KAPITEL 44
Auf seinem routinemäßigen Rundgang durch die Stadt kam Sheriff Cory an der Werkstatt von Emerson Pierce vorbei. Normalerweise kümmerte er sich nicht um die Geschäfte des Schmieds, streckte höchstens den Kopf herein, um guten Tag zu sagen oder sonst ein paar freundliche Worte mit dem Mann zu wechseln, aber ansonsten sah er keine Veranlassung, sich länger bei ihm aufzuhalten.
Auch heute hatte er nicht mehr vor, zudem es sogar danach aussah, als ob Pierce schon nach Hause zum Mittagessen war, denn er konnte im Halbdunkel der Werkstatt niemanden entdecken. Mort wollte deshalb wortlos vorbeigehen, als sein Blick mehr zufällig als beabsichtigt auf das Pferd fiel, das, gesattelt und aufgezäumt, am Gatter des Korrals, der sich direkt an die Schmiede anschloß, stand und blinzelnd vor sich hin döste, das Gewicht auf drei Beine verteilt, den Kopf über der obersten Latte des Zaunes hängend, als wäre er ihm zu schwer.
An dem Pferd war an sich nichts besonderes festzustellen, zudem es öfter vorkam, daß welche dort angebunden waren, die Pierce als nächstes abfertigen wollte. Aber das Tier kam Mort irgendwie vertraut vor. Von der Straße aus konnte er das Brandzeichen auf dem dunkelbraunen Fell an seiner Hinterhand nicht erkennen. Beim Näherkommen hatte er mit einem Mal das Gefühl, sogar den Sattel zu kennen. Das Pferd hob erwartungsvoll den Kopf, belastete das zweite Hinterbein und begann auf seiner Gebißstange zu kauen, als Mort ihm mit der Hand über die Kruppe fuhr und das Brandzeichen aus der Nähe begutachtete.
"Da soll mich doch …", entfuhr es ihm beim Anblick des sauberen, jedoch schon Jahre alten Brandes. Es war ein ineinander verschlungenes "S-R", das Zeichen der Sherman-Ranch.
Jetzt wurde Mort erst recht stutzig und wollte sich auch den Sattel genauer ansehen. Neben dem Horn entdeckte er die eingeprägten Initialen des Besitzers, schlicht und unauffällig, das Monogramm Jess Harpers. Jedenfalls war sich der Sheriff absolut sicher, daß "JH" nichts anderes auf einem Sattel bedeuten konnte, der ihm nicht nur so bekannt vorkam, sondern obendrein auf einem Pferd lag, das ihm ebenfalls bekannt schien und das zu allem Überfluß auch noch das Brandzeichen der Sherman-Ranch trug. Nebenbei bemerkte er, daß die Flanken des Tieres leicht feucht waren. Anscheinend war es vor kurzem erst geritten worden.
"Pierce?" rief er in die Werkstatt, weil er hoffte, der Schmied wäre doch noch nicht zum Essen und könnte ihm näheres sagen. "Emerson, sind Sie da?"
Er betrat das Halbdunkel der Werkstatt und blickte sich suchend um, aber der Schmied war anscheinend schon nach Hause zum Mittagessen gegangen. Da sich Mort jedoch auch ohne Bestätigung ziemlich sicher war, wem der braune Wallach gehörte und wer ihn geritten hatte, wollte er zusehen, zurück zu seinem Büro zu kommen, um dort auf den Freund zu warten. Denn daß er bei ihm auf jeden Fall vorbeischaute, wenn er in der Stadt war, bezweifelte er nicht für eine Sekunde.
Je weiter Mort in die Nähe seines Büros kam, desto schneller wurde sein Schritt. Fast schien es, als könnte er es nicht mehr erwarten, den alten Bekannten und treuen Gefährten auf so manchem Ritt nach so langer Zeit endlich wiederzusehen. Gerade wollte er den Brettergehsteig vor seinem Büro betreten, als er Jess aus der Poststation kommen sah. Da dieser die Straße überqueren mußte und zuerst noch ein Fuhrwerk vorbeiließ, bemerkte er nicht, wie der Sheriff rasch in den Seitenweg huschte, der neben dem Gefängnis vorbeiführte. Hier versteckte sich der Gesetzeshüter, damit er ihn nicht vorzeitig entdeckte, während Mort ihn mit kameradschaftlicher Hinterlist beobachtete, um ihn im geeigneten Augenblick nach allen Regeln der Kunst zu erschrecken, nahm er doch an, daß genau dies sein junger Freund mit ihm vorhatte.
Dabei stellte er mit wohlwollender Genugtuung fest, daß sich Jess offensichtlich in bester körperlicher Verfassung befand. Von seiner schweren Krankheit war ihm jedenfalls auf Anhieb nichts mehr anzumerken, höchstens daß ihm ein paar Pfunde an Körpergewicht zu fehlen schienen. Aber das fiel allenfalls jemandem auf, der ihn sehr gut kannte. Ansonsten war sein Schritt sehr fest, ja, forsch, sein Gang aufrecht, und er hatte eine überaus gesunde Gesichtsfarbe. In seinen Bewegungen lag jene energische Geschmeidigkeit, die auch einen Mort Cory an ihm faszinierte und in dieser Vollendung so lange vermissen ließ. Er schien tatsächlich wieder ganz der alte zu sein, genauso wie ihn der Sheriff in Erinnerung hatte und nicht, wie er sich von ihm an jenem grauen Novembertag verabschiedet hatte. Sein Anblick heute bereitete ihm eine wahre Freude, die sich beinahe in Euphorie steigerte, wenn er an die nächsten Augenblicke dachte.
Mort ließ den Nichtsahnenden vorbei und schmunzelte ihm hinterher, wie er zu seiner Bürotür marschierte, wo er feststellen mußte, daß diese verschlossen war. Der Sheriff hätte geschworen, daß er deshalb richtiggehend enttäuscht schien. Diese verschlossene Tür machte ihm anscheinend einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Mort fand es nahezu köstlich, daß er es diesmal war, der ihm einen Streich spielen konnte anstatt wie üblich umgekehrt, wenn Jess ihn in seinem Büro überfiel und dabei jedesmal so erschreckte, daß jemand mit einem schwächeren Herzen längst einen Infarkt bekommen hätte.
Da er wußte, daß er bei ihm äußerst vorsichtig sein mußte, weil Jess ein sehr aufmerksamer, wachsamer Mensch war, den im Moment zwar die verschlossene Bürotür und die daraus resultierende Tatsache, den Gesetzeshüter nicht nach seinen Regeln erschrecken zu können, von seiner Umgebung ablenkte, huschte Mort auf Zehenspitzen in einem großzügig bemessenen Abstand um ihn herum und schlich sich von hinten an ihn heran. Es war ihm egal, ob ein paar Leute, die sein absonderliches Gebaren beobachteten, das für merkwürdig, wenn nicht sogar verdächtig hielten. Schließlich hatte er niemandem Rechenschaft darüber abzulegen, wie er seinen Freund begrüßen mußte.
Gerade war Jess so intensiv damit beschäftigt, die blendende Scheibe auszutricksen, als Mort diesen Augenblick für den geeignetsten hielt, ihm seinen ausgestreckten Zeigefinger ziemlich energisch in die Seite zu stoßen, daß ihn auch ein Jess Harper für den Lauf einer Waffe halten mußte. Der Sheriff ergötzte sich regelrecht daran, wie der Freund zusammenzuckte und mitten in der Bewegung erstarrte, daß er sogar freiwillig die Hände erhoben ließ, mit denen er eben noch seine Augen beschattet hatte. Irgend etwas hörte er ihn vor sich hin murren. Wahrscheinlich einen wilden Fluch, daß er sich hatte überrumpeln lassen, bloß weil ihn die verschlossene Bürotür irritiert hatte, paßte sie ihm doch so ganz und gar nicht in den Kram.
"Hab' ich dich erwischt, du Strolch!" versuchte Mort so ernst wie möglich zu klingen, obwohl ihm das Lachen bereits im Halse steckte und sich kaum noch unterdrücken ließ.
Das erste Wort war noch nicht ganz über seine Lippen, da gewahrte Mort schon, wie Jess erleichtert aufatmete, weil er die Stimme des Sheriffs bereits beim ersten Ton erkannte, obwohl dieser sich die größte Mühe gab, sie zu verstellen.
"Mort!" Es hörte sich beinahe an wie ein Aufseufzen, mit dem er die Arme sinken ließ und sich umdrehte. "Das hätte ich mir ja denken können!"
"Du dir?" vergewisserte sich Mort, während sie sich mit einem ausgiebigen, kräftigen Händedruck begrüßten. "Ich würde eher sagen, ich mir!" Zum Nachdruck packte er ihn am Oberarm. "Schön, dich wiederzusehen, Jess!" tönte er, freudig bewegt, ungeachtet der Passanten, die im Vorbeigehen diese Szene mit zustimmendem Nicken oder amüsiertem Kopfschütteln honorierten und damit als etwas äußerst Positives kennzeichneten. Er versetzte ihm einen gewaltigen Schlag an die Schulter, wie um die abschließende Feststellung abzugeben, seinen jungen Freund tatsächlich in allerbester Verfassung vorgefunden zu haben. "Wieso bist du überhaupt schon da? Slim sagte doch, daß … Sag mal, bist du etwa vorzeitig abgehauen?"
Jess lachte lauthals, was Mort hinunterlief wie warmes Öl. Diese Ausgelassenheit war der beste Beweis, daß Jess nicht nur gesund aussah, sondern es offensichtlich auch war. Mort konnte keinem sagen, wie sehr er sich darüber freute und, vor allem, wie er dieses Lachen vermißt hatte, mußte er ihn doch vor seiner Abreise viel zu oft in nahezu depressiver Verstimmung antreffen, etwas, das ihn mindestens ebenso erschreckt hatte wie sein unaufhörlicher körperlicher Verfall. Von beidem war heute Gott sei Dank keine Spur mehr zu entdecken.
"Unsinn! Du wirst es nicht glauben, aber ich habe sogar so etwas wie richtige Entlassungspapiere." Jess haute ihm nun seinerseits übermütig die Linke auf die Schulter, daß der Sheriff insgeheim feststellen konnte, welche verhaltene Kraft hinter diesem Schlag steckte. "Im Ernst, sag' ich dir! Sind bei Dan."
"Demnach … das heißt, du bist … ich meine, du bist tatsächlich in Ordnung? So gesund, wie du aussiehst?" vergewisserte sich Mort, als könnte er es nicht glauben.
"Aber ja doch!" versicherte ihm der Freund. "Ganz bestimmt, sonst wäre ich noch nicht hier. Oder denkst du, dieser mehr als gründliche Professor Tyler hätte mich sonst gehen lassen? Ich glaube, in der Beziehung war mit ihm nicht zu handeln. Hab' es deshalb gar nicht erst probiert. War schließlich auch nicht nötig."
"Das bedeutet, kein Husten, keine Beschwerden, keine Schmerzen mehr?"
"Nein, kein gar nichts mehr!" Jess unterstrich seine Worte mit einem belustigten Lachen. "Das hört sich ja fast so an, als ob du das an mir vermißt."
"Vermissen?" wiederholte Mort, als hätte er sich verhört. "Ich hoffe, das nie wieder bei dir feststellen zu müssen. Ach!" rief er dann und mußte ihn noch einmal mit beiden Händen bei den Schultern packen, um sicher zu sein, daß er nicht träumte. "Verdammt, Jess, es ist schön, dich wohlbehalten vor mir zu sehen! Junge, wie hast du das bloß geschafft?"
"Ich weiß es nicht, Mort, ich weiß es wirklich nicht. Ohne Slim und Tylers guter Pflege sicherlich nicht."
"Du mußt zu Beginn des Jahres fürchterlich drin gehangen haben, nicht wahr?"
"Es hätte um ein Haar gereicht."
"Slim hat so etwas angedeutet." Mort war etwas ernster geworden. "Viel hat er dazu ja nicht gesagt, aber ich habe es ihm angemerkt. Ich möchte nicht wissen, was ihr zwei in Colorado Springs erlebt habt. Ich glaube, es würde mir heute noch eine Gänsehaut davon über den Rücken laufen. Da muß man ja doppelt und dreifach froh sein, daß du … Jess, ich freue mich wahnsinnig, daß das damals kein Abschied für immer war, und noch mehr über deine Genesung. Ich glaube, ich habe mir noch nie etwas so sehr gewünscht, als dich so wiederzusehen, wie du da vor mir stehst. Man merkt dir wirklich so gut wie nichts mehr von deiner schweren Krankheit an, außer daß du noch ein bißchen sehr knochig zu sein scheinst."
"Du merkst aber auch alles!" grinste Jess. "Dabei versuche ich alles, das gut zu kaschieren."
"Na ja, so auffällig ist es nicht gerade, aber ich hätte mir vorhin beinahe den Zeigefinger an deinen spitzen Knochen gebrochen."
"Geschieht dir recht! Was mußt du mich so erschrecken?"
"Das war ein Mordsspaß! Ich habe richtig gemerkt, wie du zusammengezuckt bist."
"Ist auch kein Wunder, wenn du mir beinahe die Niere aufspießt. Ich weiß nicht, ob Dan einen Studienfreund hat, der sich auf Eingeweide spezialisiert hat."
"Du bist vorsichtig geworden, was?"
"Das war ich doch schon immer. Aber nachdem ich in Cheyenne zweimal einen entsprechenden Beinahezusammenstoß mit Frank Peters' neuem Deputy hatte, fange ich allmählich an anzunehmen, daß ich seit neuestem eine besondere Wirkung", Jess verzog verschmitzt den Mund und schürzte die Lippen, während er über einen treffenden Ausdruck nachsann, "sagen wir, einen besonderen Reiz auf gewisse Sternträger ausübe. Ich dachte schon, du hättest einen neuen Hilfssheriff, der mich zur Abwechslung für einen Hühnerdieb hält."
"Linc hat mir von dem Zusammenstoß damals berichtet. Das muß ja ein Schauspiel gewesen sein! Linc hat es übrigens sehr bedauert, es nicht selbst erlebt zu haben, weil er dem Burschen zu gerne die Meinung gesagt hätte."
"Schätze, das hat Peters später selber besorgt."
"Du sagtest zweimal?" fiel Mort auf einmal ein.
"Ja, gestern wieder. Diesmal hat er mich für einen unerwünschten Kartenhai gehalten, der Molly belästigen wollte."
"Was?" platzte Mort amüsiert heraus. "Sag mal, was stehen wir eigentlich auf der Straße herum?" meinte er plötzlich. "Du kommst doch mit rein? Ich lade dich zu einem meiner scheußlichen Kaffees ein und dabei wirst du mir alles schön der Reihe nach berichten, wie es dir in Colorado Springs ergangen ist, wie die Reise war und vor allem diese Geschichte in Cheyenne und auch die Sache mit Lincs Husarenstück, wie er dir seine Reisetasche sozusagen aufs Auge gedrückt hat und – na ja, was es sonst halt zu erzählen gibt."
Der Sheriff fummelte in seiner Westentasche nach dem Büroschlüssel, aber zu seinem Erstaunen schien Jess überhaupt nicht begeistert zu sein von dieser Idee.
"Gern, Mort, aber mir wäre es lieber, wenn wir diese Märchenstunde auf später vertagen."
"Sag bloß, du hast keine Zeit?" fragte der Gesetzeshüter etwas enttäuscht, denn er hätte jetzt gern noch ein wenig geplaudert, nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten. Seiner Meinung nach gab es jede Menge Neuigkeiten, zwar nicht unbedingt wichtige, aber welche, über die er sich in einem zwanglosen Gespräch unter Freunden mit ihm unterhalten wollte.
"Doch, natürlich! Aber Mikes Unterricht ist um eins zu Ende. Ich will ihn nicht verpassen."
"Ach so! Weiß er denn nicht, daß du da bist?"
"Woher denn! Bin erst heute morgen mit einer dieser Sonderkutschen gekommen, die die Union Pacific wegen des Erdrutsches gechartert hat."
"Habe von der Sache gehört. Na, das gibt dann aber eine Überraschung."
"Und was für eine!" Über Jess' Gesicht legte sich ein warmes Lächeln, als er an seinen Pflegesohn dachte. "Deshalb darf ich ihn nicht verpassen. Aber wir bleiben in der Stadt zum Essen. Wie wäre es, wenn wir uns so gegen halb zwei im Hotel treffen?"
"Sehr gute Idee! Ich kann ja schon vorausgehen und einen Tisch in Beschlag nehmen. Anschließend darf ich dich dann mit meinem Kaffee vergiften!"
"Ich habe mittlerweile soviel Widrigkeiten überstanden, ich werde auch weiterhin deinen Kaffee überleben."
Ein Stück gingen sie gemeinsam die Straße entlang, da beides, Hotel und Schule, in der gleichen Richtung lag.
"Wieso hat dir Mrs. Daisy eigentlich gleich am ersten Tag erlaubt, zum Mittagessen nicht zu Hause zu sein?" verwunderte sich Mort, während sie nebeneinanderher schlenderten.
"Daisy war nur so großzügig, weil ich sie mit meinem plötzlichen Auftauchen so überrascht habe. Habe sie sozusagen völlig aus dem Konzept geworfen", kicherte Jess, als er an die Szene am Morgen in der Küche des Ranchhauses dachte. "Das muß ich dir nachher unbedingt erzählen. Du lachst dich tot dabei, jede Wette! Sie will heute abend etwas besonders Leckeres kochen zur Begrüßung. Wohl auch, damit so schnell wie möglich meine spitzen Knochen verschwinden." Demonstrativ schlug er sich mit der flachen Hand selber in die Magengegend. "He, das ist überhaupt die Idee!" fiel ihm plötzlich etwas seiner Meinung nach Herausragendes ein, während sie die sonnenüberflutete Straße überquerten. "Du kommst heute abend einfach zu uns raus. Du bist herzlich eingeladen. So wie ich Daisy kenne, würde es garantiert auch noch für Clem und Phil reichen. Wo sind die beiden überhaupt? Wieder unterwegs?"
"Erst einmal vielen Dank für die Einladung, die ich wirklich wahnsinnig gern annehmen würde. Hm!" machte Mort genießerisch, schloß für einen Moment die Augen, um sich den mit leckeren Sachen gedeckten Tisch in dem einfachen, aber gemütlichen Ranchhaus besser vorstellen zu können. "Ah, ich darf gar nicht daran denken, was mir da alles entgeht."
"Dann komm doch einfach vorbei."
"Das geht leider nicht, eben wegen meiner beiden Deputies. Die sind nämlich beide nicht da, und deshalb kann ich nicht so lange aus der Stadt, nicht zu meinem Vergnügen. Wenn etwas sein sollte, gäbe das nur unnötig Ärger. Aber ich werde das nachholen, sobald ich kann."
"Du bist immer willkommen, das weißt du. Wo treiben sich denn deine Deputies herum? Du solltest dir vielleicht einen dritten zulegen, als Reserve sozusagen."
"Du wirst es nicht glauben, aber an eine Aushilfe habe ich tatsächlich schon gedacht, obwohl dafür nicht jeder geeignet ist, selbst wenn er nur das Büro während meiner Abwesenheit besetzt halten soll. Aber du stellst dir nicht vor, was in der Zwischenzeit passiert ist."
"Keine Ahnung." Ratlos zog Jess die Schultern hoch und betrat mit ihm den gegenüberliegenden Gehsteig, wo sie im Schatten des Überbaus weitergingen. "Hat Clem vielleicht seiner Freundin den Laufpaß gegeben, daß ihn deshalb so wie Phil die Reitwut gepackt hat?"
"Völlig daneben!" lachte Mort. "Stell dir vor, der Junge ist heute genau vor zehn Tagen in den Hafen der Ehe eingelaufen und hat seine Jennifer geheiratet."
"Was?" rief Jess überrascht. "Da soll mich doch … Jenny? Du meinst, er hat … die beiden haben es tatsächlich fertiggebracht?"
"Ja, da staunst du, was?"
"Nicht schlecht sogar! Das ist wirklich ein Ding! Verdammt, wenn ich mir alles hätte vorstellen können, aber das? Wie hat sie ihn denn bloß herumgekriegt?"
"Ich glaube, die haben sich gegenseitig herumgekriegt, ohne daß ihnen das so richtig auffiel. Tja, und als sie es merkten, hingen beide so fest an der Angel, daß keiner von ihnen den Haken mehr ausspucken konnte und auch nicht wollte. Jetzt sind die zwei auf Hochzeitsreise."
"Das sind ja Nachrichten! Donnerwetter!" Vorm Eingang zum Hotel blieben sie kurz stehen. "Schätze, das wird ein sehr unterhaltsames Mittagessen." Jess schüttelte vergnügt den Kopf. "Hoffentlich reicht da überhaupt der Nachmittag bei dem Gesprächsstoff. Na ja, vor vier komme ich sowieso nicht weg. Habe mein Pferd bei Pierce zum Beschlagen."
"Hab' es gesehen. Deshalb wußte ich doch, daß du in der Stadt bist."
"Ach, darum dieser hinterhältige Überfall vor deinem Büro!" Von der Kirchturmuhr auf dem nahen Stadtplatz war ein unscheinbarer Glockenschlag zu hören, der das heitere Gespräch fürs erste unterbrach und Jess aufhorchen ließ. "Mort, nimm es mir bitte nicht übel, aber es ist Viertel vor eins, und ich muß mich beeilen. Bis gleich!"
"Ach, Jess!" rief er ihm nach, als er sich schon abgewandt hatte und den Bürgersteig weiter entlang eilen wollte.
"Ja?" Jess blieb stehen und drehte sich halb um.
"Am Samstag ist übrigens Tanz im Hotel."
"Und?"
"Na ja, ich dachte, vielleicht interessiert dich das, wenn du jetzt zur Schule gehst, um Mike abzuholen."
"Warum …?" Endlich begann es Jess zu dämmern. "Mort, hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, daß du ein hinterlistiger Kerl bist?"
"Ja-ah!" flötete Mort in schönstem Bariton. "Du – gerade eben!"
"Darüber müssen wir uns nachher eingehender unterhalten!"
"Jess", hielt er ihn abermals vom Weitergehen ab, "sie hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht. Jedesmal, wenn sie mir zufällig begegnete, hat sie mich nach dir gefragt. Sie ist mir nie so oft begegnet wie in den letzten Monaten – rein zufällig natürlich!" betonte er ausdrücklich – zu ausdrücklich. "Sie ist eine sympathische Person mit einem überaus anmutigen Charme. Wer sie einmal kriegt, ist ein wahrer Glückspilz. Ein anständiger Kerl wie du …"
"Mort, verfolgst du damit etwas Bestimmtes?" unterbrach Jess ihn, halb grimmig, halb amüsiert über die scheinheilige Art des Freundes, ihn durch die Blumen mit Miss Finch verkuppeln zu wollen.
"Nein, überhaupt nicht, aber vielleicht ist dir das noch nicht aufgefallen. Manchen Leuten muß man da das eine oder andere Mal auf die Sprünge helfen, so ganz sacht, verstehst du, wie das so meine Art ist. Vielleicht hast du es wirklich noch nicht gemerkt … aber sie mag dich. Und du sie doch auch, oder?"
"Ich glaube, du hast einen Sonnenstich!"
"Sicher, sicher! So etwas Ähnliches hat Clem auch behauptet, als ich ihn vor zwei Monaten fragte, ob er denn noch nicht daran gedacht hätte, seine Jennifer zu heiraten. – Bis nachher!" sagte er mit einem verschmitzten Grinsen und verschwand in der Hotelhalle, ehe der Freund etwas darauf erwidern konnte.
"Dieser hintersinnige Kerl!" entfuhr es Jess beim Weitergehen, mußte dann aber selbst amüsiert den Kopf schütteln über diese Andeutungen des langjährigen Bekannten, die, wollte er ehrlich sein, so weit aus der Luft gegriffen gar nicht waren; denn so ganz gleichgültig war ihm eine Miss Nancy Finch schließlich nicht. Aber daß er … Oder etwa doch?
Die ganze Zeit war er mit zu vielen und zu großen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, Probleme völlig anderer Natur, daß er überhaupt keine Gelegenheit, keinen Nerv für solche angenehmeren Dinge haben konnte.
Mort Cory hatte recht: Miss Finch war eine überaus reizvolle Frau, nicht aufdringlich, eher zurückhaltend anständig, nicht auffallend schön, aber sehr sympathisch in ihrem dezenten Auftreten, eine gebildete junge Frau, selbständig und selbstsicher im Leben stehend – man nannte das seit neuestem emanzipiert –, aber doch anlehnungsbedürftig und schutzsuchend, wie eine edle Katze von feiner Rasse, die genau wußte, was sie wollte.
Jess merkte gar nicht, wie sich sein spitzfindiges Schmunzeln allmählich zu einem warmen Lächeln wandelte, je mehr er sich mit diesem angenehmen Thema in Gedanken beschäftigte.
"Hm", redete er versonnen vor sich hin, "kann sie ja mal fragen wegen Samstag – wenn sich die Gelegenheit …" Sein Aufatmen klang verdächtig nach einem schwelgerischen Seufzen. "Sicher wird es eine geben!"
Keine fünf Minuten später war Jess bei der kleinen Koppel neben dem Schulgebäude, wo die Pferde und Ponys der Kinder sich tummelten und auf ihre kleinen stolzen Besitzer geduldig warteten, war doch das Gras hier so üppig, daß keines der Tiere sich langweilen mußte. Browny weidete gleich neben dem Zaun und ließ sich durch die Ankunft des Mannes nicht weiter stören. Jess kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern war nur an seinem Zaumzeug interessiert, das ordentlich über der obersten Latte des Zaunes hing. Mit ein paar flinken Handgriffen löste er das Gebiß und flocht es in das Kopfgestell, das er während der langen Zeit seiner Rekonvaleszenz als Bewegungsübung aus Roßhaar gearbeitet hatte, nicht nur um seine Fingerfertigkeit zu trainieren, sondern in erster Linie um seinem Pflegesohn eine Freude damit zu machen.
Im Nu hatte er die Kandare befestigt, warf einen letzten prüfenden Blick auf seine überaus gelungene Arbeit und raffte dann das prachtvolle Stück, das sicherlich gut zu Brownys feinem Kopf paßte, zusammen, um es unter seinem Hemd zu verbergen. Dort war im Moment noch soviel Platz, daß er mit Leichtigkeit ein weiteres halbes Dutzend davon hätte verstecken können. Dann wartete er in der Nähe der Tür an dem Platz, von dem er wußte, daß man ihn vom Gebäudeinneren aus nicht sehen konnte und auch nicht, wenn man, so wie es die Kinder nach Unterrichtsende zu tun pflegten, aus der Tür schoß und davon rannte.
Bald darauf läutete die Schulglocke, Miss Finch öffnete die Tür, und ein bunter Haufen hüpfender, schreiender Kinder ergoß sich ins Freie. Keines davon beachtete den Mann an der Ecke, der Mike auf Anhieb nicht in dem quirligen Treiben entdecken konnte. Dafür entdeckte Miss Finch ihn sofort, daß sie ihr freudestrahlendes Gesicht mit beiden Händen bedeckte und die Luft anhielt, um nicht einen lauten Jubelschrei auszustoßen. Wahrscheinlich hätten sich die Kinder über sie lustig gemacht.
Jess nickte ihr freundlich, vielleicht sogar etwas erwartungsvoll zu und gewahrte, wie ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht noch rosiger zu werden schien, weil eine feine Röte über ihren hellen Teint flog.
Miss Finch wartete, bis das vorerst letzte Kind das Gebäude verlassen hatte – wenn Jess nicht alles täuschte, war Mike gar nicht dabei gewesen; beschwören konnte er es nicht, weil ihn die Frau für Augenblicke zu sehr ablenkte –, ehe sie mit leichten Schritten auf ihn zu kam und in angemessenem Abstand, wie es die allgemeine Moralauffassung vorschrieb, vor ihm stehen blieb, obwohl er das Gefühl nicht loswerden konnte, daß sie gerne näher getreten wäre – so wie er auch. Aber auch er wußte, was sich gehörte, riß sich den Hut vom Kopf und ergriff ihre Hand, die sie ihm zum Gruß entgegenstreckte.
"Mr. Harper!" rief sie erfreut. "Das ist aber eine Überraschung!"
"Guten Tag, Miss Finch!" Er hielt ihre Hand länger, als es für eine Begrüßung erforderlich war. Sie schien nichts dagegen zu haben; offensichtlich merkte sie es gar nicht und hielt die seine ebenso. "Sie sehen ja heute ganz bezaubernd aus!" komplimentierte er, nicht nur aus reiner Verlegenheit, sondern als wirklich ernst gemeinte Feststellung.
"Vielen Dank, aber das kommt sicher nur, weil ich mich so freue, Sie wiederzusehen – gesund wiederzusehen. Ich nehme an … das heißt, ich hoffe sehr, daß Sie das sind."
"Das bin ich."
"Gott sei Dank!" Sie drückte nochmals seine Hand, ehe sie sie endlich los ließ. "Sie können sich gar nicht vorstellen, was …" Sie besann sich. Gar zu offenkundig wollte sie ihm nicht zeigen, wie ihr Herz in seiner Nähe zu hüpfen begann. "Sie müssen doch wirklich sehr krank gewesen sein. Mike war lange Zeit sehr um Sie besorgt. Ehrlich gesagt, ein wenig war ich es auch", gab sie mit niedergeschlagenen Lidern zu. Trotzdem oder gerade deshalb konnte sie ihm nicht weismachen, nur ein wenig besorgt gewesen zu sein.
"Danke, aber …" Seine Kehle wurde auf einmal so merkwürdig trocken, daß er sich räuspern mußte. "… aber das wäre gewiß nicht nötig gewesen."
Endlich blickte sie wieder auf, geradewegs in seine aufregend dunklen Augen, die in sanfter Zurückhaltung auf ihr ruhten. Mit einem Mal fand sie, daß sie fürchterlich steif wirken mußte mit ihrem distanzierten Schöngerede. Dabei sollte er doch merken, daß er ihr wirklich nicht gleichgültig war. Oder wußte er das längst? Er war so herrlich unbeholfen, wie er da vor ihr stand, sich an seinem Hut festhaltend, hinter dem er sich am liebsten versteckt hätte, um sicher gehen zu können, ihr auf keinen Fall zu nahe zu treten. Dieser Mann brachte es mit seinem zurückhaltenden Charme tatsächlich fertig, daß sie anfing, Gefallen an ihrem hüpfenden Herzen zu finden.
"Und ich glaube, es war doch nötig!" betonte sie nun unumwunden. "Sie stellen sich jedenfalls nicht vor, wie sehr ich mich freue, Sie wohlbehalten wiederzusehen. Es wäre … ein schreckliches Unglück gewesen, wenn … mein Gott, ich darf gar nicht daran denken!"
"Ich bitte Sie, tun Sie es deshalb auch nicht!" sagte er verhalten, daß seine sonore Stimme eigenartig weich klang; Miss Finch wollte fast behaupten, sie hatte etwas Samtiges an sich.
Für einen Moment sah sie ihn selbstvergessen an, als forschte sie unauffällig in seinem ausdrucksvollen Gesicht mit dieser bemerkenswerten Mischung aus unnachgiebiger Härte und sanftmütiger Warmherzigkeit, das mehr den empfindsamen Menschen als einen hartgesottenen Burschen verriet, nach unscheinbaren Überresten, die seine schwere Verwundung und die daraus entstandene furchtbare Krankheit in – wenn vielleicht nur unscheinbaren – Spuren erkennen ließen. Aber Miss Finch konnte beim besten Willen nichts mehr davon in seinen Zügen entdecken. Selbst in seinen Augen, diesen interessanten Spiegeln seiner offenherzigen Seele, konnte sie keinerlei Anzeichen mehr finden, erinnerte sie sich nur allzu deutlich daran, welche Melancholie sie ausdrückten, als er ihr vor seiner Abreise zum letzten Mal begegnet war. Heute konnte sie davon nichts mehr feststellen.
Plötzlich lächelte sie entschuldigend. Jess konnte nicht eindeutig herausfinden, ob sie dies wegen ihrer letzten Bemerkung oder ihres intensiven Studiums seiner Gesichtszüge tat. Er fand es weder für das eine noch für das andere unangenehm. Aber er wußte, daß er sie für außerordentlich reizend hielt und sie ihm ohne Übertreibung gefährlich werden konnte mit ihrer betont zurückhaltenden Natürlichkeit.
"Sind Sie denn schon lange zurück?" wollte sie schließlich wissen, ehe ihr das eigene Interesse an ihm begann peinlich zu werden.
"Seit heute vormittag."
"Dann weiß Mike ja gar nicht, daß Sie hier sind!"
"Nein, er denkt, daß ich erst …" Er verzog, verschmitzt lachend, den Mund. "… in etwa vierhundertzweiunddreißig Stunden komme."
"Was?" fragte sie, belustigt über diese Aussage und allmählich am Auftauen; ihm ging es, nebenbei bemerkt, genauso.
"Ja, hat er so ausgerechnet aufgrund meines letzten Briefes."
"Kein Wunder, daß er seit der Zeit so aufgedreht ist. Ich habe ihn schon lange nicht mehr so ausgelassen erlebt."
"Wo ist er überhaupt?"
"Sie werden es mir nicht glauben, aber er hat wieder einmal Klassendienst und ist am Aufräumen. Ich werde einmal nachsehen, wo er so lange bleibt."
"Aber lassen Sie sich bitte nichts anmerken."
"Gewiß nicht. Diese Freude möchte ich ihm unter keinen Umständen verderben. Obwohl ich mich gerne noch ein wenig mit Ihnen unterhalten hätte."
Ob das eine Anspielung ist? fragte er sich und entschied kurzerhand, daß dies weibliche Taktik war, mit der sie ihm genau die Möglichkeit bot, die ihm für sein Anliegen recht kam. Woher wußte sie bloß, daß er sie wegen Samstag fragen wollte? Es wollte ihn schon nachdenklich stimmen, daß ihm das eventuell sogar anzusehen gewesen war. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht hoffte sie nur, daß er sie deshalb ansprach. Egal, dachte er, eine günstigere Gelegenheit wird wohl kaum noch kommen.
"Ehm, Miss Finch!" rief er ihr nach, gerade als sie sich abwenden wollte, um nach Mike zu sehen. "Das könnten wir ja vielleicht am Samstag nachholen."
"Am Samstag?" vergewisserte sie sich, wie ein Fisch verliebt mit dem Köder spielend.
"Ja, da ist Tanz im Hotel. Wenn Sie möchten und noch nichts anderes vorhaben, könnten wir zusammen hingehen. Ich würde mich freuen."
Ob er merkt, daß er mindestens schon ein Dutzend Mal seinen Hut gedreht hat? amüsierte sie sich über seine Verlegenheit, nicht bösartig, sondern geradezu hingerissen von seiner Unbeholfenheit, wenn es sich um gewisse Dinge handelte.
"Ich mich auch – sehr sogar!" hörte sie sich sagen, obwohl sie sich daran erinnerte, wie man ihr als oberste Benimmregel eingeschärft hatte, der Einladung eines Mannes nie sofort beizustimmen. Sie entschuldigte ihre bereitwillige Entscheidung einfach damit, daß er schließlich kein Fremder für sie war und sie nicht das erste Mal miteinander ausgingen. Außerdem fand sie, daß er Gentleman genug war, in ihrer freudigen Zustimmung nichts Anrüchiges zu erkennen, war er ihr doch nie zu nahe getreten, jedenfalls nie näher, als sie oder der Anstand es zuließ.
"Dann werde ich Sie abholen." Nicht ein einziges Mal wandte er den Blick von ihrem entzückenden Gesicht mit den wunderschönen Augen und der niedlichen Stupsnase. "Gegen sieben – ist Ihnen das recht?"
"Gegen sieben – ich erwarte Sie."
"Dann bis Samstag, sollten wir uns vorher nicht mehr sehen."
"Bis Samstag", wiederholte sie seine Worte, reichte ihm zum Abschied die Hand und eilte zurück ins Schulgebäude, um zu sehen, wo Mike blieb, und auch, weil es ihr draußen plötzlich zu heiß wurde, woran jedoch nicht das herrliche Frühsommerwetter schuld war.
Für Sekunden stand Jess unbeweglich da, wie verzaubert von ihrer schlichten und auffallend zierlichen Erscheinung. Sie hinterließ einen wunderbaren Duft von unaufdringlicher Frische. Er mochte es, wenn eine Frau nach Seife roch und nicht nach schweren Parfums. Sie verbreitete damit das Gefühl von Sauberkeit, von Reinheit, nach der sich ein Mann sehnte, der sich so wie er sein Brot mit schweißtreibender körperlicher Arbeit verdiente, den ganzen Tag umgeben von allem möglichen Dreck und nicht gerade wohlriechenden Rindern und Pferden.
"Bis Samstag!" murmelte er verträumt hinter ihr her.
Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er, sich krampfhaft an seinem Hut festklammernd, hinter ihr her starrte wie ein Sechzehnjähriger, der sich unsterblich in seine Lehrerin verknallt hatte. Da dachte er an Molly, in deren Nähe es ihm ähnlich ging, wenn diese auch eher so etwas wie eine Schwester für ihn war, eine sehr gute Freundin, aber mehr auch nicht. Bei Miss Finch mußte das etwas anderes sein. Diese Frau hatte seinen Herzschlag außerordentlich beschleunigt. Gedankenverloren rieb er sich über die Brust. Die Frequenz mußte über hundert Schläge in der Minute sein. Das war ihm während ihrer Anwesenheit gar nicht aufgefallen. Eine Frau, für die er nur geschwisterliche Gefühle empfand, hätte dies gewiß nicht fertiggebracht. Obwohl er weder Gehrock noch Weste trug, sondern nur ein einfaches dünnes Baumwollhemd mit offenem Kragen, fand er, daß die Luft heute in Laramie wesentlich schwüler war als am Vorabend in Cheyenne.
Mit einem wohligen Kribbeln hinter seiner Gürtelschnalle atmete er tief auf und stülpte seinen Stetson auf den Kopf, rückte ihn besonders akkurat zurecht und drückte ihn fest, damit der Wirbelsturm um ihn herum ihn nicht wegfegen konnte. Seiner vielsagenden Geste nach zu urteilen, mußte es wirklich sehr stürmisch sein an diesem ruhigen Frühsommertag …
Mikes Stimme, die aus der offenstehenden Tür des Schulgebäudes drang, riß Jess augenblicklich aus seinen süßen Tagträumen, erinnerte ihn daran, daß es außer Miss Finch für ihn wichtigere Menschen auf dieser Welt gab. Einer davon war zweifellos sein Pflegesohn, der jeden Moment aus dem Schulhaus rennen mußte. Anscheinend war er nur noch dabei, sich von seiner Lehrerin in allerbester Kinderlaune zu verabschieden, ehe er wie eine Kanonenkugel aus der Tür schoß, um zu seinem Browny zu laufen.
Jess bekam dies nicht mehr mit, denn er eilte um das flache Gebäude herum, an der Hinterfront entlang, daß ihn der Junge nicht bemerkte. Drüben von der anderen Ecke aus beobachtete er ihn bald darauf beinahe schadenfroh, wie er feststellte, daß sein Zaumzeug nicht mehr vollständig war. Dabei hatte er wirklich alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, als Mike ziemlich verdattert das Lederzeug hochhielt und anscheinend nicht recht fassen konnte, daß die Gebißstange fehlte.
"Unverschämtheit!" hörte er ihn schimpfen. "Na, warte, wenn ich den erwische! Der kann sein blaues Wunder erleben!" Mit den Riemen schlug er nach seinem Pony, das sich davon jedoch nicht beeindruckt zeigte, den Kopf schüttelte und die Nase gleich wieder in das üppige Gras steckte. "Und du läßt dir das einfach gefallen! Würde mich gar nicht wundern, wenn die Kandare irgend jemand zu Boden geworfen hätte und du sie mitgefressen hast. Hoffentlich hast du dir dabei die Zähne ausgebissen, du dummes Pferd!"
Fluchend suchte er im Gras nach der Gebißstange, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Schließlich hielt er erneut das Zaumzeug hoch, angestrengt überlegend, was er als provisorischen Ersatz benutzen könnte. Auf Anhieb fiel ihm nichts Brauchbares ein. Ehe er Browny ohne Zügel nach Hause ritt, wollte er erst noch einmal alles absuchen. Nicht daß er sein Pferd nicht auch ohne diese Hilfe nach Hause gebracht hätte, aber er hing doch sehr an seinem Eigentum und wollte es nicht so ohne weiteres aufgeben.
"Gemeinheit ist das!" meckerte er mißmutig und kickte nach den Grasbüscheln, in der Hoffnung, die Kandare käme doch noch zum Vorschein; aber sie blieb verschollen.
Als er so intensiv den Boden nach dem Gebiß absuchte, die Mittagssonne sehr warm auf seinen Rücken zu scheinen begann, entdeckte er im Gras neben seinem eigenen Schatten plötzlich einen zweiten, der größer war als seiner und auch nicht der von Miss Finch sein konnte, weil die nämlich keinen breitkrempigen Hut trug und schon gar keine Hosen wie ein Mann. Noch ehe Mike sich aufrichten und neugierig umdrehen konnte, um zu sehen, wer ihm da vielleicht beim Suchen helfen wollte, fragte eine ihm nur allzu vertraute Stimme:
"Suchst du etwas Bestimmtes, Cowboy?"
Mike erschrak dermaßen, daß ihm das Zaumzeug aus der Hand fiel und er sich nicht getraute umzusehen, weil er befürchtete, hinter ihm stünde ein Geist.
"Ich …" Er schluckte geräuschvoll. Da fiel ihm ein, daß Geister keine Schatten werfen konnten. Das wußte er noch aus Sir Christophers Gespenstergeschichte, die ihm in sehr guter Erinnerung war. "Je… Jess?" würgte er voller Zweifel hervor, wandte sich mit einem Ruck um, damit diese wunderbare Erscheinung, was oder wer immer es auch war, sich nicht plötzlich in Nichts auflöste, noch ehe er sie mit eigenen Augen gesehen hatte. "Jess!" rief er dann außer sich und sprang dem Mann regelrecht in die Arme. Nein, ein Geist war das sicher nicht, sondern sein sehr lebendiger Pflegevater, der ihn von den Füßen riß, im Kreis herumwirbelte und dabei so fest an sich drückte, daß ihm Hören und Sehen verging. "Juhuuh!" jauchzte der Junge, beide Arme um seinen Hals geschlungen. "Du bist es wirklich! Juhuuh! Du bist wieder da! Du bist wirklich wieder da!"
Browny hob gelangweilt den Kopf und blickte kauend zu den beiden hinüber, als wollte er sagen: "Jetzt sind diese zwei Menschen völlig übergeschnappt." Statt dessen schnaubte er, wie um seinen Kommentar dazuzugeben, und befaßte sich dann wieder eingehend mit dem saftigen Gras, dem er einfach nicht widerstehen konnte und das viel mehr seine Aufmerksamkeit erregte, als diese verrückten Zweibeiner.
Miss Finch stand am offenen Fenster ihres kleinen Büros und beobachtete die Szene mit Tränen der Rührung in den Augen. Soviel Glück und unbeschwerte Ausgelassenheit hatte sie nur selten zwischen Vater und Sohn in aller Öffentlichkeit erlebt. Den beiden schien vollkommen egal zu sein, was um sie herum vor sich ging oder wer ihnen beim Ausleben ihrer Wiedersehensfreude zuschaute, geschweige denn, was dieser Jemand dabei dachte.
"Mann, Jess, du bist das wirklich!" juchzte Mike, klammerte sich fester an den Mann und konnte es trotzdem nicht fassen. "Du bist das ganz wirklich, juhuuh, ganz wirklich!" schrie er und fand es herrlich, von ihm durch die Luft gewirbelt zu werden.
"Ja, natürlich!" lachte Jess, blieb endlich stehen, hielt ihn aber immer noch an sich gepreßt, weil auch er offensichtlich aus lauter Übermut nicht genug kriegen konnte. "Wer denn sonst?"
"Ich weiß nicht, ich dachte … Ist doch egal!" Mike ließ sich noch einmal durch die Luft werfen, hochheben und dann mit einem Ruck fest auf den Boden direkt vor seine Stiefelspitzen stellen. "Hauptsache ist, daß du wieder da bist! Das ist wunder-wunderschön!"
Er schlang beide Arme um seinen Körper, legte sein Kinn auf seine Brust und blickte mit zwei Augen, die heller strahlten als die warme Mittagssonne, zu ihm auf. Dabei hätte er vor Glück schreien können, spürte er doch beide Hände seines Pflegevaters auf seinem Rücken, und immerhin war er so kräftig, daß er ihn sogar so wie früher durch die Luft gewirbelt hatte und wieder auffangen konnte. Darüber hinaus sah er so gesund aus, wie er ihn aus der Zeit in Erinnerung hatte, bevor er so schwer verwundet wurde. Nichts in dem vertrauten Gesicht deutete mehr auf seine schreckliche Krankheit hin.
"Was ist?" lachte Jess, neckisch seinen Blondschopf packend und rubbelnd, daß ihm ganz anders wurde; Mike fand das herrlich, mußte er doch so lange darauf verzichten. "Du siehst mich ja an wie ein Gespenst."
"Ein Gespenst kann man nicht so fest packen, wie ich dich packe." Mike drückte ihn so fest, er nur konnte; aber Jess ließ ihn auflachend gewähren, ohne ihm zu verstehen zu geben, daß er ihm dabei wehtäte. "Und es tut dir auch nicht mehr weh, nicht wahr?"
"Nein, Mike, es tut mir nicht mehr weh", versicherte Jess so ruhig und ernsthaft, wie er in diesem Augenblick imstande war. "Es sei denn, du brichst mir die Rippen. Du hast ja schon eine ganz schöne Kraft, Cowboy, das muß ich sagen."
"Dann … dann bist … bist du gesund? Sag, bist du das wirklich? So richtig ganz gesund?"
"Ja, so richtig ganz!" Jess bereitete es anscheinend Freude, sich selbst zu bestätigen, indem er es mit den Worten des Jungen zur Bekräftigung wiederholte.
"Und du mußt jetzt auch nicht mehr so furchtbar husten und … spucken? Und kannst ganz tief Luft holen, ohne daß es dir wehtut?"
"Glaube mir, Mike, es ist wirklich wieder alles in Ordnung."
"Ich bin ja so froh!" seufzte er zufrieden. "Und ich habe dich ganz schrecklich vermißt."
"Mir ist es genauso gegangen, mein Junge. Auch ich habe dich vermißt", gab Jess ein wenig gedankenvoll zu, mit einem Hauch von ernstem Anflug. "Ein paarmal fürchtete ich sogar … Mein Gott, bin ich froh, dich wiederzuhaben!" gestand er dann freimütig, weil er mit einem Mal so bewegt war, daß er seine Gefühle nicht mehr verbergen konnte. Auch bei ihm war es nicht bloße Wiedersehensfreude, sondern ein wahrer Glückstaumel, dem er sich gerne wie einem Rausch hingeben wollte, den er mit Wonne genoß nach all den entsetzlichen Dingen, die er hatte durchmachen müssen.
"Jetzt mußt du nicht mehr weg, nicht wahr?"
"Nein, jedenfalls nicht mehr aus dem Grund, weshalb ich weg war. Ich hoffe ganz fest, daß so etwas nie mehr vorkommt, weil ich mir wünsche, daß du so etwas Schreckliches nie wieder erleben mußt."
"Das wünsche ich mir auch für dich. Du sollst nie, nie, nie wieder so krank werden und auch nie, nie, nie wieder so gräßliche Schmerzen aushalten müssen. Nie, nie wieder!"
"Mach dir keine Sorgen, mein Junge!" Jess strich ihm liebevoll über den Kopf und durchwühlte seinen Blondschopf, diese Angewohnheit, die Mike sich nur von ihm mit Wonne gefallen ließ. "Weißt du, sehr schöne und sehr schlimme Dinge haben eines gemeinsam: sie wiederholen sich selten." Tief aufatmend löste er den Jungen halb von sich und hielt ihn in Armeslänge von sich. "So", sagte er, nun wieder in unbeschwerterem Ton, "jetzt laß dich einmal anschauen! Sag mal, bist du schon wieder gewachsen? Kommt mir doch gerade so vor!"
"Ja!" rief Mike, gleich wieder in überschwenglicher Unbekümmertheit, und das sogar nicht ohne Stolz. "So ein Stück!" Mit Zeigefinger und Daumen zeigte er ihm, wieviel er meinte.
"Bald bist du mir tatsächlich über den Kopf gewachsen und dann wirst du mich unter den Arm packen anstatt umgekehrt."
Aus lauter Übermut probierte Mike sofort, ob er es schaffte, den Mann vom Boden zu heben. Natürlich reichte dazu seine Kraft nicht aus, obwohl Jess noch etliche Pfunde an Körpergewicht fehlten. Aber allein die Tatsache, mit ihm wieder so herumflachsen zu können, war ein Heidenspaß.
"Bald kann ich dich hochheben, du wirst sehen!" Als er diesmal die Arme um ihn schlang, um ihn zu packen, bemerkte er, daß unter seinem Hemd irgend etwas war, was da nicht unbedingt hingehörte. "Was hast du denn da?" fragte er deshalb neugierig, mit der flachen Hand seinen Oberkörper abtastend, konnte sich allerdings trotzdem nicht erklären, was unter dem dünnen Baumwollstoff seines Hemdes verborgen war, zumal Jess nichts Eiligeres zu tun hatte, als, verschmitzt grinsend, seine aufdringliche Hand von sich zu schieben.
"Finger weg!" lachte er, wie gekitzelt. "Das wird nicht verraten!"
Mit einem Schlag wurde Mike wesentlich ernster, verzog fast ein wenig ängstlich das nachdenkliche Gesicht.
"Aber ein Verband ist das nicht, oder?"
"Nein, bestimmt nicht!"
"Ehrenwort?"
"Todsicheres Ehrenwort sogar!" gelobte Jess feierlich, spannte ihn aber noch ein wenig auf die Folter. "Sag mal, was hast du denn vorhin eigentlich gesucht?" lenkte er so arglos von sich ab, daß Mike, zuerst ein wenig skeptisch trotz seiner Beteuerung, sehr schnell auf andere Gedanken kam – wenn er ehrlich war, hatte sich das da unter seinem Hemd tatsächlich nicht wie ein Verband angefühlt.
Der Junge löste sich von ihm, um sich nach dem Zaumzeug zu bücken, das im Gras lag.
"Hier", sagte er dann, es demonstrativ hochhaltend. "Kannst du dir vorstellen, wer so gemein ist? Das ist richtig hinterhältig! Möchte wissen, wer das war. Wenn ich den erwische …!"
"Das ist wirklich ein Ding!" Jess zog feixend die Brauen hoch. "Da hat dir tatsächlich jemand die Kandare geklaut." Jess begann an seinem Hemd zu fummeln und holte schließlich das darunter verborgene Zaumzeug aus kunstvoll geflochtenem Roßhaar hervor, an dem die gesuchte Kandarenstange befestigt war, die Mike sofort als sein Eigentum an den zwei Kerben in jedem der beiden Ringe erkannte. "Vielleicht versuchst du es solange damit."
"Wau!" stieß Mike hervor, ansonsten erst einmal sprachlos, was schon etwas heißen wollte. "Ist … ist das für … mich?" stotterte er dann zusammen und getraute sich gar nicht, nach dem wunderschönen Stück zu greifen.
"Sicher!" Jess weidete sich mit wahrer Wonne an seinen aufgerissenen Augen und seinem vor Erstaunen aufgesperrten Mund. "Hier, willst du es nicht nehmen? Es gehört dir."
"Danke!" strahlte Mike wie sieben Sonnen, nahm das Zaumzeug vorsichtig wie einen filigranen, zerbrechlichen Schatz und ließ regelrecht verzückt seine Finger darübergleiten. "Mann, ist das toll! Vielen Dank, Jess!"
"Bitte schön, freut mich, daß es dir gefällt."
"Und wie! Hast du das gemacht?"
"Ja, jedes Stück davon."
"Ist das denn nicht eine Wahnsinnsarbeit?"
"Kann man wohl sagen. Aber du stellst dir nicht vor, wieviel Zeit ich in Colorado Springs hatte."
"Das ist wunderschön!" Mike sah versonnen zu ihm auf. "Aber weißt du, was trotzdem viel schöner ist?"
"Noch schöner?" fragte der Mann erstaunt. "Daß du deine Kandare wiedergefunden hast!" lachte er.
"Nein, sondern daß du wieder da und ganz gesund bist. Das ist das allerschönste Geschenk, das ich mir vorstellen kann."
"Danke, Mike!" Gerührt über dieses freimütige kindliche Bekenntnis, mußte Jess ihm zur Bekräftigung gleich noch einmal seinen Blondschopf durchwühlen. "Das ist auch für mich wie ein Geschenk, ein sehr wertvolles sogar. Es ist schön, wie du das so lieb gesagt hast."
Sekundenlang blickte er selbstvergessen auf ihn hinab, wobei ein warmherziges Lächeln um seine Lippen spielte. In diesem Augenblick war er weit davon entfernt, dieser rauhbeinige Bursche zu sein. Vielmehr war er ein glücklicher Vater, dem das Schicksal einen wohlgeratenen Sohn geschenkt hatte, auf den er uneingeschränkt stolz sein konnte, der ihm soviel bedeutete, der ihm soviel Kraft gab, daß er es seinetwegen sogar mit dem Teufel persönlich hatte aufnehmen können. Liebevoll strich er ihm über die Wange und zwinkerte ihm in herzlicher Verbundenheit zu. Füreinander waren sie selbst das kostbarste Geschenk.
"So", wechselte er dann mit einem kaum merklichen Aufatmen das Thema, ehe sie vielleicht plötzlich einen Punkt erreichten, der ihm an dieser Stelle, in diesem Moment nun doch zu hintersinnig wurde, "und jetzt solltest du das Ding Browny endlich überstreifen. Ich möchte nämlich sehen, ob es auch paßt."
Browny fand es unerhört, daß er von der saftigen Weide lassen und statt dessen wieder auf einem Stück Eisen herumkauen sollte.
"Sieht er nicht toll aus damit?"
"Hervorragend! Und es sitzt perfekt."
"Kein Wunder, hast ja auch du gemacht!"
Browny nickte aufgeregt mit dem Kopf, daß es aussah, als würde er dem Ganzen zustimmen, hatte er sich doch ziemlich schnell damit abgefunden, daß sein Mittagessen beendet war. Sein Bauch war sowieso voll mit Gras, daß es erst einmal für eine Weile reichte.
"Anscheinend ist er auch damit einverstanden", schmunzelte Jess.
"Dem soll ja nichts anderes einfallen!" drohte Mike seinem Browny mit der Faust, den dies jedoch nicht sonderlich beeindruckte. "Ach!" meinte er dann. "Im Grunde habe ich ihn ja sehr gern." Kräftig klopfte er seinen Hals, und das Pony revanchierte sich, indem es ihn übermütig vor die Brust schubste. "Aber natürlich nicht so sehr wie dich! So lieb wie dich kann ich nämlich niemanden haben – nie im Leben!"
"Abwarten, Cowboy!" lachte Jess, ihm neckisch übers Gesicht wischend.
"Sag jetzt bloß nicht, bis ich eine Freundin habe!"
Jess' Lachen wurde aufgrund dieser Bemerkung so laut, daß es über den ganzen Schulhof schallte, sogar Browny neugierig den Kopf hob und die Ohren spitzte.
"Warum?" gluckste er. "Hast du etwa schon eine?"
"Ach, du!"
Aus lauter Spaß und Übermut ging Mike mit den Fäusten auf ihn los. Tollend fielen sie ins Gras, wo sie sich kichernd balgten.
Ein kleiner Junge und ein großer Junge, das dachte zumindest Miss Finch mit einem wohlwollenden Lächeln, die bei Jess' lautem Auflachen erneut auf die beiden aufmerksam geworden war und nun die Szene von ihrem Bürofenster aus verfolgte.
Was ist das nur für ein Mann, dachte sie, fasziniert und schwärmerisch zugleich. Vor einem halben Jahr hatte er sich die wildeste Schießerei mit drei Halunken der übelsten Sorte geliefert, die diese Stadt jemals erlebte, wie Gary Morgan in seiner Zeitung berichtet und sie auch von verschiedenen Seiten gehört hatte – sie selber hatte davon Gott sei Dank nicht viel mitbekommen –, dann wieder konnte er, so wie jetzt, in naiver Ausgelassenheit mit seinem Pflegesohn herumtollen, als hätte er noch nie im Leben etwas Böses erlebt; dabei mußte er so lange gegen den Tod kämpfen und hätte diesen Kampf um ein Haar verloren. Trotzdem war ihm gerade eben, wo er sich übermütig mit Mike im Gras wälzte und mit ihm um die Wette lachte, nicht das geringste anzumerken, geradeso, als hätte es die letzten zehn Monate seines Lebens nicht gegeben.
Lincoln Majors und mindestens ein Dutzend weitere der angesehensten Geschäftsleute sahen in ihm so etwas wie den Inbegriff von absoluter Zuverlässigkeit, einen Mann mit enormem Durchsetzungsvermögen, der ihnen allein durch seine bloße Anwesenheit ein Gefühl der Sicherheit verlieh – das hatte vor allem Lincoln Majors mehrmals ausdrücklich betont, nachdem er von seiner spektakulären Geldtransportreise aus Cheyenne zurückgekehrt war –, und ihr gegenüber war er so verlegen – schüchtern wollte sie nicht behaupten, aber doch irgendwie unsicher –, daß er sie nur so umständlich fragen konnte, ob sie am Samstag mit ihm zum Tanz gehen wollte.
Sie hatte ihn schon immer für einen sehr interessanten Menschen gehalten, vielleicht auch, weil sie im Grunde so wenig über ihn wußte. Daß er jedoch ihr Herz so wunderbar zum Hüpfen bringen konnte, machte sie um so neugieriger. Und daß er ihr allen Ernstes nicht gleichgültig war und über die übliche Höflichkeit hinaus ihre Aufmerksamkeit erregte, hatte sie verstärkt während seiner langen Abwesenheit festgestellt. Ja, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, mußte sie zugeben, daß sie sich sogar um ihn gesorgt hatte.
Während sie ihn vom Fenster aus verträumt beobachtete, kam sie zu dem Schluß, daß sie gerade dabei war, sich zu verlieben. Vielleicht war das auch schon viel früher passiert, und sie hatte es nur nicht so deutlich gespürt. Allerdings wollte sie es auf alle Fälle ihm überlassen, ob daraus eine engere Beziehung wurde. Denn wenn sie ihn dort draußen mit seinem Pflegesohn so unbeschwert und glücklich sah, sprach sie sich das Recht ab, sich dazwischenzudrängen und diese Innigkeit stören zu dürfen; wenn, dann mußte sie schon beide Herzen gewinnen, zumal sie annahm, daß sie ohne Akzeptanz seitens des Jungen auch keine ernsthafte Chance bei dem Mann hatte. Da könnte ihr Herz noch so hoch hüpfen.
"Jetzt ist aber Schluß!" drang Jess' Stimme von der Wiese herüber, womit er nicht nur Mike scherzhaft zu verstehen gab, daß sie nun genug gealbert hätten, sondern auch Miss Finch aus ihren Tagträumen riß, worauf sie, von den beiden unbemerkt, sich rasch vom Fenster zurückzog, weil sie sich beinahe bei allzu kühnen Gedanken ertappt fühlte.
"Och, schon?"
"Schon?" Jess räkelte sich ein letztes Mal im Gras, ehe er endlich mit einer flinken Bewegung auf die Beine sprang und beim Aufrichten seinen Hut vom Boden grapschte. "Hast du denn keinen Hunger?" fragte er erstaunt, klopfte sich mit dem Stetson ein paar verräterische Spuren aus den Kleidern und stülpte ihn sich auf den Kopf.
"Ich habe immer Hunger, das weißt du doch!" Mike rappelte sich nach einem letzten Purzelbaum auf und rannte an seine Seite. "Hoffentlich hat Miss Finch uns nicht gesehen, wie wir da im Gras herumrollten."
"Würde dir das etwas ausmachen?"
Mike blickte mit zugekniffenen Augen und krausgezogener Nase zu ihm auf.
"Nur, wenn es dir etwas ausmacht."
"Sollte es das denn?" fragte Jess spitzfindig.
"Könnte doch sein, oder?" Mike wandte sich mit spitzer Schnute ab, blieb noch unschlüssig stehen. "Jess", sagte er dann, etwas ernster wieder zu ihm aufsehend, "ich glaube, sie war ganz schön besorgt."
"Nanu, hast du ihr denn Kummer gemacht während meiner Abwesenheit?"
"Sie war doch nicht um mich besorgt, sondern um dich!"
"Um mich?" tat Jess erstaunt. Vor Mike hielt er es für angebracht, zunächst den Ahnungslosen zu spielen, um vielleicht an seiner Reaktion zu erkennen, ob sie am gleichen Strang zogen.
"Ja. Hast du denn noch nicht mit ihr gesprochen?"
"Doch, vorhin, ganz kurz."
"Dann mußt du es doch gemerkt haben."
"Na ja, ein wenig schon."
"Nur ein wenig?" Daß sein Pflegevater so schwer von Begriff war, kaufte er ihm nicht ab. "Ich glaube, sie mag dich sehr. Im Ernst, Jess, sie mag dich wirklich. Magst du sie denn nicht auch?"
"Wärst du denn damit einverstanden?"
"Ich denke schon." Mike tat sehr altgescheit, wirkte dabei aber recht liebenswert. Offensichtlich meinte er seine Worte genauso, was sie vom Sinn her bedeuteten. "Ich sagte dir doch, daß ich sie auch sehr nett finde."
"Du, Lausebengel, du!" Jess durchwühlte sein Haar und konnte nicht länger widerstehen, ihn an sich zu drücken. "Willst du mich etwa verkuppeln?"
"Verkuppeln? Was heißt das?"
"Jetzt tu nicht so scheinheilig!" lachte der Mann über seine gespielte Unschuldsmiene. "Das weißt du genau. He, paß auf, sag ich dir! Du solltest einem Kerl wie mir nicht über den Weg trauen. Im Gegensatz zu dir finde ich Frauen nämlich nicht zickig, sondern ausgesprochen anziehend. Vergiß das nicht!"
"Na, Gott sei Dank, ich dachte schon, du würdest sie tatsächlich nicht so nett finden und hättest wirklich nicht gemerkt, daß sie dich mag. Sie würde mir auch gefallen."
"Nun ist aber gut!" unterbrach Jess dieses Gespräch mit einem ironischen Schmunzeln. "Nachher willst du gleich noch den Termin für die Hochzeit für mich festlegen, was?"
"Geht das denn so schnell?"
"Eben nicht, Mike, eben nicht! Gut Ding will Weile haben, das weißt du doch. Für so etwas muß man sich erst ganz sicher sein."
"Bist du das denn nicht?"
"Nein, denn dazu hatte ich bisher zu wenig Zeit, mir Gedanken darüber zu machen. Ich hatte weiß Gott anderes im Kopf als Heiraten und so. Damit muß ich mich in Ruhe beschäftigen und schon gar nicht jetzt vorm Mittagessen mit leerem Magen. Komm jetzt, sonst werde ich nämlich verhungern. Mort wartet garantiert schon wie auf heißen Kohlen."
"Der Sheriff?"
"Ja, wir wollen uns im Hotel treffen. Hier", Jess bückte sich und hob das Zaumzeug auf, "vergiß das nicht mitzunehmen." Er hängte es zu Mikes Bücherbündel ans Sattelhorn. "Das ist noch sehr gut zu gebrauchen."
"Danke, das hätte ich doch jetzt glatt vergessen."
Der Junge nahm die Zügel vom Boden, warf den einen über Brownys Hals und behielt den anderen in der Hand, um sein Pony hinter sich her zu ziehen, das ihm willig folgte, als sie den Schulhof verließen und zurück zur Stadt schlenderten, zwar nicht so schnell, wie es Jess gerne beabsichtigte, aber er wollte seinem Pflegesohn die Freude lassen, diesen Spaziergang die Hauptstraße entlang zu genießen.
"Dann bleiben wir zum Essen in der Stadt?" stellte er begeistert fest, denn für ihn war das immer etwas Besonderes, obwohl auch er fand, daß das Essen zu Hause besser schmeckte als im Hotel, aber allein die Tatsache, sich in der Öffentlichkeit nach so langer Zeit endlich wieder mit seinem Pflegevater zeigen zu können, ließ ihn einen Apfelkuchen akzeptieren, der dem von Daisy Cooper nicht einmal das Wasser reichen konnte.
"Ja, Daisy wollte uns erst heute abend etwas besonders Leckeres kochen."
"Au fein! Darf ich auf dem Heimweg später wieder kutschieren? Wo hast du denn überhaupt den Wagen?"
"Zu Hause."
"Zu Hause?" vergewisserte sich Mike überrascht und blickte ungläubig zu ihm auf.
"Du brauchst mich nicht so verdreht anzusehen. Denkst du etwa, ich bin zu Fuß hier?"
"Mit der Kutsche!" rief der Junge, daß Jess regelrecht den Nickel fallen hörte, als es bei ihm klingelte.
"Falsch geraten – mit dem Pferd."
"Wo ist es denn?"
"Beim Hufschmied. Kriegt dort neue Schuhe verpaßt."
"Das ist ja toll! Dann können wir ja um die Wette reiten."
"Mal sehen, auf jeden Fall will ich mir heute nachmittag noch einmal das Minarrow-Land am Fluß ansehen."
"Da darf ich aber mit!"
"Sicher darfst du da mit!" Jess wühlte ihm durchs Haar. "Aber jetzt wird erst etwas gegessen, ehe es Mort einfällt, uns alle beide zu verhaften, weil wir ihn so lange haben warten lassen."
Fortsetzung folgt
