Disclaimer: Alles gehört Tolkien bzw. seinen Erben. Mir eigentlich gar nichts. So jetzt breche ich in Tränen aus ob dieser Armut.

.

12. Kapitel: Das Antlitz meiner Feinde

.

Die beiden kaum zweifingerbreiten Silberfesseln schimmerten hell im Halbdunkel des Raumes. Auf ihren Innenseiten waren Ringe, durch die sie aneinander gebunden waren. Kaum Raum, um die Hände anders als gefaltet oder ineinander verschränkt zu halten. Am rechten Reif war auch noch außen ein Ring angebracht. Durch ihn lief jetzt eine ungleich gröbere, schwere Eisenkette, die in Kniehöhe an der Bordwand festgemacht war. Sie war nicht sehr lang und Varya konnte wenig mehr tun, als auf dem Boden zu kauern und den Bewegungen des Schiffes nachzuspüren, auf das man sie gebracht hatte.

Die Geräusche des Wassers an den Planken lenkten sie ab. Ein wenig jedenfalls. Die meiste Zeit starrte sie jedoch auf die Fesseln an ihren Handgelenken und versuchte dem Drang zu widerstehen, wie von Sinnen daran herumzuzerren und laut zu schreien. Die Ängste eines gefangenen Tieres kämpften in ihr um die Vorherrschaft mit ihrer Vernunft. Mit jedem Atemzug fiel es ihr schwerer, ihnen zu nicht nachzugeben.

Sie war noch niemals gefesselt gewesen, angekettet an einem Ort, der sie mit seinen Gerüchen und Schatten ängstigte. Gefesselt schon, korrigierte sie sich. Allein die letzten Tage hatten ihre Entführer ihr die groben Seile niemals von den Händen geschnitten. Doch diese silbernen Ringe waren etwas anderes. Sie waren so überlegt, so dauerhaft geplant. Varya wünschte sich beinahe, der zweite Schlag, den man ihr auf den Kopf versetzt hatte, wäre ihr Ende gewesen. Doch nun war sie hier, auf einem Schiff, nicht länger blind, doch dafür in die Knie gezwungen in einem völlig leeren Frachtraum.

Das einzige Licht fiel durch ein kleines Eisengitter in der schweren Holztür. Öllampen mussten dahinter brennen und manchmal bewegten sich Schatten. Niemals fiel ein Wort, auch wenn sie die Bewegungen von Menschen überall auf dem Schiff über den Geräuschen des Flusses ausmachen konnte. Ihre Entführer mussten sehr gut um die Fähigkeiten der Erstgeborenen wissen, so sehr bemühten sie sich, jeden verräterischen Laut zu vermeiden.

Schritte näherten sich über den Gang. Varya drückte sich unwillkürlich näher an die Bordwand. Die Instinkte ließen sich nicht beherrschen. Dann wurde ein Riegel zurückgeschoben und die Tür aufgezogen. Sie blinzelte in das Licht, vor dem sich eine eindrucksvolle Silhouette abzeichnete.

Das musste er sein. Der Sterbliche, der soviel riskiert, so großen Aufwand betrieben hatte, um ihrer habhaft zu werden.

„Ich bedaure die Unannehmlichkeiten, Heilerin."

Die Sindarin-Worte waren noch nicht ganz verklungen, da erkannte sie ihn. „Inmer!"

„Ich dachte mir schon, dass Ihr Euch an mich erinnert", seufzte er und nahm eine Lampe aus der Halterung. Mit diesem Licht in der Hand, das ihn nun völlig ihrem fassungslosen Blick preisgab, trat er wenige Schritte in den Raum. „Ihr müsst mir verzeihen."

Sie hob leicht die Hände. „Etwa das hier? Es gibt keinen Grund, mir das anzutun! Ich habe Euch nie Leid zugefügt."

„Ein Missverständnis", erklärte er bekümmert. „Natürlich treibt mich keine Vergeltung."

„Aber was dann?" schrie sie.

„Ich brauche Eure Hilfe."

„Ihr habt eine sehr seltsame Art, darum zu bitten."

„Bitten?" wiederholte er und legte den ergrauten Kopf ein wenig schief. „Ich bitte Euch nicht, Heilerin. Was würde das auch bringen? Rhûna meiden den Kontakt zu uns Menschen. Selbst in Ilegond hat keiner von Euch auch nur mit der kleinsten Regung erkennen lassen, dass Ihr uns für mehr erachtet als kurze Funken im langen Licht Eurer Lebenszeit."

„Ich habe Euch bereits geholfen", erinnerte sie ihn eisig.

„Der Schnitt, ja." Er bewegte leicht die Hand. „Beinahe hätte ich mich mit dem Messer verschätzt. Er war länger und tiefer als geplant. Aber Ihr habt Eure Gabe glänzend unter Beweis gestellt."

Varya entschuldigte sich im Stillen bei Thranduil und Glorfindel. Sie hatten recht gehabt mit ihrem Misstrauen. „Warum konntet Ihr nicht einfach fragen, Inmer?"

Er ging in die Hocke, um ihr in die Augen blicken zu können. Sie erschrak beinahe vor dem Feuer, das ihn beseelte. „Der Waldelb hätte Euch niemals gestattet, mit mir zu kommen. Dieser König betet den Boden an, auf dem Ihr geht."

Varya konnte nicht anders, sie lachte leise auf. Inmers Unverständnis auf ihre Reaktion ließ sie beinahe noch mehr lachen. Es kostete sie richtig Mühe, wieder ernst zu werden, auch wenn sie selbst den Anflug von Verzweiflung darin erkannte. „Ihr seht das völlig falsch, Inmer. König Thranduil vergöttert nur ein Wesen auf ganz Mittelerde so sehr wie Ihr vermutet und das ist sein einziger Sohn."

„Denkt Ihr?"

„Ich weiß es."

„Also wird er Euch nicht suchen?"

Schlau, aber nicht schlau genug. Sie hatte nicht vor, ihm die Furcht vor Thranduils Vergeltung zu nehmen. Mit dem Lauf dieses Gesprächs war ein Teil ihrer Ängste geschwunden. Inmer brauchte sie lebend, möglichst unversehrt, da er nicht wissen konnte, wie weit ihrer Kräfte unter Schmerzen und Verletzungen leiden würden. Mit jedem Atemzug wuchs ihre Aussicht, doch noch gefunden zu werden. „Er wird jeden Stein, jedes Blatt umdrehen. Es mag Euch nicht klar sein, Inmer, doch mein König ist ein Sammler und Ihr habt Hand an etwas gelegt, das ihm gehört."

„Ihr schätzt Euch nicht sehr hoch, Heilerin. Nur ein Sammlerstück?"

„Ich kann damit leben, Inmer."

„Auch wenn Ihr ihn liebt?"

„Vielleicht deswegen." Varya zerrte etwas ungeduldig an den Fesseln. Sie hatte nicht vor, die Tiefe ihrer Gefühle hier auszuloten. „Lasst mich gehen, dann bleibt Ihr vielleicht am Leben."

„Ich brauche Euch", beharrte er finster. „Nur Ihr könnt noch retten, was alle anderen aufgegeben haben."

„Ihr könnt mich nicht zwingen", fauchte sie.

„Dann sterbt Ihr." Er stand auf und verließ den Raum. Am schlimmsten war, dass er die Lampe wieder mit sich nahm.

„Ihr aber auch", flüsterte sie in die Dunkelheit, die sie wieder umgab. „Ihr wisst noch nicht, was Zorn ist."

.

...

.

Das Feuer war heruntergebrannt, Funken tanzten schon lange nicht mehr hinauf zu dem kreisrunden Ausschnitt, in dem die Sterne glitzerten. Eldarion Ithildor war gegangen. Seine Asche war nun geblieben, in diesem blauen Feuer, das heißer als jedes andere gebrannt hatte und es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis Faronar das Zeichen gab, den Zufluss der Quellen zum Runenkreis zu öffnen, um Eldarions letzte Überreste mit sich zu nehmen.

Die Stimmen der Rhuna erhoben sich zu seinem Abschied. Die leisen Trauerlieder wurden nun von anderen Tönen verdrängt. Seit jeher gingen die Toten der Rhuna unter vollen, beinahe triumphierenden Klängen und Worten, die die Verheißung der Ruhe in Mandos Hallen in sich trugen. Ein Lied, wie es falscher hier nicht sein konnte. Eldarion war niemand, den Mandos schon lange erwartete. Zwölf Mal hatte der Ithildrim nur den Zyklus der Jahreszeiten erlebt. Er war zu jung gestorben, viel zu jung.

Sie hatten ihn zuvor zwei Tage in der Totenhalle aufgebahrt, damit die Rhûna von einem der ihren, ihrem jüngsten, Abschied nehmen konnten. Galen war nicht dort gewesen. Für ihn würde erst dann das Leben des Ithildrim-Kindes enden, wenn er die Schuldigen gefunden hatte. Die Geister, die schon einmal das Meer von Rhûn heimgesucht hatten...sein Blick glitt zu Faronar und Indaris.

Der Rhûna-Älteste schickte sich an, das Zeichen zu geben. Indaris jedoch sah zu Galen herüber. Was auch immer in seinem Gesicht zu lesen war, es erschreckte sie. Viel war ihr nicht anzumerken, aber Indaris war keine Elbin, die sonst nervös an den Ärmeln ihrer dunklen Robe zupfte. Genau das jedoch machte sie nun.

Sie hatte jeden Grund, unruhig zu sein. Galen rief sich das Gespräch mit Helthiriel wieder ins Gedächtnis zurück. Der Archivar hatte sich schon gewundert, warum man ihn nicht längst zu Rate gezogen und stattdessen nur die schriftlichen Aufzeichnungen angefordert hatte.

Wasser sprudelte aus dem fast verborgenen Zugang, verteilte sich zwischen den Runen, hob die Asche an seine Oberfläche und nahm sie dann mit sich in die steinerne Rinne, die den Kreis umgab. So war es am besten. Kein Rhûna wurde in der Erde bestattet. Die Tiere hätten ihre Spiele mit den Toten getrieben. Anfangs hatte man es wohl so gehalten, jedoch sehr schnell aufgegeben. Es war zu schrecklich gewesen, wenn die Gräber geöffnet und die Überreste der Verstorbenen verloren waren.

Der Felsendom leerte sich bereits. Mehr Abschied konnte man nicht nehmen, die Rhûna kehrten zurück in ihren Alltag.

„Kommst du?" erkundigte sich Legolas leise bei Galen. Er deutete auf Elronds Söhne, die sich nun zum Gehen wandten.

Galen sah kurz zu Estel. Der schien zwar etwas sagen zu wollen, besann sich dann jedoch anders. Das war gut so, Galen ertrug Estels Gegenwart ohnehin jetzt nur noch sehr schwer. „Nein, ich muss noch etwas erledigen. Ich folge Euch später."

Mit einem leichten Neigen des Kopfes ließ er den Waldelb stehen und steuerte dann auf Faronar und Indaris zu.

„Meister Galen", sagte Faronar nichtsahnend. „Dies war ein schwerer Moment."

„Er wird für Euch gleich noch sehr viel schwerer", stieß Galen mit gedämpfter Stimme hervor. „Ihr schuldet mir eine sehr lange Erklärung, Faronar, noch heute Nacht!"

„Aber nicht hier", mischte sich Indaris ebenso leise ein. „Folgt uns. Nein, Faronar, er hat Recht. So wird es keine Lösung geben, nicht dieses Mal."

Schweigend legten sie den Weg bis zu dem Versammlungsraum zurück, in dem man die fremden Elben aus Bruchtal und Düsterwald am Tag ihrer Ankunft empfangen hatte. Diesmal war die Atmosphäre anders. Galen stand auf der einen Seite des Tisches, Faronar auf der anderen und Indaris am Kopfende, als wollte sie den Streit schlichten, der zwischen ihnen hing wie eines der schweren, dunklen Sommergewitter.

„Ich sprach mit Helthiriel", begann Galen.

„Es ist womöglich nur eine zufällige Übereinstimmung", fiel ihm Faronar sofort ins Wort. „Die Geschehnisse liegen über tausend Jahre zurück. So dauerhaft sind die Sterblichen in ihrem Verhalten sonst nicht."

„Nârandir!" fauchte Galen. „Ihr gabt ihnen damals sogar einen Namen."

Rattenwanderer, der Name kam von den Menschen in Dorwinion, wir übernahmen ihn nur", sagte Faronar. „Niemand sah sie je."

„Jedenfalls niemand, der es auch überlebte", ließ sich Indaris leise vernehmen. „Ich war damals hier, Meister Galen. Die Außensiedlungen gab es noch nicht in diesem Umfang. Hier in der Quellstadt bemerkten wir ihre Anwesenheit nur daran, dass die Tiere flüchteten. Kein Elb kam damals zu Schaden. Es war nicht einmal ein wirklicher Zwischenfall, eher eine seltsame Begebenheit, wie es so viele hier in Rhûn gibt."

„Damals", bekräftigte er. „Doch diesmal ist es anders. Wir können nicht abwarten, ob sie ihren Weg um das Meer vollenden und die Überlebenden ihrer Wanderung in den Bergen des Ostens verschwinden. Wollt Ihr wissen, welche Theorie Helthiriel dazu hat?"

Faronar verzog das Gesicht. „Seine Phantasie ist zu lebhaft."

„Dann dürfte das auf die meine auch zutreffen", sagte Galen scharf. „Es sind diesmal mehr als damals, sehr viel mehr. Nicht die Handvoll, die gerade ein paar Tiere erschreckte. Ihr Stamm im Gebirge von Rhûn ist stark angewachsen in den letzten Jahrhunderten. Sie sind dabei, sich ein neues Revier zu suchen und was wäre geeigneter als die Quellstadt? Die Nârandir werden ihren Weg um das Meer nicht fortsetzen, sondern uns heimsuchen. Sie haben sich gestärkt, an den Opfern in Dorwinion, den Karawanen und den Tieren. Jetzt machen sie sich bereit, unsere Außensiedlungen anzugreifen."

„Ihr seid Heiler, kein Krieger", meinte Faronar verärgert. „Versucht Euch nicht an Dingen, die Ihr weder gelernt habt noch die zu beurteilen Euch zusteht."

Galen verspürte den starken Drang, ihn bei den Schultern zu nehmen und solange zu schütteln, bis er die Gefahr endlich erkannte. Ein warnender Blick von Indaris zwang ihn zurück.

„Dennoch ist auch uns bereits aufgefallen, dass es Abweichungen gibt", sagte sie ruhig in die Stille hinein. „Du kannst es ebenso wenig leugnen, Faronar. Ich bin verantwortlich für die Außensiedlungen und meine Sorge ist groß. Ein Kompromiss hilft uns vielleicht weiter."

Misstrauisch wandte sich ihr der Älteste der Quellstadt zu. Er konnte ihre Einwände nicht ebenso beiseite wischen wie die Galens. Sie war ihm beinahe ebenbürtig an Alter und Erfahrung. In mancher Hinsicht war sie viel stärker als er. „Was soll das für ein Kompromiss sein?"

„Kann in Erfahrung gebracht werden, wie groß ihre Anzahl ist und wohin ihr Marsch sie diesmal führt, entscheiden wir erneut", schlug Indaris vor. „Sind es viele und ist ihr Ziel die Quellstadt, werden wir uns ihnen zum Kampf stellen."

„Es sind wenig mehr als Tiere", sagte Faronor mit einer hochmütigen Geste.

„Dann sollte ein Kampf uns kaum schrecken", lächelte Indaris.  „Auch wir sind schließlich nicht mehr die gleichen wie damals. Lass uns Kundschafter ausschicken, die uns die Antworten bringen."

„Antworten", murmelte Faronar versonnen, bevor ein fast boshaftes Glitzern in seinen Augen erschien. „Da Ihr Euch so brennend dafür interessiert, Meister Galen, solltet Ihr diese Aufgabe auch übernehmen."

„Faronar!" rief Indaris besorgt. „Meister Galen ist Heiler. Der Kampf ist nicht seine Aufgabe."

„Er soll doch gar nicht kämpfen", widersprach der Älteste und wandte sich Galen zu, spöttisch die Brauen gewölbt. „Oder fürchtet Ihr Euch nun, Heiler?"

„Ich fürchte nur Dummheit und Erstarrung, Faronar. Alle Ithildrim fürchten das mehr als den Tod." Galen neigte kurz vor Indaris den Kopf. „Gleich morgen breche ich auf. Hoffen wir, dass ich die Anzeichen falsch deutete und sie einfach weiterziehen."

Galen war so in seiner Wut und seinen Gedanken gefangen, dass er erst aufschreckte, als er draußen vor dem Versammlungsraum gegen ein Hindernis prallte.

„So wirst du diese Nârandir wohl nicht aufspüren", meinte Legolas spöttisch, denn in keinen anderen war Galen hineingelaufen. „In einem muss ich Faronar wirklich Recht geben, du bist in erster Linie ein Heiler. Vielleicht solltest du diese Aufgabe mit denen teilen, die Krieger und Jäger sind."

Galens Blick wanderte vom Eingang des Versammlungsraumes zu Legolas. Der Thronerbe Düsterwalds hatte tatsächlich gelauscht.

„Gut erkannt", nickte der Waldelb, bevor er ihn am Arm fasste und mit sich zog. „Ich respektiere deine Entschlossenheit, mein Freund, doch du erwartest wohl nicht wirklich von mir, dass ich dich alleine da draußen herumstreifen lasse."

Galen seufzte. Legolas ließ nur sehr selten so deutlich werden, dass er nicht nur um einiges älter als er war sondern auch jeder Zoll der Sohn seines Vaters. „Ihr seid unsere Gäste."

„Netter Versuch", schmunzelte Legolas. „Elladan und Elrohir werden sich vor Lachen auf den Boden schmeißen, wenn sie dieses Argument hören. Wenn es dir leichter fällt, stell dir einfach vor, du gehst mit deinen Gästen auf einen Jagdausflug."

„Rattenjagd", murmelte Galen finster.

„Nicht gerade edle Beute, aber wir verkraften das schon. Caeril hat mit Amonir gesprochen, er ist bereit, uns zu führen."

„Du hast das alles bereits geplant, ja?"

„Es ist zumindest hilfreich, wenn man vorbereitet ist", grinste Legolas.

.

...

.

Der Mann hieß Talrik und wünschte sich offenbar sehr weit weg von seinen Begleitern, die aus einem König, zwei Fürsten und der halben Leibwache eben dieser Edlen bestand, angeführt von ihrem Kommandanten.

Aus halbgeschlossenen Augen beobachtete Elrond den Sterblichen, der bei ihren Pferden stand und sich dort offenbar wohler fühlte als bei den in regloser, aber dennoch wachsamer Haltung verharrenden Elben. Er begleitete sie nicht freiwillig. Ferlong hatte darauf bestanden - eigentlich war er in lautstarkes Flehen ausgebrochen, kaum hatte er erfahren, wer Varya entführt hatte und Thranduil traf schließlich eher widerstrebend die Entscheidung, die Begleitung dieses Offiziers der Esgarother Stadtwache hinzunehmen, der wenigstens ihrer Sprache mächtig war. Es galt, Ferlongs Ehre als Bürgermeister der Stadt zu retten und egal, was in den nächsten Wochen geschehen würde, die Handelsbeziehungen zu Esgaroth sollten Bestand haben.

‚Manchmal ist dieser König klüger und diplomatischer, als er sich sonst gerne den Anschein gibt', überlegte Elrond mit einem Anflug von Ironie, der sich eher gegen ihn selbst richtete. ‚So alt bin ich nun und noch immer gelingt es mir nicht auf Anhieb, hinter die Masken zu blicken, die wir alle uns zugelegt haben.'

Zurzeit umgab ihn jedoch nicht sehr viel Rätselhaftes. Sie alle warteten darauf, dass Forlos wieder auftauchte und die Rückkehr der Entführer meldete. Bei ihrem hastigen Aufbruch aus Esgaroth hatte sie alle noch die Hoffnung beseelt, im Schlupfwinkel dieser Bande Varya aufzufinden. Sie waren enttäuscht worden, die baufällige Hütte inmitten eines kleinen Waldstücks war leer gewesen. Leer, aber nicht aufgegeben. Die Männer würden zurückkommen und das war ihre einzige Chance, doch noch Varyas Verbleib zu erfahren.

Die Elben waren zuvor schon schwer zu erkennen gewesen. Doch nun, bei fortschreitender Dämmerung verschwanden sie in ihrer grün-braun gehaltenen Kleidung völlig inmitten der Farben ihrer Umgebung. Für Talrik musste es gespenstisch sein. Nur ein Schimmer der hellen Haare war von einigen noch zu erkennen. Elrond war für ihn wahrscheinlich schon unsichtbar und auch die anderen würden bald die Kapuzen ihrer Umhänge hochschlagen und zum Teil des Waldes werden.

Elrond unterdrückte einen Seufzer. Es war schon lange her, dass er an einer Unternehmung wie dieser beteiligt gewesen war. Wenn er es recht überlegte, war er sogar noch niemals in etwas derartiges verwickelt gewesen. Seine Vergangenheit hatte der offene Kampf geprägt, Kriege und Schlachten, später dann die eher vermittelnde Diplomatie im befestigten Bruchtal. Zuletzt sicherlich die Auseinandersetzung im südlichen Düsterwald, die auch der offene Kampf gewesen war. Nur gut, dass Glorfindel ihm niemals Nachlässigkeit bei der Übung mit den Waffen hatte durchgehen lassen.

Er fing einen amüsierten Blick seines Beraters auf. Natürlich wusste Glorfindel genau, was ihn nun beschäftigte. Langsam schlenderte der Vanya zu ihm herüber.

„Du siehst unbehaglich aus", stellte er sehr leise fest.

„Wundert dich das?" fragte Elrond mit einem schiefen Lächeln.

„Heiltränke und Bücher", spottete Glorfindel und seine Augen glitzerten in der dichter werdenden Dunkelheit wie Sterne. „Erestor wird sich kaum halten können, wenn ich ihm davon erzähle."

„Gibt es eine Drohung, die dich davon abhalten könnte?"

„Nein, ich denke nicht."

„Du würdest dich wohler fühlen, wenn er jetzt hier wäre", vermutete Elrond.

„Erestor?" Glorfindel legte den Kopf etwas zur Seite. „Der Elb, der den Schatten so liebt?"

„Der im Schatten tötet", korrigierte Elrond.

Das war eine Seite an seinem immer so düster und beherrscht erscheinenden Seneschall, die ihm noch nie behagt hatte. Eine Vereinbarung zwischen Glorfindel und Erestor, die ohne seine Zustimmung vor langer Zeit getroffen worden war. Nicht alles ließ sich mit Diplomatie lösen und auch nicht alles damit, dass Glorfindel mit der Bruchtal-Garde die kriegerische Stärke der Elben demonstrierte.

Es gab Gefährdungen, die sich auf einer subtileren Ebene abspielten, den Bodensatz der Städte rund um Bruchtal hochspülten und den Handel oder die Reisewege unsicher machten für die Gäste des Hauses. Erestor sorgte dafür, dass diese Schwierigkeiten sehr schnell wieder schwanden. Wann immer er alleine zu einer seiner ‚Geschäftsreisen' aufbrach, erfüllte Elrond ein ungutes Gefühl. Er hatte sich schnell abgewöhnt, ihren Zweck zu erfragen. Zumeist fixierte ihn Erestor dann mit seinen tiefschwarzen Augen, auf deren Grund Dinge lauerten, die Elrond beunruhigten und schwieg einfach nur.

Glorfindel fuhr träge mit den Fingern über die Verzierungen seines Schwertgriffs. „Wir hätten einige Tote, wenn er diese Hütte betreten würde."

Elronds Blick wanderte zu Thranduil. „Wir werden auch Tote haben, wenn er dort einen Fuß hineinsetzt und nicht die Antworten erhält, die er haben will."

„Hast du vor, ihn davon abzubringen?"

„Nein", antwortete Elrond, ohne ein Zögern zu spüren.

Nicht zum erstenmal entdeckte er, dass Bitterkeit und unversöhnliche Härte in ihm wuchsen. Wann hatte das begonnen? Bilder eines zerschundenen Körpers tauchten aus seinen Erinnerungen auf. Abschied und Schmerz, der Verlust einer geliebten Seele und die Tränen seiner Kinder.

„Wir werden sie sicher wiederfinden", sagte Glorfindel beruhigend.

„Und woher nimmst du diese Gewissheit?"

Glorfindel imitierte sehr erfolgreich, wie sich die Ithildrim in Positur zu werfen pflegte. „Rhûna machen das mit Links."

Das kurze Auflachen Elronds zog Thranduils Aufmerksamkeit auf sich. Bevor er jedoch etwas fragen konnte, löste sich Forlos aus den Schatten.

„Sie sind da", erklärte er leise. „Und sie haben begonnen, sich vollaufen zu lassen. Es sind die drei, von denen mir berichtet wurde. An ihnen ist keine Spur von Blut und nach ihren Worten zu urteilen, haben sie sie unversehrt bei ihrem Auftraggeber abgeliefert."

„Und wo?" fragte Thranduil, während er bereits das Zeichen zum Aufbruch gab.

„Das sagten sie nicht."

Thranduils Enttäuschung hielt sich in Grenzen. „Noch nicht. Talrik, haltet Euch hinter uns. Ihr bewegt Euch zu laut."

Der Mann aus Esgaroth nickte nur. Er hätte sich wohl auch ohne diesen königlichen Befehl nicht unbedingt in die erste Reihe gestellt.

„Dann wollen wir mal", sagte Glorfindel beinahe entspannt. Er zog gelassen seine braunen Wildlederhandschuhe über, legte die Kapuze seines Umhangs über die verräterisch golden schimmernde Haarpracht und schlug Elrond leicht auf die Schulter. „Schön in meiner Nähe bleiben, alter Freund. Ein verschwundener Heiler reicht erst einmal."

Elrond zog eine Grimasse. Glorfindels heitere Arroganz trieb ihn gelegentlich zur Weißglut. Dieser Elb tat gerade so, als hätte Elrond nicht Gil-Galads Seite Schlachten geschlagen, Bruchtal über Jahrtausende gegen alle möglichen dunklen Horden verteidigt. An seinem Finger steckte immerhin Vilya.

Vilya! Elrond griff hastig nach seinen Handschuhen und streifte sie ebenfalls über. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme, ein lange ausgeübter Instinkt, der nicht wirklich nötig war. Sie rückten mit sechs Leibwachen, zwei Fürsten, einem König und noch einer Stadtwache auf eine Hütte zu, in der sich drei Strauchdiebe gerade betranken. Thranduil oder Glorfindel alleine hätten schon gereicht.

Vorsicht war jedoch eine Tugend und so bauten sie sich zunächst in völliger Lautlosigkeit rund um das windschiefe Bauwerk auf, das Holzfäller vor langer Zeit errichtet haben mussten. Die Wände waren aus grobgesägten Planken errichtet, unzureichend an einigen Stellen mit Rinde geflickt. Das Dach schien zumindest mit Grassoden regelmäßig abgedichtet worden zu sein. Es entstand kein Laut, als einer der Elben dort hinaufkletterte und sich neben der halboffenen Luke postierte, aus der Rauch und Licht drangen.

Thranduil blieb einige Schritte von der schräg in den Angeln hängenden Eingangstür stehen, vor der sich Forlos nun mit zweien seiner Männer aufbaute. Eine weitere Tür gab es nicht, nur noch zwei mit Holzläden geschlossene Fensteröffnungen, vor der ebenfalls Elben Aufstellung nahmen.

Elrond befand sich an seiner Linken, Glorfindel zu seiner Rechten. Sie alle lauschten eine Weile auf die Geräusche aus der Hütte.

„Hinner, du Schwachkopf!" grölte gerade ein Mann. „Denk lieber an das Gold. Einen Monat können wir damit Bier im Überfluss kaufen. Und Weiber! Jede Menge Weiber!"

„Sieh ihn dir doch an!" lachte ein anderer. „Der Bursche hat sich in die Elben-Hexe verliebt. So zart, so süß, nicht wahr, Hinner? Es tat mir richtig leid, ihr eins überzuziehen."

Thranduils Hand auf dem Schwertgriff verkrampfte sich etwas. Der Sprecher war so gut wie tot, Elrond hatte nur noch wenig Zweifel an seinem Schicksal.

„Halt dein Maul, Derk!" fauchte eine recht junge Stimme. „Und nenn sie nicht eine Hexe. In der Stadt haben sie erzählt, dass sie eine Heilerin ist. Ich finde, es war nicht richtig, was wir getan haben."

In der Hütte schepperte es leicht, gefolgt von einem Schmerzensschrei.

„Lass dir eines gesagt sein", erklangen dann wütende Worte. „Hier bestimme ich, was richtig ist. Dieser Auftrag hat uns eine Menge Gold eingebracht und ich würde es wieder tun. Wenn es dir nicht gefällt, sag es nur. Du wärst nicht der erste, den ich draußen den Tieren überlasse."

Hauptmann Forlos drehte sich zu seinem König um. Elrond wäre das Nicken beinahe entgangen, doch der Anführer der Leibwache hatte nur auf dieses Zeichen gewartet. Ein gezischter Befehl, dann drangen alle Elben gleichzeitig in die Hütte ein. Die Fensterläden wurden herunter gerissen, vom Dach ließ sich der dort wartende Krieger durch die Luke herab und Forlos trat so heftig gegen die Tür, das diese mit einem lauten Krachen in die Hütte flog.

.

...

.

Es gab Bereiche in den Gedankengängen eines Ithildrim, die Legolas wohl nie begreifen würde. Dabei hatte er wirklich gedacht, Galen sehr gut einschätzen zu können. Er hatte sich geirrt, gründlich. Was bei Erus leuchtender Weisheit hatte den Rhûnar-Heiler nur dazu bewogen, dieses Geschöpf mit auf ihre Erkundung zu nehmen?

Legolas beobachtete stirnrunzelnd, wie Binter wieder betont unauffällig in den Tiefen seiner Kleidung herumfingerte und eine flache Flasche herauszog, um sich einen Schluck zu genehmigen. Die Rhûna hatten sich alle Mühe gegeben, den sterblichen Gast aus Ilegond etwas gefälliger auszustatten, waren aber wohl an seiner Vorliebe für grobgearbeitete Kleidung gescheitert, die man bestenfalls als Lumpen bezeichnen konnte. Immerhin war er sauber. Legolas konnte sich vorstellen, dass nur rohe Gewalt und die Stärke der Erstgeborenen diesen Effekt hatten erzielen können.

„Meinst du, er soll die Nârandir durch seinen bloßen Anblick erschrecken?" erkundigte sich Estel gedämpft und schlug dabei nach einigen Mücken, die sich über die Wiederkehr ihrer beliebtesten Futterquelle wirklich zu freuen schienen.

„Möglich wäre es." Legolas sah eine Weile bei Estels Kampf gegen die winzigen Blutsauger zu. „Sie fressen dich schon wieder auf."

„Elbischer Wein ist nicht so wirksam", erklärte Estel freudlos. „Und stärkere Getränke haben sie hier wohl nicht."

„Wollte Galen nicht irgendetwas zusammenbrauen?"

Estels Miene verdunkelte sich und er blieb die Antwort schuldig. Verbissen stapfte er an Legolas Seite den Pfad tiefer in den dichten Wald hinein.

„Estel?"

„Ich habe ihn nicht gefragt."

Legolas unterdrückte ein Seufzen. „Ihr solltet euren Streit beilegen. Es war doch nur ein Missverständnis."

„Er ist stur."

Und das von Estel... Legolas fing einen bedeutsamen Blick von Elrohir auf. Sie hatten es wohl auch schon versucht. Ergebnislos wie es schien, da sich Estel und Galen recht deutlich aus dem Weg gingen, seit sie am Morgen die Quellstadt verlassen hatten. Viel Zeit für Unterhaltungen blieb allerdings nicht, da der schmale Pfad sie dazu zwang, in Zweierreihen zu gehen. Außerdem hatte eine instinktive Wachsamkeit sie erfasst, seit sie die Sicherheit der Quellstadt verlassen hatten.

Die Nârandir waren in der Nähe, der Angriff auf Eldarion und seinen Vater sprach eine deutliche Sprache. Eine Tagesreise von der Stadt entfernt waren sie angegriffen worden. Der Ort des Gemetzels lag jetzt nicht mehr weit vor ihnen.

Legolas wunderte sich, wie wenig der Wald sie von der drohenden Gefahr spüren ließ. Düsterwald hätte die Erinnerungen stärker bewahrt, doch Rhûn war von einem so intensiven Leben erfüllt, dass der Tod zweier Elben nicht wirklich eine Spur in den riesigen, alten Bäumen hinterlassen hatte.

Amonir, der sie führte, blieb an einer Weggabelung stehen.

„Hier führt der südliche Weg weiter nach Dorwinion", erklärte er. „Der andere windet sich hinunter in die Bucht zu unseren Fischern. Hinathil hat Rast gemacht, da er Eldarion bei sich hatte und eine nächtliche Wanderung hier immer gefährlich ist."

Er verstummte erblassend, als ihm seine Worte wirklich bewusst wurden. Die Rast war vielleicht der tödliche Fehler gewesen, der erst den Tod der beiden verursacht hatte.

„Geister sind Geister", nuschelte Binter in weinseliger Weisheit. „Die finden einen überall. Machen wir auch Rast?"

Amonir wechselte einen Blick mit Galen, der unentschlossen weiter zu Elladan sah.

„Ich denke ja", erklärte Elronds Ältester nach kurzem Zögern.

„Gewöhnlich suchen die Wanderer einen Platz abseits den Weges auf", sagte Amonir gedehnt. „Es ist der Ort, an dem..."

Seine Stimme verklang immer leiser zwischen den zahllosen Geräuschen des Waldes.

„Dann sollten wir dasselbe tun", entschied Elladan sehr ruhig. „Mitten auf dem Weg können wir schlecht rasten."

Stumm neigte Amonir den Kopf und bog vom Weg ab, hinein in die grüne Wand des dichten, tropfnassen Unterholzes, das diesen Wald so fremdartig machte. Erst als Legolas unmittelbar davorstand, bemerkte er den wirklich schmalen Pfad, der hindurchführte. Weit führte der Rhûna sie nicht, nur bis zum Stamm eines der Baumriesen. Hohe Wurzeln zogen sich wie dreieckige Segel vom Boden aus mehrere Meter den Stamm hinauf. Zwischen zweien davon war eine Art höherliegende freie Fläche zu erkennen, der Boden überraschend trocken und fest.

„Jeder Rastende sorgt dafür, dass die Pflanzen sie nicht zurückerobern", sagte Amonir und riss zum Beweis dafür sofort eine Kriechpflanze aus, die sich über die Grenze dieses Platzes zu wachsen anschickte.

Legolas wanderte schweigend umher, seine Augen bemerkten die abgeknickten Stellen an den Farnen, die zertretenen Blätter und Abdrücke im weicheren Boden außerhalb der Raststelle. Viele waren hier gewesen. Es ließ sich jedoch schwer feststellen, ob diese Spuren vom Überfall, den Jägern oder Tieren stammten. Blut war nirgendwo zu entdecken, obwohl Unmengen davon den Waldboden getränkt haben mussten.

Er lauschte in den Wald hinaus. Eigentlich hätte er angenommen, fremde Geräusche oder zumindest die Ahnung davon zu vernehmen. Doch alles war so, wie er es in den Tagen zuvor kennen gelernt hatte. Entweder waren die Nârandir nicht länger hier oder sie verstanden es meisterhaft, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. So ganz konnte er das nicht glauben, denn Eldarion hatte einen eigentümlichen Geruch erwähnt, der ihnen anhaftete. Sie mussten einfach auffallen.

Mit einem Achselzucken gab er seine Versuche auf und wandte sich ihrem Lager zu, in dem Amonir inzwischen ein Feuer entzündet hatte, dessen Schein die zunehmende Dunkelheit vertrieb. Man musste wahrscheinlich ein Rhûna sein, um hier irgendwo trockenes Holz zu finden. Galen, der eine Weile auf einem Ausläufer der Wurzeln gesessen und vor sich hingegrübelt hatte, griff plötzlich in die Ledertasche, die er immer über der Schulter hängen hatte und zog eine Phiole heraus.

Ah, dachte Legolas interessiert, beginnen die Friedensverhandlungen nun doch.

Etwas grimmig stapfte der Rhûna an den verstohlen grinsenden Zwillingen und Legolas vorbei auf die andere Seite des Lagers, wo Estel genauso grüblerisch auf der Wurzel hockte.

„Gilnín hat das für dich gemischt", knurrte Galen und hielt die klare Phiole vor Estels Nase.

Legolas stöhnte leise auf, als Estel anstatt das Friedensangebot einfach anzunehmen misstrauisch die Stirn runzelte.

Galen wäre nicht Galen gewesen, wenn er jetzt ruhig geblieben wäre. Mit einer zornigen Geste schleuderte er die unschuldige Phiole vor Estels Füße.

„Jetzt hast du mich doch schon wieder ertappt", fauchte er böse. „Meine neueste Giftmischung ist das. Ich dachte, ich schieb sie dir unter. Vier Tage ohne Mordversuch sind mir zu lang geworden!"

„Du hast überhaupt keinen Grund, dich so aufzuführen!" schrie Estel und sprang auf die Füße. „Das Zeug hat ihn ja wirklich umgebracht."

„Willst du mir jetzt etwa die Schuld geben?" Galen baute sich vor dem doch um einiges größeren und vor allen Dingen breiteren Menschen auf. „Du hast entschieden, es ihm einzuflößen."

„Ich hatte meine Gründe!"

„Wie rührend. Deins, deins, deins...an Eldarion oder Gílnin und mich hast du gar nicht gedacht."

Legolas wollte eigentlich schlichten, aber Elrohir hielt ihn mit einer Geste zurück.

„Lass sie es zu Ende bringen", befahl er sehr leise.

„Hier?"

„Einen besseren Platz haben wir zurzeit leider nicht."

Widerstrebend, im Stillen jedoch in der Gewissheit, dass der Zwilling wohl Recht hatte, verschränkte Legolas die Arme vor der Brust und ließ das Schauspiel der beiden Streithähne seinen Lauf nehmen.

„Du warst zu feige, es ihm zu geben!" Estel ballte bereits die Hände zu Fäusten.

„Und du weißt nicht, was du willst. Erst sollen wir es nicht tun und dann doch. Wankelmütig wie alle deiner Art."

„Meiner Art?" echote Estel und lief rot an. „MEINE Art kennt wenigstens Mitgefühl."

„Du weißt nicht einmal, wie man das Wort ordentlich schreibt", schrie Galen mit überschlagender Stimme. „Mitgefühl ist doch für dich gleich Selbstmitleid und dann rennst du wieder jammernd und heulend durch die Gegend und gibst allen anderen die Schuld, du selbstsüchtiger Klotz."

Galen flog nicht weit, denn Estel hatte nicht wirklich fest zugestoßen und außerdem landete er recht weich in einer großen Pflanze mit trichterförmigen Blättern, aus der sich ein Regen aus Wasser und toten Insekten über ihn ergoss. Bevor er jedoch wieder auf die Beine kommen konnte, stürzte sich der Sterbliche auf ihn und beide rollten unter Flüchen und Beschimpfungen über den Boden.

„Ist das ein Ringkampf?" erkundigte sich Binter begeistert.

„Scheint so", bestätigte Elladan und bedachte ihn mit einem mutwilligen Grinsen. „Ich setze auf meinen Bruder."

„Nee, mach das nich, Lord Elb", sagte der Säufer. „Die Silberhaarigen sind viel zu zäh. Ich wette, der Große verliert."

Amonir räusperte sich. „Gewöhnlich kennen wir keine derartigen Auseinandersetzungen, Lord Elladan."

„Wir auch nicht", antwortete stattdessen Elrohir. „Aber es sieht zumindest interessant aus."

„Eher seltsam", murmelte Legolas.

Die beiden rollten noch immer über den Boden. Sie rangelten wie Kinder miteinander. Was Estel an Größe und Gewicht voraus hatte, wurde durch Galens besondere Kraft wieder wettgemacht. Schnelligkeit half ihm hier allerdings nicht, denn die beiden waren ineinander verkeilt wie zwei wütende Frettchen. Außerdem rollten sie immer weiter auf die leicht abschüssige Seite des Rastplatzes zu.

Amonir deutete auf den grünen Teppich am Fuß der kleinen Steigung. „Dort unten-„

Binters begeistertes Klatschen, als Estel einen Treffer auf Galens Wange landete und sofort selber einen dafür am Kinn einstecken musste, ließ die Warnung des Rhûna untergehen.

„Man sollte seinen Heiler eigentlich nicht vertrimmen", überlegte Elladan kopfschüttelnd. „Das rächt sich später."

„Sagt Adar auch immer", grinste Elrohir.

„Tatsache?" wunderte sich Elladan. „Wann?"

„Wenn Glorfindel mit ihm trainiert."

„Hilft es?"

„Nein, eigentlich nicht."

Legolas schwieg nur noch. Konnten die beiden Streitenden eigentlich nicht selbst erkennen, dass sie einander gar nicht wirklich wehtun wollten? Jeder von ihnen hatte einen Dolch im Gürtel stecken. Es wäre ein leichtes gewesen, sich ernstlich zu verletzen. Stattdessen waren sie gefangen in ihrer Freundschaft und Wut, schlugen aufeinander ein und beschimpften sich dabei. Sie bluteten bereits und jetzt fingen sie auch noch an, sich gegenseitig zu würgen.

Amonir zerrte etwas beunruhigt an dem Flechtstrang an seiner rechten Schläfe. „Ihr solltet vielleicht eingreifen, bevor..."

Beide kullerten sehr ungraziös die Steigung herunter, landeten auf dem Pflanzenteppich und versanken sofort darin.

„Das meinte ich gerade", seufzte Amonir. „Sie sind in einem Flecken Gelbling gelandet."

„Gelbling?" fragte Elrohir.

Estel und Galen tauchten wieder zwischen den Pflanzen auf, bedeckt mit einer zähen Schlammschicht, die leicht gelblich schimmerte.

„Das ist Gelbling", murmelte Amonir. „Wenn sie jetzt nicht bald aufhören, trocknet das Zeug ein und wir brauchen Hammer und Meißel, um sie daraus zu befreien."

„Darauf trink ich einen!" freute sich Binter und zog diesmal ungehemmt seinen Flachmann aus der Tasche.

„Verdient hätten sie es." Elladan nahm geistesabwesend die Flasche, die Binter ihm selbstlos hinhielt, wischte zum Glück über den Rand und nahm einen Schluck. „Hm, schmeckt gut."

„War auch schwer zu besorgen", sagte Binter. „Dieser Faronar ist ziemlich geizig mit seinen wirklich guten Tröpfchen."

Galen und Estel hockten auf den Knien mitten im Schlamm und wischten sich nicht sehr erfolgreich den Dreck aus dem Gesicht.

„Eingebildeter Bastard!" Estel grinste. Selbst auf seinen Zähnen zeichnete sich bereits Gelbling ab.

„Unhöflicher Bauer!" Galen richtete sich langsam auf und schüttelte sich. „Wir haben ungefähr zehn Minuten, dann können sie uns als Standbilder zurücktragen."

„Ihr seid zu hässlich, um euch irgendwo aufzustellen", rief Elladan zu ihnen herunter.

Galen winkte nur ab. „Hier in der Nähe gibt es Speicherwurzeln. Darin ist genug sauberes Wasser, um den Gelbling abzubekommen."

Legolas holte ein brennendes Holzstück vom Feuer. Die Dämmerung war bereits vorüber, Dunkelheit senkte sich über den Wald. Galen mochte sich noch hier auskennen, aber Estel war zuzutrauen, im nächsten Gelbling-Fleck zu versinken. Auf einen Zuruf fing sein Freund das Holzscheit sicher auf und dann verschwanden die beiden Raufbolde gutgelaunt im Dickicht.

„Irgendwie etwas kindisch", erklärte Elladan, als er sich in der Nähe des Feuers niederließ.

„Kindisch?" Legolas hob spöttisch die Augenbrauen. „Hm, du hast wohl Recht. Genauso kindisch wie die Streiterei zwischen diesen Noldor-Zwillingen und dem Rhûna damals in Bruchtal."

„Das kann man nicht miteinander vergleichen!"

„Schmetterlinge, Orodans Tochter", zählte Legolas genüsslich auf. „Schwertkampf. Mir fällt bestimmt noch mehr ein. Und es gab nicht einmal einen Grund für eure Rangeleien."

„Jaja", knurrte Elladan. „Dir würde das natürlich nicht passieren."

„Nein."

„Das war ironisch gemeint."

„Meine Antwort aber nicht."

„Legolas, du gehst zum Lachen in den Weinkeller."

„Kommt drauf an, wer noch da ist."

„Ich bin dabei", lallte Binter fröhlich, verdrehte seine ohnehin recht aktiven Augäpfel und fiel schnarchend auf den Rücken.

„Wenigstens giften sie sich jetzt nicht mehr wie aufgeregte, junge Hunde an", sagte Elrohir und rümpfte leicht die Nase. „Dafür ertrage ich sogar den Gestank dieses Gelbling-Zeugs."

„Die Masse ist geruchslos", ließ sich Amonir vernehmen.

Ein Herzschlag, vielleicht zwei vergingen, bis sie alle gleichzeitig die einzig mögliche Schlussfolgerung gezogen hatten. Es mochten zwei weitere sein, in denen ihnen die plötzliche Stille ihrer Umgebung auffiel und schließlich noch einer, um auf den Beinen zu sein.

Amonir packte Binters schlaffe Säuferhülle und zerrte ihn gegen den Baumstamm. Die Zwillinge griffen zu ihren Schwertern, Legolas streifte den Köcher über seine Schulter, nahm den Bogen und legte einen Pfeil ein.

„Estel und Galen", flüsterte Elrohir entsetzt. „Sie sind dort draußen, ohne ihre Waffen."

„Vielleicht ist es dort gleich sicherer als hier", sagte Legolas ebenso leise. Er hoffte es, er betete zu Eru, dass die beiden blieben, wo sie waren, bis hier bei ihnen beendet war, was jeden Moment erst anfangen würde.

Es begann mit Geräuschen, fremdartigem Heulen und dem Rascheln der Pflanzen rund im den Baumriesen. Von allen Seiten kam Bewegung in den dichten Wald, das Heulen schwoll an und bewegte sich wie eine Flutwelle unausweichlich auf die vier Elben zu.

Nervös fassten alle ihre Waffen fester, ihre Blicke irrten umher, um den Feind erfassen zu können, doch nur schattenhafte Bewegungen waren auszumachen.

„Mindestens ein Dutzend", stieß Elladan mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Auf allen Ebenen."

„Mehr", widersprach Elrohir. „Viel mehr."

Es waren Stimmen auszumachen, aber keine verständlichen Wörter. Doch irgendwie mussten sie sich verständigen. Legolas versuchte angestrengt, eine ihm bekannte Sprache zu identifizieren, wenigstens Anklänge daran.

„Sie halten uns für leichte Beute", vermutete Amonir, der gleichfalls mit seinem Bogen neben Legolas Aufstellung genommen hatte.

„Hoffentlich irren sie sich", sagte Legolas und spannte die Sehne.

Nach all dem Rufen und den Geräuschen kamen die Nârandir dann in geisterhafter Stille über sie. Von den Höhen der Wurzeln, aus den Rändern des Lagerplatzes, die Steigung hinauf...sie waren überall. Glitten wie Schlangen auf sie zu, schnell und seltsam unscharf in ihren Umrissen. Flecken von dunklem Nebel oder auch Rauch...Legolas versuchte sich zu erinnern, ob Eldarion von Rauch berichtet hatte. Nach seiner Erzählung waren es Wesen aus Fleisch und Blut. Sterbliche!

Grimmig spannte er die Sehne noch weiter und entließ den Pfeil in eine dieser Rauchsäulen. Ein unmenschlich greller Schrei belohnte ihn. Welche Zauberei diese Nârandir auch anwendeten, um so geisterhaft zu erscheinen, unter dem ganzen waren sie verwundbar wie jeder andere.

Diesmal hatten sie die falsche Beute gewählt. Im Halbkreis aufgestellt erwartete sie eine Reihe aus Kriegern, die sich von etwas Geisterzauber nicht wirklich ängstigen ließ. Amonir folgte einfach Legolas Beispiel und zielte immer genau in die Mitte einer Ansammlung von Rauch.

Elladan und Elrohir standen zu ihren Seiten und schützten nicht nur ihr Leben sondern auch das der beiden Bogenschützen. Sie ließen mit der Erfahrung der Jahrtausende voller Kämpfe und der makellosen Eleganz einer durch Glorfindel gelehrten Technik unter dem Vorhang aus Rauch und Geschrei die Leben der Nârandir enden. Leuchtend rot tropfte das Blut von den überaus kostbar verzierten Klingen im Schein des Lagerfeuers.

Nach der anfänglichen Erleichterung über die Sterblichkeit ihrer Angreifer wuchs Legolas Besorgnis über ihre Anzahl. Es wurden nicht weniger. Sie hielten sie zurück, mühsam, aber sie konnten sie nicht vertreiben. Und sie waren überall. Er duckte sich, als einer dieser Schatten sich von der Höhe der Baumwurzel aus auf ihn stürzen wollte. Elladan spießte den Nârandir mit seinem Schwert auf und beförderte ihn mit einem Fußtritt über den Rand des Lagerplatzes.

Amonir schrie plötzlich auf und sank auf die Knie. In seinem Oberschenkel steckte ein breites Messer, einer dieser mit Fellen behangenen Rattenmenschen kniete in seiner Nähe. Die dunklen Augen waren weit aufgerissen und auf den Rhûna fixiert. Übermannt von einer abstoßenden Gier nach frischem Fleisch schlug er die Zähne in die Schulter des verletzten Elben. Es war Elrohirs Schwert, das sich auf seinen Nacken senkte und auf der Unterseite wieder hervorkam. Hektisch stieß Amonir den abgetrennten Kopf von sich und rappelte sich wieder auf, das Messer noch immer in seinem Bein.

Sie krochen wirklich wie Ratten auf sie zu. Legolas trat angewidert nach einem zweiten, der sich herangeschlichen hatte. Er hatte seine Pfeile verschossen und wechselte zu den Langdolchen.

„Legolas!" hörte er Elladans Warnschrei, dann begruben ihn mehrere stinkende, in weiche Felle gehüllte Körper unter sich und er spürte, wie sich Zähne überall in sein Fleisch senkten.

Tbc

Feanen: Und, wie führt er sich so auf? Rumsitzen und Däumchendrehen hast du doch nicht erwartet, oder? –ggg-

Little Lion: Estel kommt sicher auf seine eigene Art damit klar. Er ist eher der stille Typ, der ganz für sich verarbeitet. Und was Forlos Verhörmethoden angeht...Ich schätze, die Elben haben eine ganz eigene artübergreifende Gerechtigkeit. Ein bisschen überheblich dürften sie wohl dabei sein, aber niemand ist perfekt.

Amélie: Ich hab mich öfter mal gefragt, warum Elessar seinen Sohn später Elbensohn nennt. Die Erklärung mit dem Ithildrim-Eldarion fand ich eigentlich ganz nett und auch nicht so unlogisch. Forlos ist einer von diesen unheimlichen OC, die sich immer mehr Platz erschleichen. Dabei sollte er nur eine winzige Randerscheinung sein –seufz-

Ithiliell: Geht das so mit Thranduils Reaktion? Ich wollte ihn nicht gerade einen Krieg vom Zaune brechen lassen, hätte wohl auch nicht so gepasst. Varya ist zwar keine Kämpferin, aber sie wird auch noch Zähne zeigen –versprochen-

Eowyn: Ein bisschen heller ist es doch jetzt, oder? Nur düster halte ich auch nicht durch.

Airihnaa: Wie wäre es denn mit einer Reise-Apotheke? Ich meine nicht diese Täschchen, in denen sowieso immer das fehlt, das man am nötigsten braucht, sondern so eine Art Pferdekarren, aussagekräftig bemalt und mit den neuesten Wundertinkturen zzgl. Weidensprösslinge –kicher-. Wir verdienen uns an der Lizenz dumm und dämlich –ggg-. Zu Honig und Marmelade sag ich nichts – außer: WIE SÜSS! –schluck-

Shelley: Nicht schimpfen, Elben-Kinder sind ab jetzt unter Schutz gestellt. Es wird keinem mehr was passieren. Ja, du hast Recht –groll- ich kann einfach keine Krimis schreiben. Jeder weiß, wer der Mörder ist.

Seniwallenstein: DA ist Thranduil. Ich kann mich sowieso nicht länger von ihm trennen –flöt- Er ist immerhin ein Mann/Elb der Tat. Der lässt seine Varya nicht einfach hängen. Wäre doch gelacht, wenn man/elb die Heilerin seines Vertrauens wiederfindet.

Und Galen und Estel können sowieso nicht lange wütend aufeinander sein. Auch wenn die Luft erst mal gereinigt werden muss zwischen den beiden ... und die beiden selber auch –gg-

Atropos: Da bist du ja –wink-. Stress überstanden? Muss wohl, kaum wieder da, schon wird gemeckert. Erst kann es nicht blutig genug sein, nicht genug abgetrennte Gliedmaßen, Elben in Not etc. und jetzt protestieren, weil es einen einzigen kleinen Elb erwischt hat – kopfschüttel-. Romantisch? –räusper- zum Glück findet er sie nicht sofort. Aber wenn, dann...schauen wir mal.

Eirien: Hallo. Und heute schon wieder eins –smile- Ich hoffe, du hast Spaß und Spannung gleichermaßen. Jaja, die alten Herren haben so ihren eigenen Stil.