KAPITEL 45

Am Nachmittag ritten sie Seite an Seite durch das hohe Gras, das bis hinunter ans Ufer des Flusses reichte, der selbst im Sommer genügend Wasser führte. Mit dem Minarrow-Land würde die Sherman-Ranch die Wasserrechte auch auf dieser Seite erwerben, so daß sie eines sicherlich nicht zu fürchten brauchten: Wassermangel, obwohl dieses Problem bisher sowieso nie akut war, gehörte auch das alte Land der Ranch zum wasserreichsten der Umgebung. Die fette Weide der ehemaligen Minarrow-Ranch, die seit Jahren brach lag, würde zudem sämtliche Futtersorgen auf lange Sicht vergessen lassen.

"Das ist wirklich ein Glücksgriff", meinte Jess, als er mit Mike durch das wogende Gras zur Uferböschung hinunter ritt. "Damit dürfte die Winterfutterfrage für eine Weile gelöst sein."

"Gehört das jetzt auch alles uns?" fragte Mike, erstaunt über soviel ungenutzte Weide.

"Noch nicht, mein Junge, aber bald. Wenn alles klappt, werden wir am Freitagmorgen den Vertrag unterschreiben und es ins Grundbuch eintragen lassen. Dann gehört es uns."

"Mann, das ist ja echt toll! Dann ist unsere Ranch ja riesig!"

"Riesig ist sie dann noch nicht, aber doch recht ansehnlich. Vor allem werden wir dann genug Futter haben, daß wir über Winter keines mehr dazu kaufen müssen. Tja, und Arbeit wird das auch jede Menge geben, mehr jedenfalls, als wir wie bisher allein schaffen können."

Unten am Wasser saßen sie ab und tränkten ihre Pferde.

"Aber wir haben doch Charlie. Der wird uns sicher helfen. Kennst du Charlie schon?"

Sie ließen ihre Pferde am Ufer zurück und gingen ein paar Schritte.

"Ja, habe ihn heute morgen kennengelernt."

"Und? Wie findest du ihn?"

"Scheint wirklich ein anständiger Bursche zu sein."

"Dann darf er also bleiben?"

"Sicher, warum nicht?" Wie auf ein geheimes Zeichen setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm, den der letzte Sturm auf dem weichen Boden entwurzelt hatte und dessen Krone bis weit ins Wasser hinaus ragte, wo die absterbenden Blätter in der Strömung tanzten.

"Nur so." Mike zog die Schultern hoch. Ihm fielen seine Querelen zu Beginn seiner Bekanntschaft mit dem Cowboy ein. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, über diesen leidigen Punkt, der immer noch in seinem Gewissen steckte wie ein spitzer Dorn, mit seinem Pflegevater zu reden. Je früher er ihm diese Sache von damals beichtete, desto besser. Er fand, daß die Gelegenheit äußerst günstig war. "Es hätte doch sein können, daß du ihn nicht magst."

"Warum sollte ich ihn nicht mögen? Solange er ordentlich arbeitet, zuverlässig und anständig ist, kann er bleiben, so lange er will. Brauchen werden wir ihn auf jeden Fall. Sehr wahrscheinlich müssen wir sogar zusehen, daß wir noch zwei, drei Hilfskräfte kriegen, wenigstens zeitweise und je nachdem, wie das noch mit dem Kutschenverkehr wird."

"Jess", fing Mike auf einmal nach einer Weile an, in der sie schweigend nebeneinander auf dem Stamm hockten und die sich drehenden und windenden Blätter des sterbenden Baumes in der Strömung des Flusses beobachteten; drüben am anderen Ufer erstreckte sich bereits das Land der Sherman-Ranch. "Ich … ich muß dir unbedingt etwas sagen."

"Das hört sich ja an, als ob du wieder etwas angestellt hättest. Du hast Slim wohl grün und blau geärgert, während ich weg war, was? Oder du hast Browny jeden Tag auf dem Schulweg gehetzt und über die höchsten Hindernisse gejagt, die du finden konntest, stimmt's?"

"Eigentlich nicht", druckste der Junge herum. "So etwas meinte ich gar nicht."

"Na, was denn sonst? Schlechte Noten in der Schule können es auch nicht sein, denn das hätte mir Miss Finch heute mittag sicherlich gesagt."

"Nein – nein, auch das nicht." Mike schob die Hände unter seine Oberschenkel und ließ die Beine baumeln, während er auf seine Fußspitzen starrte, die wie zwei Pendel gegeneinander schwangen. "Weißt du, es ist … es war wegen … Charlie."

"Dann hast du ihn grün und blau geärgert?" vermutete Jess, obgleich er nun wußte, was ihn bedrückte.

"Nein, aber ich dachte … Ich … ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll. Du bist bestimmt fürchterlich böse, wenn du das erfährst."

"Wenn ich dir verspreche, es nicht zu sein, fällt es dir dann leichter, es mir zu sagen?"

Mike schüttelte den Kopf.

"Wenn du ganz schrecklich mit mir schimpfen würdest, wäre das nicht so schlimm, aber ich … ich schäme mich so entsetzlich dafür … Ich dachte, ich würde das nicht mehr tun, weil es doch jetzt schon so lange her ist, aber ehe ich es dir nicht gesagt habe, werde ich mich immer wieder dafür schämen. Und ich glaube, ich werde es sogar danach noch tun."

Väterlich schlang Jess seinen Arm um seine Schultern, um ihn behutsam an sich zu drücken, nicht einengend, sondern gerade so viel, damit er merkte, daß er für ihn und seine Probleme nach all den vielen Monaten seiner Abwesenheit und der schlimmen Zeit, in denen er selbst mit genug eigenen Problemen zu schaffen hatte, uneingeschränkt für ihn da war, bereit, ihn anzuhören und ihm zu helfen, so gut er konnte.

"Ist es denn so schlimm?"

Mike nickte heftig, immer noch auf seine Fußspitzen starrend, die über den Boden tanzten. Er hätte etwas darum gegeben, diese Beichte schon hinter sich zu haben. Erst dann konnte er sich wieder unbeschwert darüber freuen, daß sein Pflegevater gesund neben ihm saß und genauso war wie früher, bevor damals diese Männer die Ranch überfielen und ihnen allen so wehgetan hatten.

Daß diese furchtbare Geschichte ein gutes Ende genommen hatte nach so langer Zeit der Angst und Sorge um den Menschen, um dessen Leben er heute glücklicherweise nicht mehr bangen mußte, war für ihn überschattet von seinen eigenen dummen, weil voreiligen Befürchtungen von damals, als er in seiner einfältigen Naivität annahm, ein Charlie Grovner könnte zu einem Ersatz für seinen Pflegevater werden und stünde fortan zwischen ihm und Slim Sherman, wie ein spaltender Keil in ihre langjährige Freundschaft getrieben. Längst wußte er, daß dies der größte Unsinn war, der seiner Phantasie entspringen konnte.

Nach seiner Aussprache mit Slim beruhigte sich sein schlechtes Gewissen ein wenig. Das hieß aber nicht, daß er sich für sein törichtes Benehmen nicht mehr schämte. Mit Slim hatte er sich ausgesprochen; solange er dies jedoch nicht mit Jess getan hatte, waren seine Gewissensbisse nicht aus der Welt geschafft. Zwar betraf es Jess nur indirekt, aber für Mike konnte eine Schuld – ob tatsächlich oder nur eingebildet – erst getilgt sein, wenn er mit ihm darüber gesprochen hatte. Das forderte der Grundsatz für ihre vertrauliche Verbundenheit.

"Dann sollten wir wirklich schnellstens darüber reden, ehe dich dein schlechtes Gewissen anfängt noch mehr zu plagen. Was ist also?" Jess zog ihn zu sich und drückte ihn fester. "Du sagtest, es ist wegen Charlie. Hast du irgend etwas gegen ihn? Habt ihr irgendwelche Meinungsverschiedenheiten? Magst du ihn nicht?"

"Ich mag ihn eigentlich sehr. Ach, Jess", seufzte er, "das ist alles so wahnsinnig kompliziert. Weißt du, es ist eigentlich auch nicht Charlie selber, sondern was ich seinetwegen gedacht habe – von … von Slim."

"Von Slim?" vergewisserte sich Jess und tat, als hätte er keine Ahnung. Er hielt es für besser, dem Jungen vorerst nicht zu zeigen, daß er Bescheid wußte. Auf diese Weise wollte er ihm Gelegenheit geben, es mit seinen eigenen Worten zu erklären. Aus Erfahrung wußte er, daß es äußerst hilfreich für die Bewältigung seiner – wenn auch nur vermeintlichen – Probleme war, wenn er sich darauf konzentrieren mußte, seine Gedanken selbst in Worte zu fassen. "Was hat denn Slim damit zu tun? Mir scheint, das wird tatsächlich kompliziert."

Mike nagte verbissen an seiner Unterlippe. Die Pendelbewegungen seiner Beine wurden immer aufgeregter. Er ließ sich von der Feststellung ablenken, daß seine halbhohen Stiefeletten, die er nicht nur gern zum Reiten trug, sondern auch ansonsten heiß und innig liebte, schmutzig waren von dem morastigen Boden hier unten am Fluß.

"Na, nun komm schon! Heraus mit der Sprache!" forderte Jess ihn mit behutsamem Nachdruck auf. "Das gilt nicht! Zuerst machst du mich neugierig, dann druckst du herum. Was hast du also Schlimmes gedacht? Keine Sorge, egal, was es war, ich werde dich bestimmt nicht fressen. Du würdest mir ja sonst fehlen. – Also, was ist?"

"Na ja, weißt du …" Mike wand sich erst wie ein Aal, ehe es plötzlich aus ihm heraussprudelte. "Damals, als du gerade weg warst und Charlie kam … Na ja, Slim war oft so schlecht gelaunt und weil er dann auch noch so freundlich zu Charlie war und ihn gebeten hat, mit uns im Haus zu essen … na ja, und überhaupt … da habe ich halt gedacht, er wäre … er wäre nicht mehr dein Freund, weil … weil … Es war nicht richtig von mir, daß ich das von ihm dachte. Ich … wir haben deshalb miteinander gesprochen, und da wußte ich, daß ich ganz fürchterlich dumm gewesen bin, und habe mich ganz schrecklich geschämt. Und das tu' ich immer noch. Ich hätte das nicht von Slim … ich meine, ich weiß, ich hätte das nicht von Slim denken dürfen. Aber ich dachte, er wäre meinetwegen so schlecht gelaunt und vielleicht weil … weil du nichts mehr arbeiten konntest … und … und … Dabei hat er sich doch nur ganz schreckliche Sorgen um dich gemacht, weil du so krank warst. Und ich dachte, er wäre nur böse auf dich und deshalb nicht mehr so dein Freund wie früher … Das ist doch ganz scheußlich, was ich da gedacht habe, nicht wahr?"

"Hast du wirklich angenommen, unsere Freundschaft stünde auf so schwachen Beinen?"

"Nein! Aber dann warst du kaum weg und … und … Jess, wieso bin ich denn nur auf so eine ekelhafte Idee gekommen? Ich weiß doch … ich meine, ich hätte mir das sowieso nicht richtig vorstellen können, und trotzdem habe ich … ich glaube, ich habe Slim damit ganz fürchterlich enttäuscht und dich auch. Und dafür schäme ich mich so, daß ich am liebsten da im Boden versinken möchte."

"Weißt du, mein Junge, ich habe das Ganze einfach mit dem Umstand entschuldigt, daß das damals eine besondere Situation für dich und für uns alle war. So etwas kann einen schon einmal zu absurden Dingen verleiten, die man hinterher selbst nicht mehr begreifen kann. Ich meine, daß du dich deshalb so dafür schämst, ist doch der beste Beweis dafür, daß es wirklich nicht mehr als Spintisiererei war."

"Hast du … hast du es etwa schon gewußt?"

"Ja, Mike, von Slim. Er hat es mir erzählt, als er zu Anfang des Jahres bei mir war. Anscheinend hat es ihn selbst nicht gerade wenig beschäftigt. Es hat ihn nachdenklich gestimmt, würde ich einmal behaupten. Er hat es dir nicht nachgetragen, soviel steht fest. Und ich tu' es auch nicht, weil ich weiß, daß du deinen Fehler eingesehen hast. Du kannst sicher sein, mein Junge, zwischen Slim und mir ist nie das gewesen, was du dir wegen Charlie eingebildet hast. Unsere Freundschaft war noch nie so tief wie in dem Augenblick, als du dachtest, an ihr zweifeln zu müssen. Als Slim bei mir war, war ich sehr krank. Ich habe ihn noch nie im Leben so sehr gebraucht wie damals. Genau in diesem entscheidenden Augenblick war er bei mir. Nur ihm allein verdanke ich es, daß ich heute hier sein kann. Was er für mich getan hat, bringt nur ein Freund wie er zustande. Wenn er nicht gewesen wäre …" Jess, ernst und mit verhaltener Stimme redend, sprach den Gedanken nicht aus. Nichtsahnend hatte Mike Erinnerungen in ihm geweckt, die er nicht halb so tief vergraben hatte, wie er annahm. Zu seinem Erstaunen führte der Junge seinen Gedankengang jedoch fort.

"Wärst du dann heute da, wo … wo Amalies Großvater ist?"

Ihre Blicke suchten und fanden sich. Sie sahen sich lange in die Augen, als würden sie damit ein geheimes Abkommen über etwas abschließen, worüber nur sie Bescheid wußten. Keinem wurde dieser Blickkontakt unangenehm, so groß war ihre Zuneigung und ihr Vertrauen zueinander.

"Ja, Mike, genau dort wäre ich jetzt."

"Dann mußt du ja ganz entsetzlich krank gewesen sein."

"Ja – ja, das war ich, mein Junge."

"Noch schlimmer, als bevor du weggegangen bist?"

"Noch schlimmer, Mike."

"Aber was hat Slim denn getan, daß du … daß du nicht …"

Nach dieser Bestätigung über die tödliche Ernsthaftigkeit der damaligen Lage brachte es Mike nicht fertig, den Vergleich mit Amalies Großvater zu wiederholen.

Jess rieb über seinen Flachskopf und mußte ihn an sich drücken, wie um sich selbst zu beweisen, daß sie hier über eine Vergangenheit sprachen, die in ihren Gedanken zwar noch sehr lebendig war, die aber trotz aller Widrigkeiten und der zeitweiligen Aussichtslosigkeit zu einem guten Ende geführt hatte. Hinter ihm lagen die schlimmsten Monate seines Lebens. Trotzdem konnten sie seiner Meinung nach nicht einmal annähernd so schlimm sein wie die Zeit, die der Junge durchleben mußte. Davon war er felsenfest überzeugt, war er selbst mit Schicksalsschlägen nicht zum ersten Mal konfrontiert worden; aber dem Jungen sollten sie möglichst erspart bleiben. Deshalb war er dankbar, daß er hier bei ihm sitzen durfte und sich mit ihm über seine vermeintlichen Probleme unterhalten konnte, daß er ihn nicht im Stich lassen mußte, wie er dies in der Stunde ihres Abschieds befürchtet hatte.

"Weißt du, das ist schwer zu erklären, und ich fürchte, daß ich es gar nicht richtig kann, jedenfalls nicht so, daß du es auch wirklich verstehst. Ich glaube, das versteht keiner so richtig, mich eingeschlossen. Slim war im entscheidenden Moment einfach bei mir. Durch seine Anwesenheit … er hat sich mit seiner ehrlichen freundschaftlichen Verbundenheit zwischen mich und den Tod gestellt, hat an meiner Stelle mit ihm um mein Leben gekämpft, als ich zu schwach war und es selbst nicht mehr konnte. Auf diese wunderbare Weise hat er mir das Leben gerettet. Zu so etwas kann nur ein aufrichtiger Freund imstande sein. Ich habe gewiß einige Freunde, aber nur Slim hat das geschafft. Kein anderer wäre dazu in der Lage gewesen."

"Du hast recht, das verstehe ich wirklich nicht." Mißmutig ließ Mike den Kopf hängen und starrte wieder auf seine Fußspitzen. "Aber trotzdem weiß ich, daß Slim dein allerbester Freund ist. Und genau deshalb verstehe ich nicht, wieso ich auf diese Idee … Jess", er blickte wieder zu ihm auf, hoffnungsvoll, von ihm so etwas wie eine Patentlösung für sein tief eingeprägtes Schamgefühl zu erhalten, "je mehr wir darüber reden, desto mehr muß ich mich schämen. Ich wünschte so, ich hätte das nie gedacht. Ich habe schon wieder alles falsch gemacht und dich bestimmt ganz fürchterlich enttäuscht."

"Hast du nicht, obwohl ich zugeben muß, daß ich mich schon gefragt habe, wie um alles in der Welt du auf so etwas kommen konntest. Da versuchte ich mich in dich hineinzuversetzen, Slims Reaktion dabei nachzuvollziehen. Dann mußte ich noch diese besondere Situation berücksichtigen, in der wir uns damals alle befanden, und daß wir wohl alle nicht in nervlicher Bestform waren – und schon konnte ich mir einen Lausebengel wie dich sehr lebhaft vorstellen, wie er auf so eine absurde Idee kommt. Trotzdem hätte ich sie nicht gelten lassen dürfen, ja, auch oder gerade bei dir sofort ausmerzen müssen. Aber schließlich hast du selbst eingesehen, wie töricht deine Gedanken waren, und nun bedauerst du diese leichtfertige Schlußfolgerung so sehr, daß du dich sogar maßlos dafür schämst. Daran kann ich erkennen, daß du dieses fatale Mißverständnis tatsächlich richtig erkannt und deine Mitschuld daran verarbeitet hast. Wie könnte ich deshalb von dir enttäuscht sein? Ich wäre es, wenn du es nicht von alleine gemerkt hättest. So bin ich nur ein wenig – sagen wir – verwundert, auf welche Gedanken du kommen kannst, wenn die Dinge plötzlich außergewöhnliche Formen annehmen. Aber du mußt mir eines versprechen! Zweifle nie, niemals wieder Slims ehrliche Freundschaft an! Nie wieder, hörst du?"

Mikes Kehlkopf schmerzte, als der Junge, geräuschvoll schluckend, zu seinem Pflegevater aufschaute. Jess schien sehr ernst zu sein, wenn auch nicht verstimmt, während er ihm dieses Versprechen abnahm.

"Ich verspreche es!" gelobte Mike mit ehrfurchtsvoller Feierlichkeit. Wieder einmal hatte er nicht alles begreifen können, was Jess ihm versucht hatte zu erklären. Eines war ihm allerdings klar geworden: Jess hatte mehr Verständnis gezeigt, als er von ihm erwartet hätte. "Ich verspreche es ganz, ganz fest!" bekräftigte er und umfaßte mit beiden Händen seine Rechte, um dieses Versprechen zu besiegeln. "Und vielen Dank, daß du mir deshalb nicht böse bist!"

"Das bin ich bestimmt nicht, nicht heute, an diesem herrlichen Tag, an dem ich hierher zurückkehren konnte und mich über unser Wiedersehen freuen darf. So", meinte er, erhob sich und zog Mike, der noch seine Hand umschlungen hielt, zu sich, daß er vom Baumstamm rutschte und mit einem Satz neben ihn sprang, "und jetzt sollten wir nach dieser Aussprache zusehen, daß wir schleunigst nach Hause kommen, ehe Slim und Charlie allein all die leckeren Sachen verdrücken, die Daisy heute abend für uns kochen will."

"Hm, was gibt es denn alles?" war Mike regelrecht erleichtert nach diesem ernsthaften Gespräch unter vier Augen, bei dem er zwar nicht alles verstanden, aber dafür kein einziges Mal das Gefühl hatte, nur ein kleiner, dummer Junge zu sein, der nicht wußte, wo die Angelegenheit im argen lag.

"Keine Ahnung, ich habe nicht gefragt. Aber ich wette mit dir, daß es uns ganz sicher schmecken wird."

"Dann gibt es bestimmt Apfelkuchen zum Nachtisch. Hm!" machte Mike genießerisch, während sie zu ihren Pferden zurückgingen. "Ich glaube, ich kann ihn bis hierher riechen."

"Das glaube ich auch!" lachte Jess; er hatte das tiefschürfende Thema, das sie gerade beide so intensiv beschäftigt hatte, vorerst abgeschlossen und wollte sich jetzt wieder nur mit angenehmen Dingen beschäftigen. Von Problemen und hintersinnigen Gedankengängen hatte er im Moment wirklich genug. "Du schaffst das mindestens zehn Meilen gegen den Wind."

"Nicht ganz! Aber fünf bestimmt!"

Fast gleichzeitig mit Charlie Grovner fanden sich die beiden auf dem Ranchhof ein, wo niemand zu sehen war außer dem Cowboy, der gerade sein Pferd am Zaun der Koppel neben der Scheune festband. Vom Wohnhaus trug der milde Sommerwind den Duft nach gebratenem Fleisch und anderen lukullischen Genüssen über das Anwesen.

Charlie hatte die beiden längst bemerkt und blickte ihnen erwartungsvoll entgegen, ohne daß ihm dies auf Anhieb bewußt geworden wäre. Jess, der ihn mit einem aufmerksamen Seitenblick streifte, wollte sogar fast behaupten, daß er auf seinem wettergegerbten Gesicht so etwas wie ein verschämtes Lächeln gewahrte, das seine Zufriedenheit über etwas nicht auf Anhieb Erkennbares ausdrückte. Offensichtlich war er froh, daß seine erste Begegnung mit dem Teilhaber der Ranch an diesem Morgen so positiv ausgefallen war und er nicht wieder seine Sachen packen mußte, nachdem er hier nicht nur einen guten Job, sondern auch Menschen gefunden hatte, die ihm bis zu einem gewissen Grad sogar Familienanschluß gewährten, ohne daß da gleich irgendwelche Verpflichtungen oder selbstverständliche Gefälligkeiten mit ins Spiel kamen. Zumindest von Slim Sherman fühlte er sich nicht ausgenutzt. Von Jess Harper konnte er noch nicht viel nach ihrer kurzen Begegnung vom Vormittag sagen. Aber so, wie er nach den Schilderungen der anderen und seinem ersten Eindruck diesen Mann einschätzte, mußte mit ihm sehr gut auszukommen sein. Wenn er also ehrlich war, hatte er allen Grund, zufrieden zu sein.

Was seinen Blick allerdings so lange auf den zwei übermütigen Reitern hielt, war die spontane Feststellung, daß der Junge genau in der gleichen Weise sein Pferd führte wie der Mann. Ihre Haltung stimmte bis ins Detail überein. Der einzige Unterschied lag in ihrem Äußeren und ihrer Körpergröße.

Als Mike spitzkriegte, daß Charlie sie beobachtete, parierte er sofort seinen Browny und ließ ihn gewissermaßen Haltung annehmen, damit der Cowboy merkte, daß mit ihm etwas Besonderes war.

"Du gibst ganz schön an!" stellte Jess schmunzelnd fest und ritt in lockerem Kanter voraus bis zur Koppel, wo er neben Charlie aus dem Sattel glitt. "Hallo, Charlie!" begrüßte er den Mann in bester Laune. "Wie ich sehe, haben Sie meinen Rat von heute morgen ernst genommen. Ihr Glück, kann ich nur sagen. Der Bengel träumt schon den ganzen Tag vom Nachtisch."

"Hat immer Hunger, ich weiß."

"Hunger?" wiederholte Jess amüsiert. "Das ist der reinste Vielfraß."

Mike ritt in einer gekonnten Parade heran. Browny stelzte fast wie ein Zirkuspferd, mit hoch erhobenem Kopf und aufgeregt geblähten Nüstern; er sah sehr stolz und erhaben aus. Natürlich tat er das nur, weil Mike ihn mit entsprechenden Reithilfen dazu veranlaßte.

Das kunstvoll gearbeitete Zaumzeug unterstrich effektvoll die feine Kopfform des zierlichen Pferdes. Seit er Browny das erste Mal bei dem alten Indianer oben in Billings gesehen hatte, war Jess der unumstößlichen Meinung, daß in dem Tier – woher auch immer – eine gehörige Portion arabisches Blut steckte. Wenn es sich so konzentriert bewegte wie eben, bestand für ihn nicht der geringste Zweifel.

"Hallo, Charlie!" rief der Junge schon aus einiger Entfernung und ließ Browny sich bewegen wie ein Schaukelpferd, während er völlig gelöst im Sattel saß.

"Hallo, Mike!" Der Mann hob kurz die Hand zum Gruß. "Das machst du wirklich perfekt. Damit kannst du in jedem Zirkus auftreten."

"Sieht er nicht großartig aus?" Mike ließ Browny vor den zwei Männern tänzeln, auf der Hinterhand steigen und dann tief den Kopf beugen, daß es aussah, als verneigte er sich.

"Hervorragend!"

"Ich meine nicht, was er an Kunststücken kann, sondern sein neues Zaumzeug."

"Paßt ausgezeichnet zu deinem Browny."

"Ja, nicht wahr?" Der Junge sprang aus dem Sattel und klopfte seinem Pony den Hals für seine gute Leistung. "Das hat mir Jess geschenkt. Er hat es selbst gemacht", erklärte er stolz. "Ich muß das unbedingt Slim und Tante Daisy zeigen. Haben Sie Slim irgendwo gesehen?"

Noch ehe Charlie antworten konnte, saß Mike schon wieder im Sattel.

"Nein, nicht seit heute morgen."

"Der wird schon irgendwo stecken und es sicherlich verkraften, wenn er das gute Stück nicht sofort bewundern kann", meinte Jess ziemlich gleichmütig.

"Dann zeige ich es zuerst Tante Daisy." Mike galoppierte über den Hof an die Seitenfront des Ranchhauses, wo das Küchenfenster offenstand. "Tante Daisy! Tante Daisy!" hörten die Männer ihn aufgeregt rufen, bis die Frau endlich am offenen Fenster erschien und neugierig den Kopf herausstreckte.

"Das ist 'ne sehr gute Arbeit, alle Achtung! Da steckt ein Haufen Zeit drin und auch jede Menge handwerkliches Geschick", bemerkte Charlie anerkennend.

Jess, dessen Absicht es gewiß nicht war, mit seinen handwerklichen Fertigkeiten zu prahlen, überhörte Charlies Bewunderung hierüber absichtlich. Ihm war es schließlich nicht darum gegangen zu beweisen, was er konnte, sondern er wollte nichts anderes, als seinem Pflegesohn eine Freude damit machen. Gleichzeitig weckte diese Bemerkung unbeabsichtigt seine Erinnerung an die anfangs sich sehr schwierig gestaltende Rekonvaleszenz nach seiner beinahe fatalen Krankheit.

"Ja", sinnierte er, daß Charlie, überrascht über seinen plötzlichen Ernst, die Brauen hochzog. "Es hat in der Tat sehr viel Zeit und noch mehr Geduld gekostet. In Colorado Springs hatte ich davon mehr als genug und vor allem mehr, als mir lieb war. Ich bin froh, daß ich beides zu etwas einigermaßen Sinnvollem nutzen und dem Jungen obendrein eine Freude machen konnte."

Charlie musterte ihn nachdenklich mit einem Blick von der Seite. Dieser Mann gab ihm das eine oder andere Rätsel auf. Vielleicht legte sich dies, wenn er ihn eine Weile länger kannte. Aber ihn verwunderte, wie er in der einen Minute völlig ausgelassen und in der nächsten sehr ernst sein konnte. Auf der anderen Seite mußte er ihm jedoch zugestehen, daß das, was er hinter sich hatte, bestimmt keine leichte Zeit war, selbst für einen noch so abgebrühten Kerl. Allein schon das, was er darüber als Außenstehender mehr oder weniger notgedrungen mitgekriegt hatte, reichte, um auch bei ihm ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengrube zu verursachen. Wenn er ihn sich also so ansah und sich dabei diese ganze Geschichte vorstellte, wie ihm dies aufgrund dessen, was er wußte, möglich war, mußte er sogar zugeben, daß er ihn für seine Selbstbeherrschung bewunderte. Insofern räumte er ihm durchaus das Recht ein, von der einen zur anderen Sekunde seine Stimmung zu ändern.

"Muß nicht einfach gewesen sein, wenn ich Sie so reden höre", bemerkte der Cowboy und wagte einen vorsichtigen Blick in seine Augen, mit denen er gedankenverloren seinem Pflegesohn nachstarrte, ohne ihn wahrscheinlich überhaupt bewußt zu sehen.

Jess, der seinen forschenden Blick bemerkte, obwohl er so tat, als schaute er angestrengt hinüber zum Haus, wirkte für einen Moment wie abwesend.

"War es auch nicht", redete er über den Hof, "für keinen von uns. Aber gemessen an dem, was es für den Jungen bedeutet, war es für mich selber halb so wild."

Charlie glaubte ihm kein Wort, aber er wollte nicht weiter in ihn dringen. So gut kannte er ihn noch lange nicht, daß er gewußt hätte, wie weit genau er das tun durfte, ehe er ihn so nachhaltig verstimmte, daß es sich für längere Zeit auf seine Laune niederschlug.

"Tut mir leid, daß ich Sie daran erinnert habe", meinte der Cowboy deshalb, er müßte sich dafür entschuldigen. "Ich hätte nicht davon anfangen dürfen."

"Ist nicht Ihre Schuld, Charlie." Jess wandte den Blick vom Hof, um ihm geradewegs in die Augen zu sehen. Dabei gelang ihm sogar ein oberflächliches Lächeln. "Es erschreckt mich hin und wieder selber, wenn ich bei solcher Gelegenheit feststellen muß, daß mich das alles doch noch mehr beschäftigt, als mir recht ist. Es wäre gewiß nicht so schlimm, wenn nicht auch der Junge von Anfang an darin verwickelt wäre. Sie stellen sich nicht vor … Entschuldigen Sie, ich sollte Sie damit nicht belästigen."

"Ich bitte Sie! Sie belästigen mich doch nicht damit", wehrte Charlie ab. "Schließlich habe ich einiges während Ihrer Abwesenheit von alledem mitgekriegt. Das ließ sich ja gar nicht vermeiden. Ich muß gestehen, es hat mich zuweilen selbst nicht gerade wenig berührt. Vor allem, daß der Junge so darunter gelitten hat. Ich mag Kinder sehr. Irgendwie tat es auch mir ein bißchen weh, daß er so damit zu kämpfen hatte. Anfangs war es wirklich sehr schlimm mit ihm. Erst als er wußte, daß es Ihnen tatsächlich einigermaßen besser ging, fing er an, ein wenig aufzuleben. Seit der Zeit ist er wie ausgewechselt. So kannte ich ihn bisher gar nicht, richtig aufgeweckt, ein liebenswerter kleiner Satansbraten, der genau weiß, was er will, mit jeder Menge Unsinn im Kopf, aber erstklassig erzogen. Und er liebt Sie sehr."

"Ja, ich weiß. Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich erinnere mich an gar nicht weit zurückliegende Zeiten, in denen ich wünschte, er täte es weniger; denn wenn ich nicht zurückgekommen wäre, hätte ihm das zum Verhängnis werden können. Mit Sicherheit wäre es mir allerdings zum Verhängnis geworden, wenn er es weniger täte oder ich ihn nicht genauso liebte."

Charlie zog etwas verwirrt die Brauen hoch und sah ihn fragend an, weil er ihn nicht ganz verstanden hatte. Da Jess jedoch nicht weiter auf seinen neugierigen Blick reagierte, hielt er es für angebracht, die Hintergründe für seine Aussage nicht weiter erforschen zu wollen. Daß sie eindeutig mit dem zusammenhingen, weshalb er in Colorado Springs war und was er dort durchmachen mußte, konnte er sich auch ohne weitere Erklärung ausmalen.

Jess warf einen sinnenden Blick hinüber zum Ranchhaus, wo Mike in heller Begeisterung einer an seinem Glück teilhabenden Daisy Cooper stolz seinen Browny mit dem neuen Zaumzeug vorführte.

"Wenn ich daran denke, in welch schrecklicher Verfassung er sich befand, als ich ihn damals verlassen mußte, bin ich heute unsagbar dankbar dafür, ihn so ausgelassen wiedersehen zu dürfen. Allein das entschädigt mich für alles, was ich an körperlichen Schmerzen ertragen mußte. Dafür hätte ich sogar noch viel mehr auf mich genommen", redete er halblaut vor sich hin, mit einem Unterton in der Stimme, daß es beinahe wie ein Seufzen klang, wenig daran interessiert, ob Charlie ihm zuhörte oder nicht oder gar verstand, was hinter seinen Worten stecken könnte.

Mike beendete Jess' Reflexionen über das Vergangene, noch ehe es Charlie unangenehm wurde, sie als Außenstehender nicht allesamt in ihrer tieferen Bedeutung erfassen zu können. Gerade rechtzeitig kam der Junge zu ihnen zurück, brachte seinen Browny direkt vor ihren Füßen aus vollem Galopp zum Stehen und sprang mit glühendem Gesicht aus dem Sattel.

"Tante Daisy findet es auch toll!" verkündete er freudestrahlend. "Zu dumm, daß Slim nirgendwo zu sehen ist. Ich würde es ihm so gern zeigen. Ist er noch nicht aufgetaucht?"

"Nein, wer weiß, wo der sich herumtreibt." Jess war der kurzfristige Anflug von zurückblickendem Ernst nicht mehr anzumerken. "Spätestens wenn Daisy auf dem Triangel zum Essen ruft, wird er garantiert auftauchen. Besser, wir beeilen uns mit unseren Pferden, sonst sitzt er noch eher am Tisch als wir."

"Darf ich dein Pferd versorgen?" fragte Mike emsig. Dahinter verbarg sich nicht nur nackter Arbeitseifer, sondern eher die Absicht, mit dem Absatteln seines eigenen Ponys etwas warten zu können, falls der Rancher doch noch in den nächsten Minuten auftauchen sollte.

"Von mir aus, aber laß dir von Charlie helfen, wenn du den schweren Sattel nicht packst."

"Keine Angst, werde ihm schon unter die Arme greifen", versprach Charlie.

"Na dann …" Jess löste die Riemen seiner Satteltaschen und warf sie über die Schulter. "Aber lassen Sie sich von ihm nicht aufhalten!"

"Keine Sorge! Will mir auch noch ein bißchen den Dreck herunterwaschen und mir ein frisches Hemd anziehen."

"Ehm, Charlie", machte Jess gedehnt, während er sich am Ohrläppchen kratzte, um mit seinem Zögern die Spannung zu erhöhen, "wenn ich Ihnen den guten Rat geben darf – lassen Sie bitte den steifen Kragen im Schrank! Sie würden damit nur unangenehm auffallen."

"Soll ich Ihnen etwas im Vertrauen gestehen?" fragte Charlie nun seinerseits sehr geheimnisvoll. "Unter uns, Jess, ich habe überhaupt keinen steifen Kragen."

"Charlie, ich habe von Anfang an gewußt", meinte Jess, ihm in voller Übereinstimmung auf die Schulter klopfend, "daß Sie mir äußerst sympathisch sind und wir uns gut verstehen werden. Bis gleich!"

Damit ließ er die beiden einfach stehen, um den Hof zu überqueren.

Charlie blickte ihm grinsend nach, ehe er sich mit einem Schmunzeln abwandte, um sich an seinem Pferd zu schaffen zu machen.

"Ich glaube, Jess kann Sie gut leiden", meldete sich Mike von der anderen Seite des Pferdes, wo er an Jess' Sattel hantierte.

"Meinst du?"

"Ich denke schon, sonst würde er nicht so mit Ihnen reden." Der Junge wandte sich um und blickte den Mann erwartungsvoll an. "Sie mögen ihn doch auch, nicht wahr?"

"Bis jetzt hat er mir keinen Grund gegeben, es nicht zu tun. Scheint jedenfalls in Ordnung zu sein."

"Das ist er, das ist er ganz bestimmt!" versicherte Mike treuherzig.

Fortsetzung folgt