Der Junge blickte ins Abendrot und seufzte. Er hatte große Sehnsucht nach Sebring, dem schweigsamen Mädchen aus dem Wald in Süd-Ithilien. Dieses Land wurde auch der Garten Gondors genannt, und das Land der tausend Quellen. Wie gern würde er dem Mädchen die geheimen Quellen zeigen und die Blumenvielfalt der Natur. Doch er hatte seinem Bruder geschworen, nicht hinauszureiten. Hatte Boromir nicht gesagt, er würde ihm alles erklären wenn er wieder daheim wäre? Und trotzdem hatte er nicht mit ihm geredet. Seit mehreren Stunden waren Denethor, Boromir, Oro und einige der Vertrautesten seines Vaters in der großen Halle versammelt und berieten. Faramir wusste nicht, worüber oder warum. Doch er hatte eine Vorahnung, dass es etwas mit den Bewohnern von Anfalas zu tun hatte. Fararmir wusste nicht viel über Anfalas, da dieser Landstrich einen eigenen Herrscher hatte, der dem Truchsess Denethor nur selten Bericht erstattete. Anfalas war dünn besiedelt, die meisten Bewohner waren Fischerleute, Hirten oder Jäger, und viele lebten in den Pinnath Gelin, den Grünen Hügeln.
Faramir fragte sich, ob Sebring, Lenti, Skali, Lyraen, Yeliath, Caiwhye und Ranry auch aus den Pinnath Gelin kamen oder direkt am Langstrand lebten. So wie er es in Erinnerung hatte, waren die Kinder und Jugendlichen der Gruppe nicht ärmlich gekleidet. Auch wenn er keine Pferde oder Schmuckstücke gesehen hatte, war er sich sicher, dass sie aus wohlhabenden Familien stammen mussten.
Er vermisste das Mädchen sehr. Doch er war sich darüber im Klaren, dass er sie nie wiedersehen durfte, wenn sein Vater sich in kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Herrscher von Anfalas befand. Und es sah alles so sehr nach Krieg aus. Er hatte gehofft, nie einen Krieg miterleben zu müssen, obwohl er das Kämpfen nicht scheute. Er war ein guter Schwertkämpfer und auch mit dem Bogen war er gewandt und geübt, doch er hasste es, Menschen zu töten. Ihm war auch der Ruhm nicht wichtig. Dies war wahrscheinlich der größte Unterschied zwischen ihm und seinem Bruder, und wahrscheinlich auch der Grund, warum sein Vater ihn für minderwertig hielt. Doch Denethor sah einfach nicht die anderen Qualitäten in seinem zweitgeborenen Sohn, die Hingabe, das Streben nach Wissen und die Höflichkeit, mit der Faramir alle um ihn herum behandelte.
Als die letzten wärmenden Strahlen der Sonne hinter dem Horizont verschwunden waren, hatte der Junge einen Entschluss gefasst. Er würde Boromir jetzt fragen und nicht zulassen, dass er ihm keine Antwort auf seine Antworten geben würde. Er würde auch Oro ignorieren, denn jetzt wollte Faramir nur noch eines. Die Wahrheit. Und er würde nicht eher aufhören zu fragen, bis er Antworten erhielt, die ihn zufrieden stellen würden. Dies war der Starrsinn, den sein Vater so verabscheute, doch in diesem Moment war ihm sogar sein Vater egal.
Er stand auf und ging auf die Türen der großen Halle zu. Die Wachen schenkten ihm keinerlei Beachtung, jedoch öffneten sie auf seinen Befehl hin die schwere Holztür. Schnellen Schrittes ging er bis zum Thron seines Vaters, vor dem sich mehrere Männer versammelt hatten. Boromir und Oro waren auch da. Sein Bruder schaute Faramir erstaunt an. Doch als er dann wieder Denethor ansah, bemerkte er nur Kälte und Verachtung.
"Was willst du hier!" fragte er seinen Sohn mit harter Stimme. "Ich will Antworten!" entgegnete Faramir, doch er konnte das Zittern in seiner Stimme nur schwer unterdrücken.
Denethor lachte auf. "Antworten? Dann lies eines deiner schlauen Bücher, aber behellige mich nicht mit deinen kindischen Spielchen." Er machte eine ausladende Geste mit seiner Hand und wendete sich wieder den Männern vor ihm zu.
Faramir zuckte merklich zusammen und wich einige Schritte zurück. Er drehte sich zu seinem Bruder um, der einen merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen hatte. Auch Oro hatte diesen Ausdruck. Es war wie eine Mischung aus Mitleid und Sorge, Entrüstung und Verzweiflung. Oro trat zu dem Jungen und nahm ihn an der Hand. Boromir folgte. Aus den Augenwinkeln sah Faramir, wie Denethor aufstand, als würde er die Drei zurückhalten wollen. Doch Oro blickte ihn kurz an und der Truchsess setzte sich wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben.
---
Faramir starrte Oro fassungslos an. Er konnte nicht glauben, was sie ihm gerade erzählte. Er versuchte verzeifelt, zu verstehen. Sebring war die Tochter des Herrschers Donvan von Anfalas, die anderen Kinder hatten sie auf ihrer Reise von den Pinnath Gelin nach Anórien begleitet. Allem Anschein nach hatte sie ihr Vater vor dem drohenden Krieg weggeschickt, um sie alle in Sicherheit zu wissen. Doch warum war es überhaupt erst dazu gekommen? Warum musste dieser Krieg sein? Seit mehreren Jahrzehnten hatte es keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr zwischen den Völkern Mittelerdes gegeben, außer vielleicht mit streunenden Orks aus Mordor. Doch dies war etwas anderes. Er hatte das getrocknete Blut an den Schwertern seines Bruders und der Männer gesehen, und auch die Verwundeten. Und Luran, der stolze schwarze Hengst, war in der Schlacht gefallen, Luran, das Pferd, das Oro von weit her für seinen Bruder gebracht hatte. Er verspürte einen seltsamen Kummer, Besorgnis und Zweifel an all diesem.
Als die Drei den großen Saal verlassen hatten, hatte Oro Faramirs Hand losgelassen und war allein zur Mauer hinübergegangen und hatte hinuntergeschaut. Als sie sich dann wieder umwandte, lächelte sie dem Jungen zu. Doch Faramir konnte ihr Lächeln nicht erwidern. Er hörte Boromirs schwere Schritte, als sein älterer Bruder zu Oro hinüberging. Doch die junge Frau wandte sich von ihm ab und setzte sich neben Faramir, der auf einer der Mauervorsprünge Platz genommen hatte. Ihre Stimme klang ruhig, doch der Junge konnte eine gewisse Besorgnis heraushören.
"Sebrings Vater, Truchsess Donvan ist ein herrschsüchtiger Mensch, und hält sich nur ungern an die Regeln deines Vaters. Seine Frau ist früh gestorben, so wie deine Mutter. Und er hat es nicht verstanden. So wie Denethor..." sie schaute betrübt in Richtung der großen Halle. Faramir senkte den Blick und dachte an Findulas, die Mutter die er nie kennen gelernt hatte. Und nun wollte er diese neue Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen. Doch er wusste nicht, ob und wie er es sagen sollte. Langsam hob er den Kopf und schaute Oro in die Augen. Hinter ihr sah er Boromir, der ungeduldig über die Burgzinnen in die Ferne in Richtung Anfalas starrte. Die erste Schlacht war für die Kämpfer Minas Tirith's erfolgreich gewesen, auch wenn sie mehrere Leben gekostet hatte. Doch er wusste ganz genau, dass Donvan es sich nicht nehmen lassen würde, einen Rückschlag zu führen, der heftiger und erbarmungsloser werden würde als dieser.
Oro saß ihm gegenüber und sah ihn an. Ihr Gesicht war freundlich, es zeigte keinerlei Angst oder etwas Ähnliches. Faramir hingegen beruhigte es nicht. Er wurde von Minute zu Minute unruhiger. Er kannte Oro's freundliche Natur, und daher wusste er, dass dieser Kampf wahrscheinlich unvermeidlich war, wenn sie so offen darüber sprach. Es schien ausweglos und Faramir fühlte sich plötzlich so unendlich traurig. Er wollte so sehnlichst das schöne Mädchen aus dem Wald wiedersehen, auch wenn sie die Tochter den gegnerischen Heerführers war. "Ich muss..." flüsterte er. "Ich muss sie sehen..."
"Dann reite zu ihr, wenn du denkst, dass du durch ihren Anblick Frieden findest. Das Mädchen ist unschuldig, auch wenn dein Vater anderer Meinung ist. Sie kann nichts für die Taten ihres Vaters, genau so wenig wie du für die Taten deines Vaters verantwortlich bist. Doch glaube nicht alles, was du siehst." sprach sie. Faramir starrte sie an. "Was meinst du damit?" fragte er ungeduldig.
Jetzt sprach Boromir. "Bruderherz, du darfst dich Vater nicht widersetzen. Er denkt, es sei das Beste für Gondor."
"Aber ist Anfalas nicht auch ein Teil von Gondor?" warf der Junge ein. "Du hast Recht, aber es gab schon immer Auseinandersetzungen. Faramir, bitte verstehe doch." Sagte Oro, doch Boromir trat zu ihm heran und umfasste seine Schultern. "Manchmal müssen wir Entscheidungen treffen, die uns nicht gefallen. Manchmal müssen wir auch Dinge tun, die wir eigentlich nicht tun möchten." Er schwieg für einen Moment. "Auch wenn es dir das Herz bricht."
Faramir sprang auf und riss sich aus dem Griff seines Bruders los. "Nein! Ihr wollt nicht verstehen! Sebring hat mit der ganzen Sache nichts zu tun, genau so wenig wie ich etwas damit zu tun habe. Und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie Ihr ihr Leben und meines zerstört. Ich werde sie suchen und finden. Wenn ihr Vater sie so sehr liebt, dass er sie vor dem Krieg sicher wissen wollte, dann kann sie ihn vielleicht überzeugen, dass dieser Krieg unnötig ist." Er fühlte sich so winzig und naiv, als er diese Worte sprach. Doch es waren die Worte seines Herzens. Und um diesen Worten Nachdruck zu verleihen, rannte er los, den Steinweg hinunter in Richtung der Stallgebäude.
---
Mit schweren aber schnellen Schritten war der Junge zum Stall gelaufen und hatte die Türen aufgerissen. Der Junge fühlte sich so allein und missverstanden. Firion scharrte ungehalten mit dem linken Vorderhuf, als Faramir ihm den Sattel auf den Rücken warf und die Gurte mit einem Ruck zuzog. Auch mit der Trense war er nicht zimperlich, was ihm der graue Wallach mit einem hektischen Kopfzurückschlagen quittierte. Faramir konnte nicht rechtzeitig ausweichen und bekam die harte Ganasche seines Pferdes direkt gegen die Schläfe. Es tat nicht sehr weh, doch in diesem Moment war der Scherz so vordergründig, dass die so lang zurückgehaltenen Tränen endlich den Weg fanden. Er konnte sie nicht länger unterdrücken und hielt sich beschämt die Hand vor die Augen. Er kam sich so lächerlich vor. Und doch, er wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Der Junge drückte den schweren Kopf seines grauen Pferdes zurück, wischte sich mit dem schmutzigen Handrücken die Tränen aus den Augen und führte das widerspenstige Pferd aus dem Stall. Nirgendwo konnte er Wachen erspähen, nur oben auf dem Turm sah er das orangefarbene Gewand von Oro. Warum griffen sie nicht ein? Warum unternahmen sie nichts, um ihn aufzuhalten? Er war sich sehr sicher, dass sie und auch Boromir genau wußten, dass er Sebring suchen und finden würde. Es schien, als hätten die beiden überhaupt nicht vorgehabt, ihn aufzuhalten. Das machte Faramir nur noch wütender.
Zähneknirschend griff er wieder nach den Lederzügeln und zog das widerwillige Pferd bis an das große Tor. Er sah, daß auch dort keine Wachen standen, also mußte er das Tor selbst öffnen. Firion war keine große Hilfe. Der Wallach spürte den Unmut seines Herrn und stellte sich stur. Er weigerte sich, durch das Tor zu treten, damit der Junge es wieder schließen konnte. Wieder stiegen Tränen in Faramirs Augen auf. Verzweifelt zog er noch einmal an den Zügeln, dann ließ er sie los. Firion schaute ihn an, den Kopf leicht schräggelegt.
"Meinst du, ich mache einen Fehler?" flüsterte Faramir und schluchzte. Doch wußte er nicht selbst, dass es ein Fehler war, den er machen musste? Hatte Oro ihm das nicht gesagt? Firion wandte sich etwas um und blickte in die Ferne. Faramir folgte seinem Blick und bemerkte, dass das Pferd in Richtung des Druadan Waldes sah. Als er jetzt nach den Zügeln griff, folgte Firion ihm willig und ohne zu zögern. Langsam verstand Faramir die Welt nicht mehr.
Doch er stieg auf und trieb den Wallach vorwärts, am Fuße des großen Gebirges Gondors entlang. Zu seiner Rechten lag Osgiliath und der Fluss Anduin. Firion lief so schnell, er konnte, vorbei an Cair Andros in Nord-Ithilien und nach wenigen Stunden erreichten sie den Wald von Anórien.
Es herrschte Totenstille, und für eine Weile dachte Faramir, dass sogar die Vögel und Waldtiere das Land vor dem drohenden Krieg verlassen hatten. Doch dann sah er zwei Füchse, die sich langsam über die Wiese trollten. Sie schenkten ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Faramir wusste, dass hier in Anórien selten Menschen anwesend waren, daher wunderte ihn das Verhalten der Füchse doch sehr. Sie schienen an Menschen gewöhnt zu sein.
Er trieb Firion langsam voran, und hielt nervös Ausschau. Er hatte schon viel von den aggressiven Ostlingen und Südlingen gehört, und nun betete er, dass keine dieser zwielichtigen Gestalten in diesem Wald lauerten.
Nichts geschah. Die Sonne versank langsam hinter den hohen Bäumen des Waldes, und bis auf das Rauschen des Windes war nichts zu hören. Firion scheute mehrfach vor fremden Schatten und auch der junge Faramir spürte die Angst in sich aufsteigen. Die Dunkelheit erweckte den Wald mit all seinen geheimnisvollen Geräuschen. Es war fast so als würde er wieder daheim in den Wäldern von Süd-Ithilien sein. Er erinnerte sich an den einen Tag, an dem er panisch vor Angst in den riesigen Wald hineingelaufen war. Er erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei waren schon lange Jahre seitdem vergangen. Es war der Tag, an dem sein Vater ihm zum ersten Male so deutlich zeigte, dass er ihn nicht liebte. Boromir hatte seinen jüngeren Bruder zum Kampf in den Ruinen des westlichen Teils von Osgiliath aufgefordert und dann hatte er sich bei einem unbeabsichtigten Sturz von einem Mauervorsprung verletzt. Er hatte sich den rechten Arm und mehrere Rippen gebrochen, und musste in den Häusern der Heilung behandelt werden. Denethor war außer sich vor Wut gewesen und hatte Faramir in seinem kleinen Zimmer eingesperrt und mehrere Tage lang nicht mit ihm geredet. Er saß bei Boromir und ließ Faramir nicht zu ihm. Doch es war alles nur ein Versehen gewesen! Boromir hatte später versucht, diese Angelegenheit zu klären, aber Denethor wollte es nicht einsehen. In diesem Moment hatte Faramir genau gewusst, dass sein Vater ihn nie so lieben könnte wie Boromir.
---
Er hatte sich irgendwie damit abgefunden. Boromir liebte und schätzte seinen Bruder und Faramir wusste das. Sein älterer Bruder hatte immer auf ihn aufgepasst und ihn in Schutz genommen, wenn es nötig gewesen war. Und nun hatte Faramir seine Weisung in den Wind geschlagen und war davon geritten, ohne ihm zu sagen, was er vor hatte. Doch hatte Oro nicht gesagt, dass er seinem Herzen folgen sollte? Faramir war zu verwirrt, um klar zu denken. Diese fremde und furchteinflössende Umgebung machte es auch nicht einfacher. Er hörte plötzlich ein leises Lachen und sah einen Schatten durchs Gebüsch vor ihm huschen. Firion scheute und wollte nach hinten ausweichen, doch Faramir drückte ihn mit den Schenkeln vorwärts. Als sich das Pferd weigerte und sich leicht aufbäumte, entschied er sich dafür, lieber abzusteigen, bevor der graue Wallach ihn abwarf.
Firion war zwar ein ungewöhnlich ruhiges Pferd, doch er war unberechenbar, wenn er Angst hatte. Und an der Körpersprache seines Pferdes konnte Faramir eindeutig sehen, dass es Angst hatte. Ein nervöses Zucken ging von seinen schwarz umrandeten Ohren am Mähnenkamm entlang und über beide Schultern. Firion stampfte mit den Vorderhufen und schlug unruhig mit dem Schweif.
Der Junge hatte Probleme, das Pferd ruhig zu halten, während er abstieg, doch Firion trat nervös auf der Stelle, bis er auf einen Zweig trat. Dieser zerbrach mit einem lauten Knacken und vor Schreck sprang der Graue mit einem großen Satz seitlich weg, gerade in dem Moment, als Faramir seine Füße aus beiden Steigbügeln herausgezogen und sein rechtes Bein über den Sattel geschwungen hatte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Firion zerrte an den Zügeln, schlug mit dem Kopf und entzog dem Jungen somit jeglichen Halt und auch die Kontrolle über das Pferd. Hart schlug er rücklings auf dem Waldboden auf, und für einen Moment verlor er das Bewusstsein.
Einige Minuten später fühlte er eine kühle Hand, die auf seiner Stirn lag. Verwirrt schlug er die Augen auf, und blickte in die dunklen Augen von Sebring. Einige Strähnen ihres langen rotbraunen Haares hingen ihr über die Stirn und berührten fast Faramirs Gesicht. "Sebring..." flüsterte er, doch schnell hatte ihm das Mädchen einen zierlichen Finger über die Lippen gelegt. Faramir musste die Augen schließen, denn dieses Gefühl war unbeschreiblich. Doch es verging genauso schnell wie es gekommen war. Das Mädchen hatte die Hand schnell zurückgezogen und war aufgestanden. Als Faramir seine Augen wieder öffnete, standen Lenti und Skali neben ihm, die Hände hilfsbereit ausgestreckt, um ihm hochzuhelfen. Als er sich endlich mit der Hilfe der beiden Jungen aufgerappelt hatte, schaute er sich fragend um. Das Mädchen Lyraen hielt die Zügel von einem fuchsfarbenen Pferd, Yeliath und Ranry versuchten, den grauen Firion zu beruhigen. Der Wallach scheute und versuchte sich loszureißen, doch die beiden Kinder hielten ihn zurück. Sebring stand bei Caiwhye und schaute ängstlich nach Westen. "Was ist passiert?" fragte Faramir leise.
"Woher wusstest du, dass wir hier sein würden? Warum bist du uns gefolgt?" fragte Caiwyhe zurück. Ihre Stimme klang nicht aggressiv, nur etwas vorwurfsvoll. Sebrings traurige Augen schienen sich in Faramirs Herz zu bohren, denn auf einmal fühlte er auch diese unendliche Traurigkeit, die er in ihren Augen lesen konnte.
Faramir starrte das Mädchen Caiwhye an. "Ich...ich..." Er wollte ihnen sagen, dass er ihnen nicht gefolgt war, doch das wäre eine Lüge gewesen. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können. "Ich wollte Dich wiedersehen..." flüsterte er schließlich und blickte verschüchtert zu Boden, als er ein kristallklares Lachen hörte. Als er den Blick wieder hob, wusste er nicht, von wem das Lachen stammte. Beide Mädchen, Sebring und Caiwhye lächelten. Sebring sagte kein Wort.
Plötzlich sprach Lenti: "Wir sollten aufbrechen." Caiwhye nickte und nahm Sebrings Hand. Das braunhaarige Mädchen rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Das andere Mädchen blieb stehen. "Lyraen, Ranry, Skali, Lenti!" rief Caiwhye und winkte sie zu sich heran. Sie flüsterte ihnen etwas ins Ohr, dann liefen die vier Kinder davon, Lenti und Ranry zogen die beiden Pferde hinter sich her. Obwohl Firion immer noch Zeichen der Angst zeigte, folgte er dem Jungen ohne Zögern.
Faramir blieb zurück, mit Sebring und Caiwhye.
---
Das braunhaarige Mädchen lächelte und hatte ihre wunderschönen Augen immer noch auf Faramir gerichtet. Unter ihrem fast schon wissenden Blick wurden seine Knie weich. Er konnte diesem Blick nicht entfliehen, und jetzt wusste er, weshalb er seit ihrem ersten Aufeinandertreffen nur noch schlaflose Nächte hatte. Er hatte ihre tiefschwarzen Augen nicht vergessen können. "Sebring..." flüsterte er und blickte verschüchtert auf den Boden. Plötzlich stand sie vor ihm und er sah zum ersten Mal, welche Farbe ihr Kleid hatte. Es war schwerer blutroter Samt. Faramir bekam ein ungutes Gefühl.
"Deine vielen Fragen, Sohn des Denethor, kann ich dir nicht beantworten." Sprach sie mit seltsamer Stimme. "Es ist mein eiserner Wille, der mich aufrecht hält." Sie sprach in Rätseln. Faramir verstand sie nicht, doch in ihren Augen las er ihre Verzweiflung.
"Du hast nie an dich selbst geglaubt, Mann aus Gondor...Und doch glaubst du, dass du jetzt etwas ändern kannst."
"Kann ich das etwa?" fragte Faramir zurück.
"Natürlich. Du hast schon etwas verändert." Sie lächelte liebevoll. Ihre Stimme war so weich und rein, und Faramir fühlte sie in seinem Inneren. "Wie kann ich etwas verändern, wenn ich nicht einmal weiß, wer ich bin?" fragte er zurück. "Du weißt nicht, wer du bist?" Sie lächelte, doch es war keine Belustigung in ihren Augen zu erkennen. "Ich wusste es...doch es war mir nicht klar, was es bedeutet...bis jetzt."
Faramir wollte es nicht verstehen.
"Wie meinst du das? Woher wusstest du, wer ich bin? Du kanntest mich doch überhaupt nicht..." Sebring nahm seine Hand und der Junge fühlte ihre Wärme durch seinen Körper strömen. "Ich hatte Träume, doch bisher konnte ich sie nicht deuten..." Sie verstummte.
Caiwhye ergriff nun das Wort. "Faramir, sage uns, warum du hier bist. Warum hast du uns gesucht?"
Der Junge suchte nach den richtigen Worten. "Sebring's Vater, der Herrscher über Anfalas, ist gegen meinen Vater, den Truchsess von Gondor, in den Krieg gezogen. Mein Bruder, Boromir hatte versucht, ihn umzustimmen, jedoch ohne Erfolg." Faramir begann, immer schneller zu reden, während er die Tränen unterdrückte. Sebring hielt noch immer seine Hand, doch es beruhigte ihn nicht. "Das ist der Grund, warum er uns weggeschickt hat. Donvan wollte uns sicher wissen." Fuhr Caiwhye fort.
Faramir starrte sie an. "Aber trotzdem greift er an...Warum nur? Könnt ihr nichts dagegen tun?" Sebring lachte hell auf. "Was könnten wir tun? Wir sind doch nur Kinder..."
"Du bist seine Tochter. Er wird auch dich hören."
"Hört dein Vater auf dich?" fragte sie leicht belustigt zurück.
Faramir zuckte zusammen, als er den sarkastischen Ton in ihrer Stimme hörte. "Er hört auf meinen Bruder..."
Sebring, die immer noch Faramir's Hand hielt, zog ihn nun näher zu sich heran. Er wehrte sich nicht, doch als er genau vor ihr stand, wurden ihm die Knie weich. Sie war wunderschön, doch ihre Augen zeigten eine unendliche Traurigkeit.
"Ich wurde nicht weggeschickt, weil mein Vater Angst hatte, mir könnte bei diesem Krieg etwas geschehen, sondern weil ich verflucht bin..."
Faramir starrte in ihre großen dunklen Augen und verlor sich darin. Hatte sie gerade etwas von einem Fluch gesagt?
"Ein Fluch?" Er schaute sie fragend an.
Caiwhye hatte angsterfüllt die Hand vor den Mund gehoben und Sebring angedeutet, nichts zu sagen, doch es war schon zu spät.
"Faramir, Sohn von Gondor, ich kann es dir nicht mit Worten erklären, doch eventuell können meine Taten verhindern, was geschehen soll." Das Mädchen wandte sich zu Caiwhye um und seufzte. Und Caiwhye wusste, was sie zu tun hatte.
"Lenti!" rief sie leise und der kleine Junge erschien aus dem Nirgendwo. Sie trat zu ihm hinüber und flüsterte ihm ins Ohr. Faramir konnte die Veränderung von Neugier zu Angst auf seinem Gesicht ablesen und begann, sich zu fürchten.
Lenti hörte aufmerksam zu und verschwand dann wieder im Dunkel des Waldes. Caiwhye näherte sich Faramir und Sebring. Auch in ihren Augen konnte der Junge die Furcht klar erkennen.
"Sebring..." murmelte das andere Mädchen. "Bist du dir sicher, dass dies der richtige Weg ist?"
Sebring lächelte gequält. "Es ist der einzige Weg und es tut mir leid, dass ich es erst jetzt bemerkt habe. Die Visionen, die ich hatte, waren unklar und verwirrend. Doch jetzt ist mir alles klar..." Sie schwieg für einen Moment und wandte sich dann Faramir zu. "Hab keine Angst, Sohn von Gondor, es wird alles wieder gut werden."
"Warum kann ich das nicht glauben?" fragte er zurück. "Warum habe ich dieses Gefühl, etwas zu verlieren, wenn die Zeit kommt?"
"Wir verlieren nie etwas, wir gewinnen immer nur dazu. Du hast Erfahrungen gewonnen, mein Freund, die du für immer schätzen wirst." Ihr Lächeln war müde.
"Erfahrungen, die mich traurig machen..." erwiderte er. Er drückte ihre Hand leicht. "Vorhin meintest du, ich habe etwas geändert...doch ich kann die Veränderung nicht sehen..."
"Du wirst es sehen, Faramir, wenn die Zeit reif ist. Deine Entscheidung, mir zu folgen, hat den Verlauf der Geschichte und unser aller Zukunft geändert..." Sebring hob die andere Hand und strich dem Jungen eine Strähne seines langen rotblonden Haares aus der Stirn. Er hielt sie mit seiner freien Hand fest und küsste ihre schlanken Finger, doch er traute sich nicht, ihr in die Augen zu blicken. Er hatte Angst, seine Gefühle würden sonst preisgegeben werden. Er ließ Sebring's Hand auch gleich wieder los. Als er sie jetzt anschaute, bemerkte er eine Träne, die langsam über ihre Wange hinunterrollte. Doch es war keine Traurigkeit, die er von ihrem Gesicht ablas, sondern Selbstaufgabe. Er wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte, aber er fühlte, dass es nicht Gutes war.
---
Plötzlich raschelte es im Wald und Lenti und Skali erschienen aus dem Dickicht. Beide führten gesattelte Pferde am Zügel und erst bei einem wiederholten Hinsehen erkannte Faramir das graue Pferd. Das war Firion, sein treuer Wallach. Das andere Pferd war ein großgewachsener Fuchs ohne Abzeichen. Stolz und aufmerksam stand er da und schaute auf die Kinder herab.
"Ein wunderschönes Tier..." flüsterte Faramir und Sebring lächelte.
"Das ist Vinyafot...mein Pferd. Er ist noch sehr jung und wir reiten ihn sehr selten." Erklärte sie.
‚Vinyafot...' dachte Faramir. ‚Feuerhuf, wie das mächtige Pferd aus den alten Geschichten.' Er bemerkte, dass Sebring ihn losließ und sah ihr hinterher, als sie zu dem großen Fuchs hinüberging. Sie streichelte ihm sanft über die Nüstern und das mächtige Tier senkte den Kopf, um sich verwöhnen zu lassen.
"Wir müssen jetzt aufbrechen!" rief Caiwhye und zog an Vinyafot's Zügeln. Der Hengst folgte dem Mädchen willig und kam vor Faramir zum Stehen. Sebring folgte ihm. Das Mädchen wandte sich zu dem Jungen um und lächelte leicht. "Auf Wiedersehen, mein Freund. Ich werde dich nie vergessen." Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Lippen. Faramir fühlte ihre unendliche Traurigkeit, aber auch eine gewisse Erleichterung konnte er mit diesem Kuss schmecken.
Als er sie jetzt anblickte, hatte sich ihr Gesicht verändert. Furcht und Anspannung waren gewichen und fast schon stoische Ruhe war eingetreten. Faramir wusste, dass Sebring sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte. Obwohl er nicht wusste, was nun geschehen würde, wollte er sie nicht gehen lassen. "Sebring..." flüsterte er und wollte ihre Hand greifen. Doch das Mädchen war bereits zum Pferd gegangen und wollte aufsteigen. Sie blickte sich kurz um und nickte. Und Faramir verstand. Mit großen Augen sah er sie auf das Pferd springen und als sie die Zügel aufnahm, wusste er, dass er sie nicht abhalten können würde, wegzureiten.
Sie hob die rechte Hand, wie zum Gruß und drückte dem riesigen Hengst die Hacken in die Flanken. Vinyafot riss den Kopf hoch und sprang in einen schnellen Galopp. Nach wenigen Sekunden waren beide im Wald verschwunden. Skali hielt immer noch Firion fest.
Caiwhye sank zu Boden und brach in Tränen aus. Faramir lief zu ihr und nahm sie in den Arm.
"Was wird nun geschehen?" fragte er leise.
Das Mädchen in seinen Armen schluchzte. "Sie wird sterben..."
"Sterben?" rief Faramir entsetzt.
"Das ist ihr Fluch. Als ihre Mutter starb, belegte sie Sebring mit einem Fluch, um ihren kriegswütigen Mann zu bestrafen. Denn Donvan, der Herrscher über Anfalas hatte früher, vor deiner und vor Sebrings Geburt viele blutrünstige Kriege geführt. Viele Menschen mussten sterben. Die meisten Anwohner flohen schon frühzeitig nach Pinnath Gelin, um in den Wäldern Schutz vor ihm zu finden. Und seitdem, seit Sebrings Mutter Freya tot ist, herrschte Frieden..."
"Bis jetzt..." murmelte Faramir. Er war noch zu geschockt, um klar denken zu können.
"Ja. Donvan hatte sich noch nie dem Willen anderer beugen wollen. Und als dein Vater Denethor, der Truchsess von Gondor, ihn aufforderte, sich genauso für Gondor stark zu machen wie die Herrscher der anderen Gebiete in Gondor, fühlte er sich in seiner Würde verletzt."
"Und was ist mit dem Fluch?" wollte Faramir wissen.
"Freya hatte über Sebring einen Fluch gelegt, als sie verstarb. Um ihren Mann von weiteren Kriegen abzuhalten, verfluchte sie ihr eigenes Kind. Es würde sterben, wenn der Vater wieder einen Krieg anfange. Donvan dachte nun, dass es doch möglich sein müsste, diesen Fluch zu umgehen und setzte alle seine Weisen Untertanen daran, einen Weg zu finden. Dies gelang ihm auch. Eine alte Zauberin verriet ihm, dass die Wälder von Anórien einen magischen Schutz für seine Tochter bieten würden, daher schickte er sie und uns, ihre engsten Freunde hierher..."
"Und jetzt ist sie losgeritten, um den Fluch zu vervollständigen?" Faramir schluckte. "Um zu sterben?"
Caiwhye nickte und die beiden kleinen Jungen Skali und Leni brachen in Tränen aus. Der Junge blickte wild um sich und sah im Dunkeln des Unterholzes Yeliath und Lyraen stehen. Auch die beiden hatten deutlich Tränen in den Augen. Faramir glaubte, verrückt zu werden. "Was ist das für eine Teufelei!"
"Sie sieht diesen Weg als einzigen Weg, um den Krieg zu verhindern, damit nicht noch mehr Menschen sterben müssen. Du musst das verstehen. Vielleicht ist das ihr Schicksal gewesen." Caiwhye versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten, doch das Zittern konnte sie nicht verbergen. Faramir starrte sie ungläubig an. "Verstehen?"
Das Mädchen legte ihre Wange an seine. "Du musst sie gehen lassen...Es ist das Beste für alle."
In Faramir brach ein Damm, ein Staudamm all seiner Sorgen und verletzen Gefühle, und die Tränen bahnten sich ihren Weg hinaus. Jetzt war es Caiwhye, die den Jungen hielt, bis das Weinen versiegte.
