schwerer Zeit endlich zu Hause begrüßen zu können, anscheinend in glänzender Verfassung, wie er ihn von früher her in Erinnerung hatte. Er persönlich freute sich natürlich besonders, den in seinen Augen – neben Sheriff Cory und auch Slim Sherman – zuverlässigsten Mann weit und breit wohlbehalten willkommen zu heißen, hatte er doch das Gefühl, unendlich tief in seiner Schuld zu stehen, die er mit der Finanzierung seines Aufenthaltes in Colorado Springs nur zu einem Bruchteil begleichen konnte. Daß Majors ihm und seinem Partner bei der Inanspruchnahme ihres Optionsrechts auf das Land der ehemaligen Minarrow-Ranch behilflich sein und ihnen entgegenkommen wollte, soweit es im Rahmen seiner zulässigen Möglichkeiten stand, betrachtete er als selbstverständliches Geschäftsgebaren und nicht als großzügige Gefälligkeit, wie Jess es ausdrückte. Lincoln Majors war gern bereit, alles Weitere an geschäftlichen Details zum ausgemachten Termin mit den zwei Männern der Sherman-Ranch zu besprechen.
Im Postbüro, wo Jess nur ein paar Frachttalons abgeben wollte, die ihm Slim zusammen mit den Quittungen für den letzten Abrechnungszeitraum mitgegeben und gebeten hatte, bei Arthur Kellington abzuliefern, dem er gewiß guten Tag sagen wollte – Slims Stimme hatte dabei auffallend ironisch geklungen, wußte er doch, wie sehr Jess es liebte, den Poststellenleiter in seinem "Panoptikum" aufzusuchen –, traf er allerdings nur den Kontoristen, der in die Buchhaltung vertieft war. Arthur Kellington befand sich für mehrere Tage auf Geschäftsreise und würde nicht vor Ende der Woche zurück sein. Gegenüber dem Angestellten bedauerte er es zutiefst, Arthur Kellington nicht persönlich angetroffen zu haben, um ihn entsprechend zu begrüßen und ihm zu danken. In Wirklichkeit jedoch war er froh um diese Galgenfrist. Zwar brachte er unangenehme Dinge am liebsten sofort hinter sich, aber er mußte heute schon soviel von diesem Gesäusel über sich ergehen lassen, daß es erst einmal für eine Weile reichte, zudem er fand, daß eine Silbe von Arthur Kellington schwerer zu ertragen war wie zum Beispiel ein ganzer Satz von Lincoln Majors. Der Höflichkeit wegen bat Jess den Mann im Büro, dem Poststellenleiter Grüße von ihm zu bestellen, falls er ihm nicht schon vorher auf seiner Rückreise, wenn er auf der Sherman-Ranch Station machte, begegnen sollte.
Ein Blick auf die Uhr beim Verlassen des Postbüros erlaubte ihm noch einen kurzen Besuch bei Sheriff Cory, ehe er zusehen mußte, zum Schulgebäude zu kommen, um Mike nicht zu verpassen. Die Zeit reichte zwar gerade für ein flüchtiges "Hallo, hier bin ich wieder!", aber vielleicht – eigentlich war er sich ziemlich sicher – konnte er Mort Cory zu einem gemeinsamen Mittagessen überreden, bei dem sie dann ausgiebig Gelegenheit hätten, zu plaudern und sich über ihr Wiedersehen zu freuen.
Ein wenig enttäuscht mußte Jess dann feststellen, daß die Tür des Sheriffbüros verschlossen war. Offensichtlich machte Mort Cory gerade seinen Rundgang durch die Stadt oder saß bereits beim Mittagessen im Restaurant des Hotels. Daß das Büro aus einem anderen Grund längere Zeit unbesetzt sein könnte, wollte er nicht annehmen, denn sonst hätte der Sheriff eine Notiz an der Tür angebracht. Von seinen zwei Deputies war er es nicht anders gewöhnt, sie so gut wie nie im Büro anzutreffen. Jess nahm nicht an, daß sich in der Zwischenzeit daran etwas geändert hatte.
Mit beiden Händen, die er als Blendschutz flach an die Schläfen legte, beschattete er seine Augen, um durch die spiegelnde Scheibe ins Innere des Büros sehen zu können. Vielleicht hatte sich Mort nach einer turbulenten Nacht eingesperrt, um in Ruhe etwas Schlaf nachzuholen; aber er konnte drinnen niemanden entdecken. Wenn sein alter Freund hinten im Gefängnis auf der Pritsche in einer Zelle döste, hätte er nicht einmal gehört, wenn er an die Tür klopfte.
Jess überlegte, ob es den Aufwand lohnte zu versuchen, in eines der hoch an der Seitenwand gelegenen vergitterten Zellenfenster zu spähen, um den Gesetzeshüter am hellichten Tag schnarchend in seinem Gefängnis zu entdecken, als sich jedoch ein ihm sehr verdächtiger Gegenstand unsanft in seine Seite bohrte, daß er zuerst erschreckt zusammenzuckte und dann regelrecht erstarrte.
Der Druck des vermeintlichen Revolverlaufs war so nachhaltig auf seine rechte Niere, daß er sich nicht zu bewegen wagte. In der spiegelnden Fensterscheibe versuchte er denjenigen zu erkennen, der da hinter ihm stand und ihn überrumpelt hatte, weil er vorm Büro des Sheriffs mit einem solchen Überfall nicht rechnete. Er sah nur die Umrisse eines Mannes und einen Blechstern in der Sonne aufblitzen.
Vielleicht hatte Mort Cory einen neuen Hilfssheriff, der ihn mit dem Bild auf einem Steckbrief verwechselte. Es hätte ihn nicht gewundert. Anscheinend übte er auf Deputies einen wahren Reiz aus, sich in irgendeiner Weise profilieren zu müssen. Diese Erfahrung hatte er bereits zweimal in Cheyenne gemacht; jetzt war er offensichtlich dabei, sie auch in Laramie zu machen.
"Nicht schon wieder!" atmete er deshalb ein wenig gelangweilt auf, ließ aber unaufgefordert die Hände, mit denen er gerade noch seine Augen beschattet hatte, erhoben.
Er sah keine Veranlassung, ein unnötiges Risiko einzugehen. Spätestens, wenn Mort Cory zurück war, würde sich dieses Mißverständnis aufklären.
Fortsetzung folgt
