Disclaimer: Nein, an den Urheberrechten zugunsten Prof. Tolkien hat sich nichts geändert. Hmpf!

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Kapitel 6: Das Blut der Sterblichen

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Eigentlich gab es nur noch sehr wenig, das Elrohir wirklich überraschen konnte. Elronds Sohn korrigierte sich – natürlich gab es noch eine ganze Menge, das ihn überraschen konnte, aber die Landschaften Mittelerdes gehörten normalerweise nicht mehr dazu.

Immer wenn Galen davon erzählt hatte, im Wald von Rhûn zu leben, hatte er vor seinem inneren Auge eine Art Mischung aus Lorien, Düsterwald und den alten Wäldern des Westens vor Augen gehabt. An solchen Orten lebten Elben, schlugen sich mit den Schatten des Dunklen Herrschers herum und bewegten sich ansonsten in der kühlen Dämmerung alter Bäume.

Die Rhûna machten natürlich wieder eine Ausnahme. Das zumindest überraschte ihn nicht. Die, die er bislang kennen gelernt hatte, waren allesamt exzentrisch und ebenso war es der Platz, den sie sich zum Leben ausgesucht hatten. Dieser Wald war zwar auch dämmrig und alt, aber mitnichten kühl. Es war warm, sehr warm und die Luft so mit Feuchtigkeit getränkt, dass Elrohir sich bei jedem Atemzug beinahe wunderte, kein Gurgeln aus seiner Kehle zu hören. Der Boden unter seinen Füßen war weich und nachgiebig. Estel, der vor ihm ging, hinterließ tiefe Abdrücke darin, in denen sich sofort eine dünne Schicht Wasser sammelte.

Mit der Wärme und dem Wasser zeigten auch die Pflanzen ein geradezu beängstigendes Wachstum. Nichts hier schien einfach nur klein zu sein. Die Farne standen zwischen den dick mit Moos besetzten Bäumen und glichen selber welchen, so groß waren sie. Außerdem passten sich die tierischen Waldbewohner diesem Größenwachstum an, zumindest die Insekten. Elrohir hatte noch nie so große Käfer, Raupen und Schmetterlinge gesehen, noch dazu in den leuchtendsten Farben. Was die Schmetterlinge anging war er nach Elladans einschneidendem Erlebnis mit dem Lockstoff froh, dass die aus Bruchtal erheblich kleiner waren. Die Rhûnar-Exemplare hätten ihn unter sich begraben und sie hätten sie mit Pfeil und Bogen vertreiben müssen.

Außerdem gab es Mücken, Wolken von Mücken und alle hatten es auf Estel abgesehen. Gestern, als sie die Tiefen des Waldes erreicht hatten und diese Blutsauger ihre Attacken auf den Sterblichen begannen, hatten sie noch ihre Witze darüber gemacht. Mittlerweile tat ihm sein Bruder einfach nur noch leid. Keiner der Elben wurde gestochen, sie umschwirrten sie zwar auch gelegentlich, drehten jedoch dann wieder enttäuscht ab, um sich leidenschaftlich auf den Menschen zu stürzen.

„Noch einen Tag länger und er fällt völlig blutleer um", meinte jetzt auch Elladan sehr leise.

„Ich bedaure diese Unannehmlichkeit sehr", erklärte Amonir hinter ihnen ebenso gedämpft. „Aber das kennen wir hier nicht. Es wird sicher besser, wenn wir erst die Gegend um die Quellstadt erreichen. Sie liegt höher und kühler."

Es war ein deutliches Zeichen, wie schlecht es Estel ging, dass er es klaglos hinnahm, Leilo neben sich zu haben. Sie himmelte ihn zwar immer noch an, machte sich aber wenigstens nützlich. Leilo wedelte wie ein seltsamer, aber hübscher Vogel ständig mit den Händen in der Luft herum, um die Mücken zu verscheuchen und Estel etwas Erholung zu verschaffen. Seit einem Gespräch am Morgen mit Amonir und Galen, geführt in sehr leiser aber unverkennbar auch sehr scharfer Tonlage war sie etwas zurückhaltender. Es wäre in Estels jetzigem Zustand auch kaum für ihn zu bewältigen gewesen, weiterhin vor ihr auf der Flucht zu sein.

Binter hatte solche Probleme jedenfalls nicht. Er beschwerte sich zwar ständig, dass man ihn einfach aus seinem schönen Ilegond entführt hätte, zog aber unbeeindruckt von den Mückenschwärmen seiner Wege. Entführt...er hing an ihnen wie ein übler Fluch. Eher ein übelriechender Fluch, wenn man es genau betrachtete. Vielleicht war es sogar den Mücken zuviel. Galen jedenfalls schien darin zumindest eine Möglichkeit zu sehen, für Estel irgendein Abwehrmittel zu finden und starrte den Säufer jetzt schon seit Stunden äußerst nachdenklich an.

Ein bisschen erinnerte Estel in dieser Wolke von Insekten Elrohir an einen Zwischenfall in Bruchtal. „Wie alt war er damals?" wandte er sich an seinen Bruder.

Elladan runzelte die Stirn. „Was meinst du?"

„Die Sache mit den Fliegen."

„Dreizehn", grinste sein Zwilling.

Dreizehn und schon unheimlich erwachsen, wenn man Estel selber fragte. Elrohir lächelte. Trotzig hatte er Elrond die Erlaubnis abgerungen, alleine für eine Woche in die Wildnis zu einer Art Überlebensübung zu ziehen. Aus der Wildnis waren dann die südlichen Ausläufer Bruchtals geworden und was Estel bis heute nicht wusste, war, dass sein Alleinsein sich darauf reduzierte, von seinen Brüdern aus sicherer Entfernung überwacht zu werden. Eru, sie hatten sich die meiste Zeit herrlich amüsiert. Estel war trotz seiner Ausbildung beinahe jedes Missgeschick passiert, das ein längerer Ausflug in die freie Natur mit sich bringen konnte. Die einzig gefährliche Situation war gewesen, als er in einem völlig verschlammten Teich stecken geblieben war auf der Jagd nach Fischen, die es dort schon seit Jahrhunderten nicht mehr gab.

So hatte er dann auch ausgesehen, als er am Ende der Woche wieder im Hof von Elronds Haus aufgetaucht war. Ein Schwarm Fliegen hatte ihn umgeben und aus seiner Kleidung rieselte bei jedem Schritt getrockneter, übelriechender Schlamm. Aber er war stolz darauf, die ganze Sache überstanden zu haben. Vielleicht hätte Erestor etwas sensibler mit diesem Erfolg umgehen und ihn nicht auf dem Treppenabsatz zwingen sollen, sich seiner Kleider zu entledigen, bevor er ihn auch nur einen Schritt ins Haus machen ließ. Erestor war gelegentlich beinahe grausam.

„Mir ist heiß", stöhnte Estel und wollte zumindest seinen leidenschaftlich von ihm geliebten Ledermantel ausziehen.

„Nein, nein!" rief Leilo sofort und flatterte noch aufgeregter um ihn herum. „Es schützt Euch doch, dieses...eh...Gewand."

Er taumelte etwas vor ihr zurück, strauchelte über eine halbvermoderte Baumwurzel und landete rücklings in einem großen Farn. Die Mücken schwirrten einen Moment orientierungslos über dem Pfad, machten dann ihr Opfer unter dem tropfenden Farn aus und rauschten in geschlossener Formation wieder auf ihn zu.

„Gütiger Eru!" murmelte Amonir, zog seinen Umhang von den Schultern und wedelte heftig zwischen den blutrünstigen Insekten herum. „Galen, unternehmt etwas. Sie fressen ihn noch auf."

„Angenagt!" Binter rülpste laut und eine Handvoll Mücken, die ihm zu nahe gekommen war, segelte benommen zu Boden. „Hier frisst jeder jeden."

„Jetzt hab ich's!" rief Galen triumphierend. „Binter, gib mir deinen Schnapsvorrat."

Der Säufer war sofort auf der Hut. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Meister Galen."

„Von der Flasche in deiner Jacke!" erklärte Legolas mit einem bösen Lächeln und hielt ihn am Kragen fest.

Der Waldelb schreckte vor wirklich nichts mehr zurück, um seinem Freund helfen zu können. Elrohir schüttelte sich leicht. Leilo war sogar noch härter im Nehmen als Legolas. Mit einem leichten Schnauben stürzte sie sich auf Binter und durchwühlte seine Taschen, bis sie eine flache Flasche hervorzog, die sie sofort an Galen weiterreichte.

Der zog den Korken ab und roch daran. Mit einer Grimasse zuckte er zurück. „Perfekt. Estel, reib dich damit ein. Ich schätze, die Mücken mögen keine Alkoholdünste."

„Das dürfte an ihrem Überlebensinstinkt liegen", murmelte Elladan. Einen ergebenen Blick auf seinen menschlichen Bruder nahm er Galen die Flasche ab und begann, Estel mit dem Inhalt zu besprengen wie eine Topfpflanze.

„Jetzt nur kein offenes Feuer in Estels Nähe", meinte Legolas mit leichter Sorge, als sich die Alkoholwolke um den Menschen legte. Er ließ den jammernden Binter los und wischte sich die Hände an einem großen Farnblatt ab.

„Fein", machte Hauptmann Caeril, der die ganze Aktion zusammen mit den anderen Leibwachen und einem sehr stillen Rhûna, dessen Namen nicht einmal genannt worden war, in bewundernswerter Abgeklärtheit verfolgt hatte. „Wir werden die Quellstadt erreichen wie ein Trupp betrunkener Wahnsinniger, aber was soll's. Euer Vater braucht es ja nicht zu erfahren. Können wir jetzt weiter?"

Schweigend setzten sie sich wieder in Bewegung, hinter dem immer noch namenlosen Rhûna her. Der Elb führte sie, seit sie die erste Ansiedlung der Rhûna am Rand des Waldes vor zwei Tagen erreicht hatten. Sie alle hatten einen Vorgeschmack auf dieses Elbenvolk erhalten, als sich ein Dutzend von ihnen aus den grüngoldenen Schatten des Waldes wie Geister gelöst hatte. Ihresgleichen begrüßten sie beinahe lebhaft, doch den Fremden gegenüber herrschte große Reserviertheit.

„Das Leben in den Grenzsiedlungen ist sehr hart", hatte Galen gesagt, als würde dies alles erklären.

Gegen diese Rhûnar-Krieger waren die Galadhrim ein gastfreundliches, zutrauliches Völkchen und sie hatten mit Sicherheit einen gefälligeren Baustil. Die Rhûnar-Siedlung lag zwischen meterhohen Holzpalisaden auf einer Lichtung. Die Bauart der ebenerdigen Holz- und Steinhäuser war so ausgerichtet, dass sie jederzeit gegen Angreifer gesichert werden konnte. Sie hatten keines der Häuser von innen gesehen, aber es war klar, dass übermäßiger Luxus dort sicherlich nicht zu finden war.

Nachdem Galen eine kurze Unterhaltung mit dem Ältesten der Ansiedlung geführt hatte, waren ihnen der stille Führer zugeteilt, ihre Vorräte aufgefüllt und sie wieder auf den Weg geschickt worden. Die Pferde hatten sie dort zurückgelassen, die Wege in diesem Wald waren nichts für die Tiere.

„Morgen früh werden wir die Quellstadt erreichen", erklärte Amonir ungefragt, einen wachsamen Blick auf die Ithildrim, die etwas benommen von den Schnapsdünsten neben Estel hertorkelte. „Ihr werdet feststellen, dass dort die Freude größer sein wird, nach so langer Zeit endlich wieder Verbindung zu den anderen Völkern zu haben."

‚Und was für eine', dachte Elrohir und unterdrückte ein boshaftes Lächeln. Er war schon jetzt gespannt, wie Legolas das plötzliche Interesse seines Vaters an diplomatischen Beziehungen zu Rhûnar erklärte. Selbst Elrohir nahm zwar nicht an, dass Thranduil sich nur um Varyas Willen auf diese Sache mit den Rhuna einließ, aber sie hatte seine Abneigung gegen die Verstoßenen sicher schneller zum Abklingen gebracht, als es sonst der Fall gewesen wäre.

„Gibt es hier eigentlich noch andere Tiere als diese monströsen Insekten?" erkundigte sich Legolas hastig, bevor einer seiner Freunde eine entsprechende Bemerkung machen konnte.

„Das übliche", antwortete Amonir.

Am Anfang ihrer Gruppe wandte der Namenlose kurz den Kopf nach hinten, sagte aber nichts. Aus der Bewegung seiner Schultern zu schließen, lachte er still in sich hinein. Elrohir runzelte misstrauisch die Stirn. „Das Übliche?"

„Vögel zum Beispiel." Amonir deutete hinauf in die Baumkronen. Farbenfrohe und sehr fremdartige Vögel schwirrten dort umher. Der Anblick war in der Tat wunderbar, doch irgenwie hatte Amonir etwas ausweichend geklungen.

„Raubtiere?" Elrohir ließ nicht locker. „Große Raubtiere?"

„Groß ist ein sehr weiter Begriff, Lord Elrohir." Nun wich er schon wieder aus.

„Groß so wie größer als ein Elb", verdeutlichte Elrohir und machte entsprechende Armbewegungen. „Bären, Raubkatzen und ähnliches."

Amonir sah ihn nur an.

„Nun?" bohrte jetzt auch Elladan. „Gibt es irgendeine Art davon hier?"

„Welche hättet Ihr denn gerne?"

„Können wir sie uns aussuchen?" fragte Elrohir leicht gereizt.

„Ihr könnt alle haben. Es hängt davon ab, wo in Rhûnar Ihr Euch gerade aufhaltet."

„Krokodile", warf Leilo mit leicht verwaschener Stimme ein. „Du hast die großen Buchtkrokodile vergessen, Amonir."

„Die kommen nicht bis in die Quellstadt."

„Und die Felslöwen."

„Die gehören zu den Raubkatzen."

„Die Fischjäger!" rief sie triumphierend. „Die hast du noch nicht erwähnt."

„Fischjäger sind nicht da, wo Buchtkrokodile sind. Außerdem vergreifen sie sich nicht an Elben."

„Einige schon." An Sturheit war sie Galen allemal gewachsen.

„Sie fressen gerne geschwätzige Ithildrim", knurrte Galen jetzt. „Hör mit den Schauergeschichten auf, Leilo. Unsere Gäste werden langsam unruhig."

Langsam? Elrohir kontrollierte erst einmal unauffällig den Zustand seiner Bewaffnung. Unter den Leibwachen gab es ohnehin keinen mehr, der nicht nach den ersten Sätzen Amonirs die Hand an den Dolch gelegt hatte.

„Es klingt alles schlimmer als es in Wirklichkeit ist", beschwichtigte Galen.

Der Namenlose hustete leicht und bog an einer Weggabelung auf einen ansteigenden Pfad ab.

„Was sind Fischjäger?" wollte Estel wissen. Jetzt, wo ihn die Mücken zufrieden ließen, konnte er es natürlich nicht lassen. Irgendwann würde er schon begreifen, dass man manche Dinge einfach nicht näher wissen musste.

„Vögel, einfach nur Vögel", sagte Galen.

„Groß wie eine Hütte", ergänzte Leilo fröhlich und hakte sich bei Estel ein.

„Und dann ernähren sie sich von Fischen?" wunderte sich Estel und starrte gleichzeitig auf ihre Hand, die seinen Arm in festem Griff hielt.

„Nun, die Fische sind ja auch groß wie ein Ruderboot."

Elrohir unterdrückte ein Aufstöhnen. Sie würden nicht heil aus Rhûnar rauskommen, auf gar keinen Fall!

*

***

*

„Folgt mir, folgt mir. Das Hebewerk ist erst seit zwei Jahren in Betrieb. Ihr werdet es auch sehr interessant finden." Ferlong watschelte eilig über den breiten Uferweg auf die seltsame Holzkonstruktion am Rande des Wasserfalls zu, die den Langen See vom Celduin abschnitt.

Seine Gäste bewegten sich ungleich eleganter und vor allen Dingen leiser hinter ihm her auf eine Art Aussichtsplattform, die den Blick auf den breiten Wasserfall gewährte, der an einer Stelle mit diesem menschlichen Bauwerk irgendwie verunstaltet wurde. Pflichtschuldigst lauschten sie alle seinen Erklärungen, wie die Schiffe in diesen Holzaufbau verladen und dann über mächtige und zahlreiche Flaschenzüge nach unten auf den Fluss transportiert wurden.

„Natürlich nur die kleineren", lachte Ferlong jovial. „Eure Barke würden wir auf gar keinen Fall so runterlassen, König Thranduil. Das Risiko wäre zu groß."

„Damit werden auch keine Waren transportiert."

Varya unterdrückte ein Kichern. Er war ein bisschen empfindlich mit seinem Boot. Thranduil war eigentlich überhaupt recht empfindlich mit seinem gesamten Eigentum und sehr, sehr eingebildet. Dafür besaß er andere Stärken. Ohja, Thranduil besaß eine ganze Menge davon. Ihre Gedanken irrten einen Moment in nicht sehr gesellschaftsfähige Regionen ab und sie erstickte fast an ihrem Kichern. Der wissende Blick, mit dem Glorfindel sie streifte, war jetzt eindeutig zuviel. Unauffällig setzte sie sich von den Elbenfürsten ab und wanderte über einen schmalen Steg von der Plattform weiter in den See hinein.

Sollten sie sich mit Ferlongs höchst langatmigen Schilderungen dieses Bauwerkes weiter langweilen lassen. Sie genoss eher den unglaublichen Anblick des Wasserfalls, der mindestens fünfzig Meter in die Tiefe stürzte. Feiner Wassernebel bedeckte den unteren Bereich, wo der Celduin begann und sich an den Anlegern Dutzende von Transportbooten drängten. Über allem lag ein Regenbogen und gab dem Ort trotz seiner profanen Geschäftstüchtigkeit etwas Märchenhaftes.

„Ferlong kann sehr anstrengend sein."

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu, der sich der Besichtigung angeschlossen hatte und ihr nun gefolgt war. Was hatte ihr Elrond über ihn erzählt? Inmer von Talbruch hieß er und seine Position in Esgaroth schien auch dem Elbenlord nicht ganz klar. „Er ist sehr stolz auf dieses...dieses..."

„Hebewerk", ergänzte der Mensch lächelnd. „Das kann er auch sein, aber dadurch werden seine Beschreibungen nicht interessanter."

Sie nickte nur. Wenn er sie begleiten wollte, dann sollte er. Langsam schlenderte sie weiter über den Steg. Der Wasserfall war atemberaubend. Die Konstruktion der Menschen störte seine Schönheit ein wenig. Wenn Elben auf den Gedanken gekommen wären, etwas Ähnliches zu errichten, hätte es sich harmonischer in die Linien eingepasst. Andererseits kamen Elben gar nicht erst auf solche Ideen. Warum auch?

„Wenn man es richtig macht, kann man trockenen Fußes von hier bis zur Stadt gelangen", erklärte Inmer nach einer Weile, als sich der Steg weiter verzweigte.

„Ist es nötig?"

Zu ihrer Verwunderung lachte er. „Die Frage hätte ich von einer Elbin erwarten sollen. Verzeiht mir, Herrin, ich vergaß, dass Eure Art das menschliche Streben nicht immer für sinnvoll hält."

„Klang es überheblich?"

„Nicht wirklich."

Sie blieben stehen und lehnten sich an das grobe Holzgeländer. Der See zog schnell unter ihnen dahin auf die Bruchkante zu. Wer hier hinein fiel, würde erst unten im Celduin wieder auftauchen und ob er dann noch lebte, war eine ganz andere Frage.

„Ich kenne Euch aus Ilegond", sagte Inmer überraschend.

Sie sah ihn genauer an. Nichts an ihm kam ihr bekannt vor. „Wirklich?"

„Damals war ich noch sehr jung. Ihr kamt mit zwei anderen, um bei Hallewin zu tauschen. Einer Eurer Begleiter war ein dunkelhaariger Krieger und der andere sah Euch sehr ähnlich. Ihr seid Heiler, wurde mir damals gesagt."

Sie konnte sich immer noch nicht an ihn erinnern. Er sprach von Forlos und Galen. „Das bin ich noch."

„In Ilegond kursierten die fantastischsten Geschichten, zu was die Heiler Rhûnars fähig sind."

„Wir unterscheiden uns vielleicht von denen der anderen Elbenvölkern, aber wir sind nicht besser." Ihr Blick glitt zu Elrond, der immer noch sehr aufmerksam Ferlong lauschte. Sie waren keinesfalls besser. Elrond und mit ihm Bruchtal waren der Mittelpunkt der Heilkunst aller Völker und dieses Zeitalters. Diesem Elb konnte niemand das Wasser reichen.

„Ihr bewundert ihn", stellte Inmer fest.

„Ich bewundere alle drei dort", erklärte sie und wunderte sich, warum sie dies überhaupt einem Fremden erzählte. Sehr unterschiedliches Wissen und Macht hatte sich dort zusammen gefunden. Keiner der drei Fürsten war mit dem anderen zu vergleichen und dennoch bildeten sie eine starke gemeinsame Kraft.

„Ihr seid weit von Eurer Heimat entfernt", wechselte Inmer das Thema. „Rhûna verlassen doch sonst ihr Land nicht."

„Es ergab sich eben so." Varya wischte den feuchten Schleier, der sich auf ihren Händen gebildet hatte, an ihrer Hose ab. „Lasst uns umkehren, mir scheint, Ferlong setzt die Führung fort."

Mit einer leichten Verbeugung drehte er sich ebenfalls um und schrie dann leise auf.

„Was habt Ihr?" rief sie alarmiert.

Inmer schüttelte leicht den Kopf und hielt seine linke Hand fest. Etwas Blut quoll zwischen den Fingern hervor. „Hier muss ein Nagel gewesen sein. Ich bin hängen geblieben."

Einen Moment zögerte Varya. Sie hatte noch niemals einen Menschen behandelt. Einfache Heilmittel hätten kein Problem dargestellt, doch die waren sicher aufbewahrt in ihrer Unterkunft. Inmers leicht schmerzliche Grimasse gab den Ausschlag. So sehr konnten sich verletzte Menschen und Elben nun auch wieder nicht unterscheiden.

„Lasst mich es anschauen", forderte sie und streckte die Hand aus.

Zögernd öffnete er die verkrampften Finger. Ein überraschend sauberer, aber auch sehr tiefer Schnitt zog sich über seine Handfläche, aus dem sehr viel Blut strömte. Die Wunde war nicht gefährlich, aber mit Sicherheit sehr schmerzlich. „Ein Nagel?"

„Ich denke es", bestätigte er. „Es wird schon gehen."

„Er dürfte hier so nah am Wasser recht rostig sein."

Immer noch unentschlossen drehte sie leicht seine Hand, damit der See von Blut, der sich inzwischen in seiner Handfläche gebildet hatte, abfließen konnte. In dicken Tropfen fiel es auf den Holzboden und hinterließ dort leuchtend rote Flecken. Varya sah kurz zu der Plattform herüber. Ihre drei Begleiter schienen zu merken, dass etwas nicht stimmte. Sie hatten sich von Ferlong abgewendet und kamen nun näher. Sie hätte auf Elrond warten können, doch eigentlich war das lächerlich. Ihn wegen einer einfachen Fleischwunde zu bemühen war kindisch.

Ihre Hand legte sich auf die Wunde und sie konzentrierte sich darauf, die Schäden zu beheben. Inmer gab einen überraschten Laut von sich, doch als sie sofort die Hand zurückzog, schüttelte er heftig den Kopf. „Ich war nur nicht darauf gefasst, diese Kraft zu spüren, Heilerin. Es ist nichts."

Stumm berührte sie ihn wieder. Es war einfacher als sie gedacht hatte. Die Menschen waren sehr viel zerbrechlicher als die Elben und sie benötigte nur wenig Kraft. Beinahe musste sie vorsichtig sein, ihn nicht mit zuviel davon zu überfluten und womöglich doch noch Schaden anzurichten. Gewarnt von seiner ersten Reaktion brachte sie nicht ganz zuende, was sie da begonnen hatte. Die Blutung stoppte und die Wunde schloss sichbereits, aber sie war noch immer deutlich zu erkennen. Das Blut verkrustete sich sofort.

Varya ließ ihn los. „Das dürfte genügen, denke ich."

„Könntet Ihr es etwa ganz beheben?" erkundigte er sich drängend.

„Wahrscheinlich", murmelte sie unbehaglich. „Wir Rhûna heilen sonst keine Sterblichen."

„Ich hörte es", meinte er, ohne sie anzusehen. „Auch wenn ich nie verstanden habe, weshalb Euer Volk diese Gabe so sparsam einsetzt."

„Wollt Ihr Euch beschweren, Inmer von Talbruch?" Thranduils Stimme war eisig. Er langte nach Varyas Arm und zog sie von dem erblassenden Sterblichen weg. „Immerhin hat sie für Euch gerade eine Ausnahme gemacht."

Varya sah verwirrt von ihm zu Glorfindel, der auch nicht sehr viel freundlicher auf Inmer herabsah. Nur Elrond blickte ruhig und undurchdringlich wie immer.

„So war es wohl kaum gemeint", sagte er auch schlichtend. „Was war überhaupt?"

„Ein Nagel", erklärte der Mensch und deutete eine Verbeugung in Varyas Richtung an. „Eure Heilerin war so freundlich, den Schaden zu beheben."

„Ein Nagel", wiederholte Elrond nachdenklich, während seine Augen die fast geschlossene Wunde auf Inmers Hand fixierten. „Vielleicht solltet Ihr noch einen der menschlichen Heiler zu Rate ziehen."

„Ihr habt Recht. Nochmals meinen Dank an Eure Heilerin, König Thranduil." Damit drehte sich Inmer um und verließ mit eiligen Schritten den Holzsteg.

„Er hat stark geblutet", verteidigte sich Varya, bevor Thranduil sie niedermachen konnte. Genau das hatte er nämlich vor, sie kannte den seltsamen Schimmer auf dem Grund seiner Augen inzwischen nur zu gut. Was hätte ich den machen sollen?"

„Ihr müsst vorsichtiger sein", sagte stattdessen Elrond. „Ich halte Inmer zwar für keinen schlechten Mann, aber solche Dinge machen die Runde und wecken Begehrlichkeiten."

„Hier ist kein Nagel", verkündete Glorfindel, der bisher schweigend die Holzgeländer untersucht hatte.

„Halt dich von ihm fern", befahl Thranduil nach einem kurzen Blickwechsel mit dem Elbenfürsten. „Ich traue ihm nicht."

„Du traust keinem Menschen", erinnerte sie ihn spitz.

„Und das hat seine Gründe", knurrte er unversöhnlich. „Sie sind unberechenbar, rücksichtslos in ihrem Lebenshunger und unstillbar in ihrem Verlangen nach Schönheit. Du bist etwas Besonderes, Varya, für Inmer stellst du einen sehr begehrenswerten Schatz dar."

„Nur für Inmer?"

Jetzt hatte sie ihn kalt erwischt. Sie merkte es daran, wie er seine Schultern zurücknahm. Varya behielt nur mühsam ihren fragenden Gesichtsausdruck bei. Es kam selten genug vor, dass sie ihn so ausmanövrierte und sie hatte vor, jede einzelne Sekunde davon zu genießen. Er würde sich zwar rächen, aber das war der Spaß allemal wert.

Thranduils Lippen öffneten sich zu einer Antwort, dann glitt sein Blick zu Elrond und Glorfindel, die mit freundlichem Interesse auf genau diese Antwort warteten. Unbehaglich bewegte er den Kopf. Oh nein, das war nicht sein Terrain und noch dazu vor Zeugen.

„Das habe ich jetzt auch verstanden", schnappte sie und marschierte Richtung Ufer. Sie musste bis zehn zählen, bis er neben ihr auftauchte.

„Du solltest es besser wissen", grollte er undeutlich.

Das tat sie auch, aber günstige Gelegenheiten konnte man sich nicht entgehen lassen. Geben und Nehmen, Thranduil war mit Geben dran. Varya hüllte sich in Schweigen. Bis zum Seeufer hielt er sogar durch.

„Soll ich es durch die ganze Stadt schreien?" erkundigte er sich dann zähneknirschend.

Eine peinlichere Vorstellung gab es kaum noch. „Nein."

„Was dann?"

„Dieses Schweigen hat mich eben sehr verletzt." Erus Licht, das hätte von einer Ziege wie Helemar stammen können. Thranduil konnte nicht so blauäugig sein, dass er wirklich darauf reinfiel.

„Das tut mir leid."

Tatsächlich, er fiel darauf herein. Es war faszinierend. „Du könntest es wieder gut machen."

„Was willst du haben?"

„Heppelman."

„Nicht schon wieder", ächzte er.

„Es hat mich wirklich sehr, sehr verletzt."

„Aber nur eine Stunde."

Unglaublich tief verletzt." Eine Stunde, das reichte nicht einmal für das Studium von Heppelmans neuen Heiltees.

„Solange du willst."

„Du bist großartig, mein König. Ich sage eben Elrond Bescheid."

„Das nennt man Erpressung", rief er ihr nach.

„Was meinte er damit?" erkundigte sich Glorfindel, als sie bei ihm und Elrond ankam.

„Wir machen noch einen Abstecher zu Heppelman."

„Thranduil!" rief Glorfindel empört und marschierte auf den Waldelb zu, der am Ufer wartete. „Das ist nicht dein Ernst! Sie ist kleiner und jünger als du! Wie kannst du so schnell kapitulieren?"

„Wir können ja mal tauschen!" schrie Thranduil zurück. „Du hast keine Ahnung!"

„Das solltet Ihr nicht zu oft machen", riet Elrond ihr leise, auch wenn seine Augen bei der Aussicht auf Heppelmans Warenlager schimmerten.

„Es lenkt ihn von Inmer ab", erwiderte sie ebenso leise. „Er ist zu misstrauisch, Lord Elrond."

„Nein, Varya, das ist er ausnahmsweise nicht. Esgaroth ist gefährliches Terrain, auch wenn es nicht so scheint. Die Menschen sind nicht schlecht, aber in ihnen ist eine Seite, die sich unserem Verständnis entzieht. Ein dunkler Platz, der in engem Zusammenhang mit ihrer Sterblichkeit steht."

„Nicht in Estel."

Elrond lächelte etwas überrascht und neigte dann bestätigend den Kopf. „Nein, in Estel ist kein Raum für Dunkelheit."

tbc

***

@Ithiliell: Hm, ich könnte mir vorstellen, dass auch Thranduil ab und an einer kleiner Keilerei nicht abgeneigt ist. Vorausgesetzt er gewinnt! Varya hat ja nur aus Zufall was abbekommen *Ehrenrettung*

@Eowyn: Ich werf noch ein paar Charaktere ein. So nach und nach *g*, wenn nur nicht immer die Namenssuche wäre *seufz*

@Little Lion: Das gleiche Bild hatte ich auch vor Augen. Die Herde ist sicherlich schnell, aber Elben wohl auch. Hoffe ich jedenfalls. Pferde von Elben auch, hm, sind alle schnell *hüstel*. Wenn nicht, wäre die Story jetzt wohl zuende. Äh, sie sind schnell.

@Airhinaa: Klausur endlich vorbei, arme Socke? Ja? Gut, keine Gnade mehr! Der arme Glorfindel, da kann einem doch auch die Sprachgewandheit ausgehen, wenn man die Preisschilder unserer halbgroßen, bärtigen Freunde sieht. Ringe für Elben heute im Sonderangebot, alle 30 % teurer *ggg*.

Nix Moria und wenn Moria, dann mit Balrog. Der lebt doch noch! Gandalf, der fiese Feuerwehrzauberer kommt erst später *bätsch*. Bei einem Balrog gehen wir sowieso noch lange nicht nach hause. Der wird erstmal mit Thranduil Spezial 2. ZA flambiert und dann zum Abendessen gegrillt.

@feanen: Du nimmst ihn sicherlich auch mit Blessuren. Ab und zu kommt dann noch Glorfindel zum Saufen vorbei *g*

@auxia: Die Feiertage bringen alles durcheinander *seufz*. Dafür werden die Kaps demnächst länger.

@Atropos: Sind wir ein bisschen konservativ, hm? Redet die ganze Zeit vom Ehelichen, so was aber auch. Spaß alleine geht doch auch und aus steuerlichen Gründen das Ganze offiziell zu machen dürfte wohl kaum Thranduils Problem sein. Nun ja, Elrond ist ja nicht gerade der Spaßvogel und Genießer unter den Elben. Diese Nazgul-Augenbraue hätte ich auch nicht gerne dabei, wenn man so richtig einen drauf machen will.

@amlugwen: Hallo *wink*. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Orks nicht doch laufen lassen würden. Oder töten Elben aus Prinzip, auch wenn sie nicht angegriffen werden? Orks sind ja nicht nur ein blutrünstiger Haufen, sondern teilweise *hüstel* recht gut organisiert. Sozusagen eine eigene, wenn auch nicht gerade liebenswürdige Lebensform *Danke, Mr. Spock für die Formulierung*. Was die Zwerge angeht, ist Thranduil zwar nicht ihr Freund, aber ich traue ihm eben immer noch zu, Unterschiede machen zu können. Klingt doch auch elbischer und von irgendjemandem muss Legolas es ja geerbt haben. Hat der Ork nicht auch Brieffreunde in Erebor und Bruchtal?

@Alynia: Elrond wird dein Mitleid auch nötig haben *fg*. Der Elb hält alles zusammen *stolz auf ihn bin*. Ellas Pläne, sie werden erst noch viel schlechter, bevor sie wieder besser werden.

@Shelley: Hast du bestimmt fast vergessen, weil du so vertieft in RnHK bist *wackelmitAugenbraue*. Der Daddy prügelt sich und der Sohn kaut auf seltsamen Gummidingern rum, gelle?

@Amélie: Kopfschmerzen, jaja. Den Grund sag ich jetzt nicht, tsts. Was Elrond wohl dazu sagen würde? Heppelman konnte sich wahrscheinlich schon nach dem ersten Besuch unseres allseits verehrten und geliebten Heilers endgültig zur Ruhe setzen und nur noch von den Zinsen leben. Erestor lässt ihn nie wieder alleine von Imladris weg. Noloin ist eigentlich ganz nett. Ich mag Zwerge, bin selber nicht viel größer. Aber ich habe keinen Bart, bitteschön!

@seniwallenstein: Also kein Urlaub mehr. Ist das nicht immer schade? Die neuen Steine für die Krone…wenn er die Rechnung vom Apotheken-Großhandel bekommt, werden wohl nur noch ein paar Zirkonia drin sein. Armer König. Nein, ich stimme dir voll zu, er würde niemanden opfern für eine kleine Krone. Nunja, vielleicht ein paar Nervensägen aus seinem Hofstaat. Ah,geht nicht, sind gerade in Rohan unterwegs. Also, da bleibt ihm nur noch das Bastelgeschäft an der Ecke mit dem Kunstefeu. Was soll's, einen schönen Elb kann nichts entstellen. Kein Mitleid mit Estel, der braucht Übung.