( Diese Zeichen ~ ~ ~ leiten immer einen Wechsel der Erzählperspektive ein)
Es erschreckt mich, wie elend König Théoden aussieht. Ich knie noch immer vor ihm nieder und sehe ihn schweigend an, eine Hand im stillen Gruß über meinem Herzen verharrend und das Gerede seines schmierigen Beraters ignorierend, als ich das hölzerne Knarren einer schweren Tür vernehme. Ich drehe mich nicht um, denn ich spüre, dass nicht du es bist.
„Mein Herr Boromir, willkommen," hallt eine Stimme durch die hohe Halle. Ah, deine kleine Schwester… Ich neige einmal mehr mein Haupt vor dem König von Rohan, erhebe mich etwas schwerfällig, drehe mich um, und mein Blick fällt auf die wohl schönste und auch traurigste junge Frau, welche mir jemals unter die Augen gekommen ist. Ich trete auf sie zu, „Éowyn, es ist mir eine Ehre, Euch wiederzusehen," sage ich höflich als ich ihre weiße Hand vorsichtig ergreife und einen Kuss auf ihren Handrücken hauche. Ein reserviertes Lächeln umspielt ihre hellen Lippen.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite," erwidert sie guterzogen, und ohne große Hemmungen hakt sie sich bei mir ein und zieht mich mit sich zur Tür, fort von ihrem kränklich wirkenden Onkel und der dunkelhaarigen Gestalt, die ihr unangenehme Blicke hinterherwirft.
„Kommt, Ihr müsst hungrig und durstig sein," bedenkt sie mit einem fast fürsorglichen Tonfall, und fürwahr, sie hat Recht.
Nur wenig später sitzen wir uns gegenüber an einem Tisch in einer weiteren großen Halle. Wir sind ganz alleine, es ist fast unheimlich, und das einzige Geräusch, das die Stille ab und zu stört, ist das Kratzen meines Besteckes auf dem Teller, oder das dumpfe Geräusch wenn ich den Krug abstelle, nachdem ich uns nachgefüllt habe. Oh ja, sie trinkt fast wie ein Mann, aber das verwundert mich nicht im Geringsten. Sie ist schon immer so gewesen, und auch, wenn das Kind von damals inzwischen zu einer wahren Augenweide herangereift ist, so ist sie doch anders als die Frauen, denen ich ansonsten zu begegnen pflege. Dies wiederum begrüße ich wohl mehr als jeder andere hier, denn noch nie habe ich mich besonders wohl gefühlt in der Gesellschaft gewöhnlicher Frauen. Ich reiße mich los von meinen Gedanken über die schöne und außergewöhnliche Éowyn, denn nicht sie ist es, die meine Reise hierher zur reinsten Folter gewandelt hat.
„Herrin," greife ich ein Gespräch auf, nachdem ich einen weiteren Schluck getrunken habe, und sie blickt mich mit kummervollen Augen an, die fast so schön sind wie ich deine in Erinnerung habe… so groß, so ausdrucksstark, so würdevoll… Ich räuspere mich leise. „Sagt, wird Euer Bruder während meiner Anwesenheit noch zu uns stoßen? Ich habe ihn lang nicht mehr gesehen," sage ich so beiläufig wie möglich und schiebe mir schnell etwas zu Essen in den Mund, damit ich nichts hinzufügen kann, was ich später noch bereuen würde.
„Als Ihr uns die letzten Male mit Eurem Besuch beehrtet, war mein Bruder leider immer verhindert," sagt sie entschuldigend. Nun könnte ich ihr sagen, dass es nicht als Vorwurf gedacht war, oder ich könnte ihr zu verstehen geben, dass „Besuch" das falsche Wort für meine Anwesenheit ist, oder ich könnte sie darauf hinweisen, dass sie meine Frage gar nicht beantwortet hat… Stattdessen schlucke ich all diese Gedanken runter, so wie das Stück Brot in meinem Mund, und schenke ihr ein Lächeln.
„Nun, ich wage zu behaupten, dass wir das Abendmahl auch ohne Euren Bruder unterhaltsam gestalten können, nicht wahr?"
~ ~ ~
Ich befinde mich noch auf dem Flur, als ich sie lachen höre. Lachen! Welch seltenes Geschenk. Ein Lächeln breitet sich auf meinem verschwitzten Gesicht aus, so sehr freue ich mich darüber, sie fröhlich zu wissen. Doch es erstirbt ebenso schnell wieder, als ich kurz darauf noch ein zweites Lachen vernehme… lauter, tiefer, offener als das ihre… Männlicher. Meine Augen verengen sich, während ein unangenehmes Gefühl sich in meiner Magengegend breit macht. Spielt meine Fantasie mir einen Streich, oder ist er wirklich hier…?
Ich beschleunige meine Schritte, renne trotz meiner schweren Rüstung und meiner Erschöpfung fast zur Speisehalle, doch bevor ich die dicken, hohen Türen aufdrücke, halte ich für einen Moment inne und atme tief durch. Ich will gelassen wirken. Und unerschütterlich. Erfahren. Ich will mich beweisen, dir zeigen, dass ich nicht mehr jung und schwach und unbedarft bin, so wie damals, vor acht Jahren, als du und ich…
Nein. Ich schüttele kaum merklich den Kopf. Nicht du und ich, denn ich habe so gut wie gar nichts dazu beigetragen. Zu verängstigt war ich, etwas falsch zu machen, mich zu blamieren… Ohne dabei zu merken, dass gerade diese mich lähmende Furcht, diese Feigheit, meine größte Blamage war. Ja, ich erinnere mich gut, denn für mich war es das erste Mal gewesen, dass ich nicht durch meine eigene sondern durch eine fremde Hand den Gipfel der Lust erlebte. Und so wie ich dieses kurze und doch so einschneidende Erlebnis meiner Jugend erinnere, musst du eben dies schon für viele vor mir getan haben, denn mit solch einer Fingerfertigkeit wird keiner geboren. Auch wäre es dumm anzunehmen, dass in den vergangenen acht Jahren niemand dein Bett gewärmt hätte. Ich bin also nichts weiter gewesen als ein flüchtiges Abenteuer… wobei „flüchtig" noch eine großzügige Formulierung ist, und abenteuerlich war es vielleicht für mich, oh ja das war es durchaus, aber sicherlich nicht für dich. Vielleicht, mit etwas Glück, hast du das Ganze sogar schon längst vergessen…
Diesen letzten Gedanken krampfhaft festhaltend, hole ich einmal mehr tief Luft, und öffne die Türen, die mich von meiner geliebten Schwester und unserem Gast aus Gondor trennen.
