KAPITEL 46

Ein unwiderstehlicher Bratenduft empfing Jess an der Garderobe, wo er seinen Hut an den Haken hängte und dabei gleich feststellte, daß Slim offensichtlich auch nicht im Haus war, denn sonst hätte er hier neben der Tür garantiert seinen Revolvergurt abgelegt.

"Ich bin es nur!" rief er zur offenen Küchentür, wo Daisys Kopf erschien.

"Sie sind aber pünktlich", stellte sie amüsiert fest.

"Bin ich doch immer, wenn es etwas zu essen gibt. Wissen Sie, wo Slim steckt?"

"Keine Ahnung! Ist er nicht draußen?"

"Nein, habe ihn jedenfalls nirgendwo gesehen. Na ja, macht nichts! Wird bestimmt bald auftauchen, wenn er den leckeren Braten riecht. Der duftet ja beinahe bis nach Laramie."

"Nun übertreiben Sie doch nicht gleich wieder so maßlos!"

"Im Ernst, Daisy!"

"Ach, Sie!" winkte sie mit dem Kochlöffel ab und verschwand wieder in ihrem Reich.

Im Büro piekte Jess die Quittungen, die man ihm für die Frachttalons im Postbüro ausgestellt hatte, auf den Zettelspieß und stellte bei der Gelegenheit fest, daß sich Slim auch nicht hier hinter seinen Journalbögen und Rechnungsbüchern verkrochen hatte. Der Schreibtisch war aufgeräumt, der Federhalter lag trocken auf seinem Platz.

Dann eilte Jess die Treppe ins obere Stockwerk hoch, um seine Satteltaschen in sein Zimmer zu bringen. In den oberen Räumen war es sehr warm und stickig, weil die Sonne den ganzen Tag über aufs Dach gebrannt hatte und die Fenster geschlossen waren, damit nicht auch noch die Mittagshitze ins Haus dringen konnte. Aber jetzt war es draußen nicht mehr so heiß, daß Jess das Fenster in seinem Zimmer mit einem kräftigen Ruck nach oben schob, um frische Luft hereinzulassen. Mehr zufällig als beabsichtigt fiel sein Blick hinaus, wo er auf dem Hügel hinter dem Haus Slim entdeckte, genau an der Stelle, über die sie einst gesprochen hatten.

"Frage mich, was der Kerl da oben treibt, ausgerechnet jetzt und ausgerechnet auch noch dort!" murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin. "Ich bin ja schon schlimm genug, was diese Sache betrifft, aber er ist auch nicht besser." Entschlossen wandte er sich ab, um das Zimmer wieder zu verlassen und die Treppe hinunter zu stürmen. "Ich bin noch mal draußen!" rief er zu Daisy hinüber, die neugierig im Rahmen der Küchentür erschien, angelockt von seinem Gepolter. "Habe noch etwas zu erledigen."

"In einer guten halben Stunde gibt es Essen", warf sie ihm zur Erinnerung nach.

Er hob nur die Hand zum Zeichen dafür, daß er verstanden hatte, und verließ das Haus durch die Hintertür, worüber sich die Frau verwunderte, aber doch achselzuckend wieder in der Küche verschwand.

Von ihr sowie von Charlie und Mike unbemerkt, die vor dem Haus auf dem Hof beschäftigt waren, begann er hinter Daisys Gemüsegarten den Hügel hinaufzusteigen, teilweise verdeckt durch Büsche und das hohe Gras. Zwar war es nicht seine Absicht, sich klammheimlich an den Freund heranzuschleichen, aber ganz ungelegen kam es ihm nicht, daß dieser ihn nicht frühzeitig entdeckte. Außerdem schien Slim völlig in Gedanken versunken, daß sich Jess schon wie ein Elefant im Porzellanladen hätte benehmen müssen, damit er von weitem auf ihn aufmerksam geworden wäre. Am Rande registrierte Slim ihn erst, als er nur noch wenige Yards von ihm entfernt war, ließ sich in seiner Versunkenheit jedoch nicht stören. Trotzdem erweckte er den Eindruck, auf den Freund gewartet zu haben, als dieser ihn ansprach.

"Sag mal, was treibst du denn hier oben?" Noch ein paar Schritte mußte er sich durch hohes Gras und Gestrüpp kämpfen, wäre beinahe über einen Stein gestolpert, ehe er endlich auf gleicher Höhe mit ihm war und sich, absichtlich laut aufatmend, neben ihn stellte. "Sag jetzt bloß nicht, die Aussicht genießen!"

"Warum nicht?"

"Du willst mir also weismachen, du bist bloß hier heraufgekraxelt, um das zu tun?"

"Der Blick ist es doch wert, oder nicht?"

"Sicher, aber du siehst verdammt noch mal nicht danach aus, als ob das der einzige Grund ist. Außerdem, ich mag mich irren, aber irgendwie habe ich das Gefühl, du hast hier auf mich gewartet. Kann das sein?"

"Gewartet ist wohl zuviel gesagt." Slim warf ihm ein verschämtes Grinsen zu. "Aber ich bin trotzdem froh, daß du mich gefunden hast."

"Verdammt, Slim, was ist denn los mit dir? Du willst doch jetzt nicht etwa damit anfangen, womit ich endlich so einigermaßen aufgehört habe oder zumindest dabei bin, es zu tun."

"Das wäre?"

"Na, was wohl? In melancholische fünf Minuten versinken." Jess legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. "Hast du also irgend etwas in der Richtung?"

"Um ehrlich zu sein", druckste der Rancher zuerst unbeholfen herum, verlor nach einem Blick in Jess' offenes Gesicht jedoch rasch seine Schwierigkeiten, sich ihm mitzuteilen, "habe ich gehofft, du würdest mich von unten sehen und mir folgen. Ich wollte noch ein paar Minuten mit dir allein sein, ehe wir uns gleich mit den anderen zusammensetzen. Nicht daß es sie so ganz und gar nichts anginge, aber … Na ja, ich wollte es nicht mit zum Essen nehmen. Hinterher findet sich vielleicht auch keine passende Gelegenheit mehr heute abend."

"Kannst du dich nicht einmal ein bißchen genauer ausdrücken? Wovon redest du?" fragte Jess, im Grunde nur halb so ahnungslos, wie er sich gab. Sein Verdacht wanderte in eine bestimmte Richtung. Wenn er sich den Freund betrachtete und so merkwürdig reden hörte, konnte es sich nur um das handeln, was er vermutete. "Dann machst du dabei auch noch ein Gesicht, als kämst du gerade von einer Beerdigung. Und das alles ausgerechnet hier oben, an der Stelle, die ich damals meinte. Das kann doch kein Zufall sein!"

"Du hast recht, es ist kein Zufall." Slim mühte sich redlich um ein Lächeln, aber seine Augen blieben eine Spur zu ernst dafür. Fast machte er dabei den Eindruck, zwischen völlig widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen zu sein. "Ich … ich habe hier tatsächlich etwas zu Grabe getragen, zumindest habe ich es versucht."

Jess atmete unwillig auf. Daß Slim so lange um den heißen Brei redete, gefiel ihm nicht besonders, weil er nicht sicher war, ob er dies nur tat, um das Dramatische mit Absicht zu betonen und ihn damit auf die Folter zu spannen, oder weil er selbst nicht genau wußte, was er wollte.

"Du bist ein einziges Rätsel. Zu Grabe getragen …", redete er ihm abfällig nach. Um ihn aus der Reserve zu locken, setzte er dem Ganzen sogar eine makabre Krone auf. "Mich kannst du ja nicht verbuddelt haben. Ich glaube auch nicht, daß es dir leid tut, weil du es nicht konntest. Wenn ich dich allerdings so unausgegoren reden höre und mir diesen tiefsinnigen Ausdruck in deinem Gesicht angucke, muß ich ja fast annehmen, daß du es doch bedauerst."

Mit einem Ruck riß Slim den Kopf herum und starrte ihn entgeistert an. Diese Bemerkung wirkte offensichtlich wie ein Schlag ins Gesicht, obwohl Jess selbst in einem Alptraum nicht auf die Idee gekommen wäre, dies tatsächlich halb so ernst zu meinen, wie es sich zumindest für einen Außenstehenden angehört hatte. Daß Slim im ersten Augenblick beinahe so reagiert hätte, wäre nur Anlaß für eine endlose Diskussion gewesen. Zum Glück war er aber auf eine solche trotz seiner etwas nachdenklichen Stimmung nicht aus. Vor allem auch, weil Jess nicht den todernsten Eindruck erweckte, der zum eigentlichen Sinn seiner Worte gepaßt hätte.

"Hat sich das wirklich so angehört?" vergewisserte sich Slim statt dessen mit aufgehellter Miene, fast ein wenig überrascht.

"Ja, verdammt! Für einen, der es nicht besser weiß, schon!"

"Tut mir leid, war nicht meine Absicht, aber ich war wirklich völlig in Gedanken."

"Willst du mir denn nicht sagen, was los ist? Ich dachte, du wolltest unter vier Augen mit mir reden, oder soll das vielleicht ein munteres Rätselraten werden? Dann solltest du mir aber wenigstens ein Stichwort geben, sonst kann sich das noch Stunden hinziehen. Nun komm schon, Partner, sonst werden wir nämlich das Abendessen verpassen. Und das möchte ich wiederum nicht riskieren, nicht bei dem Braten, den Daisy in der Röhre hat. Also?" Nach seinem munteren Redefluß sah Jess ihn erwartungsvoll an. Seine gute Laune schien heute durch nichts zu erschüttern zu sein. Außerdem hatte er das untrügliche Gefühl, daß Slim weder verstimmt, noch verärgert und auch nicht so melancholisch introvertiert war, wie er vorgab zu sein. Als ihn der Freund endlich angrinste, atmete er hörbar auf, um Erleichterung vorzutäuschen, die er im Grunde gar nicht nötig hatte. "Na, endlich!" seufzte Jess. "Ich dachte schon, mit dir ist heute gar nichts mehr anzufangen."

"Ich habe mich nur nicht getraut, etwas zu sagen, weil du ja redest wie ein Wasserfall."

"Wasserfall?" empörte sich Jess zum Spaß und versetzte ihm einen gehörigen Knuff in die Seite. "Ist schließlich kein Wunder, wenn ich das für zwei tun muß."

"Dann ist es wohl an der Zeit, dich in der Beziehung etwas zu entlasten, was?" witzelte der Rancher mit versöhnlichem Grinsen. "Sag mal", er haute ihm mit einem ordentlichen Schlag die flache Hand auf den Rücken, um sich für den Knuff entsprechend zu revanchieren, "wie war es denn überhaupt in der Stadt? Konntest du einen Termin bei Majors vereinbaren?"

Ein wenig irritiert zog Jess die Brauen hoch. Er war sich absolut sicher, daß der Freund ihm auswich, denn diese Frage konnte unmöglich der Grund dafür sein, daß er ihn vor dem Essen unter vier Augen sprechen wollte – und das ausgerechnet hier oben, an der Stelle, wo er sich nur um eine sehr dünne Haaresbreite beinahe für immer von ihm hätte verabschieden müssen. Obwohl Jess genau wußte, daß er sich nicht in seiner Ahnung täuschte, ging er auf diese Frage ein, denn so unwichtig wie Allerweltsgerede, nur um Konversation zu machen, war sie nicht.

"Verlief alles bestens", erwiderte er, zuerst etwas widerstrebend und deshalb kurz, aber dann doch weiter ausholend mit dem Gedanken im Hintergrund, den Freund in ein lockeres Gespräch zu verwickeln, um ihn in dessen Verlauf unbemerkt zurück auf den Punkt zu bringen. "Wir können Freitagmorgen gegen zehn bei ihm vorbeikommen. Machte auf mich einen ziemlich entgegenkommenden Eindruck und betonte sogar, daß es mit der Finanzierung keine Probleme geben dürfte, weil er uns für die Hypothek die günstigsten Konditionen einräumen wollte, die er von der eigenen Rendite her gesehen verantworten kann. Was immer er damit genau meinte, es hat sich gut angehört, so wie er das sagte."

"Hört sich tatsächlich gut an."

"Ja." Jess folgte ihm und setzte sich neben ihn auf den Felsbrocken, auf dem sich Slim gerade niedergelassen hatte. "Und anschließend können wir bei Wendridge gleich die Eintragung ins Grundbuch vornehmen lassen. Er sagte, er sei die ganze Woche in seinem Büro, weil er keinen Termin außerhalb hätte. Wir können kommen, wann es uns paßt."

"Ausgezeichnet! Dann werden wir diese Woche ja noch rechtmäßige Besitzer des Minarrow-Landes."

Slim sagte dies nicht ohne Stolz, mit der zufriedenen Gewißheit, die Freude über diesen Erfolg mit dem Mann teilen zu dürfen, dessen unermüdlichem Einsatz sie es im Grunde verdankten, daß sie heute die Früchte ihrer jahrelangen harten Arbeit ernten durften. Dazu gehörte unter anderem auch die Vergrößerung des Grundbesitzes um ein beträchtliches Stück fruchtbaren Landes, das zwar während der ersten Zeit mit erheblichen Schulden belastet wäre, die jedoch nicht die Existenz der Ranch gefährdeten und mit entsprechendem Arbeitseinsatz ohne erdrückende Belastung zu tilgen waren.

"Ja, sieht so aus. Ich bin übrigens heute nachmittag mit Mike auf der anderen Seite des Flusses entlang geritten und hab' es mir noch einmal angesehen."

"Und?"

"Wenn der Kauf unter Dach und Fach ist, sind wir Eigentümer vom besten Weideland weit und breit, mit soviel Wasser, daß wir nie Probleme mit der Versorgung kriegen werden. Die Weide da drüben ist so fett, daß sich unser Vieh kugelrund fressen kann und genug übrig bleibt, damit wir für den Winter kein zusätzliches Futter kaufen müssen. Alles in allem werden wir mit diesem Kauf ein ausgezeichnetes Geschäft zu einem wahren Spottpreis machen."

"Ja, wirklich ein Glück, daß die Erben vom alten Minarrow nichts mit Viehzucht am Hut und sich zerstritten haben. Wenn die nicht so schnell das Land hätten abstoßen müssen, um das Geld zu teilen, und die Bank uns nicht ein Optionsrecht eingeräumt hätte … Ach, was soll's! Uns kann es schließlich nur recht sein."

"Sicher, obwohl wir uns damit einen Haufen zusätzliche Arbeit aufhalsen. Sämtliche Zäune müssen da komplett neu angelegt werden. Und von den Ranchgebäuden können wir höchstens Teile des Wohnhauses als Weidehütte oder Außenspeicher verwenden. Stall und Schuppen sind vor kurzem erst niedergebrannt. Muß wohl der Blitz eingeschlagen haben."

"Ja, ich weiß, letzten Monat. Habe die Rauchfahne gesehen und bin hinübergeritten. War nichts mehr zu retten. Na ja, vielleicht können wir dadurch den Preis etwas drücken. Wie dem auch sei, wir kaufen das Land ja nicht wegen der Gebäude, die darauf stehen. Und Berge von Arbeit sind wir schließlich gewöhnt. Zum Glück haben wir ja Charlie, der uns helfen kann. Das heißt …" Slim sah den Freund neben sich mit einem forschenden Seitenblick an. "Hast du mit ihm denn schon Bekanntschaft gemacht?"

"Ja, natürlich!"

"Und?"

"Nichts und. Scheint tatsächlich ein guter Mann zu sein, der ordentlich arbeitet, auch ohne daß man ständig hinter ihm stehen und aufpassen muß."

"Dann bist du also mit ihm einverstanden und er kann bleiben?"

"Sicher kann er das."

"Hast du ihm das gesagt?"

"Klar!" Jess grinste breit. "Habe ihm allerdings auch gesagt, daß das nur unter einer Bedingung geht."

"Die wäre?" verwunderte sich der Rancher, obwohl er sich eigentlich nur etwas Ähnliches vorstellen konnte, was gleich als Antwort kam.

"Genauso hat er auch gefragt. Habe ihm den eindringlichen Rat erteilt, sich auf der Stelle den Mr. Harper abzugewöhnen."

"Und?"

"Hat auf Anhieb geklappt."

"Hätte mich auch gewundert", grinste nun auch Slim. "Charlie neigt zwar ein bißchen zur Eigenbrötlerei, aber eines ist er gewiß nicht: schwer von Begriff. Ich hoffe wirklich, daß wir ihn auf längere Sicht halten können."

"Mit Sicherheit, dafür wird schon allein die gute Verpflegung sorgen. Er scheint jedenfalls von Daisys Küche begeistert zu sein."

"Kennst du jemanden, der das nicht ist?"

"Mir fällt im Moment niemand ein. Um aber noch einmal auf die Arbeit zurückzukommen, Slim, wir werden trotz Charlie noch mindestens zwei, anfangs wohl eher drei oder noch mehr Hilfskräfte brauchen, wenn wir das Minarrow-Land richtig bewirtschaften wollen. Außerdem darfst du nicht vergessen, daß mit mir während der nächsten paar Monate nicht voll zu rechnen ist. Schätze, Zaunpfähle setzen und Draht spannen gehört zu den Arbeiten, die vorläufig nicht zu meinem Einsatzgebiet zählen."

"Ich werde schon aufpassen, daß du davon die Finger läßt, keine Sorge! Ich bin sogar dafür, daß du auf der Weide erst einmal gar nichts zu suchen hast. In der unmittelbaren Nähe der Ranch gibt es jede Menge Arbeit für dich, die anstrengend genug ist, ganz zu schweigen von diesem lästigen Depotbetrieb, den wir sobald wie möglich aufgeben sollten, sofern der Verkehr nicht endlich von seiten der Gesellschaft eingestellt wird."

"Ja, ich weiß. Kellington ist diese Woche übrigens auf Geschäftsreise, sonst hätten wir ihn am Freitag gleich mit verarzten können."

"Du bist jetzt also auch dafür, daß wir die Konzession nicht verlängern?"

"Ich war doch noch nie dagegen, oder? Wenn Kellington unbedingt das Depot halten will, können wir auf seine beziehungsweise auf Kosten der Gesellschaft ja eine Hilfskraft einstellen, die sich darum kümmert, aber wir nichts mehr weiter damit zu tun haben. Wir können es uns jedenfalls vom Zeit- und Arbeitsaufwand her wirklich bald nicht mehr leisten."

"Warst du auch beim Arzt?"

"Selbstverständlich!"

"Was sagt er?"

"Alles in Ordnung. Ehrlich!" bekräftigte Jess und schlug ihm kräftig die Hand zwischen die Schulterblätter. "Jetzt guck nicht so mißtrauisch! Ich bin in Ordnung, glaub mir! Er hat mir nur genauso wie Tyler für die nächste Zeit das leichteste an Arbeit und das beste vom Essen verordnet. Das heißt, während ich mich in der Nähe von Daisys Kochtöpfen herumtreiben werde, wirst du Charlie draußen auf der Weide helfen, nicht daß uns der Ärmste doch noch vor lauter Frust über nicht endende Arbeit wegläuft. – Du glaubst mir nicht?"

"Ich traue dir nicht über den Weg."

"Ach?" Jess grinste beinahe hinterhältig vor sich hin. "Wohl in keiner Beziehung, was?"

"Wie meinst du das?"

"Hast du mir deshalb nicht gesagt, daß am Samstagabend Tanz im Hotel ist?"

"Daran habe ich …" Slim brach ab und begann scheinheilig zu schmunzeln. Daran hatte er zwar wirklich nicht gedacht, weil es für ihn wichtigeres gegeben hatte, was er bei ihrem Wiedersehen nach so langer Zeit an diesem Morgen zu sagen hatte, aber die Art, wie der Freund danach fragte, forderte ihn regelrecht zu einer entsprechenden Antwort heraus. "Du hast es erfaßt, Partner!"

"Na ja, macht nichts!" erwiderte Jess, obwohl er sofort wußte, daß die Bemerkung nicht ernst zu nehmen war. "Habe es inzwischen auch ohne dein Zutun erfahren."

"Kaum da und hast wohl schon eine Verabredung, was?"

"Was dagegen?" Jess riß ein paar Grashalme aus und sortierte sie, als suchte er sich sorgfältig einen bestimmten aus, den er selbstgefällig zwischen die Zähne schob. "Und überhaupt …" Beim Sprechen hüpfte das aus seinem Mund ragende Ende des Halms aufgeregt auf und ab. "Was heißt hier, schon?"

"Jetzt tu nicht gleich wieder so, als ob …"

"Als ob was?"

"Nichts, gar nichts!" Slim machte mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung. "Ich bin nur froh, daß du diesen Punkt anscheinend auch allmählich hinter dir zu haben scheinst."

"So weit, wie du jetzt annimmst, habe ich ihn noch nicht hinter mir, aber doch schon ein gutes Stück."

Slim beobachtete ihn eine Weile, wie er versonnen zum Horizont starrte und dabei auf dem Grashalm herum kaute.

"Mort erzählte mir, daß sie ein paarmal nach dir gefragt hat. Er meinte sogar, es war ein paarmal zu oft. Sie scheint wirklich besorgt gewesen zu sein."

"Hat er mir auch erzählt."

"Ich habe schon längere Zeit den Verdacht, daß du ihr nicht gleichgültig bist."

"Ach, wirklich?"

"Ja, ach, wirklich!" Slim haute ihm mit der Faust auf den Oberschenkel. "Ich gehe jede Wette ein, sie mag dich, sonst wäre sie nicht so an deinem Befinden interessiert gewesen." Seine Faust landete zum zweitenmal an der gleichen Stelle auf seinem Bein. "Und du kannst mir nicht weismachen, daß sie dir gleichgültig ist. Habe ich recht?"

"Deshalb mußt du mir nicht gleich einen blauen Fleck schlagen", beschwerte sich Jess zum Spaß und rempelte ihn heftig an. "Oder willst du, daß ich anfange zu humpeln, damit ich am Samstag nicht in die Stadt kann? Im übrigen hat das alles nicht viel zu bedeuten. Bin früher doch schon das eine oder andere Mal mit ihr ausgegangen. Schön, ich mag sie, aber mehr kann ich im Moment noch nicht erkennen."

"Abwarten!" meinte Slim vielbedeutend. "Übrigens, Clem Brittfield hat geheiratet. Weißt du das schon?"

"Ja, Mort hat es mir erzählt. Hat das vielleicht irgend etwas mit mir zu tun?"

"Nein, überhaupt nicht!" ließ Slim sehr theatralisch verlauten. "Aber vielleicht solltest du schon einmal langsam daran denken und dich darum kümmern, wo du passendes Bauholz herkriegst."

Jess lachte amüsiert auf, nahm den Grashalm aus dem Mund, um ihn übermütig nach dem Freund zu werfen. Dann versetzte er ihm einen ordentlichen Schubs, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und von dem Felsbrocken gekippt wäre.

"Du hast sie ja nicht alle!" prustete er. "Oder willst du mich aus einem bestimmten Grund aus dem Haus haben? Vielleicht hast du da inzwischen … Ich meine, ich war ja eine ganze Weile nicht da und konnte deshalb nicht auf dich aufpassen …"

"Jetzt hast du sie aber nicht alle!"

"Nun tust du so scheinheilig, als ob …"

"Im Ernst, Jess, sie ist eine sehr ansprechende Person und auch sehr intelligent. Ich glaube, sie würde gut zu dir passen."

"Also, irgendwie habe ich das Gefühl, heute ist jeder darauf aus, mich mit Miss Finch zu verkuppeln. Zuerst fing Mort damit an, dann meinte sogar Mike, er müßte seinen Senf dazu geben, und jetzt kommst du und versuchst es ebenfalls. Hat das einen bestimmten Grund?"

"Woher denn!" wies Slim mit einer wahren Unschuldsmiene von sich. "Aber du magst sie doch auch. Ist es da denn so abwegig …"

"Slim, zwischen mögen und lieben ist für meine Begriffe ein himmelweiter Unterschied. Und mögen allein reicht mir nicht, damit ich mir Gedanken über Bauholz mache. Sollte ich irgendwann einmal ernsthaft damit anfangen, werde ich es dich als erstes wissen lassen."

"Na, Gott sei Dank! Es wäre verdammt langweilig auf Dauer ohne dich in unserem Haus. Die Erfahrung mußte ich in den vergangenen paar Monaten leider machen."

"Sag jetzt bloß nicht, du hast meine nächtliche Husterei vermißt!"

Sofort wurde Slim etwas ernster.

"Gott, wie könnte ich!" sagte er in verhaltenem Ton.

"Müßte dich auch glatt enttäuschen." Jess konnte dies im Gegensatz zu dem Rancher viel gelassener sehen. "Würde es mir nämlich auch dir zuliebe nicht wieder aneignen."

"Wir sollten darüber nicht so viele Witze machen."

"War nicht meine Absicht."

Mit einem Mal verstummte ihr kurz zuvor noch heiteres Gespräch. Wortlos saßen sie nebeneinander auf dem Felsbrocken, ohne daß ihnen diese Stille unangenehm zu werden begann. Ein wenig selbstvergessen hingen sie ihren Gedanken nach, die so unterschiedlich gar nicht waren, befaßten sie sich doch weniger mit der Vergangenheit, als vielmehr mit ihrer augenblicklichen Gegenwart und Aussicht auf die Zukunft, die sie miteinander teilen wollten, und waren offensichtlich froh, daß ihnen dies weiterhin vergönnt war.

"Slim", brach Jess nach einer langen Weile das Schweigen, während dem nur das leise Rauschen des Grases zu hören war, durch das sanft der milde Abendwind strich, der den würzigen Geruch von Salbei herantrug, "jetzt haben wir uns wie lange über alles mögliche Wichtige und Unwichtige unterhalten, aber du kannst mir nicht vormachen, daß das dabei war, worüber du unbedingt vor dem Essen unter vier Augen mit mir reden wolltest. Habe ich recht?"

Slim antwortete nicht darauf, sondern sah ihn nur stumm an. Sein vielsagender Blick war Bestätigung genug. Trotzdem oder gerade deshalb spürte Jess überdeutlich, daß er auf ein weiteres Signal von ihm wartete. Offensichtlich tat er sich unheimlich schwer damit, einen Anfang zu finden, nicht etwa, weil er sich nicht getraute, mit dem Freund über diese ihm so wichtig erscheinende Sache zu sprechen, sondern weil er nicht wußte, wie er sich ihm mitteilen sollte. Das lag gewiß nicht an Jess, sondern ausschließlich an ihm selbst, an seiner Unfähigkeit, die passenden Worte zu finden.

"Scheint ja ein gewaltiges Problem für dich zu sein, mit mir darüber zu reden", bemerkte Jess deshalb mit hochgezogenen Brauen und einem schiefen Seitenblick.

"Das hat nichts mit dir zu tun!" hatte Slim das unwiderstehliche Bedürfnis, dies sofort klarzustellen. "Es ist nur …" Er brach ab, weil er schon wieder das Ende seiner in Worte gefaßten Gedanken erreichte.

"Es hat mit deinem Gefasel von vorhin zu tun, über Begraben und so, stimmt's?" vermutete Jess sehr treffend, worauf er jedoch nur ein kurzes Kopfnicken erntete. "Na, komm schon! Stell dich nicht so an! Nachdem du mich ja wohl kaum unter die Erde gebracht hast oder gar noch bringen willst, kann es ja nur …" Auch sein eindringlicher Blick brachte Slim nicht dazu, endlich mit der Herumdruckserei aufzuhören. Schließlich hielt Jess diese Geheimniskrämerei nicht mehr aus, zudem es sich um eine solche für ihn von Anfang an gar nicht handelte. Da Slim allerdings fest auf seine Schützenhilfe zu warten schien, wollte er ihm diese endlich gewähren, sonst hätten sie wahrscheinlich dieses vermeintliche Problem so schnell nicht gelöst, auf keinen Fall noch vor dem Essen. "Du hast sie endlich weggeworfen, nicht wahr?" warf er ihm genau das Stichwort zu, auf das er anscheinend wartete, die Frage mit einer entsprechenden Handbewegung betonend, indem er mit seiner Rechten über die Brusttasche von Slims Hemd strich; durch den dünnen Stoff konnte er nur die Uhr fühlen, die er ihm zum Geschenk machte.

"Ja", nickte der Rancher mit einer wahren Trauermiene, von Redseligkeit keine Spur.

"Muß dir ja wahnsinnig schwer gefallen sein, dich von dem Ding zu trennen. Du machst jedenfalls ein Gesicht, als hättest du dein liebstes Stück verloren."

"Das täuscht."

"Du meine Güte!" stöhnte Jess, dem es allmählich zuviel zu werden begann, derjenige zu sein, der diese zähe Unterhaltung alleine trug. "Muß ja eine Mordsbeerdigung gewesen sein. He!" Er rempelte ihn an und machte einen fragwürdigen Versuch, ihn aus seiner Verstocktheit zu befreien. "Man könnte glatt meinen, es wäre dir leichter gefallen, mich unter die Erde zu schaffen."

"Jess, bitte, mach dich darüber nicht lustig!" schien er tatsächlich einen ersten Erfolg verbuchen zu können.

"Na, entschuldige mal, es liegt mir fern, darüber herzuziehen, aber irgendwie muß ich dich ja zum Reden bringen. Verdammt, Slim, nun stell dich nicht so an! Jetzt, nachdem wir alles einigermaßen gut hinter uns gebracht haben, dürfte es dir doch nicht so schwer fallen, auch darunter einen Schlußstrich zu ziehen."

"Habe ich doch getan, sonst hätte ich sie bestimmt nicht weggeworfen, oder?"

"Sicher, aber mir scheint, es tut dir schon leid."

"Ach, Unsinn! Das bildest du dir ein. Es ist nur … es ist … Herrgott, ich weiß halt nicht, ob ich das, was daran hängt, auch los bin, weißt du, so richtig ganz und nicht nur so ein bißchen."

"Slim, ich habe dir schon tausendmal gesagt, daß ich dir nichts vorzuwerfen habe und es mir auch nicht im Falle von geistiger Umnachtung in den Sinn käme, etwas in der Richtung zu tun. Ich müßte sonst an unserer Freundschaft zweifeln. Aber genau das kannst du nicht von mir verlangen. Selbst wenn es so etwas wie eine – sagen wir – Mitschuld gäbe, zu deren Anerkennen ich mich in drei Teufels Namen überreden ließe, wenn ich dir damit unbedingt den Gefallen erweisen soll, hättest du sie längst abgetragen."

"So etwas kann man nicht abtragen. Ich konnte endlich diese Kugel wegwerfen, weil es nichts weiter als ein wertloses Stück Blei war; aber ich kann nicht die Erinnerung an das wegwerfen, was dieses verfluchte Ding angestellt hat, und daran, was ich habe geschehen lassen. Vielleicht komme ich mit der Zeit darüber hinweg, aber ich kann es nicht vergessen. Und so lange ich es nicht vergessen kann, werde ich mich immer wieder fragen, warum es geschehen mußte. Ich werde immer wieder darüber stolpern."

"Vielleicht solltest du es dann nicht so krampfhaft versuchen. Vielleicht kannst du dann mit einem Mal erkennen, daß das, was wir damals in Colorado Springs zusammen erlebt haben, diese Schuld, ob eingebildet oder nicht, für alle Zeiten bereits getilgt hat. Du hast es in deiner Halsstarrigkeit bloß noch nicht bemerkt."

"Schön wäre es."

"Es ist so, glaube mir! Dein Verstand gibt mir recht, sonst hättest du das Ding nämlich nicht weggeworfen, weder heute noch irgendwann später. Aber dieser verbohrte Dickschädel in dir sträubt sich, das einzusehen."

Slim machte eine hilflose Geste und starrte einen Moment vor sich hin, ehe er die Schultern zuckte und beinahe nachgiebig, wenn auch nicht ganz einsichtig, einräumte:

"Wer weiß, vielleicht hast du sogar recht."

"Das habe ich – hundertprozentig!"

"Aber du denkst jetzt hoffentlich nicht, daß ich damals nur deshalb zu dir gekommen bin, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte."

"Du hast manchmal wirklich haarsträubende Ideen!" entfuhr es Jess kopfschüttelnd, sich selbst nicht ganz im klaren, wie er auf so etwas reagieren sollte. "Denkst du im Ernst, ich könnte dann heute hier auf diesem Felsbrocken neben dir hocken? Wenn ich das jemals angenommen hätte, hättest du mich damals wahrscheinlich nach Hause holen und genau an dieser Stelle verscharren müssen. Kein Mensch kann erklären, was genau in jenen Augenblicken vor sich ging, als ich den Tod in mir hatte und du mit deiner bloßen Anwesenheit dafür sorgtest, daß das Leben zu mir zurückkehrte. Darum sollte auch niemand versuchen, da irgend etwas ergründen zu wollen. Aber eines weiß ich ganz genau: hätte damals auch nur die kleinste Uneinigkeit zwischen uns gestanden, es hätte – was immer da auch vor sich gegangen sein mag – nicht funktioniert und ich wäre nicht mehr am Leben."

"Möglich, aber wenn ich nicht schon bei dem Überfall versagt hätte, wäre es erst gar nicht so weit gekommen. Das vergißt du nur allzu gern, wie mir scheint."

"Und mir scheint, du verdrehst da etwas. Du kannst nicht in einem Moment versagen, wenn die Dinge, die geschehen, nicht zu ändern sind. Im entscheidenden Moment aber hast du nicht versagt. Da warst du nämlich bei mir, genau in dem Augenblick, als ich dich am meisten brauchte, als mir außer dir niemand sonst mehr helfen konnte. Als du mir wirklich helfen konntest, hast du es auch getan. Nur das allein zählt für mich und sonst nichts! Und für dich sollte ebenfalls nichts anderes zählen, Partner!"

Jess legte ihm mit sanftem, aber doch unmißverständlichem Druck die Hand auf die Schulter, um die Gewichtigkeit seiner Worte entsprechend zu unterstreichen. Er hatte mit ruhiger, beinahe verhaltener Stimme gesprochen, aber gerade damit Unumstößlichkeit bekundet, gegen die er kein Argument, keinen noch so geringen Einwand dulden würde – auch nicht oder vor allem nicht von dem Mann, der da neben ihm auf dem Felsbrocken hockte und an seinen Worten offensichtlich enorm zu kauen hatte. Das verriet jedenfalls eindeutig der verkniffene Gesichtsausdruck des Ranchers und die Tatsache, daß er die ganze Zeit wie weggetreten auf einen bestimmten Grasbüschel vor sich am Boden starrte.

Endlich hob er den Kopf. Sogar ein recht verschämtes Lächeln huschte um seinen Mund, als er, mit den Ellbogen auf seine Oberschenkel gestützt und mit dem Oberkörper weit nach vorn gebeugt, Jess endlich halb von unten, halb von der Seite her ansah. Bald grinsten sie sich gegenseitig an. Sie hatten sich verstanden.

Da griff Slim in seine Brusttasche und holte die goldene Uhr hervor.

"Weißt du, Jess, es ist schon merkwürdig, aber als ich die Uhr da oben hineinsteckte, war plötzlich kein Platz mehr darin für diese Kugel." Mit beinahe kindlichem Erstaunen wog er die Uhr in der Hand. "Als ob sich die beiden Metalle nicht vertragen hätten."

"Ich glaube, das hatte nichts mit den verschiedenen Metallen zu tun, sondern hing an den gegensätzlichen Symbolen, die hinter den Gegenständen stehen. Wir werden das Vergangene mit Sicherheit nicht vergessen, aber wir müssen es endlich als abgeschlossen betrachten. Nur allzu leicht könnte es uns irgendwann den Blick für die Zukunft versperren, von der wir vorhin so positiv gesprochen haben. Das dürfen wir nicht zulassen, denn sonst wäre alles, was wir durchgestanden haben, vergebens."

"Ja", pflichtete Slim dem mit Nachdruck bei, als hätte er endlich das Licht am Ende eines langen dunklen Stollens entdeckt, "du hast recht, Partner." Er ließ die Uhr in seine Brusttasche gleiten und legte nun auch dem Freund die Hand auf die Schulter, daß es aussah, als hätten sie sich zu einer Verschwörung auf diesem Felsbrocken eingefunden. "Jedenfalls danke ich dir, daß du das so treffend für mich gesagt hast. Ich hätte es nicht so gut erklären können."

"Soweit ich mich erinnre, hast du es auch nicht ernsthaft versucht", bemerkte Jess grinsend und ohne jeden Vorwurf. "Aber laß dir jetzt bloß nicht einfallen zu behaupten, du wärst ja nicht zu Wort gekommen, weil ich geredet habe wie ein Wasserfall!"

"Hast du doch auch!"

Damit war die Spannung endlich gelöst.

"Das habe ich jetzt also als Dank dafür, daß ich mir den Mund fusselig geredet habe, bloß um deinen Verstand wieder in Gang zu bekommen."

"Du weißt doch, Undank ist der Welt Lohn."

"Ja, scheint wirklich etwas Wahres dran zu sein."

Sie schlugen sich kräftig gegenseitig auf die Schulter.

Jess erhob sich als erster mit einem tiefen Atemzug, streckte sich mit weit ausholender Geste, um voller Zufriedenheit den Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

"Von hier oben kann man bis hinüber zum Fluß sehen", stellte er plötzlich fest, ohne Bezug zu dem vorher Gesagten, in die Richtung gegen die tief stehende Sonne blinzelnd, wo der Wasserlauf sich wie ein silbernes Band am Horizont schlängelte. "Komisch, das habe ich noch nie so bewußt gesehen."

"Ja", meinte Slim, der sich ebenfalls erhob und neben ihn trat, "wenn die Luft klar ist, hat man von hier oben wirklich einen atemberaubenden Rundblick. Du wirst lachen, aber ich habe das auch erst heute so bewußt festgestellt."

"Wir sollten vielleicht öfter einmal die Aussicht von hier oben genießen, anstatt bloß hierauf zu kommen, wenn sich eines unserer Zuchttiere hierher verlaufen hat und da hinten", Jess deutete unbestimmt über die Schulter hinter sich, "im Gestrüpp hängt."

"Keine schlechte Idee."

Für ein paar Augenblicke genossen sie wortlos die Aussicht auf das fruchtbare Land, das ihr Eigentum war.

"Fällt dir eigentlich gar nichts auf?" fragte Jess auf einmal mit fast andächtiger Stimme, ernst und doch erleichtert zugleich, während er hinunter auf die Ranchgebäude blickte, die sich um den Hof gruppierten, umgeben von den Korralen für die Ersatzpferde.

"Was soll mir denn auffallen?" verwunderte sich Slim und folgte seinem Blick.

"Über dem Anwesen liegt kein Schatten mehr."

"Welcher Schatten denn?"

"Der Schatten des Todes."

Slim musterte ihn forschend von der Seite. Wollte sich der Freund nun selbst etwa in Tiefsinnigkeit ergehen, nachdem er ihn gerade davon befreit hatte? Wider allen Erwartens machte Jess jedoch eher einen ausgeglichenen Eindruck ohne den geringsten Anflug von Melancholie. Er schien sogar ausgesprochen zufrieden mit sich und der Welt, ganz so, als hätte er mit seiner Bemerkung lediglich etwas völlig Selbstverständliches festgestellt.

"Ja", atmete der Rancher deshalb auf, "vor allem über dir liegt er nicht mehr."

"Nein, Slim, über uns allen liegt er nicht mehr. Und er steht auch nicht mehr zwischen uns."

"Hat er das tatsächlich getan?" vergewisserte sich der Freund, der da einen gewissen Widerspruch zu dem erkennen wollte, was Jess ihm wenige Minuten zuvor klarzumachen versucht hatte.

"Nein", kam es mit unerschütterlicher Konsequenz, die Slims Verdacht sofort zunichte machte, "denn sonst läge ich wahrscheinlich genau an dieser Stelle unter der Erde."

Slim legte ihm kameradschaftlich die Hand auf den Rücken.

"Um so besser wird uns gleich Daisys Essen schmecken", meinte er erleichtert.

"Mit Sicherheit!" bekräftigte Jess. Nach den hinter ihm liegenden Widrigkeiten, die das Schicksal während der vergangenen Monate immer wieder für ihn parat hatte und die permanent sein Leben bedrohten, fühlte er sich jetzt erst so richtig frei, weil er wußte, daß es auch sein bester Freund soweit überstanden hatte. "Mit Sicherheit!" wiederholte er zum Nachdruck.

Eine Weile standen sie schweigend dort auf dem Hügel, Schulter an Schulter, in Gedanken und im Herzen freundschaftlich zutiefst verbunden, blickten mit Stolz auf das, was sie in mühevoller Arbeit gemeinsam aufgebaut hatten.

Das warme Licht des sich zu Ende neigenden Tages überflutete ihre Gesichter und ließ zwei Augenpaare glänzen, zuversichtlich, unerschrocken.

Vor ihnen öffnete sich eine weite Zukunft. Den Freunden von der Sherman-Ranch blieb noch viel Zeit, diese ihre Zukunft zu erleben.

ENDE VON TEIL III

und

ENDE DER GESCHICHTE